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Christine Sowell, Weinliebhaberin und -kennerin, hat ihr Hobby zum Beruf gemacht: Sie betreut das Resort Food & Travel der Frauenzeitschrift Convention, in dem sie Weine und Delikatessen verschiedener Regionen vorstellt. Als sie nach dem mysteriösen Mord an einem guten Freund zwecks Recherche an die Mosel fährt, beeindruckt sie mit ihrem Fachverstand bald den bekannten Weinbauer Graf Meckling. Doch Genuss und Idylle finden ein jähes Ende, als ein weiteres Verbrechen geschieht ...
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Seitenzahl: 372
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Die Winzerin blickte gespannt in Eriks Richtung. Mehrere Flaschen standen vor ihm auf dem Probiertisch, vor dem die Menschen sich drängelten, aufeinander einredeten und versuchten, noch etwas eingeschenkt zu bekommen. Doch aus irgendeinem Grund interessierte sich die Frau nur für Eriks Reaktion. Christine, die mit ihm etwas abseits stand, beobachtete es genau. Erik merkte nichts.
«Der schmeckt zu breit», sagte er und nahm das Glas von den Lippen. Er sprach leise, und Christine vermutete, dass die Winzerin es nicht verstehen konnte. Erik zwinkerte der Frau im Weggehen zu, kippte den Wein in einen der bereitstehenden Auffangbehälter und ging zum nächsten Stand.
Es war kurz vor 19 Uhr, in wenigen Minuten sollte die Weinmesse schließen. Auf den langen, weißgedeckten Tischreihen zeichneten sich Rotweinflecken ab, die weißen sah man nicht. Christine blickte über zerknüllte Preislisten, einsame Prospektstapel und unzählige leere Flaschen hinweg. Viele Winzer würden sich noch heute auf die Rückfahrt zu ihren Gütern machen, und einige würden ihre Weinberge erst am Morgen erreichen. Christine wäre jetzt auch gerne gegangen. Doch Erik deutete mit dem Zeigefinger in Richtung eines Tisches, an dem sich drei Männer miteinander unterhielten. «Das könnte interessant werden.»
Mit einem der Männer war sie befreundet: Bert Gernsheim, ein 72-jähriger Hamburger Weinhändler. Gestern, am vorletzten Tag der Messe, hatte sie hier mit ihm zusammen viele Weine probiert. Über den zweiten wusste sie aus Zeitschriften Bescheid: Chris Raura, Star-Winzer von der Mosel.
Ein stämmiger Mittvierziger, der häufig dunkle Lederkleidung trug und vom Augenschein her auch Sänger einer Rockband hätte sein können.
Aber wer war der dritte Mann?
Erik steckte seine Adlernase bereits ins nächste Weinglas, während er die drei konzentriert beobachtete. «Lass uns mal rübergehen.»
Christine nahm einen Schluck vom Grünen Veltliner und schmeckte die typisch pfeffrigen Noten der Weißweinsorte. Doch nach sechsstündiger, fast ununterbrochener Probe befanden sich ihre Geschmacksnerven nicht mehr in optimaler Verfassung. Sie wollte nach Hause.
Die Männer schienen über etwas Ernstes zu sprechen. Kein Lächeln, kein Griff zum Glas. Ab und zu hob Gernsheim die Hände für kurze, gemessene Gesten.
Der dritte Mann war blond und von gedrungener Gestalt. Irgendwo meinte sie auch ihn schon einmal gesehen zu haben. Er mochte etwas älter als Christine mit ihren 33 Jahren sein, Erik war drei Jahre jünger als sie. «Wer ist dieser blonde Frosch da?», fragte sie Erik.
Er antwortete nicht sofort, da er einen Schluck Wein gemächlich in seinem Mund hin und her bewegte. «Peer Steiger, praktisch ein Kollege von dir», erklärte er, nachdem er die Flüssigkeit gekonnt in den silbernen Degustierkübel gespuckt hatte. «Hat im Internet ein Weinmagazin gegründet und Leute dazu gebracht, jeden Monat ein paar Euro dafür zu zahlen. An und für sich schon eine Leistung, Leute dazu zu bringen, im Internet Geld auszugeben.»
Christine hatte keine Lust mehr auf anstrengende Gespräche, aber sie wollte sich von Bert Gernsheim verabschieden. «Also gut, lass uns hingehen.» Sie kippte den Rest des Veltliners in den Kübel.
Während Christine und Erik auf den Tisch der Männer
zu steuerten, brach deren Gespräch ab. Der Winzer Chris Raura betrachtete die Näherkommenden mit einem Blick, als wollte er sagen: Ihr seid eingeladen, ich gebe gerne etwas zu probieren, aber zeigt euch meiner Weine würdig. Seine dunklen, halblangen Locken sahen frisch gewaschen aus, und er machte nicht den Eindruck, als ob ihn die Verkostungen und der Rummel der letzten Tage angestrengt hätten.
Bert Gernsheim lachte auf seine typische, herzliche Art. «Christine, Erik! Wo wart ihr den ganzen Tag? Ich habe euch heute überhaupt noch nicht gesehen.» Der Weinhändler hatte braungraue Haare, die seitlich an der Stirn gescheitelt waren, ein freundliches, aufmerksames Gesicht und hellblaue Augen. Zu seinem braunen Anzug trug er ein blaues Hemd mit Krawatte.
«Es sind so viele Stände hier ...», sagte Christine und schüttelte ihm die Hand. Sie freute sich, ihn zu sehen. Von Bert Gernsheim hatte Christine viel über Wein gelernt. Er besuchte immer noch fast jedes der Güter selbst, deren Weine in den Regalen seines Geschäfts standen.
«Christine und Erik», stellte Gernsheim die beiden Peer Steiger und Chris Raura vor. «Gute Freunde von mir und große Genießer.»
Rauras Miene wirkte nun milder, während der Weinjournalist verlegen grinste. Christines Erfahrung nach musste man sich in ihrem Beruf vor den unsicheren Typen am meisten in Acht nehmen.
Erik schien sofort in einer anderen Welt zu sein. Er betrachtete die Flaschen auf dem Probiertisch von Weingut Raura, hob welche auf, um ihr Etikett besser studieren zu können, blätterte in der Angebotsliste. Er studierte Musikgeschichte und verbrachte viel Zeit bei Weinverkostungen. Christine hatte ihn vor drei Monaten zufällig in einer Konzertpause kennengelernt, als sie sich beide über die Qualität der ausgeschenkten Weine ärgerten.
Chris Raura hob die Arme. «Was wollen wirnoch probieren? Oder besser gefragt, was haben Sie heute von meinen Weinen noch nicht probiert?» Bei diesen Worten lächelte der Winzer eine Spur zu selbstverliebt. Trotzdem strahlte er etwas aus, das Christine reizte. Während der viertägigen Weinmesse hatte Christine nur einmal kurz seinen Stand besucht. Raura war berühmt für seine Süßweine, und die ließen sich den Leserinnen von Convention — der Zeitschrift, für die sie arbeitete — nur schwer nahebringen. Zwar interessierten sich die jungen, erfolgreichen Frauen für hochwertigen Wein. Umfragen, die jeden Artikel daraufhin beleuchteten, wie intensiv er genutzt und wie er bewertet wurde, ergaben: Mancher Gourmet-Report mit Weinempfehlungen stach sogar die Mode- und Partnerschaftsrubriken aus. Allerdings wurde Trockenes bevorzugt. Ab und zu ein Dessertwein zum Käse oder zur Crème brûlée war ja okay, aber der sollte dann nicht 28o Euro pro Halbflasche kosten, wie es bei einigen von Rauras Tropfen der Fall war.
Er blickte Christine in die Augen, als ob nur sie seine Frage beantworten könnte.
«Suchen Sie doch etwas für uns aus», sagte sie.
«Sind Sie mit Chris’ Kollektion gut vertraut?», fragte Peer Steiger. Er hatte auffallend helle Wimpern und auf den Wangen und der breiten Nase zahlreiche Sommersprossen.
