Morgenmuffel - Agatha van Wysn - E-Book

Morgenmuffel E-Book

Agatha van Wysn

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Beschreibung

„Wie kann ein Morgen gut werden, wenn er noch vor dem Wachwerden beginnt?“ Herbert kennt sie, diese Tage, die schon morgens das Elend des Tages einfangen und die man am besten im Bett verbringen sollte. Davon hatte er schon viel zu viele. Abgestumpft von den täglichen Enttäuschungen wartet er … ja auf was eigentlich? Sein wöchentliches Skatspiel mit Kumpel Holger? Ein Bierchen bei Manni? In diese Phase seines Lebens kommt, mehr durch Zufall, Bewegung und der frische Wind lässt ihn aufbrechen in eine hoffnungsvollere Welt. Nur hätte er den Start nicht ausgerechnet MORGENS wagen sollen. Denn so passieren ihm Fehler, die seine Zukunft massiv gefährden … Der Morgen ist einfach nicht seine Zeit.

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Agatha van Wysn

Morgenmuffel

„Wie kann ein Morgen gut werden, wenn er noch vor dem Wachwerden beginnt?“

Herbert kennt sie, diese Tage, die schon morgens das Elend des Tages einfangen und die man am besten im Bett verbringen sollte. Davon hatte er schon viel zu viele. Abgestumpft von den täglichen Enttäuschungen wartet er … ja auf was eigentlich? Sein wöchentliches Skatspiel mit Kumpel Holger? Ein Bierchen bei Manni?

In diese Phase seines Lebens kommt, mehr durch Zufall, Bewegung und der frische Wind lässt ihn aufbrechen in eine hoffnungsvollere Welt. Nur hätte er den Start nicht ausgerechnet MORGENS wagen sollen. Denn so passieren ihm Fehler, die seine Zukunft massiv gefährden …

Der Morgen ist einfach nicht seine Zeit.

Über die Autorin:

Die bekennende Exil-Hessin nennt sich lieber „Schreiberling“ oder „Bleistifttäter“, aber nur selten Autor. Ob man sie Autor nennt, überlässt sie lieber anderen. Ursprünglich „nur Konsument“ formte erst die Empörung über ein „unterirdisches Kinderbuch“ und seinen sogenannten Autor ihren ersten Schreiberling-Satz.

Seit dem genießt sie es, ihre anthrazit-gefärbten Gedanken niederzuschreiben, möge sich auch ihr Garten zur urbanen Wildnis wandeln. Wer definiert schon Unkraut? Und sollte die Nachbarskatze vorbeischlendern, findet sich im Kühlschrank immer ein Leckerbissen.

BVTEN VN BINNEN

WAGEN VN WINNEN

(„draußen und drinnen – wagen und gewinnen“)

Plattdeutscher Wahlspruch der Bremer Kaufmannschaft (Inschrift auf dem Gildehaus „Schütting“ in Bremen)

Ausführliche Information

über unsere Autoren und Bucher erhalten Sie auf

www.JustTales.de

Kriminalgeschichte

von Agatha van Wysn

1. Auflage 2017

Ungekürzte Taschenbuchausgabe

Oktober 2017

JustTales Verlag, Bremen

Geschäftsführer Andreas Eisermann

Copyright © 2017 JustTales Verlag

An diesem Buch haben viele mitgewirkt, insbesondere:

Lektorat: Britta-Chr. Engel

Korrektorat: Roland Blümel, Britta-Chr. Engel

Einbandgestaltung: ArBIS Bremen gemeinnützige GmbH

unter Mithilfe der Beschäftigten der WeBeSo

Buchsatz: Da-TeX Gerd Blumenstein

Druck & Bindung: Booksfactory.de/PRINT GROUP Sp. z o.o.

Paperback (ISBN 978-3-947221-06-6)

Auch erhältlich als

E-Book (ISBN 978-3-947221-07-3)

Lieber Leser!

Der JustTales Verlag dankt für den Kauf dieses Print-Exemplars.

In Zeiten der Digitalisierung fällt es kleinen Sortimentsbuchhandlungen immer schwerer, Ihnen eine Vielfalt an Büchern zu präsentieren. Daher freuen wir uns, dass Sie mit dem Kauf eines Print-Exemplars den Deutschen Buchhandel unterstützt haben und wünschen Ihnen ebenso viel Freude beim Lesen, wie wir hatten beim Erstellen des Buches.

Ihr Team vom JustTales Verlag

Agatha van Wysn

Morgenmuffel

Eine

(etwas skurrile)

Kriminalgeschichte

mitten aus dem Leben

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
1. Morgenstreß
2. Morgenstund, kein Gold im Mund
3. Glück gehabt
4. Fröhlich am Morgen
5. Eins, zwei, drei, schubs die Polizei
6. Rudi
7. Küchendüfte
8. Immer Ärger mit Rudi
9. Videostunde
10. Pläne
11. Herberts Bastelstunde
12. Zeugensuche
13. Neue Pläne
14. Das Ende
15. Aufräumen
16. Weiße Hölle
17. Konferenz
18. Oberschwester Ortrud
19. Krankenhäuser sind ätzend
20. Vanessa
21. Polnische Geschäfte
22. Machtkämpfe
23. Ruhe sanft
24. Aufbruch
25. Warte, warte nur ein Weilchen …
26. Dauerschlaf
27. In Sicherheit
28. Bei Manni
29. Der wird doch nicht?
30. Geldnöte
31. Reinigung
32. Prügel
33. Kalt, wärmer, heiß?
34. Wartezeiten
35. Neue Erkenntnisse
36. Überlegungen
37. Gejagt
38. Fingerspiele
39. Rentner Herbert
40. Besuch
41. Trauriges Wiedersehen
42. Überraschung
43. Fazit
Epilog

1. Morgenstreß

„Riiiiiiiiiiiiiiiiiiiing, riiiiiiiiiiiiiiiiiiiing,…“

Herbert tastete nach seinem Hausschuh und schmiss ihn in die Richtung, aus dem das nervtötende Klingeln seines Weckers dröhnte. Jahrelange Übung ließ ihn treffen, aber das Klingeln ging weiter.

