Moselwunder - Hannah Corvey - E-Book

Moselwunder E-Book

Hannah Corvey

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Als der pensionierte Bauunternehmer Georg Reifegerste bei einem befreundeten Landwirt eine Baugrube aushebt, kommen menschliche Knochen und eine alte Silberkette ans Tageslicht. Kurz darauf stürzt Georgs Putzfrau aus dem Fenster. Wie sich herausstellt, hat jemand nachgeholfen. Der gewitzte junge Hauptkommissar Max Engel nimmt die Ermittlungen auf, tatkräftig unterstützt von Georg. Nur wenig später stößt das ungleiche Gespann auf ein weiteres Mordopfer – und darauf, wie diese höchst unterschiedlichen Fälle zusammenhängen ...

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Seitenzahl: 374

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Hannah Corvey stammt aus einem kleinen Ort an der Mosel. Sie studierte Anglistik und Französische Philologie in Trier, absolvierte ein Verlagsvolontariat und promovierte anschließend in Sprach- und Übersetzungswissenschaft. Nach Stationen in Nancy, Frankfurt und München lebt und arbeitet sie seit 2001 in Heidelberg.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/imageBROKER/

Wolfgang Diederich

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-472-8

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack GbR, Hamburg.

Love is in the air.

John Paul Young

Ohne Lockerung des Strangwerkzeugs dauert ein Drosselvorgang mindestens vier bis fünf Minuten. Zu Beginn wird das Atemzentrum massiv gereizt, eine quälende Luftnot tritt ein. Erstickungsangst überwältigt das Opfer, die Atemhilfsmuskulatur spannt sich maximal an – vergeblich. Das Gesicht färbt sich blau.

Nach anderthalb Minuten setzt Bewusstlosigkeit ein, begleitet von Krämpfen. Kot und Urin können abgehen. Der Täter muss weiterdrosseln.

An die Krampfphase schließt sich eine Apnoe an, in der die Atmung ein bis zwei Minuten lang völlig ruht. Der Täter darf nicht nachlassen. Erst die präterminale Schnappatmung läutet den Exitus ein.

Bei unvollständiger Luftabschnürung ziehen sich die einzelnen Phasen deutlich länger hin. Noch eine halbe Stunde nach Pulslosigkeit können im EKG Herzaktionen sichtbar sein.

Ein gieriges Augenpaar flog über den Text. Sehen, was sonst niemand sieht. Den Tod erleben, ihn steuern. Die Faszination des Ultimativen erfahren.

1

Noch vor einem Jahr hätte Georg Reifegerste verständnislos an sich hinuntergesehen. Flache Sache. Flaute im Karton. Mittlerweile war ihm die Angelegenheit bekannt, wenn auch nicht gut bekannt. Dass Hella neuerdings ständig diese Countertenöre hörte und den ganzen Abend lang Kastratengejaule durch Georgs Wohnzimmer klang, half nicht unbedingt.

»Ach, Schatz, das macht doch nichts.« Hella zog ihre warme Hand zurück. Immer sagte sie denselben Satz, anfangs verständnisvoll, mittlerweile teilnahmslos.

Sie lupfte den Träger des rosa Seidenhemdchens wieder über ihre Schulter, die eckig gewebte Spitze am Ausschnitt erinnerte Georg an Stahlmatten. Morgen früh wollte er um acht bei Helmut sein.

»Ich möchte gern, dass du zu Hause bist, wenn dein Sohn kommt.« Die Haut über Hellas Oberlippe war knitterig.

Mist, dachte Georg, Adam mitsamt Anhang. Das bei Helmut könnte länger dauern. Sollte es vielleicht sogar.

»Karl und Franz wollen sicher mit ihrem Opa spielen«, fügte Hella an.

Während du mit Olga in der Küche sitzt und Sekt trinkst, dachte Georg.

»Im Ruhestand hast du ja nun mehr Zeit für die beiden.« Hellas Stimme trug ein Fünkchen Schnippigkeit.

Opa, Ruhestand, das macht doch nichts. Gerade kam sich Georg wie ein Tattergreis im Altersheim vor.

»Schlaf gut, mein Lieber.« In der Duftwolke ihrer Hautcreme drehte sich Hella um und zog die Decke hoch bis unter die Achseln. Die Schultern ragten schön gerundet heraus, Hellas aschblondes Haar floss in dicken Strähnen über das Kopfkissen. »Machst du bitte das Licht aus?«

»Ja sicher«, grummelte Georg. Seine Hand tastete nach dem Kippschalter der Nachttischlampe, mit einem Klicken wurde es dunkel. Georg lag auf dem Rücken und starrte gen Zimmerdecke.

Acht fünfzig auf zehn Meter, Ausschachttiefe fünfundvierzig. Helmut brauchte eine neue Mehrzweckhalle, seinem Betrieb ging es offenbar gut. Einer seiner Söhne machte ja auch weiter.

Georgs Sohn dagegen war in die Stadt abgedampft, arbeitete irgendwas mit IT und war mit einer polnischen Ärztin verheiratet, die ihm überdrehte Zwillinge geboren hatte. Adam war nicht danach gewesen, in Georgs Fußstapfen zu treten. Dabei hatte das Bauunternehmen Reifegerste stets schwarze Zahlen geschrieben, es bot eine solide Existenz, gebaut wurde immer. Aber Adam war weich und bequem, seine Mutter hatte ihn hoffnungslos verwöhnt.

In Georgs Bauch gluckerte der Rotwein. Schwerer Bordeaux, eine durchdringende Falsettstimme und Hella, die den gemütlichsten der Wohnzimmersessel besetzte und schmunzelnd »ein richtig gutes Buch« las. So sahen Georgs Abende derzeit aus.

Er drehte sich auf die Seite und zähmte einen gewaltigen Rülpser gerade noch in ein unterdrücktes »Ullppss«. Ein Schluck der Rotweinbrühe floss aus seinem Magen hoch bis in die Kehle, beim Zurücklaufen hinterließ er ein unangenehmes Brennen.

Na super, dachte Georg, kippte seine Beine aus dem Bett und richtete den Oberkörper auf. Die Fußsohlen berührten den Hochflor-Bettvorleger, Hella hatte das Schlafzimmer wie eine Ausstellungsfläche in einem Möbelhaus umgestaltet.

Georg stand auf, er hatte Lust auf ein Bier.

»Musst du noch mal auf Toilette?«, fragte Hella durch das Dunkel des Raums.

Eigentlich liebte er sie. Aber manchmal konnte er sie nicht leiden.

»Nee«, brummte er. »Ich geh kurz runter, was nachgucken.«

Vorsichtig tappte Georg ein paar Schritte bis zur Tür, öffnete sie und trat auf den Flur.

»Bringst du bitte eine Flasche Mineralwasser mit hoch?«, rief ihm Hella hinterher.

»Jaja.«

Georg drückte auf den Lichtschalter, kniff die Augen zusammen und ging auf blanken Sohlen die Holztreppe hinunter. Unten angekommen steuerte er die Küche an. Die gestreifte Schlafanzughose schlackerte um seine Beine. »Mako-Satin«, hatte Hella gesagt. »Georg, du brauchst ein paar gescheite Pyjamas …«

Bei seiner Exfrau Irene hatte er Schlafanzüge getragen, mit ausgeleiertem Hosengummi und im Winter aus Frottee.