«Nein.»
Der Weinjournalist hob verblüfft die Augenbrauen.
«Na gut, Kinder.» Chris Raura stützte sich mit den Handflächen auf dem Probentisch ab. «Wenn Frau ...»
«Sowell», sagte Christine.
«Wenn Frau Sowell erst wenig von mir kennt, sollten wir bei den Ursprüngen beginnen. Für solche Anlässe habe ich immer was dabei — kommt ihr mit?»
Chris Raura lud sie mit einer Handbewegung hinter einen der Vorhänge ein, die neben den Verkostungstischen hingen. Dies war der einzige abgetrennte Bereich, den die Winzer für sich alleine nutzen konnten. Hier standen in langen Reihen Kühlschränke, Kisten und Handkarren.
Chris Raura öffnete einen Klimaschrank und nahm eine Halbflasche heraus. Er umfasste sie mit Daumen und Zeigefinger direkt unterhalb des Korkens und ließ sie in der Luft hängen, als ob er ein seltenes Tier an den Ohren hielt. Raura, Trockenbeerenauslese 1998, war auf dem Etikett zu lesen, und Christine wusste, dass dieser Wein das Gut einst schlagartig berühmt gemacht hatte. Gekeltert aus Reben mit einem extrem hohen, natürlichen Gehalt an Zucker und Geschmacksstoffen. Nun hatte Christine also die Flasche vor Augen, mit der alles begonnen hatte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als Chris Raura sie mit einer ruckartigen Bewegung seines Korkenziehers öffnete.
Zügig schenkte er das Elixier in die Probiergläser ein, deren blasse Flecken davon zeugten, dass bereits reichlich australischer Shiraz und spanischer Tempranillo, französische Burgunder und deutsche Rieslinge in ihnen gebadet hatten. Jeder Besucher bekam am Eingang des Messesaales ein Glas gegen eine Leihgebühr ausgehändigt, und dann wurde versucht, das Exemplar so gut es ging immer wieder mit Mineralwasser auszuspülen. Christine kam das so vor, als würde in Hotels die Bettwäsche nach Abreise eines Gastes nur kurz ausgelüftet werden, bevor sich der nächste hineinlegte, aber sie vertrieb die Vorstellung und konzentrierte sich auf den mattgolden funkelnden Wein.
Gernsheim und Steiger hielten schon ihre Nasen in die Gläser, auch Raura fing an zu schnuppern. Wo war Erik? Wahrscheinlich war ihm in letzter Sekunde ein Weinfreund oder Winzer über den Weg gelaufen, mit dem er fachsimpeln musste — weshalb er den Genuss eines der begehrtesten Getränke versäumte, die in den letzten Jahren in Deutschland produziert worden waren. Seine Leidenschaft für Wein machte ihn manchmal buchstäblich blind. Immerhin konnte er damit sein Studium finanzieren, indem er gesuchte Gewächse preiswert erstand und später teuer verkaufte, meist über das Internet.
Nun hob auch Christine das Glas an ihre Nase, roch und spürte augenblicklich diesen Schock — für sie vergleichbar mit dem Gefühl, wenn die Plombe eines Zahns oder ein Schuhabsatz abbricht. Sie schaute zu den anderen. Die Männer beschäftigten sich versunken mit ihren Gläsern und nahmen bereits den ersten Schluck. Wo war Erik?
Sie machte zwei Schritte zur Seite und lugte durch den Vorhang. Nein, Erik unterhielt sich nicht, er stand hinter Rauras Stand und kramte mit tiefgebeugtem Rücken in Weinkisten. Christine hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn schon schauten Raura, Gernsheim und Steiger mit erwartungsvollen Blicken über ihre Gläser.
Christine trank. Sie wusste, dass sie recht hatte.
«Kork.»
Sie spürte, wie ihr Wort seine zerstörerische Macht entfaltete und in den Augen der anderen Erregung und Angst auslöste. Sie mussten es doch auch schmecken, dieses dumpfe, muffige Aroma, das von einem fehlerhaften Korken ausging und die feinen Noten des Weines überlagerte. Christine empfand es so deutlich, dass sich ihr Gaumen zusammenkrampfte.
Peer Steiger schwieg, Bert Gernsheim kaute grimmig auf dem Wein herum, und Chris Raura roch noch einmal.
In diesem Moment schob sich Eriks schmaler Körper durch die Öffnung des Vorhangs. «Oh, habe ich etwas verpasst?» «Nein», sagte Chris Raura. «Der Wein wurde leider vom Korken verseucht. Das gab es noch bei keiner von diesen Flaschen. Aber irgendwann musste es ja mal passieren.»
Chris Raura bot als Ersatz andere Weine zum Probieren an. Sie waren schön zu trinken und wurden anerkennend kommentiert, doch die Stimmung war nach dem Erlebnis mit dem legendären 98er getrübt. Christine hatte fast ein schlechtes Gewissen.
Sie verabschiedeten sich von Chris Raura, der lange Christines Hand schüttelte und sie auf sein Gut einlud, gaben danach ihre Probiergläser ab und erhielten jeder zwei Euro Pfand zurück. Bert Gernsheim legte seinen Arm auf Christines Schulter und sagte mit gedämpfter Stimme: «Sag mal, kommt ihr gleich noch mit, du und Erik?»
Christine zögerte — morgen war Montag, ein harter Arbeitstag in der Redaktion stand bevor, und eigentlich freute sie sich auf ein paar Stunden Ruhe.
Bert Gernsheim blickte konzentriert zu Boden, als er sagte: «Ein paar Winzer haben mir wertvolle Proben frisch aus dem Fass mitgegeben, weißt du. Es ist mir etwas peinlich, das sagen zu müssen, aber ich habe Angst, alleine nach Hause zu gehen.»
«Ja, aber natürlich!» Christine drückte seinen Ellenbogen. «Gerne kommen wir mit.»
Bert Gernsheim wohnte direkt über seinem Weingeschäft und lebte allein. Dass er plötzlich Angst hatte, dorthin zurückzukehren, erstaunte Christine. Es war noch hell draußen, viele Menschen waren auf den Straßen unterwegs, und so wertvoll konnten seine Fassproben auch nicht sein. Bei ihren letzten Besuchen in seinem Laden hatte er manchmal geistesabwesend gewirkt, und hätte er vorhin nicht sofort den Kork in Rauras Wein schmecken müssen? Schnell verwarf sie den Gedanken, dass Gernsheim abbauen könnte. Ein vitaler Mann wie er?
Während Gernsheim umständlich die Fläschchen mit den Fassmustern in seinem schwarzen Koffer ordnete, stellte Erik seinen Leinenbeutel neben einem der Raumteiler ab und bat Christine, darauf aufzupassen, während er noch einmal zur Toilette wollte. Der Saal leerte sich jetzt rapide. Schon morgen wollte Christine über ihre Erlebnisse schreiben. Sie freute sich darauf, auch wenn die Chefredaktion ihr nur begrenzt Platz einräumen würde. Die Verkostung von Rauras 98er wäre der Knüller gewesen. Erik hatte mit seiner Ahnung, dass es interessant werden würde, recht gehabt.
Ein klirrendes Geräusch ließ sie herumfahren. Ein Raumpfleger, der mit einem großen Besen den Boden fegte, hatte versehentlich Eriks Beutel umgestoßen. Christine hob ihn schnell auf und schaute, ob etwas kaputtgegangen war. Verblüfft erkannte sie ein Etikett: Raura Eiswein 2005. Wie kam die Flasche in seine Tasche? Sie war im Handel noch nicht erhältlich.
Christine erschrak, als er plötzlich wieder neben ihr stand und ihr mit einem gemurmelten «Danke» seinen Beutel aus der Hand nahm. Sie blickte in sein Gesicht. Manchmal kam ihr der Verdacht, sein schmaler, schöngeschwungener Mund und die kessen, aber oft wie in sich gekehrten Augen drückten etwas anderes aus, als was sie zu sehen glaubte.