„Riiiiiiiiiiiiiiiiiiiing, riiiiiiiiiiiiiiiiiiiing,…“

„Verdammtes Ding“, schnaufte Herbert und rollte sich schwerfällig aus dem Bett, tastete nach dem Wecker und schaltete ihn mit geübtem Griff aus. Erschöpft fiel er zurück aufs Bett und war sofort wieder eingeschlafen.

„Brrrrrrrrrrrrrrrrrrrr!“ Der zweite Wecker meldete sich, widerlich brummend wie jeden Morgen. Zeitgleich ging auch der Radiowecker an und eine, vermutlich angenehme, für ihn jedoch nervtötende Stimme verkündete Unheil.

„…in Südhessen vermehrt Schauertätigkeit. Die Temperaturen werden den ganzen Tag nicht über 11 Grad klettern. Morgen hält das Schmuddelwetter an. Auch das Wochenende wird verregnet und für die Jahreszeit zu kühl. – Und jetzt weiter mit der Sendung „Munter in den Tag“ mit Ihrer Moderatorin Silvia Fröhlich …“

Herbert tastete erneut nach einem Hausschuh, vergeblich. Einer lag noch beim ersten Wecker, der zweite Hausschuh war unauffindbar. Herbert fluchte. Das Radio verbreitete weiterhin unerschütterlich strahlende Laune, als müsse es jeden Regentropfen einzeln mit Trommelwirbel wegblasen. Herbert hielt sich die Ohren zu und hoffte, sein Schädel würde von dem Lärm nicht platzen. Er fuhr mit seinem Morgenritual fort, quälte sich aus dem Bett und begann, den zweiten Wecker zu suchen. Das Brummen nervte.

„Wo bist du, Mistding!“ Er folgte dem Brummton bis zur anderen Seite des Bettes. Der Klamottenhaufen, der dort lag, vibrierte ein wenig. Ein vielversprechendes Zeichen. Herbert hob eine Jeans und das T-Shirt, das er gestern getragen hatte, hoch. Darunter zappelte der zweite Wecker.

Nach dem letzten Bier aus seinem Feierabend-Sixpack war er gestern Nacht mit letzter Kraft zu seinem Bett gewankt, hatte sich ausgezogen und war wie ein Baum umgefallen. Nicht, dass er sonst die Sachen ordentlich hinlegte. Helga hatte das immer irre gemacht.

Herbert stellte den Wecker aus, schlurfte ins Bad und ließ sich auf die Toilettenschüssel fallen. Als der Vermieter ihm den Einbau eines Pissoirs anbot, hätte er gerne zugesagt, denn seiner Meinung nach stand ein echter Mann beim Geschäft.

Helga dagegen hatte es nicht erlaubt. „Das ist doch keine Kneipe“, hatte sie seinen Wunsch abgetan und ihn empört angesehen. Damit war die Idee gestorben. Echt schade. Ein Blick in den halbblinden Spiegel sagte ihm, dass er das Sixpack vielleicht besser hätte sein lassen sollen. Dicke Augenringe, aus denen ein geschickter Chirurg auch zwei hätte machen können, gaben dem faltigen Gesicht mit der unreinen Haut einen erbärmlichen Eindruck.

Was soll̕s, dachte er sich. Der Lack ist ab! Helga musste er nicht mehr beeindrucken. Die war vor fünf Jahren nach einer letzten Mecker-Arie abgezwitschert und hatte sich scheiden lassen. Unüberwindbare Gegensätze. – Erstaunlich, dass sie das erst nach zwanzig Jahren Ehe feststellte. – Was ihn zuerst aus der Bahn geworfen hatte, stellte sich als Geschenk heraus. Endlich musste er morgens keine Opern mehr quatschen. Helga hatte auf ein Gespräch beim Frühstück bestanden und regelmäßig den Tag durchplanen wollen. Er zog dabei immer den Kürzeren, da er im Halbschlaf nicht ansprechbar war, kaum denken konnte und so immer nur mit einem gebrummten „Ja Schatz“ geantwortet hatte. Helga wusste das und nutzte es weidlich aus. So gab es im Nachhinein immer Stress, da er sich an nichts mehr erinnerte und sie enttäuscht war, wenn er nicht das tat, was sie ihm aufgetragen hatte. Auch nach den langen Ehejahren war ihr nicht gelungen, aus dem Morgenmuffel Herbert eine Trällerlerche zu formen. – Gelobt sei der Tag, an dem sie endlich aufgab!

Herbert sparte sich die Morgenhygiene. Er spülte nur kurz seinen Mund mit fließendem Wasser aus, da sich das Bier vom Abend mit einem säuerlichen Geschmack in Erinnerung brachte. Zurück im Schlafzimmer griff er nach den gleichen Sachen, die er gestern angehabt hatte. Einen Tag würde es wohl noch gehen und: Ein bisschen Gestank hat noch keinen umgebracht.

Er hasste den Waschsalon, in dem er seine Sachen gelegentlich wusch, wenn es nicht mehr zu vermeiden war. Diese Hausfrauen mit ihren schreienden Plagen, die sich da immer trafen, erinnerten ihn an Helga, auch wenn Helga kinderlos geblieben war. Das hätte ihm noch gefehlt. Kinder! … Kosteten ein Vermögen und waren undankbarer als jeder Chef.