Zielstrebig öffnete Georg die Kühlschranktür, an der ein Zettel mit Hellas Terminen für die Herzsportgruppe und zwei kritzelige Zeichnungen seiner Enkel hingen.

Das Innenleben des Kühlschranks stand in Reih und Glied da, Georgs Blick flog über Joghurtbecher, Marmeladengläser, Oliven, Frischkäse, saure Gürkchen. Auf dem untersten der Glasböden lagen zwei Flaschen Sekt. Olga war trinkfest. Hella auch. Georg vermutete, dass beide nach drei bis vier Gläsern gemeinsam über Adam herzogen, aber er mischte sich in die Frauengespräche nicht ein.

Ungeduldig öffnete er das Gemüsefach, schob Lauch, Paprika und Kopfsalat beiseite und erspähte eine Flasche Export. Wie einen verschollenen Schatz barg er sie aus dem Grünzeug und hebelte mit einem Öffner den Kronkorken ab. Das Zischen war Musik in seinen Ohren, eine kleine Kohlensäurefahne stieg aus dem Flaschenhals auf. Georg setzte sich an den Küchentisch und trank einen ordentlichen Schluck.

»Aah.« Schnalzend schlug seine Zunge an den Gaumen, das kühle Gebräu tat dem brennenden Hals gut.

Auf der Tischplatte lag Georgs Handy, er griff danach und schaltete es ein. Der Empfang einer neuen Nachricht wurde angezeigt.

»Vielleicht von Helmut«, murmelte er vor sich hin und trank noch einen Schluck. Mit seinem schwieligen Zeigefinger tippte er auf das Briefsymbol, während er das Telefon in ausreichende Entfernung von seinen Augen weghielt.

Irene hatte ihm geschrieben. »Erinnerst du Adam bitte daran, dass er morgen auch bei mir vorbeikommt?«

Natürlich, dachte Georg, der Junge guckt sicher bei seiner Mutter rein. Dabei reichte es Irene völlig, wenn Adam sie besuchte. Georg wusste, dass sie dessen Frau nicht leiden konnte. Wahrscheinlich war Olga ihr zu lebenslustig, damit hatte es Irene nicht so. Und ihre Enkel waren ihr zu wild, von ihrem Geschrei bekam sie Kopfschmerzen.

Einen Moment lang überlegte Georg, ob er seiner Ex antworten sollte. Mit einem Blick auf die große runde Uhr über der Anrichte entschied er sich dagegen. Ein Mann im besten Alter, so wie er, hatte um diese Zeit entweder Spaß oder schlief.

Georg hob die Bierflasche an den Mund und trank. Hoffentlich hielt das Wetter. In strömendem Regen musste er morgen mit dem Ausschachten gar nicht erst anfangen.

Den größten Teil seines Fuhrparks hatte er schon verkauft, aber einen Bagger hatte er behalten, den kleinen Grundbock. Damit konnte er gut nebenher noch was machen. Überhaupt war man mit gerade mal Mitte sechzig nicht weg vom Fenster. Georg fühlte sich in vollem Saft und sah auch noch ziemlich passabel aus. Stattlich, hatte Irene immer gesagt, Hella sagte eher attraktiv, ein Schnittchen oder gut in Schuss – auch wenn Georg um die Bauchgegend herum etwas stärker geworden war und sein volles Haar grau.

Er stand auf und ging mit der Flasche zur Terrassentür. Ein Blick in den Nachthimmel konnte nicht schaden. Tagsüber war es schwül gewesen und hatte nach Regen gerochen. Georg öffnete die Tür, trat hinaus und atmete tief ein. Es hatte deutlich abgekühlt.

Er schaute in den Garten, der hinter dem Haus lag. Hella konnte dort stundenlang Rosen schneiden, Unkraut jäten und Kräuter hegen und pflegen. Dabei bändigte sie ihr blondes Haar mit einem roten Band, trug geblümte Gartenhandschuhe und strahlte. Wenn Georg sie so sah, fühlte er sich zwanzig Jahre jünger. Und ungefähr hundert Jahre jünger als seinerzeit mit Irene.

Georg beugte sich über das hölzerne Geländer der Veranda. Mit einem Geräusch, das an einen fetten Trompetenfrosch denken ließ, ging ihm ein Wind ab. Er schnüffelte und wich zwei Schritte zur Seite aus.

Gerade hob er die Bierflasche an den Mund, als es metallisch krachte. Er schrak zusammen, seine Hand zuckte. Einen Moment hielt er inne, ließ den Arm sinken und stand reglos da. Wieder krachte es, so als versuche jemand, gegen Metall anzugehen. Ganz in der Nähe. Auf seinem Grundstück.

In Georgs Adern pulste Adrenalin, er drehte den Kopf nach rechts, lauschte in die Dunkelheit. Ein leises Quietschen drang zu ihm, es kam aus der Richtung seines gerade erst fertiggestellten Carports.

Vorsichtig stellte Georg die Bierflasche auf dem Geländer ab, zögerte noch ein paar Sekunden und schlich dann barfuß die fünf Stufen der Terrassentreppe hinunter.

Unter der Veranda lagen Latten des alten Gartenzauns, die im nächsten Winter verfeuert werden sollten. Georg bückte sich und griff nach einer. So bewaffnet pirschte er an Hellas Rosenstauden vorbei zur Seite des Hauses, an die Garage und Carport angrenzten. Ein gepflasterter Pfad führte vom Garten aus zu den Anbauten. Der Dreiviertelmond leuchtete vom Nachthimmel und spendete gutes Büchsenlicht.

Mit beiden Händen hielt Georg die Zaunlatte wie einen Baseballschläger quer vor seiner Brust. Etwas stach in seinen Fuß, eine Distel zwängte sich zwischen den Pflastersteinen hervor. Georg schlich weiter, er war nur noch ein paar Meter vom Hintereingang der Garage entfernt.

Im Carport bewegte sich ein Schatten.

»He!«, schrie Georg, ohne nachzudenken. »Was machen Sie da?« Schon stürzte er los. Doch in der Vorwärtsbewegung blieb seine schlackernde Pyjamahose an einem Rosenbusch hängen. Georg strauchelte, ließ die Latte fallen, ruderte mit den Armen verzweifelt nach Gleichgewicht und schlug lang auf die Pflastersteine. »Argh«, entfuhr es ihm, Schmerz funkte durch Handflächen und Knie. »Verdammt!«

So schnell es ging, rappelte er sich hoch. Jemand lief zwischen seinem Grundbock und dem Anhänger aus dem Carport.

»Stehen bleiben!«, schrie Georg und humpelte los, erreichte die mit Lavalit aufgefüllte Drainage, spürte mit dem knirschenden Geräusch unter seiner Fußsohle Stiche wie mit Messerspitzen und sprang hastig zum Betonboden über. An seinem kleinen Bagger vorbei lief er aus dem Carport auf die Straße.

Alles war still, niemand war zu sehen.

In Georgs Kopf rotierte es. Diebe, Einbrecher, Saboteure. Oder wollte sich nur jemand irgendetwas ansehen? Doch wieso dann diese metallischen Geräusche?

Georg ging zu dem Bagger und strich mit der Hand über das knallgelbe Blech. In der Fahrerkabine ragte vor dem Sitz der Steuerknüppel auf, solide und zuverlässig. Die Maschine umwehte ein Duft von Diesel, Schmieröl und Erde – Georgs Lieblingsgeruch, heimelig und vertraut.