Bert Gernsheim stand bereits am Ausgang und wartete unruhig auf sie. Christine lächelte ihm aufmunternd zu und berührte Erik, der schon wieder mit einem anderen Weinfreund im Gespräch war, an der Schulter. Es lag nun eine fröhliche Wärme in seinem Blick, die dazu verführte, die letzten Minuten zu vergessen.
«Bert wartet.»
Endlich bewegten sie sich zum Ausgang der Messehalle.
«Kommt, Kinder», sagte Bert Gernsheim und hielt ihnen die Tür auf. Er trug seinen Koffer mit beiden Armen vor seiner Brust und war ihnen gleich ein paar Schritte voraus.
Bis zur U-Bahn-Haltestelle mussten sie nur wenige Minuten zu Fuß gehen. Christine genoss die frische Luft und den Anblick der Menschen, die an diesem Sonntag zu einem Restaurant, einer Aufführung oder einem Rendezvous unterwegs sein mochten. Viele von ihnen würden auch Wein trinken, und einige würden sich später die letzten Tropfen von den Lippen küssen. Wenn der Wein gut war, würden sie anerkennend nicken, sich vielleicht sogar seinen Namen merken, aber nie etwas anderes im Sinn haben als ihren persönlichen Genuss. Davon konnte bei einer stundenlangen Verkostung, wie Christine sie gerade erlebt hatte, keine Rede sein.
Warum rannte Bert Gernsheim bloß so — es kostete Mühe, im Strom der Fußgänger auf Sichtkontakt mit ihm zu bleiben. Erik schwieg. Nach gemeinsamen Verkostungen sprach er üblicherweise viel, um Christine seine Erkenntnisse über die probierten Weine mitzuteilen. Sein jetziges Verhalten irritierte sie und fachte ihren Verdacht erneut an.
«Wieso hast du die Flasche mitgenommen?»
«Welche Flasche?»
«Rauras Eiswein. Du hast ihn an dich genommen, während wir hinter dem Vorhang standen!» Sie sprach zu laut, vorbeigehende Leute blickten sich zu ihnen um.
Erik schüttelte den Kopf, sagte aber kein Wort auf den letzten Metern bis zur U-Bahn. Christine löste einen Fahrschein, während Erik einfach neben ihr wartete. Die zugige Luft wehte ihr die langen, blonden Haare ins Gesicht.
«Wieso klaust du den Winzern ihre Weine?» Sie steckte den Schein in ihre Handtasche, und sie liefen auf die Rolltreppe zu. «Bist du vielleicht Kleptomane? Oder Alkoholiker, der nach jeder Flasche grabschen muss?»
Er blieb stehen. «Nein, Christine ...» Etwas jungenhaft Verunsichertes lag in seinem Blick. «Bitte, mach nicht so eine Geschichte daraus. Bei solchen Messen gehen Hunderte Flaschen verloren oder werden verschenkt.»
«Lass uns weitergehen.»
Vor ihnen betrat ein Paar mit Kinderwagen vorsichtig die Rolltreppe, und Christine wollte sich nicht an ihnen vorbeidrängeln. Endlich glitten sie abwärts, unten stand bereits der Zug. Christine winkte lächelnd Bert Gernsheim zu, der sich erneut zu ihnen umdrehte und nun einstieg.
Was erzählte Erik für einen Unsinn? Hätte er die Flasche geschenkt bekommen, würde er sich kaum so seltsam benehmen.
«Erik, du spinnst doch. Diese Leute produzieren mühsam in Handarbeit, damit es nicht nur Weine von der Stange gibt, und du bestiehlst sie.»
Er fuhr sich mit der Hand nervös durchs Haar. «Also ganz so romantisch würde ich die Arbeit unserer Lagenwinzer auch nicht sehen ... Davon träumen vielleicht deine Leser, aber an das Bild vom Weinbauern, dessen höchstes Ideal die Natur und nicht der Profit ist, glauben nur ganz Naive.»
Christine mochte Erik. Er teilte gern seine Freuden und Entdeckungen mit anderen und war kein Angeber. Sie kannte wenige, die so gut wie er die Herkunft eines Weines allein anhand der Aromen auf seiner Zunge erkennen konnten. Erik trat zur Seite, um einen Drängler vorbeizulassen, und berührte Christines Arm.
Sein Ton hatte sich wieder beruhigt. «Ich kann mit dir jetzt nicht darüber reden.»
«Wie bitte?»
«Ich erkläre es dir später.»
Während das Paar den Kinderwagen auf die Plattform bugsierte, ertönte der Signalton, der das Schließen der Türen anzeigte. Vor Christines und Eriks Augen versanken die letzten Stufen der Rolltreppe, als sich mit einem saftigen, metallischen Geräusch die U-Bahn-Türen schlossen. Verdammt, sie hatten die Bahn verpasst, in die Bert Gernsheim eingestiegen war. Christine glaubte, sein erschrockenes Gesicht zu erkennen, als er jetzt ohne sie abfuhr: «Mist!»
Sie starrte auf die Gleise und hatte das Gefühl, gleich zerspringen zu müssen. Es dauerte ewig, bis der nächste Zug eintraf.
Als sie endlich fuhren, wirkten der schummrig vorbeirauschende Schacht, die im Neonlicht vor sich hin starrenden Passagiere und das tosende Fahrgeräusch beruhigend. Nach drei Stationen stiegen sie wieder aus. Christines Hoffnung, Bert Gernsheim würde hier auf sie warten, erfüllte sich nicht. Während sie zum Ausgang eilten, kam es ihr schon albern vor, dass sie sich solche Sorgen um ihn machte. Um einen Mann, der vor einem Monat ganz allein Neuseeland bereist hatte.
Oben auf der Straße schien grell die Abendsonne. Viele Autos fuhren mit Licht, um ihren tiefliegenden Strahlen zu begegnen. In diesem Stadtviertel mit gediegenen Geschäften, zahllosen Restaurants, Kneipen und Gründerzeithäusern befand sich Gernsheims Weinladen an einem kleinen Platz. Beim Näherkommen sah Christine die Flaschen und Gläser in seinem Schaufenster funkeln. Sie glaubte, ihn dahinter in seinem braunen Anzug zu erkennen, und winkte.
Die Tür stand halb offen, und sie trat ein. Bert Gernsheim saß zurückgelehnt auf einem Stuhl an dem großen Holztisch in der Mitte seines Ladens. Sein Kopf baumelte, als sei er kurz eingenickt, seitlich über der rechten Schulter. Eine blutige Wunde klaffte auf seiner Stirn.
Christine spürte einen mächtigen, dumpfen Schlag in der Brust. Ihr Mund öffnete sich automatisch zu einem Schrei, den sie im letzten Moment unterdrückte. Ihr Blick irrte durch den Raum auf der Suche nach irgendetwas, um die Wunde zu versorgen. Sie griff nach einem gemusterten Tuch, als Erik sie an den Schultern packte. «Hier kann noch jemand sein. Ruf die Polizei, ich kümmere mich um Bert.»
Christine wühlte in ihrer Tasche nach dem Handy und musste sich konzentrieren, um die richtigen Tasten zu finden. Warum brauchte das Ding so lange, bis es sich einschaltete? Endlich war die Leitung frei, sie tippte 112 und alarmierte so ruhig sie konnte einen Notarztwagen. Es war ihr unmöglich, den Blick abzuwenden. Erik bettete Bert Gernsheims schweren Körper auf den Boden und begann ächzend mit einer Herzdruckmassage. Zum Glück konnte er das! Es gab noch Hoffnung. Dann sah er kurz zu ihr herüber. Mit einem jammervollen, wie um Gnade flehenden Gesichtsausdruck. Christine legte das Tuch über Bert Gernsheims Beine.