In der Küche brühte er sich den üblichen, löslichen Kaffee, den er im Stehen herunterschüttete. Er warf einen schnellen Blick auf die Küchenuhr, dann schnappte er sich seine Jacke, schlüpfte in die ausgetretenen Slipper und verließ seine Wohnung. Das Treppenhaus roch nach Bohnerwachs und Spießigkeit. Frau Schulze war überall zu spüren und machte ihrem Namen alle Ehre. Sie war der Hauspolizist oder hielt sich zumindest dafür. Seine Geißel der Nachbarschaft.

„Herr Hass, Sie haben schon wieder die Treppenreinigung nicht gemacht.“ Verdammt, da war die alte Vettel schon wieder. Frau Schulze stand in ihrem üppigen, rosa Bademantel in der Tür.

Wer nur hat ihr ausgerechnet die Parterrewohnung vermietet? Wie Zerberus vor dem Tor zur Unterwelt, hatte sie sich an ihrer Wohnungstür aufgebaut.

„…Und Ihr Briefkasten ist so voll, dass sich der Briefträger bei mir beschwert hat. Wann leeren Sie den endlich mal wieder? Wir sind hier ein anständiges Haus. So geht das nicht. Wenn Sie sich nicht endlich an die Hausordnung halten, muss ich Sie dem Vermieter melden. Dann sind Sie die längste Zeit hier Mieter gewesen…“

Er hatte schon nach dem ersten Satz abgeschaltet. Seinen Schritt beschleunigend, drückte er sich durch die Haustür und stockte erstmal geblendet nach dem dunklen Hausflur. Die Augen zusammengekniffen wandte er sich nach rechts, während das Gekeife hinter ihm verstummte.

2. Morgenstund, kein Gold im Mund

Eine Gruppe Schulkinder passierte ihn. Sich gegenseitig schubsend traten sie eine Papierkugel, die als Fußballersatz diente und johlten in schmerzender Lautstärke.

„Scheiß Morgen.“ Die Papierkugel rollte vor seine Füße und er trat mit Inbrunst drauf und drehte noch kurz den Fußballen, damit die Kugel auch sicher platt wie eine Flunder liegenblieb.

„Ey, was soll das?“ Die Kinder protestierten. Es kümmerte ihn nicht. Er musste weiter, sonst würde er zu spät kommen. Sein Chef würde ihn sonst rund machen. Der hatte ihn sowieso auf dem Kieker.

„Klatsch.“ Irgendwas hatte ihn an der linken Schulter getroffen. Er fasste sich mit der rechten Hand an die Stelle und fühlte etwas Nasses. Auf den Boden klatschten die Reste einer überreifen Tomate.

„Ihr verdammten Drecksgören!“ Er drehte sich zu den Kindern um, aber die hatten wohlweislich das Weite gesucht und verschwanden gerade grölend um die nächste Häuserecke. Keine Chance, eine dieser Ratten noch zu erwischen und sie an den Ohren zu ihren Erzeugern zu ziehen, selbst wenn er die Zeit gehabt hätte. Er fuchtelte noch mit der rechten Faust in der Luft, was aber bei den verschwindenden Kindern nur noch mehr Heiterkeit erzeugte.

Auf dem Weg zur U-Bahn lag ein Café. Dort würde er die Reste der Tomate abwischen. Er beschleunigte seine Schritte, da die Nässe der Tomate langsam durch die dünne Jacke drang und sich unangenehm feucht anfühlte. Als er beim Café ankam, war die Töle des Brezelverkäufers, der ihn immer in der U-Bahnstation nervte, vor dem Laden angebunden. Na toll. Der auch noch, stöhnte er. Er versuchte, sich an dem Dackel vorbei zu drücken, aber die Leine ließ mehr Spielraum, als der Besitzer gedacht hatte. Rudi, der Dackel mit dem extremen Hängebauch, wedelte begeistert mit dem Schwanz und hoffte auf einige Streicheleinheiten. Herbert fürchtete um seine Hosenbeine und holte kurz aus … Umgehend quietschte Rudi in den höchsten Tönen und verzog sich schnellstens aus der Reichweite von Herberts Tritten.

„Freundlichkeit ist überbewertet“, brummte Herbert.

Er drückte die Tür auf und bekam prompt einen halben Latte macchiato mit extra Haselnuss-Sirup auf die Jacke. Rudis Besitzer war dem Gejaule seines Dackels gefolgt und wollte nach dem Rechten sehen.

„Oh, Entschuldigung! … Ja Rudi, was ist denn? Na was hat denn mein Dickerchen? Mein süßer Kleiner!“

Herbert glotzte ungläubig den Brezelverkäufer an. Der kippte ihm seinen Latte über und außer einem gehetzten „Entschuldigung“ kümmerte er sich lieber um die verfettete Töle? Herbert war kurz vorm Platzen.

„Hey Sie! Sind sie noch bei Trost?“

Irritiert blickte der Brezelverkäufer hoch. Automatisch grinste er und erwiderte routiniert freundlich: „Guten Morgen!“

Soviel Ignoranz nahm Herbert die Luft. Er drehte sich auf dem Absatz um, verschwand hinter der Tür und strebte Richtung Tresen. Ein kurzer Blick hoch und runter, dann hatte er den Serviettenständer ausgemacht und griff beherzt zu.

„Ey, Sie da. Servietten nur für Kunden. Und dann nicht gleich den halben Ständer!“, raunzte ihn die gestresste Bäckereiverkäuferin an.

„Hab̕ ich doch, oder was glauben Sie, was das hier auf meinem Ärmel ist? Ist doch Ihr Latte.“ Herbert ließ sich nicht stören. Als er fertig war, schmiss er die Handvoll Servietten über den Tresen.