Mit Augen und Händen überprüfte er die Fahrerkabine, den Baggerarm und die Ketten. Es schien alles in Ordnung zu sein. Anschließend kontrollierte er den Hänger. Auch daran fiel ihm nichts auf.

Kopfschüttelnd trollte er sich zurück ins Haus.

2

»Ach, da war doch nichts.« Hella bückte sich zum Gefrierschrank, öffnete ihn und zog einen Karton heraus, der mit einer Art braunem Diskus bedruckt war. »Russischer Zupfkuchen« stand auf der Packung. Den servierte Hella immer, wenn Adam und Olga kamen. Einmal hatte Olga erklärt, dass Polen noch nie Russland gewesen sei, eher im Gegenteil, aber Hella hatte nur mit den Schultern gezuckt und Olga Sekt nachgegossen. »Polnische Weihnachtsgans war mir zu aufwendig.«

Es ärgerte Georg, dass Hella einfach so über den Vorfall der letzten Nacht hinwegging. Schließlich lebte auch sie in diesem Haus, und wenn Diebe hier herumschlichen, sollte sie das zumindest interessieren. Aber so war sie. Sorglos und mit dem Gemüt eines vergnügten Teenagers ausgestattet. Es wird schon gut gehen. Genau genommen machte sie das für Georg überaus attraktiv. Nach zwanzig Ehejahren mit einer unkenden Irene war Hellas heitere Gelassenheit wie eine Offenbarung gewesen.

Manchmal allerdings fand er die Unbekümmertheit wenig angebracht. Jetzt zum Beispiel.

»Wann genau bist du heute von Helmut zurück?«, fragte Hella. Sie trat in ihrem seidigen hellblauen Morgenmantel an den Frühstückstisch und goss Georg Kaffee nach.

»Weiß noch nicht«, sagte er mit vollem Mund, registrierte Hellas Lippenkräuseln und fügte eilig an: »Früh genug.« Er spülte mit dem Kaffee den Marmeladenbrotbrei hinunter und stand auf. »Ich muss los.« Halb im Gehen drückte er Hella einen Kuss auf die Wange. »Bis später.«

In seinem Blaumann, auf dessen linke Brustseite »Reifegerste« und das Firmenlogo eines stilisierten Baggers eingestickt waren, eilte er aus der Küche.

»Hast du deine Blutdrucktablette genommen?«, fragte Hella noch.

»Jaja.«

Georg hatte sie nicht genommen, er führte seine nachlassende Standhaftigkeit nämlich auch auf die Pillen zurück. Außerdem war sein Blutdruck überhaupt nicht so hoch, aber die Ärzte kamen ja immer direkt mit Medikamenten. Seine Mutter war neunundachtzig und hatte ihr Leben lang noch keine Blutdrucktablette genommen. Gut, sie war hager wie ein Holzspan und bleich wie Hüttenkäse. Georg konnte sich kaum vorstellen, dass sie ihn zur Welt gebracht hatte, dass irgendetwas in ihrer kargen, blutleeren Hülle herangewachsen war. Aber sicher war sie nicht immer so gewesen. Ihre Lebensjahre hatten sich wohl von ihrem Fleisch ernährt.

Morgen, am Sonntag, musste Georg wieder zu ihr ins Altersheim und ihre Wäsche austauschen. Wenn Hellas Kater nicht zu groß war, kam sie vielleicht mit.

Bereits vor dem Frühstück hatte Georg den Hänger an seinen Geländewagen gekoppelt und den Grundbock daraufgefahren. Das Gespann parkte direkt vor dem Haus. Georg schlüpfte aus seinen Schlappen und zog die Arbeitsschuhe an. Früher hatte er die Latschen einfach draußen vor der Haustür stehen lassen. Seitdem seine Enkel sie einmal mit gesammelten Schnecken gefüllt hatten, brachte er sie im Flur auf dem Schuhregal unter.

Es war kurz vor acht, Georg war spät dran. Kein Wunder. Bis er nach seiner nächtlichen Entdeckung eingeschlafen war, hatte es bis drei gedauert, entsprechend schlecht war er heute Morgen aus den Federn gekommen.

Skeptisch betrachtete er den grauen Himmel, öffnete die Autotür, klemmte sich hinters Steuer und startete den Motor. Das tiefe Poltern des kräftigen Diesels füllte den Innenraum des Wagens. Georg fuhr an, spürte beim Gasgeben das Gewicht des Anhängers und brachte das Gespann in Bewegung.

Er musste zu einer kleinen Ortschaft oberhalb des Moseltals, man fuhr rund drei Kilometer bis dorthin, immer bergan. Helmut Molitors Hof lag außerhalb des eigentlichen Dorfes. Er hatte ihn von seinen Eltern übernommen und zu einer Geflügelzucht ausgebaut. Sein Sohn setzte nun auf Mais und Raps.

»Man muss mit der Zeit gehen«, hatte Helmut gesagt. »Die Hühner allein bringen nicht mehr genug ein.«

Rund zweihundert Meter von Georgs Haus entfernt stieg die Straße an, rechts und links am Hang lagen Weinberge. Sie reichten bis in den Ort hinein und dehnten sich über viele Hektar rundherum aus. Von den Steillagen über der Mosel hatte man eine phantastische Aussicht auf den glitzernden Fluss. Noch besser war es, mit dem Gleitschirm darüber hinwegzufliegen. Vor über zwanzig Jahren hatte Georg damit angefangen, und die Leidenschaft fürs Fliegen hatte ihn nicht mehr losgelassen.

Er war in seinem Dorf geboren worden und aufgewachsen. Natürlich hatte er auch ein bisschen was von der Welt gesehen, vor allem, seitdem er mit Hella zusammen war. Sie drängte immer darauf zu verreisen. Mit ihr war er zum ersten Mal in Amerika gewesen, drei Tage in New York. Ausgerechnet. Er hatte Fernsehsendungen über die Weiten im Mittleren Westen gesehen, über die Rinderzucht in Texas und die beeindruckende Landschaft der Rocky Mountains. Aber es hatte New York sein müssen. Die Stadt hatte ihn schier erschlagen. Er bekam Herzrasen, das er Hella gegenüber nicht zugeben wollte, hatte bei dem Dauerlärm auf den Straßen nicht schlafen können und war heilfroh gewesen, als er im Flugzeug zurück nach Hause gesessen hatte.

Georg fuhr sein Gespann den ansteigenden Weg hinauf. Nach einer kurzen Strecke bog er links ab. Ein Traktor kam ihm entgegen, er kannte das Fahrzeug und den Mann darauf. Es war Harald, einer seiner ehemaligen Schulkameraden.

Georg lenkte rechts ran, Harald fuhr in jagdgrünem Arbeitskittel und Schirmkappe grüßend an ihm vorbei. Dabei wippte er in dem gefederten Sitz hoch und runter – ein Reiter auf seinem Dieselross.

Das laute Kleppern des Traktors entfernte sich, Georg legte den Gang ein und fuhr weiter. Über die Jahre hatte er sieben Häuser in diesem Ort mitgebaut, dazu etliche Garagen und Carports. Zwei Swimmingpools hatte er in der Erde versenkt, zahlreiche Einfahrten ausgebaggert, Gärten und Außengelände bearbeitet. Das Dorf war sein Revier, seine Heimat. Man kannte sich untereinander, kannte die Familien, wusste, wer fleißig war und wer ein Tagedieb.