Das Verlagshaus war in einem früheren Lagerhaus mit einer Fassade aus braunrotem Klinker untergebracht. Die Designer-Fenster und langen, metallenen Balkone, die erst vor wenigen Jahren angebaut worden waren, verliehen dem Gebäude neuzeitlichen Schick, ohne seine angenehme, beruhigende Ausstrahlung zu zerstören. Es lag an einem Kanal, der an beiden Ufern von weiteren, ähnlich aussehenden Gebäuden gesäumt wurde. Christines Büro bot Ausblick auf diesen Kanal mit seiner mal in der Sonne glitzernden, mal schwer und ölig unter Regenwolken dahinströmenden Schönheit. Es besaß nur einen Makel: das tägliche Stimmengewirr in der Redaktion, die klingelnden Telefone, die durch die Luft schwirrenden Bitten und Befehle und den immer leuchtenden Monitor des Computers.
Seit vier Jahren arbeitete Christine für die Frauenzeitschrift Convention. Es handelte sich um ein Monatsmagazin mit den üblichen Rubriken für Mode, Partnerschaft, Kochen, Gesellschaft, Reisen und Ratgeber sowie mit kleinen Buch- und Filmvorstellungen. Launige Glossen, Reportagen über Frauen in den verschiedenen Winkeln der Welt und ein wenig Berichterstattung über aktuelle politische Themen gehörten zur Mischung, die alle paar Monate verändert wurde. Marktanalysen und Leserbefragungen diktierten die Themenauswahl.
Christine hatte als freie Autorin bei der Zeitschrift angefangen, war aber bereits nach drei Monaten von Gesine Myersberger gefragt worden, ob sie Interesse an einer Anstellung habe. Angesichts ihrer mageren Auftragslage hatte sie zugesagt. Ihrem Spezialgebiet, dem Schreiben über Reiseziele, konnte sie danach nur noch ab und zu nachgehen, denn sie wurde fast für jede Seite eingesetzt, wenn Bedarf bestand. Inzwischen betreute sie allerdings ein eigenes, festes Ressort mit dem Titel food & travel. Dort berichtete sie vom Naherholungsgebiet und seinen kulinarischen Verlockungen ebenso wie von der Wiener Spitzengastronomie.
Es gab allerdings ein Problem: Christine konnte viele der Orte, über die sie schrieb, nur oberflächlich oder überhaupt nicht selbst in Augenschein nehmen. Wenn es in der Redaktionskonferenz hieß: «Thailand ist das Thema im Moment, Konkurrenzblatt soundso macht eine Thai-Kochschule, und sogar meine Tochter und ihre Freundinnen essen kaum mehr etwas anderes», blieb Christine nichts anderes übrig, als sich per Archivmaterial, Internetrecherche und Telefon ihre Informationen zu besorgen. Um dann einen stimmungsvollen Artikel zu schreiben, der keine Zweifel darüber zulassen durfte, dass sie soeben aus der asiatischen Metropole zurückgekehrt war. Eine gute Informationsquelle war immer Bert Gernsheim gewesen. Der war fast überall schon hingereist.
Christines Gefühl, mit Bert Gernsheims Tod ein Stück vom Leben verloren zu haben, war immer noch allgegenwärtig. Ihre Trauer beeindruckte es nicht, dass sie ihn nur ab und zu gesehen hatte und er kein intimer Freund gewesen war. So gut es ging versuchte sie, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und sich abzulenken.
Nach dem Mord hatte sie zwei Tage Urlaub genommen und ihren niederdrückenden Gefühlen alle Freiheit gelassen. Sie hatte mit ansehen müssen, wie Bert Gernsheim im Sarg aus seinem Laden getragen worden war. Eigentlich hatte sie sofort gewusst, dass er tot ist — in dem Moment, als sie ihn mit der klaffenden Wunde an seinem Probiertisch sitzen sah, entstand die Welt neu als eine, zu der er nicht mehr gehörte. Auch wenn er noch so nah zu sein schien, als könnte es genügen, die Hand nach ihm auszustrecken.
Offiziell vermutete die Polizei, das Verbrechen habe mit Drogenkriminalität zu tun. Ein seltsamer Verdacht. Nichts in seinem Laden ließ auf einen Raub schließen. Die offene Tür deutete darauf hin, dass er seinen Mörder selbst hereingelassen hatte und womöglich sogar im Begriff gewesen war, ihm Wein einzuschenken. Jedenfalls standen zwei leere Gläser auf dem Tisch, die er natürlich auch für Christine und Erik dort postiert haben konnte ...
Man hatte sie nach der Tat stundenlang verhört, und ein junger Beamter namens Bandow hatte penetrant Fragen nach ihrem privaten und geschäftlichen Verhältnis gestellt. Es war ihm schwer zu vermitteln gewesen, dass Erik und sie gemeinsam mit dem Weinhändler zum Laden aufgebrochen, aber erst kurz nach seiner Ermordung dort eingetroffen waren. Der Beamte räsonierte über die Möglichkeit eines «Streits unter Alkoholeinfluss» — obwohl ihre Promillewerte nicht der Rede wert gewesen waren. Ganz offensichtlich waren sie die wichtigsten Verdächtigen. Diente die Informationspolitik der Polizei also nur dazu, sie beide in Sicherheit zu wiegen, damit sie früher oder später einen Fehler begingen? Wurde ihr Telefon abgehört? In diesem Fall sollten sie so schnell wie möglich miteinander telefonieren. Allein der Klang ihrer Stimmen, so glaubte Christine, würde ihre Unschuld beweisen.
Sie war froh, dass sich kein Kollege ungewöhnlich verhalten oder gar Beileid gewünscht hatte. Womöglich wusste nur Chefredakteurin Gesine Myersberger Näheres über Christines Verstrickung in den Fall. Sie hatte, wie sie Christine berichtete, der Kripo Fragen über ihre Mitarbeiterin beantworten müssen.
Auf Christines Computerbildschirm flackerte ein vor kurzem angefangener Artikel über ihre Lieblingsregion Bordeaux und die Gepflogenheit dortiger Winzer, neben einem teuren Hauptwein einen zweiten, weniger anspruchsvollen und preiswerteren zu produzieren. Lohnte sich der Kauf? Oder handelte es sich nur um einen faden Abklatsch, der sich seinen Namen viel zu hoch bezahlen ließ? Ein interessantes Thema, aber Christines Fingerkuppen hingen unbeweglich über den kleinen schwarzen Quadraten ihrer Tastatur. Jeder Satz, der ihr einfiel, erschien ihr albern und ungelenk.
Christine trank tagsüber nie Alkohol, aber wenn jetzt ein gefülltes Glas neben ihr gestanden hätte, hätte sie vielleicht zugegriffen. Es gab Mitarbeiter im Verlag, deren Alkoholkonsum während der Arbeitszeit ein offenes Geheimnis war. Man tuschelte darüber, sonst nichts — die Betreffenden leisteten normale Arbeit.
Christine löschte ihre Sätze und starrte auf das jetzt völlig blanke Textfeld. In drei Jahren könnte sie immer noch hier sitzen, oder in zehn, wenn sie vorher nicht die Kündigung erhielt. Diesen Job hatte sie von Anfang an lediglich als Zwischenstation gesehen, um in finanzieller Sicherheit Pläne zu schmieden. Doch es war nichts geschehen. Sie arbeitete Tag für Tag, Woche für Woche und wusste, wie glücklich sie sich schätzen konnte, nicht zu der großen Zahl arbeitsloser oder unwürdig bezahlter Journalisten zu gehören. Aber wann kümmerte sie sich endlich darum, ihre Tätigkeit so weiterzuentwickeln, wie es ihr vorschwebte?