„Da, können Sie wiederhaben, Ihre kostbaren Servietten.“

Herbert drehte sich ruckartig um und verließ die Bäckerei, ohne sich um das empörte Gemurmel zu scheren. Der Brezelverkäufer mit seinem verfetteten Köter war nicht mehr zu sehen. Besser so. Noch einmal hätte ihn der Verkäufer mit seiner aufgesetzten Freundlichkeit nicht überrumpelt.

Zu dumm, dass einem die besten Antworten immer erst im Nachhinein einfallen.

Das war schon früher bei Helga so. Wenn er in der Werkstatt war, kamen ihm die Antworten, die er ihr beim Frühstück so gerne an den Kopf geworfen hätte.

Der Eingang zur U-Bahn roch wie üblich verpisst. Herbert hielt den Atem an, bis er die Treppe hinter sich hatte. Auf Gleis 2 war es voll bis zum Anschlag. Vermutlich war mal wieder ein Zug ausgefallen. Er zwängte sich durch die Menge, bis er die Stelle erreichte, an der der Zug einfahren musste. Wenn er dort einstieg, dann wäre er ganz hinten im Zug und käme am Ziel auch am schnellsten wieder weg. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihm, dass das Intermezzo mit der Tomate und dem Latte sein Zeitfenster gesprengt hatte. Na toll, sein Chef hatte ihm das letzte Mal schon gedroht, dass er bei der nächsten Verspätung eine Abmahnung bekäme. Das würde wieder ein Scheißtag werden. Und wer war schuld daran? Der Brezelmann mit seiner Töle und seinem verlogenen „Guten Morgen“.

An diesem Punkt in seinen Gedanken angekommen, sah er das Objekt seines Hasses auf sich zukommen. Eine Ader an seiner Schläfe fing an, deutlich zu pochen.

„Guten Morgen, guten Morgen! Frische Brezel gefällig! Butterbrezel, saftig und lecker! Guten Morgen!“ Der Brezelmann kam langsam auf ihn zu. Er lief am Rande des Bahnsteigs, da dort am meisten Platz war, den er mit seinem Brezelkorb benötigte.

Jedes „Guten Morgen“ schmerzte Herbert. Dies war kein „Guter Morgen“. Niemals! Diese Heuchelei tat ihm geradezu körperlich weh.

Der Brezelverkäufer war nur noch einen Meter von ihm entfernt. In der Ferne rauschte es und ein Windhauch drückte auf den Bahnsteig. Der Zug war nahe. Die Wartenden drehten sich gegen den Wind und hielten ihre Hüte und Mützen fest.

„Guten Morgen!“ Der Brezelmann rempelte Herbert mit seinem Korb an. Dem gingen nun endgültig die Nerven durch und er machte eine abwehrende Bewegung mit dem rechten Arm. Der Brezelverkäufer reagierte instinktiv und wich zurück. Einen Schritt zu weit … Der Zug war da.

Herbert blickte noch kurz in die ungläubig aufgerissenen Augen des Brezelverkäufers, sah die ausgestreckte Hand. Er bückte sich und hob eine Brezel auf. Während er herzhaft zubiss, denn er hatte noch kein Frühstück und sich die Butterbrezel verdient, vermischte sich das gellende Geschrei mit den quietschenden Bremsen des Zuges. Herbert murmelte leise, den Mund voll mit Brezelkrümeln: „Sag ich doch. Scheiß Morgen.“

3. Glück gehabt

In dem folgenden Chaos war es ein Leichtes, die U-Bahnstation wieder zu verlassen. Gesehen hatte ihn keiner, da sie alle mit dem Rücken zu ihm standen, um dem Wind zu entgehen, den der Zug vor sich herschob.

Herbert hob die Brezel hoch über den Kopf und zwängte sich zwischen den Gaffern einen Weg zum Ausgang. Er hatte keinen Bock mehr auf die tägliche Maloche im Sender. Herbert arbeitete als Elektriker im gleichen Sender, der ihn morgens immer weckte. Ein Anfall von Masochismus hatte ihn genau diesen einstellen lassen, als er sich den Radiowecker gekauft hatte. Seitdem verfluchte er jeden Morgen die Idee, wenn er die schrille Stimme von Silvia Fröhlich hörte. „Fröhlich am Morgen“, so ein bekloppter Slogan. Welcher Morgen konnte schon fröhlich sein, wenn er mit Aufstehen vor dem Wachwerden anfing?

Zuhause angekommen, griff er erstmal zum Telefonhörer und meldete sich in der Zentrale krank. Magenverstimmung. Sollten sie mal überprüfen, woran das lag. Konnten sie nicht. Er hatte tatsächlich leichte Magenschmerzen. Vermutlich war eins der Biere gestern Abend doch schlecht gewesen, grinste er. Na ja, Laugengebäck sollte prima für die Verdauung sein. „Nur nicht, wenn man damit auf den Gleisen der U-Bahn liegt“, lästerte er und legte sich erstmal wieder ins Bett. Ausschlafen.

Den ganzen Tag verfolgte er die Nachrichten, ob jemand seinen Schubser gesehen und an die Polizei verraten hätte. Nach dem Aufwachen war er über sich selbst erschrocken, wie er so hatte ausrasten können, aber nun war es zu spät. Helga hätte es gewusst, dass man ihn morgens nicht nerven durfte. Er hatte dann immer eine mörderische Laune. Wie mörderisch, hatte er selbst nicht geahnt.