Nach wenigen hundert Metern bog Georg nach rechts ab. Auf der Ecke stand ein altes, verlassenes Bruchsteinhaus. Ein geistig verwirrter Mann hatte früher darin gelebt, in zerschlissenen Lumpen hatte er in seinem Gärtchen die Hühner gefüttert und Unrat aufgetürmt. Dabei führte er ärgerliche Selbstgespräche, die vorbeigehende Kinder erschreckten. Damals hatte man ihn einfach dort leben lassen, allein und verwahrlost. »Der Krieg«, hatten die Leute gesagt. »Die Bombentrichter an der Ostfront.«

Georg passierte das Ortsschild, dahinter ging es über eine kurvige Straße hinauf zu dem Bergvölkchen. Saftig belaubter Mischwald löste die Weinberge ab, rechts ansteigend, links abfallend in ein Seitental hinein. Der Motor des Wagens hatte ordentlich zu tun, aber Georg gefiel es, etwas zu bewegen, Zug, Hebelkraft und Mechanik in Aktion zu spüren. Und er liebte es, zu graben, zu baggern und zu bauen. Hier auf dem Land hatte man Platz und Freiheit, es gab immer was zu tun. In der Stadt hätte er nicht leben mögen, dort war es eng und alles, was mit Bauen zu tun hatte, ein riesiges Brimborium. Im Internet las er solche Sachen wie: »Wir wohnen in Essen-Katernberg und hätten zehn Kubikmeter Aushub wegzufahren, wie machen wir das am besten?«

Tja. Firma beauftragen, Genehmigung vom Amt einholen, um den Container zu stellen, Straße absichern, Miete für den Container zahlen, Kosten für das Befüllen, Kosten für den Abtransport, Entsorgungsgebühren für die Deponie … Zack, peng, da kamen mehrere hundert Euro für das bisschen Erde zusammen. Die Leute taten Georg leid.

Er lehnte sich in seinem Fahrersitz zurück, kurvte über den holprigen Straßenbelag und erfreute sich dabei an dem frischen Grün der Natur ringsum. Der Frühling war ihm die liebste Jahreszeit. Nicht nur, weil es sich im Frühjahr am besten bauen ließ, sondern auch, weil er das kraftvolle Sprießen mochte, viel mehr als Welken und Rückzug.

Nach ein paar Minuten erreichte er den Ortseingang. Die Straße wurde zu schmal für zwei Fahrzeuge, aber es gab ohnehin nicht oft Gegenverkehr. Georg bremste ab und lenkte Auto und Hänger routiniert um eine Biegung. Er fuhr an einem Ausflugslokal vorbei, das grandios über dem Moseltal lag, danach an der alten Kirche, in der nur noch selten Gottesdienst gehalten wurde.

Die Straße war gesäumt von Bruchsteinhäusern, Scheunen und leer stehenden Gebäuden, von denen der Putz bröckelte. Früher hatte man immer aufpassen müssen, dass man keine Katze überfuhr, heute waren kaum noch Katzen zu sehen. Einwohner auch nicht.

Gegenüber dem Gemeindehaus lag der kleine Friedhof, und schon hörte das Dorf wieder auf. Georg bog kurz hinter dem Ortsschild in einen Weg ein, der in die Felder führte.

Nach ein paar hundert Metern kam der Hof der Molitors in Sicht, das weiß gestrichene Wohnhaus, der lang gezogene Stall, die zwei Silos und die geräumige Scheune. Daran grenzte der Anbau, in dem die neue Biogasanlage untergebracht war, Helmuts Sohn Gernot hatte sie angeschafft.

Der große Traktor der Molitors stand mitsamt Hänger neben dem Gelände, auf dem die geplante Halle entstehen sollte. Langsam fuhr Georg weiter und sah, wie Helmut in Arbeitsoverall und Gummistiefeln vom Bulldog stieg und zwischen Hänger und Zugmaschine werkelte.

Georg bog nach links auf die Zufahrt zum Hof ein. Wenig später hielt er an und stieg aus.

»Morgen«, sagte er munter.

Helmut kam ihm entgegen und erwiderte den Gruß. Sein wettergegerbtes Gesicht wirkte gutmütig, die Nase stand wie eine Kreuzung aus Runkelrübe und Kartoffel heraus. Helmuts Hände glichen Pranken, es waren die eines Mannes, der mit seinem Land und harter körperlicher Arbeit verwachsen war.

»Jo. Da.« Helmut deutete mit dem Kopf zu dem ausgemessenen, mit Maurerschnur abgespannten Stück Land.

»Na, hoffen wir mal, dass das Wetter hält«, meinte Georg. »Dann können wir heute schon ein gutes Stück schaffen.«

»Jo.« Helmut nickte bekräftigend.

»In ein paar Wochen kann die Halle stehen.«

»Joho.« Ein kurzes Lachen, wie in Vorfreude, begleitete das Wort.

»Fährst du den Aushub direkt ab?«, fragte Georg weiter.

»Jo.«

»Kannst den Grund woanders bestimmt gebrauchen?«

»Ah. Sicher.«

»Na dann. Legen wir los …« Auffordernd klatschte Georg in die Hände. Ein neues Projekt stand an, damit kam immer ein gutes Gefühl auf.

Er ging zu seinem Hänger und zog eine der Auffahrschienen aus der Halterung am Hängerboden heraus. Helmut kümmerte sich um die andere. Er war kein Mann großer Worte, doch er wusste, wo man zupacken musste. So wie ein Arzt Krankheiten erkannte und ein Friseur einen miesen Haarschnitt, besann sich Helmut auf die Arbeit und ging daran, sie zu erledigen.

Georg und Helmut befestigten die Auffahrschienen an der Ladekante des Hängers, damit der Grundbock rückwärts herunterfahren konnte.

»Wie geht’s Lieselotte?«, fragte Georg dabei. Helmuts Frau hatte vor Kurzem ein neues Hüftgelenk bekommen.

»Och jo …«

»Kann sie schon wieder richtig gehen?«

»Nä. Noch net so.« Helmut musterte seine Stiefel, offenbar wusste er nicht mehr zu dem Thema zu sagen.

Gut, dachte Georg, muss auch nicht sein. Die Gespräche über Krankheiten, die in seiner Generation an der Tagesordnung waren, lagen ihm ohnehin nicht. Hella redete zum Glück nicht über Krankheiten. Sie hatte keine. Aus Prinzip nicht. »Höchstens später mal, wenn wir alt sind«, sagte sie und klang dabei, als dauerte das noch eine Ewigkeit.

Georg stieg auf den Hänger, kletterte in die Fahrerkabine des Baggers und ließ den Motor an. Langsam setzte er rückwärts. Die Antriebsketten liefen auf die Schienen, der Grundbock tuckerte in Schräglage hinunter bis zum Boden und kam rumpelnd dort an. Georg kurvte ihn dicht neben dem Abfuhrhänger an eine der Maurerschnüre heran.

Mit einem Tick Aufregung, der beim ersten Aushub, einem Spatenstich gleich, immer mitschwang, griff Georg nach dem Steuerknüppel und senkte die Metallzähne der Schaufel in die Erde.