Sie verlor endgültig die Lust an ihrem Artikel und versuchte ein weiteres Mal, Erik zu erreichen. Wieder erfolglos. Seit dem Mordtag hatte sie nur ein einziges Mal mit ihm gesprochen. Sie wandte sich ihrer Post zu, die sie gerade deshalb noch nicht geöffnet hatte, um sich auf das Schreiben zu konzentrieren. Als Redakteurin für Reisen, Essen und Trinken bekam Christine viele Briefe. Fast täglich befanden sich Einladungen darunter: eine dreitägige Journalistenreise durchs Loire-Tal mit Verkostungen unter freiem Weinbergshimmel und Unterkunft in romantischen Schlössern, Bordeaux Grand Cru der 8oer Jahre — außergewöhnliche Verkostung des Weinhandelshauses soundso im Berliner 5-Sterne-Hotel, Gourmet-Entdeckungsreise auf die Liparischen Inseln ... Zwischen vielen Hochglanzbroschüren fiel ein kleiner roter Umschlag auf, der an «Christine Sowell — persönlich» adressiert war. Darin steckte ein ebenfalls rotes, mit gedruckten Lettern beschriebenes Kärtchen: Vorsicht! Jedes weitere Wort ist gefährlich, und wo Beweise fehlen, werden sie gemacht. Ein Freund.
Hitze schoss Christine ins Gesicht. Was war damit gemeint? Jedes weitere Wort über den Mord an Bert Gernsheim? Beweise werden gemacht. Von diesem Satz ging eine Bedrohung wie von einer Waffe aus. Stammte die Warnung von jemandem, der mehr wusste als sie und ihr helfen wollte? Oder handelte es sich vielleicht um einen Trick der Polizei, um sie aus der Reserve zu locken?
Vor der Glastür zu Christines Büro tauchte ihre Kollegin Tatjana Neiders auf und prüfte mit lächelnden Augen, ob sie stören durfte. Mit dumpfem Erschrecken fiel Christine die plausibelste Erklärung ein: Die Karte stammte von dem Menschen, der Bert ermordet hatte.
«Komm doch rein.» In der Hoffnung, ihre Besorgnis überdecken zu können, verzog Christine ihr Gesicht zu einem übertrieben breiten Lächeln. In der Tat schien Tatjana nichts zu bemerken. Ihre vollen Lippen waren dick mit Lippenstift bemalt, ihre Wangen trugen überdeutlich Rouge, aber dies ließ sie keineswegs unnatürlich aussehen, sondern passte zu ihren langen rotblonden Haaren, ihrer fröhlichen Art und dem oft vernehmbaren Lachen. Sie war wie geschaffen für das Ressort love & emotion — oder sah zumindest so aus, als hätte sie sich dafür verkleidet. Tatjana Neiders bekam die meiste Leserpost.
Christine überlegte, ob sie erzählen sollte, was sie erlebt hatte. Sie entschied sich dagegen. Tatjana kannte Bert Gernsheim nicht, sie würde aber mit einem Schwall erschrockener und mitfühlender Wendungen reagieren, die Christine sich ersparen wollte.
Tatjana zwinkerte ihr auf vielsagende Weise zu, was sie immer tat, wenn sie Tipps für ihre Texte brauchte. Meist half Christine ihr mit kulinarischen Details aus, Tatjana schätzte inzwischen aber auch ihren Rat zu anderen Fragen. Es war zum Ritual geworden, Szenarien für Artikel gemeinsam durchzuspielen, und Tatjana legte wie so oft ohne Einleitung los: «Stell dir vor, sie will es heute wirklich wissen, und ihr schwebt eine perfekte Inszenierung hei sich zu Hause vor, Menü und so. Nun hat sie es mit einem dieser IT-Fachkräfte zu tun, deren Hobby na du weißt schon ist und die noch am Wein rumschnuppern, wenn ich schon das halbe Glas geleert habe. Was schenkt sie ihm ein, und was soll sie dazu kochen?»
Tatjana kam näher. Sie liebte Körperkontakt und Gespräche, bei denen sich fast die Nasenspitzen berührten. Christine schob das rote Kärtchen mit dem Zeigefinger unter einen Prospektstapel. «Erst mal die einfache Lösung: Sie bereitet ein Gericht zu, das gleichermaßen eiweißreich und animierend ist: Meeresfrüchte, Lachs, Seehecht oder Geflügel. Dazu passt Chardonnay, aber es kann sein, dass der Typ Chardonnay hasst. Vor allem, wenn es sich um eines der überaromatisierten Gewächse handelt, mit denen die Regale vollstehen. Nun kann sie zu einem französischen Burgunder oder Chablis greifen. Diese Weine werden auch aus der Chardonnay-Traube gemacht, und mit den besten kann man nichts falsch machen. Sie kosten allerdings viel, und bei den preiswerten ist das Risiko groß, eine Enttäuschung zu erleben. Deine Heldin stünde wie eine Doofe da, die sich von großen Namen auf dem Etikett blenden lässt.»
Tatjana hörte ihr mit aufgerissenen Augen zu und griff nach einer alten Zeitung auf Christines Schreibtisch, um sich Notizen zu machen.
«Leichter ist es, einen frischen Muscadet oder einen nicht zu säurehaltigen Sauvignon Blanc von der Loire zu servieren. Oder sie lässt es richtig krachen.»
«Aha.»
«Wenn sie ihn richtig aufmischen, verblüffen und auch physisch in Topform bringen will, nimmt sie einen restsüßen Wein von der Mosel und kocht dazu etwas Asiatisches mit Chili.»
«Süüüüß?» Tatjana spie das Wort geradezu aus, als habe sie sich in diesem Moment an etwas Restsüßem verschluckt. «Ich würde so was ... Wir schreiben doch nicht für unsere Großeltern! Süßen Wein — der Typ würde süß für total uncool und rückständig halten.»
«Eben nicht!» Christine schlug mit der Hand auf die Tischplatte und erhob sich schwungvoll. Es war, als ob sie die Rolle einnehmen wollte, die Bert Gernsheim in Sachen deutsche Weine oft ihr gegenüber eingenommen hatte. «Trocken trinken ist in Deutschland Mode, das kann jeder. Die Reize der etwas gehaltvolleren Weine wissen dagegen nur die Kenner zu schätzen. Und die Amerikaner, denn die kaufen diese Weine wie Durstlöscher auf. Ich spreche aber von nur leicht süßen Weinen. Restsüß eben. Am besten einen, der irgendwann von selbst mit der Gärung aufgehört und den Zucker der Trauben nicht vollständig in Alkohol verwandelt hat. Die Dame sollte eine mehrere Jahre alte Spätlese von einem guten Erzeuger nehmen. Dann ist der Zucker nicht mehr aufdringlich, hält die Genießer aber fit. Auch der Alkoholgehalt ist geringer als bei trockenen Weinen, was Vorteile hat. All das passt zu China- oder Thaiküche, weil sich die scharfen Gewürze und die leichte Süße gut ausgleichen. Und was kann es bei einem Rendezvous Schöneres geben als ein Wechselspiel zwischen Süße und Schärfe?»
Tatjana gestand, dass sie dieses Mal nicht für einen Artikel, sondern in eigenen Liebesangelegenheiten um Rat gebeten hatte, und bettelte geradezu darum, in der Mittagspause mit Christine loszugehen, um einen solchen Wein auszusuchen. Christine zuckte bei dem Gedanken, ein Weingeschäft zu betreten, richtiggehend zurück, doch das war nun einmal ihr Job.
Fünfzehn Minuten später steuerte sie mit Tatjana absichtlich die riesige Weinabteilung eines Kaufhauses mit bekannt guter Moselecke an, wo die Atmosphäre anonym und völlig anders als in Gernsheims Laden war. Sie verließen sie mit der Flasche eines deutschen Starwinzers, die deutlich über Tatjanas Preisvorstellungen lag. «Was die hier für unter 10 Euro haben, dafür kann ich nicht garantieren», hatte Christine gesagt. «Dann kriegst du womöglich doch Bonbon-Wasser.»
Tatjana lud Christine zum Essen ein. Jetzt ergab sich vielleicht die Gelegenheit, über das, was sie belastete, zu sprechen. Es behagte Christine nicht, völlig darüber zu schweigen.
In der Innenstadt bewegten sich zu dieser Zeit besonders viele Menschen. Gegen 13 Uhr strömten sie fast gleichzeitig aus den Bürohäusern, um ihren Mittagsimbiss einzunehmen, und drängelten sich in den Lokalen auf der Suche nach freien Plätzen. Schon kurz nach 14 Uhr war die Mehrheit von ihnen wieder verschwunden und die Lokale fast schlagartig leer. Aber jetzt, um zwanzig nach eins, gab es sogar an den Würstchenbuden Wartezeiten.