Es dauerte bis zu den Abendnachrichten, bis überhaupt eine Meldung kam. Unglücksfall hieß es. Einige Aasgeier drängten sich ins Bild der Kamera und machten einen auf geschocktes Mitleid. Der Moderator fragte sie, ob sie was gesehen hätten, aber alle mussten verneinen. Man ging davon aus, dass der Verkäufer ausgerutscht war. Die Leiche oder was von ihr übrig war, wurde nicht gezeigt. Herbert schnaufte erleichtert und machte sich noch ein Bier auf.

4. Fröhlich am Morgen

Bis zur U-Bahnstation lief alles glatt. Keine Kinder, keine Hunde, selbst Frau Schulze ließ sich nicht blicken. Kein Wunder, es regnete Bindfäden. Bei diesem Wetter verzog sich, wer konnte, im Haus und kümmerte sich nur um sich selbst. Die Leute duckten sich vor den Regenschauern, die durch die Gassen peitschten und waren froh, wenn sie endlich ins Trockene gelangten. Herbert war auch froh, dass er sich nicht unterhalten musste. Er kostete die Stille aus, solange es ging. Nachher im Sender würde es wieder rundgehen. Sein Chef hatte ihm schon angedeutet, dass das Büro von Silvia Fröhlich heute umziehen sollte. Gleich nach der Sendung sollte es losgehen und morgen früh musste alles wieder reibungslos laufen. Eine Menge Arbeit, denn das Büro war voll von Gerümpel, technischem und persönlichem. Hoffentlich hatte Silvia wenigstens schon angefangen, Kisten zu packen. Als er nach dem Wochenende wieder zur Arbeit gekommen war, hatte es nicht so ausgesehen, als hätte sie auch nur einen einzigen Ordner in die entsprechende Kiste geräumt.

Am Spind angekommen, zog er seinen Blaumann mit dem Logo des Senders an, dazu den passenden Kapuzenpulli und schnappte sich seine Werkzeugtasche. Die Tasche sah wie Herbert aus; verknittert, der Lack abgekratzt und an den Seiten ging die Naht auf, wie bei Herbert. Innendrin ein Sammelsurium an Werkzeugen und Drähten, bunt durcheinander. Es grenzte an ein Wunder, dass er immer alles fand, was er benötigte. Jeder andere wäre in dem Chaos verloren gegangen, aber Herbert kannte sich aus.

Das Studio lag im 5. Stock, Silvias Büro im 4. Mit dem zunehmenden Erfolg war sie jedes Jahr ein Stockwerk höher gerutscht. Nur in dem Jahr, als sie die Beziehung mit dem ehemaligen Moderator der Morgensendung eingegangen war, hatte sie ein Stockwerk übersprungen. Er hatte dafür gesorgt, dass sie wie er in den dritten Stock ziehen konnte. Sie dagegen hatte dafür gesorgt, dass er im nächsten Jahr den Sender verlassen musste und sie seinen Platz bekam und das Büro im 4. Stock.

Herbert hasste die ständigen Umzüge. Irgendwas ging immer schief und nicht immer waren die Handwerker schuld. Aber da die Moderatoren nie kritisiert wurden – sie waren die heiligen Kühe des Senders, denn sie brachten die Einschaltquoten und somit Werbeeinnahmen – schob man Fehler immer auf die Technik.

Er fuhr mit dem Aufzug in die 4. Etage. Manuel, sein Azubi, erwartete ihn schon. Er klopfte ihm auf die Schulter, denn der hatte wieder die Kopfhörer in den Ohren und hörte sein Technogedudel so laut, dass die Umwelt nicht mehr existierte.

„Hey Manuel, na? Alles klar?“

Manuel schrak zusammen und zog sich erstmal einen Kopfhörer aus einem Ohr.

„Was? Ach Herbert. Du hast mich vielleicht erschreckt. Geht̕s los?“

„Ja, geht los. Warst du schon bei Silvia im Büro? Hat sie endlich mit Packen angefangen?“

„Keine Ahnung. Ich geh ihr immer aus dem Weg. Wenn sie mich sieht, muss ich immer Kaffee holen von Starcash, weil sie unseren Automatenkaffee nicht mag und nie krieg ich das Geld wieder. Dabei hab̕sch nur Azubi-Gehalt.“

„Ja, für unsere Morgenprinzessin nur das Beste!“, lästerte Herbert. Gemeinsam mit Manuel strebte er dem Eckbüro von Silvia zu. Einige Schritte entfernt fegte Andrea, Silvias Sekretärin, mit einem Haufen Papieren aus dem Büro und stieß fast mit den Handwerkern zusammen.

„Ups, Entschuldigung. Die Herren Handwerker. Na endlich. Silvia ist schon am Toben, weil noch nichts fertig ist.“

„Moment Mal, wir haben einen Termin für den Umbau für 9:00 Uhr und es ist gerade mal 8:45 Uhr. Wo drückt sie denn der Schuh?“

„Sie hat ihre Aufzeichnungen für die heutige Sendung nicht gefunden, dabei hat sie sich die extra mit nach Hause genommen. Das hat sie aber vergessen. Jetzt ruft sie in jeder Pause an und lässt mich sie suchen.“

„Hast du sie nicht darauf hingewiesen?“

„Ja klar doch, aber du kennst sie ja. Zuckersüßes Lächeln und dann kommt: ‚Schätzchen, das wüsste ich doch. Sei so lieb und such sie.‘“

Ja, das kannte Herbert. Dazu hatte Silvia immer noch ein Augenrollen parat, als wollte sie sagen: „Muss ich denn immer nur mit Idioten arbeiten?“

„Hat sie wenigstens ihr Büro eingepackt?“

„Wo denkst du hin! Es sieht noch schlimmer aus als am Freitag.“

Na danke. Herbert schnaufte. Er war doch kein Umzugshelfer. Er war Elektriker. Sogar ein versierter. Fast hätte er auch noch seinen Techniker gemacht, aber Helga verlangte volle Aufmerksamkeit, wenn er heimkam, und ein Studium hätte er nicht nebenher machen können.