Happs. Wie ein hungriges Tier fraß sie sich in den lehmigen Grund, nahm das Maul voll und kam auf Georgs Steuerbefehl hin wieder nach oben. Die Hydraulik des Baggerarms hob das Gewicht mühelos. Der Grundbock rüttelte, Georg spürte die Vibration des Sitzes und nahm sie mit einem leichten Wackeln des Oberkörpers auf.

Er ließ den Baggerarm zur Seite bis über den Hänger schwenken und den Schaufelinhalt hineinfallen. Der Anfang war gemacht.

Zufrieden führte Georg die Metallzähne zurück, ließ sie den zweiten Bissen Erde nehmen und in den Hänger ausspucken. Die nächste Ladung folgte und die nächste. Eine nach der anderen. Der Motor des Grundbocks dröhnte, Georg wackelte und steuerte. Nur für Laien wirkte die Arbeit gleichförmig oder gar eintönig. Wer sich auskannte, wusste, dass jede gehobene Schaufel anders war und man immer achtgeben musste.

Nach der sechsten oder siebten Ladung kam Georg in seinen Rhythmus, war ganz bei sich und bei dem, was er tat. Das Wort Flow war ihm unbekannt, er brauchte es auch nicht. Baggern hatte ihn schon erfüllt, bevor die Leute Gefühlen und Zuständen importierte Namen gegeben hatten.

Mit jedem Hub zeigte sich der Fortschritt, die Vertiefung hinter der Maurerschnur wurde größer und breiter.

Helmut kraxelte mit der Mühe, die Alter und Körperumfang mit sich brachten, auf den Hänger und verteilte den klebrigen Erdhaufen über die Ladefläche. Dann kletterte er wieder hinunter, um kratzend und schaufelnd die ausgebaggerten Kanten entlang der gespannten Kordel nachzuarbeiten.

Ein paarmal glaubte Georg, durch das Motorengeräusch des Grundbocks hindurch Vogelgezwitscher zu hören. Der Frühjahrstag wäre ganz nach seinem Geschmack gewesen, aber der Himmel war zu trüb. Und er zog sich weiter zu.

Gerade hatte Georg wieder eine Ladung auf den Hänger abgeschüttet, als sein Blick, der mit dem hydraulischen Arm zurückgeschwenkt war, hängen blieb. Die Baggerschaufel entfernte sich aus Georgs Sichtfeld, während er auf die Frau, die vom Wohnhaus der Molitors her näher kam, starrte.

Es war Lieselotte. Ein Bild aus lang zurückliegender Zeit blitzte vor Georgs geistigem Auge auf. Es zeigte ein schwarzhaariges Mädchen mit graublauen Augen, dicken Brauen, einer kräftigen Nase und heller sommersprossiger Haut. Sie trug ein weißes Spitzenkleid und roch nach Zwiebeln. Bestimmend und unnachgiebig manövrierte sie ihn über glattes Parkett. Lieselotte war Georgs Partnerin beim Abschlussball der Tanzschule gewesen. Sie hatte ihn gefragt gehabt, er hatte sich nicht getraut, Nein zu sagen.

Helmuts Frau hinkte auf die Baustelle zu. Sie trug einen flachen Korb, aus dem eine Thermoskanne herausragte.

Natürlich hatte Georg Lieselotte über die Jahre immer wieder getroffen. Er erinnerte sich noch an ihren Polterabend mit Helmut, wie sie rotwangig und laut lachend Scherben weggekehrt und ihren zukünftigen Mann angetrieben hatte. Später hatte Georg den Reiz ihrer Jugend dahinwelken sehen, hatte bemerkt, wie sie dicker und derber wurde, ihre Stimme schärfer, das Gesicht männlicher. Die bestimmende Art war ihr geblieben.

Nun allerdings kam eine klapprig gewordene Frau auf Georg zu. In ihrer verfilzten Strickweste, dem gemusterten Kittel und der blauen Trainingshose stand sie unweit von Helmut entfernt und rief ihm etwas zu. Der bedeutete Georg mit einem Handzeichen, Pause zu machen.

Georg zögerte einen Moment. Dann nickte er, in Anbetracht des sich zuwolkenden Himmels eher widerwillig, stellte den Motor ab und kletterte aus der Fahrerkabine.

»Hallo, Lieselotte«, grüßte er. »Was bringst du uns denn Schönes?«

»Ach Gott. Was Schönes? Nix Besonderes. Nur Kaffee und ein bisschen trockenen Kuchen. Ich kann noch nicht gut einkaufen fahren. Du siehst es ja.« Die Stimme war knarrend wie eine verzogene Kellertür.

»Geht’s denn bergauf mit der Hüfte?«, fragte Georg, mehr aus Höflichkeit als aus Interesse.

»Was soll denn bei uns noch bergauf gehen?« Lieselotte stellte den Korb auf der breiten Gabel des Hängers ab, nahm zwei weiße Kunststofftassen heraus und reichte eine Georg und eine ihrem Mann. Dann goss sie dampfenden Kaffee aus der Kanne hinein.

»Danke schön«, sagte Georg. Schlürfend nahm er einen kleinen Schluck.

Lieselotte griff nochmals in den Korb und brachte einen mit Frischhaltefolie abgedeckten Teller zum Vorschein. Darauf lagen ein paar Stücke Streuselkuchen, der hier Riwweleplätzje hieß. Mit geschwollenen Fingern nestelte sie die Folie zurück.

»Bedien dich.« Sie streckte den Teller Georg hin, der nahm sich ein Stück und reichte ihn Helmut weiter.

Der süße Buttergeschmack des ersten Bissens erfreute Georg mehr, als er gedacht hatte. Manchmal muss man zu den kleinen Freuden genötigt werden, dachte er, und unwillkürlich kam ihm Hella in den Sinn. Kleine und auch größere Freuden waren ihre Spezialität.

Der Gedanke schlug sich in einem Schmunzeln auf Georgs Gesicht nieder, er fing einen abschätzigen Blick von Lieselotte auf.

»Ich muss rein und mich setzen«, knarzte sie mit heruntergezogenen Mundwinkeln und hinkte zurück zum Haus. Georg blickte ihr nach. Ein Kelch, der in seiner Jugend an ihm vorübergegangen war.

Fünf Minuten später saß er wieder auf dem Bagger, erfrischt durch Zucker, Fett und Koffein. Ruckelnd ließ er die Schaufel in die Erde absinken und hob sie gefüllt wieder an. Im selben Moment stutzte er. Oben auf dem braunen Grund zeichnete sich etwas Weißes ab, länglich und schmal, wie ein Stock. Georg schaute genauer hin, fast leuchtend lag das Ding da. Dann erkannte er, dass es ein Knochen war, zwanzig bis dreißig Zentimeter lang und recht dick.

In Georgs Gehirn begann es zu arbeiten. Automatisch ging er Tiere durch, die derartige Knochen haben konnten, aber er kannte sich nicht gut aus.

Der Baggerarm hing seltsam unentschieden in der Luft. Georg räusperte sich, lenkte ihn zum Hänger und leerte die Schaufel aus. Helmut stand daneben. Der helle Knochen purzelte mit dem Grund heraus, drehte und überschlug sich und lag schließlich seitlich neben dem aufgeschütteten Erdhügel.

Helmut trat näher heran. Er kniff die Brauen zusammen, legte den Kopf schräg, fasste dann den Knochen mit seiner Pranke und hob ihn hoch. Skeptisch wandte er ihn hin und her.