Christine und Tatjana hatten Glück. Auf der Terrasse eines hübschen Restaurants, an deren Rand Pflanzenkübel aufgestellt waren, entdeckten sie einen freien Tisch mit Korbstühlen. Der Kellner lächelte ihnen trotz der vielen Gäste einladend zu, und sie nahmen Platz.
Behutsam legte Tatjana die Plastiktüte mit der in Papier eingewickelten Spätlese auf den leeren Stuhl zwischen ihnen. Die pralle Sonne schien darauf. «Tu sie in den Schatten. Bei den Weinen ist es wie bei den Vampiren, Sonnenlicht bringt sie um.»
Tatjana lächelte dankbar und stellte die Flasche unter den Tisch. Christine konnte sich nicht von dem Gedanken lösen, welche amourösen Folgen dieser Wein womöglich haben würde. Tatjana in ihrer Single-Wohnung mit einem adretten Burschen aus der Werbeabteilung oder jemandem, den sie bei ihren Ausflügen in die Clubszene kennengelernt hatte... Ein romantischer Abend und eine ekstatische Nacht dank restsüßem Wein. Es war ziemlich komisch. Vielleicht löste Christine mit ihrem Tipp eine Art Gegenrevolution im Lifestyle-Betrieb aus, und restsüße Weine würden, nachdem sich alle anderen neu belebten Moden aus den 7oern fast schon wieder totgelaufen hatten, zum neuen Kult.
Christine fiel es schwer, sich für etwas zu entscheiden. Die Speisekarte war ein Musterbeispiel für die Auswahl der Cityrestaurants. Neben der üblichen Suppen- und Salatauswahl, den Saltimbocca und Lamb-Chops und Scampi sollten Kohlgerichte mit Kasseler oder Aal mit Bratkartoffeln an marktfrische Regionalküche denken lassen. Sie blätterte auf die Weinkarte weiter, die ebenfalls den gehobenen Mainstream repräsentierte. Es fanden sich Gewächse aus dem Bordeaux, der Loire, der Toskana und Sizilien und außerdem deutsche Weine — nur weiße — von einigen jungen, aufstrebenden Gütern, welche zurzeit in Gourmet-Journalen und den Gastro-Rubriken von Regionalzeitungen gepriesen wurden.
Tatjana hatte ihre Karte bereits weggelegt. «Schweinerippchen auf exotisch-scharfer Soße», sagte sie und berührte mit ihrer Zunge die Lippen. «Welchen Riesling empfiehlst du mir dazu?»
«Oh!» Christine ließ sich zurück in ihren Stuhl fallen. Wasser mit Eiswürfeln, fiel ihr ein ... «Die Rieslinge auf der Karte sind allesamt trocken, in diesem Fall ist dir daher mit einem kräftigen Rotwein am besten gedient.»
Christine staunte oft, mit wie wenig Zeit sie mittags in einem Lokal auskam. Die Gedanken an die Aufgaben des Nachmittags beschleunigten enorm den Takt, mit dem sie die Gabel zum Mund führte. Dabei entstand aber nie das Gefühl, zu schnell zu essen, im Gegenteil. Es war, als ob ein unendliches Hungerloch nach immer mehr verlangte.
Dem Kellner war die Hoffnung anzumerken, ihren Tisch mindestens noch einmal während der Mittagszeit neu besetzen zu können, er näherte sich halb über seinen Notizblock gebeugt. Christine wollte ihn stoppen, um noch ein paar Minuten zu überlegen, welcher Wein zu Schweinerippchen auf scharf-exotischer Soße passen könnte, als sie am anderen Ende der Terrasse, halb verdeckt von einer Speisekarte, ein Gesicht sah, das sie kannte. Die nach unten gerichteten Augen waren nur zu ahnen, doch die kleinen, festen Lippen des Mannes, seine akkurat geschorenen schwarzen Haare und die kantigen Backenknochen riefen unangenehme Erinnerungen wach: Es war der Kripo-Beamte, der sie in der Mordnacht vernommen hatte.
Christine knallte die Speisekarte auf den Tisch. Das pappige DIN-A4-Teil machte nur ein mattes Geräusch, entfachte allerdings einen Luftzug, der Tatjana die Haare aus der Stirn pustete. Christine presste ihre Lippen zusammen, ihre Hände umklammerten die Tischplatte. Ruckartig rutschte sie mit ihrem Stuhl zurück, schoss in die Höhe und lief zu dem Tisch des Mannes. Der schien noch ganz in seine Speisekarte versunken zu sein, als Christine sich zu ihm hinabbeugte.
«Was soll das?»
Er blinzelte, als müssten sich seine Augen an die Sonne gewöhnen. «Was soll was?»
«Dass Sie mich nicht in Ruhe lassen und mir nachspionieren.»
«Wie kommen Sie darauf? Wir sitzen auf der Terrasse eines Restaurants, wo jeder ein- und ausgeht, wie es ihm beliebt.»
«Dass ich nicht lache. Sie haben sich etwas in den Kopf gesetzt und lassen nicht locker, weil Ihnen und Ihren Kollegen nichts Besseres einfällt.»
«Warum regen Sie sich so auf?» Der weiche Tonfall seiner Stimme war frei von Ironie. «Kommen Sie, Sie wollen mir etwas sagen. Es ist doch gut, wenn ich hier bin. Sie müssen nicht lange grübeln und Entscheidungen treffen. Los! Sprechen Sie es einfach aus.»
Seine braunen Augen strahlten eine Ernsthaftigkeit aus, die Christine fassungslos machte. Mit welchen albernen Tricks arbeiteten diese Leute? Aber sie war selbst schuld und bereute bereits, den Mann angesprochen zu haben.
Wortlos wandte sie sich ab. Tatjana beobachtete mit halb belustigtem, halb erstauntem Gesichtsausdruck die Szene. Christine war schon fast wieder bei ihr, als der Polizist rief: «Frau Sowell, ich warte auf Sie.»
Christine nahm ihre Tasche vom Stuhl und versuchte, ruhig zu bleiben. «Tatjana, lass uns bitte gehen.»
Die Kollegin schaute ratlos zu ihr auf und machte keine Anstalten, sich zu rühren.
«Ich gehe schon einmal vor.» Christine eilte aus dem Lokal, und es ärgerte sie, wie hektisch und überstürzt sie sich dabei bewegte, doch sie konnte es nicht ändern. Sie spürte Erleichterung, als sie den Tisch des Polizisten hinter sich gelassen hatte. Aber sie wusste, dass er sie beobachtete. Also gut, die Straßenseite wechseln und auf Tatjana warten, die hoffentlich endlich begriffen hatte, dass es sich bei dem jungen Mann nicht um einen Bekannten von Christine handelte, mit dem sie geflirtet hatte. Christine stieß sich mit der Spitze ihrer flachen Schuhe vom Bordstein ab und übersah ein heranrasendes Motorrad. Stolpernd und sich gerade noch abfangend, rettete sie sich auf den Gehsteig zurück.
Tatjana tauchte atemlos und mit entsetzter Miene neben ihr auf. «Du kannst doch nicht einfach so über die Straße laufen!» Der Kripobeamte hatte sich von seinem Platz erhoben und stand wie zum Sprung bereit hinter den Grünpflanzen des Lokals.
Zum Glück maß Tatjana der Sache keine weitere Bedeutung bei. Sie hakte sich fürsorglich bei Christine ein und murmelte: «Wir sind alle etwas durch den Wind» — ein Satz, den sie oft gebrauchte.
Freitagnachmittag war Redaktionskonferenz. Sie fand wie immer in einem kahlen Raum mit Holzparkett und weißen Wanden statt. Es gab keinen Tisch, sondern nur Metallstühle mit schwarzer Bespannung. Verantwortlich für diese Einrichtung war irgendeine arbeitspsychologische Theorie, an die Christine sich nur noch dunkel erinnerte.