Manuel und Herbert betraten das Büro und wurden von der Enge fast erschlagen. Zu dem ganzen Müll lehnten noch die Umzugskartons am Schrank und verengten den Weg zusätzlich. Es half nichts, jetzt hieß es einpacken, sonst kam er nicht an die Steckdosen.

„Same procedure as last year, Miss Silvia!“, murmelte Herbert.

„Häh?“ Manuel sah Herbert fragend an.

„Sprich deutsch, lass das hessisch. Das heißt: Wie bitte, was haben Sie gesagt? Können Sie das noch mal wiederholen? Und außerdem: Kennst du kein ̕Dinner for one̕?“

„Häh is̕ kürzer. Nee, kenn ich nicht!“

„Bildungslücke! Was lernt ihr Kinder denn sonst noch nicht?“

„Lass stecken, Alter. Die Hälfte is̕ es sowieso nicht wert.“

Herbert hätte das gerne noch ausdiskutiert, aber er sah die Sinnlosigkeit, dem Bengel was beizubringen. Es würde nur seine Nerven kosten und die hatten in den vergangenen Jahren schon genug gelitten.

Neun Uhr war vorbei, es ging bereits auf halb zehn zu, als Silvia endlich auftauchte. Eine Wolke Parfüm kündigte sie schon an, lange bevor sie den Raum betrat. Herbert musste husten.

„Guten Morgen, guten Morgen. Na wie geht es voran, meine kleinen Helferlein!“ Herbert bekam einen Würgereiz.

Helferlein?Wo waren wir denn hier? Bei Schneewittchens Party?

„Frau Fröhlich, es war ausgemacht, dass Sie Ihre privaten Sachen bereits eingepackt haben.“

„Aber das sind sie doch!“ Silvia zeigte auf eine kleine Wanne aus Plastik, die in der Ecke stand, umgeben von Schirmen, Aktenordnern, Topfpflanzen und Unmengen an Stiften, die auf und unter dem Schreibtisch lagen.

„Kann ich dann den Rest entsorgen?“

Silvia ließ ein perlendes, ungläubiges Lachen hören.

„Aber mitnichten. Ich benötige ALLES!“ Sie machte eine weitschweifende Handbewegung und Manuel musste sich ducken, damit sie ihm dabei nicht aus Versehen eine Ohrfeige verabreichte.

Silvia überging die Reaktion. In ihrem Universum gab es außer ihr sowieso keine anderen Menschen.

„Aber das ist doch überhaupt kein Problem. Ein solch schöner Morgen heute, da geht einem die Arbeit doch doppelt so schnell von der Hand.“ Sprach̕s und war wieder verschwunden.

Herbert hechtete zur Tür.

„Frau Fröhlich! Frau Fröhlich … Was ist mit Einpacken?“

Aber Silvia Fröhlich drehte sich nicht mal um. Sie hob nur winkend die Hand und rief laut: „Guten Morgen!“ Und verschwand um die Ecke.

Herbert kochte.

Helferlein … ich geb̕s dir, Helferlein. Was denkt die, wer sie ist?

Herbert und Manuel schufteten wie die Wilden. Manuel packte und Herbert trug die Kisten einen Stock höher, da Auszubildende nicht so schwer tragen sollten und der Aufzug für solche Lasten nicht benutzt werden durfte.

Das Büro war gerade mal halb leer, als Herbert zum gefühlten hundertsten Mal die Treppe zum 5. Stock hinaufstieg, schwer atmend und schwitzend. Er hätte seinen Kapuzenpulli doch besser im Spint gelassen. Den hatte er aus Gewohnheit angezogen, da er oft aufs Dach musste und der Wind dort ordentlich pfiff.

Wie er so die Stufen hochkeuchte und Silvia innerlich verfluchte, weil sie aber auch „Garnichts“ vorbereitet hatte, kam sie ihm mit ihrem Bleistiftrock und den hohen Stilettos auf der Treppe entgegen. Ihre Bleistiftabsätze klapperten ohrenbetäubend.

Komisch, Frau Super-Fröhlich nutzt nicht den Aufzug?

Herbert betrachtete sie sich genauer. Silvia merkte es nicht, da sie sich gerade die Lippen nachzog, die am Rand verschmiert waren.

Aha, wer ist denn diesmal dein Opfer, überlegte Herbert. Es konnte nur ein anderer Mann sein, für den Silvia die Treppe benutzte. Das arme Schwein.

Als sie auf gleicher Höhe waren, versuchte Silvia, sich vorbei zu drücken. Herbert war nicht gerade schlank, aber die Kiste vor seinem Bauch machte ein Vorbeikommen unmöglich.

„Jetzt gehen Sie doch aus dem Weg, Sie dummer Mensch! Sehen Sie nicht, dass ich es eilig habe?“

Sie hatte es eilig? Warum hatte sie es nicht eilig gehabt, ihr ganzes Gerümpel zusammenzupacken. Herbert schnaubte verächtlich.

„Auf, los, Morgenstund hat Gold im Mund. Kommen Sie in die Gänge … husch, husch!“

Die hatte sie wohl nicht mehr alle im Gebälk. Herbert versuchte erneut, an Silvia vorbeizukommen, nur um sie loszuwerden, aber er hing fest.

„Sie Kretin, Sie ruinieren mein Kostüm! Sie sind diesen Morgen wohl mit dem linken Fuß aufgestanden. Jetzt gehen Sie mir endlich aus dem Weg. Ich muss meine Arbeit machen!“

„Ich auch!“, fauchte Herbert und drückte die Kiste der verdutzten Silvia an die Brust, dann riss er sich gewaltsam aus der Umklammerung und stieß Silvia die Treppe herunter.