»Vieh«, sagte er laut. »Rindvieh.«

Der hat doch nur Hühner, dachte Georg.

Helmut stand mit dem Knochen in der Hand da. Wie in Zeitlupe machte er eine ausschwenkende Bewegung mit seinem Arm. Sie erinnerte Georg an die eines Hundehalters, der einen Stock zum Apportieren wirft. Doch Helmut hielt im Schwung inne, stand einen Augenblick lang still, ließ den Arm sinken und setzte sich in Bewegung Richtung Hof.

Seine kräftige, immer noch gerade Gestalt steuerte mit entschlossenen Schritten auf den Anbau zu, in dem die Biogasanlage war. Dabei traf er kurz vor dem Gebäude auf Lieselotte. Georg beobachtete einen Wortwechsel, Lieselotte deutete fragend auf den Knochen, Helmut ließ sie stehen und betrat den Anbau.

Kurze Zeit später kam er wieder heraus und begab sich zurück zur Baustelle.

»Machen wir weiter«, sagte er mit einer Kopfbewegung gen Himmel.

Georg lenkte die nächste Schaufel in die Grube und ließ sie hochfahren. Seine Hand zuckte am Steuerknüppel. In der Erde lagen drei kleine weiße Dinger, wie Stäbchen. Oder wie Knochen. Wie die von Fingern, schoss es Georg in den Sinn. Reflexartig wandte er den Kopf zu Helmut, der guckte in die Baugrube, in Richtung der weißen Teile. In seinem Gesicht regte sich nichts.

Rindviecher haben keine Finger, dachte Georg, es könnten Hühnerknochen sein. Er war irritiert. Eine Kuh und ein Huhn im Tode vereint?

Auf das merkwürdige Bild in seiner Vorstellung schlug ein Wassertropfen. Georg blinzelte. Der Tropfen war auf der Windschutzscheibe des Baggers gelandet, augenblicklich folgten weitere. Mit leisem Ploppen zerbarsten sie auf dem Sicherheitsglas.

»Wir hören auf«, sagte Helmut. »Machen nächste Woche weiter.«

Was? Bei den ersten Tropfen muss man die Arbeit doch nicht direkt einstellen, wollte Georg einwenden, der Regen kann sich schnell verziehen. Er bemerkte Helmuts entschiedenen Ausdruck und schwieg. Unbehagen überkam ihn.

»Jo. Komm. Hat keinen Zweck mehr«, murrte Helmut. »Feierabend.«

Georg stoppte den Motor und stieg vom Bagger.

»Es regnet sich ein«, sagte Helmut bestimmend. »Wenn du Zeit hast, machen wir am Montag weiter.«

3

»Georg? Bist du schon da?« Hella kam erstaunt aus der Küche in den Flur.

»Es regnet«, knurrte Georg. Er konnte sich seine schlechte Laune selbst nicht recht erklären.

»Die paar Tröpfchen?« Hella hob die Augenbrauen. Links und rechts des Scheitels hatte sie zwei dicke Lockenwickler ins Haar montiert. Auch so etwas, das Georg nie verstand. Einerseits war Hella nicht gerade scharf auf die Besuche von Adam und Olga, andererseits machte sie sich dafür schick. Wem sie gefallen wollte, war Georg schleierhaft. Ihm selbst gefiel sie ja sowieso.

»Du, ich muss noch was einkaufen«, meinte Hella geschäftig, eilte zurück in die Küche und schoss mit ihrer großen Korbtasche über der Schulter wieder heraus. Georg klaubte gerade seine Hauslatschen vom Schuhregal.

»Morgen müssen wir ja auch irgendwas essen. Ich fahr schnell rüber nach Traben-Trarbach. Bis gleich.« Hella öffnete die Haustür und hauchte einen Luftkuss zu Georg hin. Der wies mit seinem Zeigefinger auf ihren Haaransatz.

»Ach ja.« Lachend nestelte Hella die beiden Wickler heraus und warf sie auf die kleine Kommode unter dem Garderobenspiegel. Ziemlich oft suchte sie ihre Lesebrille, wenn sie sie auf den Kopf hochgeschoben hatte, oder ihr Buch, wenn es auf dem Wohnzimmertisch lag. Ein ganz wunder Punkt war der Aufenthaltsort ihres Schlüsselbunds. Doch Hella wäre nie auf die Idee gekommen, dass diese Dinge etwas mit dem Alter zu tun haben könnten.

»Bei Helmut war was Seltsames«, murmelte Georg.

»Der ganze Helmut ist seltsam«, meinte Hella leichthin. »Und seine Frau auch.«

»Nein. Nicht so. Da lag was in der Erde.«

»Wie? In der Erde?« Hella war bereits aus der Tür und auf dem Weg zur Garage. »Erzähl’s mir später!« Dann verschwand sie aus Georgs Blickfeld.

Mit seinen Hausschuhen in der Hand ging er durch den Flur in den offenen Wohnbereich und stellte die Latschen auf dem Esstisch ab. Er öffnete den Reißverschluss des Blaumanns, streifte das Oberteil über die Arme, ließ den Overall an sich runterrutschen und stieg mit den Füßen heraus. Der blaue Stoffhaufen lag auf den Terrakottafliesen und störte Georg dort nicht weiter. Nach einem kurzen Zögern bückte er sich jedoch, hob ihn auf und warf ihn auf einen der beigefarbenen Lederstühle am Tisch. Hella mochte es nicht, wenn er seine Sachen herumliegen ließ.

Georgs Blick streifte die hellblau gestrichene Wand. »Bleu Monroe«, hatte Hella gesagt. »Schick, oder?«

Als sie vor sechs Jahren zu ihm gezogen war, hatte sie nach und nach alles renovieren wollen. »Etwas moderner und freundlicher könnte es schon sein«, hatte sie gemeint. Für Georg wäre auch das Alte noch okay gewesen, aber gute Güte, er war Bauunternehmer. Das bisschen Renovieren mach ich nebenher, hatte er gedacht.

Es war nicht ganz nebenher gewesen. Zuerst das Schlafzimmer, natürlich, den alten Teppich raus, die Tapeten runter, die Holzdecke weißen, teuren Sisalboden rein. Dann die Küche en complet, das Wohn- und Esszimmer, die hellbraunen Fliesen im Gästeklo raus – »Georg, die gehen wirklich nicht mehr …«, Georg wollte gar nicht daran zurückdenken.

Er öffnete die Flasche Mineralwasser, die auf dem Tisch stand, setzte sie an den Hals und trank ein paar Schlucke. Noch immer war dieses Unwohlsein in ihm, das ihn bei Helmut überkommen hatte. Er versuchte, das Bild aus seiner Erinnerung plastisch werden zu lassen, es sich genau vor seinem geistigen Auge anzusehen. Ein großer und drei kleine Knochen, wie sie da in der braunen Erde lagen. Knochen von irgendeinem Tier.

Warum hatte Helmut die Arbeit abgebrochen und erst am Montag weitermachen wollen? Wieso hatte er den großen Knochen direkt entsorgt?

Weil er wusste, dass es kein Tierknochen war?, überlegte Georg. Helmut kennt Viehknochen, die gefundenen konnte er nicht zuordnen.