Diese Nachmittagsgespräche sollten dem Austausch von Meinungen und Eindrücken zur jeweils letzten Ausgabe der Zeitschrift dienen. Chefredakteurin Gesine Myersberger war zehn Jahre älter als Christine, eine schlanke, hochgewachsene Frau mit schmalem Gesicht und schwarzen Haaren, die in klassischem Schnitt bis auf Kinnhöhe fielen. Sie hielt genau wie Christine und die anderen Kollegen die neueste Ausgabe von Convention in den Händen. Man unterhielt sich sachlich über die Ausstrahlung des Models auf der Titelseite und ob das Mädchen zum Selbstverständnis des Blattes passte.
Einige besonders Eifrige — die Redaktion bestand etwa zu einem Drittel aus Männern und zu zwei Dritteln aus Frauen — blätterten bereits auf die folgenden Seiten, auf denen sie sich Anmerkungen gemacht hatten. Im Lauf der Diskussion kreideten sie Kollegen Verständnisprobleme an, wiesen auf offene Fragen oder zweifelhafte Aussagen hin. Den kritisierten Autoren merkte man an, wie hin- und hergerissen sie sich fühlten. Einerseits wollten sie sich gegen Anwürfe verteidigen, andererseits sich aber offen für Kritik zeigen. Das Ergebnis waren nicht selten ein unnatürlicher Gesichtsausdruck und das angestrengte Bemühen, nicht zu laut zu sprechen.
Heute richtete sich die Aufmerksamkeit mal wieder auf Inga Krone. Sie verantwortete eine kleine Rubrik namens law & order, war Mitte dreißig und hatte ein rundes, weiches Gesicht, dem sie durch eine eckige Designerbrille mehr Kontur zu geben versuchte. Sie liebte die Juristerei und die penible Textrecherche. Immer wieder warf man ihr vor, ihre Themenauswahl und Schreibweise seien zu akademisch. Heute lautete der Vorwurf, sie habe in einem Artikel über Mietrecht ganz die Perspektive des Vermieters eingenommen. «Aber das Urteil, auf das ich mich bezog — da ging es nun mal um eine unzulässige Mietminderung. Der Vermieter hatte recht!»
Die Textchefin von Convention sah genervt zur Decke. Christine schlug die Arme über der Brust zusammen, weil sie ahnte, was jetzt kommen würde.
«Unsere Leserinnen sind aber meistens keine Vermieterinnen», sagte die Textchefin in betont harmlosem Tonfall. «Wohl besitzen sie Immobilien, doch bewohnen sie diese mit ihren Familien in der Regel selbst. Außerdem handelt es sich in dem von dir geschilderten Fall um einen äußerst unsympathischen Vermieter, auch, wenn er vor Gericht recht bekam.»
Es war zu spüren, wie die Kollegen im Geiste nickten. Chefredakteurin Gesine Myersberger lehnte sich mit mildem Lächeln zurück. Sie war sichtlich zufrieden mit der Diskussion, brauchte sich nicht einzumischen.
Christine konnte ein panisches Glitzern in Ingas Augen erkennen. Gleich würde sie mit wilden Gesten eine sinnlose Verteidigungsrede halten. Schon nach wenigen Minuten würde man sie zum ersten Mal unterbrechen, und zum Schluss würde sie den Konferenzraum mit dem Gesichtsausdruck einer Geschlagenen verlassen. Christine schauderte bei der Vorstellung.
«Also, ich finde es gut, wenn wir über den Tellerrand der Durchschnittsleserin blicken.» Die Kollegen sahen überrascht zu Christine herüber, die das Wort ergriffen hatte. «Wenn wir uns nur Klischees aus den Erhebungen der Marktforschung zusammenzimmern, werden wir von den Leserinnen nicht mehr ernst genommen. Viele von ihnen werden in den kommenden Jahren Erbschaften machen. Und auch wenn sie das nicht zugeben, machen sie sich jetzt schon Gedanken über Immobilien, die sie dann besitzen und zum Teil auch vermieten werden. Warum sollten sie nicht jetzt schon jeden Artikel zum Thema mit Interesse lesen?»
Filmkritiker Helge Werbner, ein Lockenkopf, der stets zu lächeln schien, aber gerne bösartige Sprüche von sich gab, nahm seine Brille ab und öffnete den Mund. Doch Christine war noch nicht fertig. «Wir sitzen hier wie in einem Raumschiff, schöpfen aus vorgekautem Material, beschreiben, was andere bereits interpretiert oder zur Mode erklärt haben. Wir sollten aber selbst Entdeckungen für die Leser machen.»
Schlagartig hatten alle Ingas Text vergessen. Die Arbeit der Redaktion in Frage stellen und dann auch noch andeuten, man wüsste, wie es besser geht — das war gefährlich. Gesine Myersberger reagierte wie erwartet. «Und wie stellst du dir das im Hinblick auf deine persönliche Arbeit vor, Christine?»
«Ich brauche mehr Zeit für Recherche. Ich kann Speisen oder Weine nicht in ein paar In-Lokalen kennenlernen. Ich muss öfter und länger die Regionen und Anbaugebiete bereisen. Du weißt, dass ein guter Freund von mir gestorben ist, ein Kenner der Mosel. Ich habe das Gebiet vernachlässigt, und zu einer gemeinsamen Reise dorthin ist es nicht mehr gekommen. Im Glauben, dass auch die Leser es vernachlässigen, habe ich sie mehr über Neuseeland oder Sizilien informiert als über die Anbaugebiete vor der eigenen Haustür.»
«Na ja, haha.» Filmkritiker Werbner hatte eine Hand in den Nacken gestemmt. «Moselwein — erinnere ich früher von Verwandtenbesuchen. Haben damals sogar meine Eltern die Nase drüber gerümpft und mit Wasser verdünnt, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Dies süße, klebrige Zeug.»
Christine klatschte in die Hände. «Genau das ist es! So denken viele. Wenn wir uns mit dem Thema befassen, erfahren sie, wie viel sich dort verändert hat und dass die alten Vorurteile nicht mehr stimmen.»
Gesine Myersbergers Augen wirkten eine Spur samtener als sonst. «Ja, warum schreibst du nicht einen schönen Text darüber, du musst doch nicht um Erlaubnis fragen.»
«Natürlich habe ich schon über die Mosel geschrieben. Aber ich weiß zu wenig aus erster Hand.» Christine holte Luft. Jetzt musste sie sagen, was sie sich lange vorgenommen hatte. «Ich stelle mir vor, dass ich für ein paar Wochen hinunterfahre und in einer Serie über meine Erlebnisse berichte. lch kann Weine und Rezepte empfehlen, Interviews machen...
Die Leserinnen sind für einen längeren Zeitraum wie live dabei, erleben die Region als Fortsetzungsroman.»
«Oh.» Gesine Myersberger machte mit schneller Hand Notizen. Es kam selten vor, dass ihre Mitarbeiter derart weitreichende Wünsche äußerten. «Ein interessanter Gedanke, Christine. Wir sprechen noch darüber.»
Diese Worte ihrer Chefin verfolgten Christine den ganzen Tag: Wir sprechen noch darüber. Es machte ihr noch einmal klar, wie viel ihr daran lag, etwas zu ändern. Es war ein tiefer Wunsch von ihr, den sie nicht der Meinung einer Vorgesetzten unterordnen wollte.
Christine arbeitete lange an diesem Tag. Bevor sie nach Hause fuhr, rief sie noch einmal bei Erik an. Auch dieses Mal läutete sein Telefon vergeblich.
Sie wohnte in einem schlichten Backsteinbau aus den 5oer Jahren, von dem aus Parks, Lokale und Geschäfte gut zu erreichen waren. Die Umgebung bestand aus einem unordentlichen Durcheinander hübscher Bürgerhäuser der vorletzten Jahrhundertwende, riesiger Ausfallstraßen, von Tankstellen und Hochhäusern. Viele Studenten lebten hier.