Silvia war viel zu perplex, um zu schreien. Sie fiel stumm die Treppe bis zum nächsten Absatz und blieb wie eine Schaufensterpuppe mit verschmiertem Mund und ungläubig aufgerissenen Augen liegen. Einige der manikürten Fingernägel waren abgebrochen und lagen auf den Treppenstufen. Einer war tief in Herberts Kapuze gefallen, aber das hatte er nicht gemerkt. Rund um Silvia Fröhlich flatterten die Papiere aus ihrem Büro. Es sah aus, als hätte sie sich am Ausräumen ihres Büros doch noch beteiligt und wäre durch die hohen Absätze auf der Treppe gestolpert.

Herbert betrachtete das Bild. Andächtig. Mit einem Lächeln.

„Vielen Dank, Frau Fröhlich. Na dann kann ich ja jetzt Pause machen. Das Zimmer im 5. Stock werden Sie wohl nicht mehr benötigen. Einen guten Morgen, wünsch ich.“

Herbert stieg die Treppe hinauf, nahm den Fahrstuhl zurück in den 4. Stock, holte Manuel zum verspäteten Frühstück ab und spendierte ihm eine Bockwurst. Er hatte jetzt Zeit.

Als Herbert und Manuel nach dem Frühstück wieder in den 4. Stock kamen, bat Herbert Andrea, sie möge bei der nächsten Kiste mitkommen, um den Standort für die Sachen festzulegen. Er ließ sie bewusst als erste ins Treppenhaus gehen und die Tür aufhalten.

Eindeutig ein Fehler. Der gellende Schrei von Andrea ging durch Mark und Bein. Er ließ die Kiste fallen und hielt sich die Ohren zu, trotzdem verursachte der Schrei ein Klingeln in seinen Ohren, das sich gewaschen hatte. Frauen! Da sagte man ihnen nach, sie hätten außergewöhnlich viele Worte, aber im Notfall kam nur ein einziger Buchstabe aus ihnen heraus. Außergewöhnlich war nur die Lautstärke.

Der Rest des Tages verging wie im Flug. Sanitäter, Rettungsdienst, Notarzt, Polizei. Als wenn es da noch etwas zu retten gegeben hätte. Silvia hatte das letzte Mal ihr heuchlerisches „Guten Morgen“ durch die Welt geschmettert. Aber die Kräfte konnten Andrea betreuen, die sich nur schwer wieder beruhigte. Obwohl sie, wenn man ehrlich war, sich mehr um ihren Job sorgte. Ohne Chef, keine Assistentin. Sei der Chef, bzw. die Chefin, auch noch so mies … ohne sie bestand Gefahr, dass der Job gekündigt wurde.

Wegen des Todesfalles erlaubte man ihm, früher zu gehen, was Herbert auch gleich in die Tat umsetzte.

5. Eins, zwei, drei, schubs die Polizei

Kommissar Oder lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und rieb sich die müden Augen. Sein Blick fiel auf die Aktenstapel, die nicht kleiner wurden, so sehr er sich auch bemühte. Kein Wunder, hier im Amt wurde gespart auf „Teufel-komm-raus“. Letzte Woche hatten sie auch noch seine Sekretärin abgezogen. Wie sollte er sich um die Ermittlungen kümmern, wenn er nicht mal den normalen Schreibkram vom Tisch bekam?

Er griff nach dem Stapel Eingangspost. Akten in allen Stärken, eine Werbung für einen neuen Pizzadienst – na die könnte er mal besser aufheben, denn der andere hatte in letzter Zeit immer nur matschige statt knusprige Pizza gebracht – und … oh, seine Gehaltsabrechnung. Schmerzensgeld wäre der bessere Ausdruck dafür.

Es tat weh, den Nettobetrag zu sehen, die anderen Daten waren uninteressant. Die verbliebenen Urlaubstage ebenfalls. Er hatte noch den vollen Urlaub aus dem vergangenen Jahr, weil sein Kollege genau im November krank geworden war, als er in die Karibik fliegen wollte. So kurz vorm Weihnachtsgeschäft, wenn in den Straßen schon der Mob tobte … das ging gar nicht, da Urlaub zu nehmen. Also hatte Oder abgesagt. Schweren Herzens, denn er hatte Urlaub nötiger als je zuvor.

Seufzend schlug er die oberste Akte auf und las das Deckblatt. VU (Verkehrsunfall) von der Direktion für Verkehrssicherheit D600 an die Kriminaldirektion KI 10 für Kapitaldelikte weitergeleitet.

Er stöhnte. Sollte er deren Fälle jetzt auch noch bearbeiten. Also das ging zu weit. Er klappte die Akte wieder zu und holte sich erstmal einen Kaffee von der Wärmeplatte der Kaffeemaschine. Dann griff er in den Kühlschrank – eine winzige Zusage an die Abteilung und aus privaten Mitteln bezahlt – und griff ins Leere. Keine Milch. Verdammt.

Ein kurzer Blick auf den Kalender sagte ihm, dass er für den Nachschub an Milch verantwortlich gewesen wäre, aber er hatte das verschwitzt. Er probierte den Kaffee ohne Milch, aber nach vier Stunden auf der Wärmeplatte war der Kaffee schon fast so dick wie löslicher Kaffee. Noch zwei weitere Stunden und man hätte „Pralinenkaffee“ – fällt in Brocken aus der Tasse und kann man lutschen. Für diese Fälle war die Milch gedacht, da man die Brühe sonst nicht runter bekam, aber er hatte es ja vergessen.