Nachdenklich schlurfte Georg in sein Arbeitszimmer. Es war der einzige Raum, der von Hellas Renovierungsmaßnahmen verschont geblieben war und den sie nicht aufräumte. Entsprechend sah es dort aus. Aktenordner stapelten sich, Zeitschriften und anderer Papierkram lagen herum, an den Wänden hingen Wimpel und halb vergilbte Fotos von Georg und seinen Gleitschirmfliegerkollegen.

Er schob einen Stapel Unterlagen von seinem Laptop herunter und ging mit dem Gerät zurück an den Esstisch. Unschlüssig ließ er den Zeigefinger über die Tastatur gleiten. Nach was sollte er überhaupt im Internet suchen? Nach Tierskeletten? Oder denen von Menschen?

Oberschenkel? Oberarm? Arm und Finger?

Georgs Nackenhaare sträubten sich, er gab »menschliches Skelett« ein. Zahlreiche Fotos und Abbildungen wurden angezeigt. Nach ein paar weiteren Klicks fand er ein Bild, auf dem sich die einzelnen Knochen separat vergrößert anzeigen ließen. Er betrachtete erst Arme, dann Beine, auf den Monitor des Laptops starrend.

Das Geräusch der Türklingel ließ ihn zusammenzucken. Die Küchenuhr zeigte halb zehn. Der Paketbote?, überlegte er und stand auf. Es klingelte wieder, dieses Mal Sturm.

Georg linste an sich hinunter, das Unterhemd ging knapp über die Unterhose. Lang genug, entschied er, eilte zur Tür und riss sie auf.

»Hallo, Opi!« Einer der Zwillinge sprang ihn an, Karl oder Franz. Natürlich konnte Georg sie unterscheiden, aber nicht im ersten Moment.

»Ah. Oh. Seid ihr schon da?«

»Ja?«, erwiderte Adam. »Wieso? Sind wir zu früh?« Sein Ton war latent vorwurfsvoll, das hatte er von seiner Mutter.

»Natürlich sind wir zu früh«, sagte Olga lachend, und ihre Nase kräuselte sich dabei. »Aber die Jungs waren heute Morgen so zeitig wach, da sind wir einfach nach dem Frühstück los.« Sie drückte Adam die Platte mit der selbst gebackenen Schwarzwälder Kirschtorte in die Hand, trat einen Schritt auf Georg zu und umarmte ihn. »Hallo. Gut siehst du aus …« Ihre grünen Augen musterten ihn zwinkernd in seiner Feinrippmontur.

»Ich komme gerade von einer Baustelle«, nuschelte Georg. »Rein mit euch. Hella ist noch unterwegs.«

Seine Enkelsöhne stürmten an ihm vorbei ins Haus. Sie waren hübsche Kerle mit Sommersprossen und dem welligen, kastanienbraunen Haar ihrer Mutter. Außerdem mit ihrem Nachnamen. Karl und Franz Tomaszewski. Nicht Reifegerste.

Es war einer der schwarzen Tage in Georgs Leben gewesen. Olga hatte erklärt, dass es nur gerecht sei, wenn die Kinder bei deutschen Vornamen einen polnischen Nachnamen hätten. Für Georg war das nicht gerecht gewesen, sondern schier unbegreiflich. Hella und er hatten mit Freunden die Geburt der Jungs begossen. Mindestens eine halbe der an diesem Abend in seinem Blut befindlichen Promille stammte von Enttäuschungsbier.

»Uih, Opa, was guckst du dir denn da an?«, fragte einer der Jungs laut vom Esstisch herüber. »Das ist ja wie in der Geisterbahn.«

»Wie bitte?« Adam warf Georg einen fragenden Blick zu. Um diese Zeit? In deinem Alter?

Mit einem Kopfschütteln ging Adam zum Esstisch, stellte den aufwendig verzierten Kuchen darauf ab und mit einem Naserümpfen die Hausschuhe runter auf den Boden.

»Tatsächlich?« Olga klang belustigt, kam an den Tisch und lugte über die Köpfe ihrer Söhne hinweg auf den Computerbildschirm. »Was tut dir weh, Georg?«, wollte sie mit zusammengekniffenen Brauen wissen.

»Mir? Nichts.«

»Warum interessierst du dich dann für diese Knochen?«

»Wie? Ach, das … keine Ahnung. Ich geh schnell nach oben und zieh mir was an.«

Georg eilte die Treppe hoch ins Schlafzimmer, schnappte sich eine Jeans und ein kariertes Hemd und schlüpfte hinein.

Als er wieder runterkam, waren seine Enkel im Garten und schaukelten. Zu Hause in Trier hatten sie keine Schaukel, noch nicht einmal ein Gärtchen. Sie wuchsen in einer Vier-Zimmer-Altbauwohnung mit winzigem Balkon auf und lernten in der Grundschule häkeln und Blockflöte spielen.

Adam saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sofa. Er las in der Tageszeitung, während sich Olga in der Küche zu schaffen machte. Georg ging zu ihr. Gerade schnitt sie die mitgebrachte Torte in Stücke.

»Die Kinderversion.« Schmunzelnd strich sie eine Ponysträhne ihrer Kurzhaarfrisur zur Seite. »Erst mal noch ohne Kirschwasser.« Wenn Olga sprach, vibrierte das R, und manche Silben waren zu lang gezogen.

Olga konnte gut backen und kochen, das sah man Adam allerdings nicht an. Er war gertenschlank und meist blass, aus Georgs Sohn war ein Bürohengst mit Seitenscheitel und hellblauen Hemden geworden.

Im Schloss der Haustür drehte sich ein Schlüssel, verwundert horchte Georg auf. Einen Moment später stand Hella im Türrahmen der Küche.

»Ach, seid ihr schon da?«, fragte sie, ging auf Olga zu und begrüßte sie mit einer Umarmung.

»Ja, die Jungs waren früh dran heute …« Olga rollte ihre großen Augen.

»Und warum bist du schon wieder hier?«, fragte Georg.

»Weil ich den blöden Geldbeutel vergessen habe …« Hella machte eine abwinkende Handbewegung und betonte blöd so, als sei es tatsächlich die Schuld des Portemonnaies, nicht mitgekommen zu sein. »Jetzt muss ich noch mal los.« Mit geröteten Wangen schüttelte sie ihre Frisur zurecht. »Wirklich ärgerlich.«

»Adam soll ohnehin noch bei seiner Mutter vorbei, da kann er das mit dem Einkauf auch unterwegs erledigen«, erwiderte Georg resolut.

Mittlerweile hatte sich Adam gemächlich vom Sofa erhoben und war herangekommen.

»Hallo, Hella.« Er gab ihr die Hand. Geradezu demonstrativ war er ihr gegenüber immer reserviert geblieben, über ein halbes Jahr lang hatte er sie tatsächlich Frau Traber genannt. Erst als Georg ihm fast gedroht hatte, war er zu Hellas Vornamen übergegangen. Georg wusste nicht, ob Adam aus Loyalität seiner Mutter gegenüber so war oder aus Protest gegen seinen Vater. Im Prinzip war es ihm auch egal.

»Ja, sicher.« Adam hüstelte. »Sag mir, was du brauchst, ich bringe es mit.«

»Das ist lieb …« Hella kramte in ihrer Korbtasche und reichte Adam einen rosa Notizzettel. Dann ging sie zur Anrichte, griff nach dem Portemonnaie, das neben dem Obstkorb lag, und hielt es Adam hin. Der drehte sich mit verkniffenen Lippen um, ohne das Geld anzunehmen, und bewegte sich zur Veranda.