Das Treppenhaus war in einem schmutzabweisenden cremigen Weiß gestrichen, das bei künstlicher Beleuchtung ölig glänzte. Auf den Steinstufen mit ihrem Dekor aus wirren Punkten hallten die Schritte laut, kühl und sauber durch das Haus. Wenn ein Mieter seine schwere Tür aufschloss, bekamen das viele Nachbarn mit.
Christine hängte ihre Jacke an die Garderobe in der Diele, nahm mechanisch Notizen, Ordner und Prospektmaterial von Weingütern aus ihrer Tasche und beobachtete sich dabei wie in einem Trancezustand.
Mit wenigen Schritten war sie in der Küche, wo sie mit ein paar Handgriffen aufräumte und den Kaffeebecher vom Morgen in der Spüle auswusch. Dann nahm sie eine in Seidenpapier gehüllte Flasche vom Regal. Bert Gernsheim hatte sie ihr am ersten Tag der Weinmesse überreicht. «Habe ich von der Mosel mitgebracht», hatte er hinzugefügt. «Noch jung und ein Prototyp. Deine Meinung würde mich interessieren.»
An den ersten beiden Tagen hatte Christine an der Weinmesse jeweils nur kurz teilnehmen können, weil sie tagsüber arbeiten musste. In der Redaktion war es hektisch zugegangen, wieder einmal sollten Neuerungen und Umstrukturierungen vorgenommen werden, hinzu kamen technische Probleme mit neuen Computersystemen. Abends hatte Christine die Flasche irgendwo abgestellt und dann bis jetzt vergessen.
Christine wickelte sie aus ihrer Umhüllung aus, packte sie am Hals, legte sie in die Fläche der anderen Hand und wog sie bedächtig. Es war ein Rotwein! Hinweise auf einen Erzeuger oder die Rebsorte gab es nicht. Nur ein handbeschriebenes Klebetikett, auf dem Moselblut stand. Es konnte sich um Bert Gernsheims Schrift handeln, doch Christine war sich nicht sicher.
Bert Gernsheim hatte ihr oft schon Weine von der Mosel angeboten. Häufig am Ende von gemeinsamen Essen oder Verkostungen, um den Abend ausklingen zu lassen. Immer waren es Weißweine. Meist Auslesen oder Beerenauslesen, die von besonders reifen Reben stammten. Ihre Farbe schimmerte wie Gold aus einem Märchenschatz, ihre Fruchtaromen und verführerische Süße überwältigten den Gaumen. Es handelte sich um Desserts. Wenn Bert Gernsheim erklärte, auf welchem Boden die Reben gewachsen, welchem Wetter sie ausgesetzt waren und wie der aus ihnen gewonnene Wein über Jahre seine Aromen ausgeprägt hatte, glaubte Christine, vorsintflutliche Gesteinsschichten und paradiesische Gärten voller Blumen und Früchte auf der Zunge zu schmecken.
Mit diesen Süßweinen der Extraklasse hatte sie kein Problem. Doch in der Regel schätzte sie Weine, die richtig trocken waren — wie die französischen. Manche Experten meinten, Moselweine in Vollendung müssten immer eine gewisse Süße haben. Ihre Reben wurzelten tief in Schieferhängen, sie waren intensiver Sonne ebenso wie kühler Feuchtigkeit ausgesetzt. Raffinierte und feine Weine entstanden so, mit einer lebhaften und für manche Geschmäcker zu strengen Säure, die angeblich den Zucker als Puffer brauchte. Wenn dem so war, hatte Christine Pech. Oder musste dazulernen.
Glatt wie Butter ließ sich der Korken mit dem Kellnermesser aus der Flasche ziehen. Christine schenkte den Wein in ein kleines Burgunderglas ein und bereute dies sofort, als sie die satte, tiefdunkle Farbe sah. Anscheinend benötigte dieser Wein ein weit größeres Glas.
Rotwein durfte erst seit einigen Jahren an der Mosel angebaut werden: roter Spätburgunder, der auch Blauburgunder oder Pinot Noir genannt wurde, und der unwichtigere Dornfelder. Aber nur ein Bruchteil der Mosel war mit diesen Sorten bestückt. Früher sahen die Spätburgunder ziemlich hell aus. Ihr Stil hatte sich in der letzten Zeit geändert, doch das Dunkelrot von Berts Wein passte eher zu einem französischen Cabernet. In seinem Duft lag etwas Schweres, Verschlossenes, und als Christine probierte, ähnelte der Geschmack dem Aroma fester, frisch gepflückter Kirschen. Dies sollte ein Spätburgunder sein? Er erinnerte Christine sonst mehr an Beeren aus dem Wald. Aber in solchen Fragen konnte man sich leicht täuschen. Die meisten Aromen auf der Zunge wurden ja in Wahrheit gerochen. Und die Nase war ein Künstler, der unendliche Assoziationen, Erinnerungen und Einbildungen mischen konnte...
Der Wein schmeckte gut, aber noch unreif und würde sich besser entfalten, wenn sie ihn einige Zeit an der Luft stehen ließ. Was hatte sich Bert dabei gedacht? Die Flasche gab keinerlei Aufschluss über ihre Herkunft, und so untersuchte sie den Korken. Immerhin, hier fanden sich zwei Buchstaben: WM.
Vorsichtig drehte sie das einzige Indiz, das ihr vielleicht einmal Aufschluss geben konnte, aus dem Korkenzieher. Sie wickelte den Korken in ein Stück Küchenpapier und legte ihn hinter ihre Kaffeedose. Dort würde sie ihn leicht wiederfinden.
Aus der Nachbarwohnung waren die Schreie eines Babys zu hören. Christine spitzte die Ohren und hörte die begütigende Stimme der Mutter. Manchmal unterhielt sie sich im Hausflur mit der jungen Frau, die den Vater ihres Kindes wegen irgendwelcher Streitigkeiten aus der Wohnung geworfen hatte. Doch er besuchte Mutter und Kind fast jeden Tag. Vielleicht würde die kleine Familie ja wieder zusammenkommen.
Eines war sicher: Der Wein in ihrem Glas kam von der Mosel, und Bert hatte seine Gründe, wenn er keine weiteren Angaben darüber gemacht hatte. Er stammte von einem der steilen Hänge am breiten, verschlungenen Fluss, der das Sonnenlicht auf einige der besten Weinlagen der Welt reflektierte. Die hatte Bert trotz seiner Reisen in alle erdenklichen Anbaugebiete anscheinend am meisten geliebt. Christine griff noch einmal nach dem Glas, während ihre Augen feucht wurden. Sie trank es in einem Zug aus und machte wegen der harten, den Gaumen zusammenziehenden Gerbstoffe eine unfreiwillige Grimasse.
Sie musste endlich mit Erik sprechen. Ob er wirklich nicht zu Hause war? Christine bestellte ein Taxi.
Erik wohnte in einem unansehnlichen Hochhaus aus den 7oer Jahren mit blauverkleideten Balkonen und einem Bataillon metallener Briefkastendeckel neben der Haustür. Christine bezahlte den Taxifahrer, stieg aus, und augenblicklich fuhr ein frischer Wind in ihre Haare. Ein typisch hamburgischer Wind, der sie nur für ein paar Sekunden losließ und dann umso wuchtiger zurückkehrte. Wie automatisch blickte sie hinauf zu Eriks Fenstern im 8. Stock. Ein matter Lichtschein zeigte, dass er zu Hause war.
Christine drückte den Klingelknopf neben seinem Namen. Nichts passierte. Sie wartete eine Weile, klingelte erneut. In der Erwartung des üblichen brüchigen Summtons schärfte sie ihre Ohren, doch sie hörte nur den Verkehrslärm hinter ihrem Rücken und das Geräusch des Windes. Heute war Freitag. Wie oft hatte sie Erik seit Bert Gernsheims Tod angerufen? Und jetzt war er schon wieder nicht da, aber hatte anscheinend vergessen, das Licht in seinem Wohnzimmer auszuknipsen.