Er schaute kurz auf seine Armbanduhr. Hmm, schon Feierabend, jedoch nicht für ihn. Er musste Überstunden machen, um sich überhaupt noch Herr der Lage nennen zu dürfen. Aber ohne Kaffee ging da gar nichts. Er griff nach seiner Jacke, schlüpfte hinein, griff seinen Schlüssel und verließ das Büro, nicht ohne hinter sich abzuschließen.

Sinnlos. Kommt doch keiner rein und macht meine Arbeit.

Vor dem Kommissariat schlug er erstmal seinen Kragen hoch. Es pfiff empfindlich und leichte Nieselwolken gaben ihre Schätze frei. Kommissar Oder fröstelte. Wo war jetzt gleich der nächste Supermarkt? Ah, da hat doch ein neuer aufgemacht. Gleich links um die Ecke. Milch würde der auch haben, also nichts wie hin.

Eine halbe Stunde später war er zurück. An der Kasse hatte er warten müssen, da eine Rentnerin unbedingt meinte, ihre sämtlichen Kupferstücke gerade jetzt loswerden zu müssen. Leider war das Sehvermögen nicht mehr das Beste und so griff sie in ihrem Portemonnaie immer daneben. Dass Kommissar Oder noch was zu tun hatte, war ihr völlig egal. Als er ihr anbot, die Münzen aus der Börse zu zählen, zuckte sie zurück und beschimpfte ihn, er wolle sie beklauen. Er hatte erst seine Dienstmarke zeigen müssen, um die Frau wieder zu beruhigen, weil sie Zeter und Mordio schrie. Erst die Angestellte an der Kasse konnte die Frau wieder beruhigen.

Wären mal alle so vorsichtig, dann hätte ich weniger auf dem Schreibtisch, grummelte er.

Der Kaffee war mittlerweile kalt. Egal. Wäre er sowieso geworden. Er kippte sich die Tasse halb voll mit Milch und trank einen Schluck. Dann griff er erneut nach der obersten Akte.

Bilder. Und was für Bilder. Ein Glück, dass er einiges abkonnte. Ein Polizeianfänger hätte jetzt keine Lust mehr auf sein Mittagessen gehabt, obwohl die immer hungrig waren, in jeder Hinsicht. Ein Mann war vor die U-Bahn gestürzt und vom einfahrenden Zug mitgeschleift worden. Das hatte er nicht überlebt.

Brezelverkäufer. Kommissar Oder bekam Hunger. So eine Brezel wäre jetzt auch nicht schlecht, aber er hatte vergessen, sich eben im Supermarkt was mitzunehmen. Aber nicht so eine Brezel, an der noch ein Arm dranhing. Nun schüttelte es ihn doch. „Lecker“ war anders.

Ok, also ein Sturz vor die Bahn. Und was sollte er damit?

Hinter den Bildern fand er den Autopsie-Bericht und die Zeugenaussagen. Nichts von Belang. Restspuren von Cannabis, aber nicht ausreichend, um eine Bewusstseinstrübung annehmen zu können. Vermutlich drei Tage vorher konsumiert. Auch kein Alkohol.

Die Zeugenaussagen gaben auch nichts her. Keiner hatte die Tat gesehen, da die Luft, welche die Bahn vor sich herschob, alle Passagiere hatte umdrehen lassen sodass sie mit dem Rücken zum einfahrenden Zug und dem Verunfallten standen. Er blätterte schnell weiter. An einer Aussage hing ein kleiner Klebezettel mit einem Ausrufezeichen. Das ließ ihn stoppen. Er nahm sich die Aussage genauer vor.

Eine Frau mit einem Siebenjährigen an der Hand. Sie selbst hatte nichts gesehen, aber der Junge hatte erwähnt, dass der Mann geschubst worden wäre. Von wem, konnte das verstörte Kind allerdings nicht mehr sagen.

Interessant. Wider Erwarten. Da sage mal einer, die Jugend von heute würde nicht mehr hinsehen. Obwohl … wenn man es recht bedachte, wäre es besser gewesen. So würden die Ermittlungen starten müssen und, da außer der Aussage eines siebenjährigen Kind keine Verdächtigen ausgemacht werden konnten, vermutlich im Sande verlaufen. Aber in Zeiten von Berliner U-Bahn-Schubsern, die medienwirksam im Fernsehen gezeigt wurden, kam er um eine Ermittlung nicht herum. Nicht auszudenken, jemand bekäme Wind von der Sache und er hätte nichts vorzuweisen. Lästige Sache.

Oder blätterte in seinem Adressbuch. Irgendwo musste er doch noch die Adresse von seinem Kontaktmann bei den Verkehrsbetrieben haben. Das hätte schon die von der Abteilung Verkehrssicherung machen müssen, aber die waren sich sicher, dass sich nichts finden ließ. Oder nur zu faul. Vermutlich aber genau wie er überlastet. Wenn man ehrlich war, ging der Sparfimmel ja durch alle Abteilungen. Ah, da war die Adresse. Herr Bummel.

Hehe … Bummel wie Bummelzug. Das ließ sich leicht merken. Vielleicht hatten die noch Aufnahmen vom Bahnsteig oder von Menschen, die den Bahnsteig verlassen hatten, bevor der Zug einfuhr. Alles würde helfen … oder nicht helfen, aber zumindest seinen Chef befriedigen.

6. Rudi

Drei Tage später wurde Herbert noch vor dem ersten Wecker von etwas geweckt, was er im ersten Moment nicht identifizieren konnte. Helga ist zurück, dachte er entsetzt. Helga hat mitbekommen, dass ich wieder im Stehen gepinkelt habe. Nur so konnten die heulenden Töne zustande kommen. Verdammt.