»Jungs, kommt ihr mit zu Omi?«, rief er von dort aus in den Garten. »Da gibt es bestimmt was Leckeres zu essen. Ihr könnt auch mit Dunja spielen.«

Dunja war Irenes überfütterter Rauhaardackel. Nach der Scheidung war sie auf den Hund gekommen.

»Super, Dunja«, jubelten Karl und Franz, sprangen von den Schaukeln und kamen angerannt.

Kurze Zeit später fuhr Adam mit ihnen in der Familienkutsche davon.

»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Hella ihre Fast-Schwiegertochter. »Oder ein Gläschen Sekt?«

»Sekt.« Olga redete grundsätzlich nicht lang um die Dinge herum, es war ihr fremd, sich zu zieren.

Hella nahm zwei Gläser vom Sideboard und eine der beiden Sektflaschen aus dem Kühlschrank. Mit einem Knall löste sie den Korken und goss ein.

»Prost.« Die Gläser klangen aneinander. Der Teil des Tages, ab dem Georg überflüssig war, begann heute ziemlich früh.

»Ich gehe Rasenmähen«, sagte er. Der Regen hatte sich verzogen, es gab draußen genug zu tun.

»Stopp!« Olga setzte ihr strenges Medizinergesicht auf. In Anbetracht des Sektglases in ihrer Hand und der morgendlichen Uhrzeit wirkte es ein wenig unpassend. »Bevor du dich schon wieder in die Arbeit stürzt, sagst du mir, was deine armen Knochen plagt.«

»Welche Knochen?«, fragte Hella. »Wieso Knochen?«

»Georg hat wohl ein gesundheitliches Problem. Oder warum sonst guckt er im Internet nach dem menschlichen Skelett?«

»Skelett?«, wiederholte Hella.

»Also?«, schloss Olga auffordernd an.

Ein paar Sekunden lang überlegte Georg. Schließlich entschied er sich, zu berichten.

»Als wir bei Helmut ausgeschachtet haben, kam ein großer Knochen aus der Erde. Helmut hat ihn sich angesehen, gesagt, es sei ein Viehknochen, und ihn direkt in die Biogasanlage gebracht.«

»Und?«, fragten Olga und Hella wie aus einem Mund.

Georg erzählte weiter von den drei kleinen Knochen, wie sie ausgesehen hatten und dass Helmut nach diesem Fund die Arbeit abgebrochen hatte.

»Du machst dir Gedanken darüber, was da in der Erde liegt?«, fragte Olga.

»Ach, bestimmt wirklich nur ein totes Tier …«

Olga runzelte die Stirn. »Wenn du ehrlich bist, hast du Zweifel.«

Unentschlossen zuckte Georg mit den Schultern.

»Da hilft nur eins«, erwiderte Olga. »Heute Nacht sehen wir nach.«

»Wie bitte?« Hella riss die Augen auf.

»Georg und ich fahren zur Baustelle und gucken, ob wir weitere Knochen finden. Ich kann Kuh und Mensch ganz gut unterscheiden.«

»Ah nein.« Georg dehnte die Wörter in Unbehagen. »Ich weiß nicht. Helmut ist ein anständiger Mann, er hat sich nie was zuschulden kommen lassen. Wir sollten die Sache einfach auf sich beruhen lassen.«

»Wenn dort womöglich jemand verbuddelt wurde?«, fragte Olga und leerte ihr Glas. »Kommt gar nicht in Frage. Hella, schenk mir bitte noch mal nach. Bis heute Abend muss ich wieder nüchtern sein.«

4

Olga fuhr wie ein Henker. Der Minivan flog mit quietschenden Reifen um die Kurve, Georg krallte sich am Haltegriff über der Beifahrertür fest.

»Alles okay?«, fragte Olga. »Du wirkst ein bisschen angespannt.«

»Hm«, machte Georg. »Ach was.«

Olga lachte. »Du bist wie dein Sohn.«

Das allerdings bezweifelte Georg.

»Der sitzt auch verkrampft da, wenn ich fahre.«

Kein Wunder, dachte Georg.

»Ihr Männer glaubt wahrscheinlich immer noch, ihr wärt die besseren Autofahrer.« Olga hielt mit beiden Händen das Lenkrad umklammert und gab weiter Gas. »Dabei fängt Adam schon bei drei Schneeflocken an, über die Fahrbahn zu schleichen wie ein verängstigter Grottenolm. Bei uns in Polen weiß man die Straße zu beherrschen, bei Wind und Wetter. Genau genommen sind wir die geborene Autofahrernation.«

»Pass auf!« Georg stützte sich am Armaturenbrett ab.

Blitzschnell trat Olga auf die Bremse. Ein Fuchs huschte über die Straße und verschwand auf dünnen Beinen im Wald, der rotbraune Schwanz leuchtete im Scheinwerferlicht wie ein Feuerschweif.

»Stimmt, wir sind ja auf dem Land«, murmelte Olga. »Mitten in der Natur.« Sie beschleunigte den Wagen wieder.

Georg atmete flach, dabei dachte er an Adam. Sein ahnungsloser Sohn schlief zu Hause im Gästezimmer, während er mit dessen Frau durch die Nacht kreuzte. In jeder Kurve lauerte der Totalschaden, und am Ziel der Fahrt stand Hausfriedensbruch. Das alles kam Georg wie eine gewaltige Schnapsidee vor. Auf seiner Stirn sammelten sich Schweißtropfen.

Olga raste weiter bergan. Nach einem längeren geraden Stück und zwei Biegungen passierten sie das Ortsschild. Olga bremste.

Linksseitig befand sich das Felsplateau, auf dem einst die Starkenburg gestanden hatte, im vierzehnten Jahrhundert das Zuhause der jungen und offenbar ziemlich aufmüpfigen Gräfin Loretta. Kurzerhand hatte sie damals ihren Widersacher, den mächtigen Kurfürsten Balduin, während einer Schifffahrt auf der Mosel kidnappen, auf ihre Burg transportieren und neun Monate lang dort schmoren lassen – bis sie das bekommen hatte, was sie wollte. Drohungen des Kaisers und der Bann des Papstes hatten sie wenig beeindruckt.

Georg schluckte und rutschte ein Stück auf seinem Sitz hinunter. Derweil fegte Olga um eine Hausecke und weiter durch den Ort.

»Park am besten da vorn rechts beim Gemeindehaus«, sagte Georg. »Den Rest des Weges gehen wir zu Fuß.«

»Alles klar.« Olga bog ab. Am Rand einer Seitenstraße hielt sie an.

Sie stiegen aus, Olga griff nach dem Rucksack, der auf dem Rücksitz lag. Sie hatte zwei Taschenlampen eingepackt, dazu eine größere und eine kleinere von Hellas Gartenschaufeln sowie eine ihrer Tupperdosen und eine Rolle Frischhaltefolie. »Zur Beweismittelsicherung«, hatte sie gesagt. Dabei hatte sie geklungen wie eine dieser abgeklärten Detective Sergeants in den Serien, die Georg nur anschauen konnte, wenn Hella schon im Bett war.

»Lass uns los.« Im Stechschritt setzte sich Olga in Bewegung, Georg lief neben ihr.

Das Dorf lag wie ausgestorben da, in keinem der Fenster brannte Licht.

»Dort entlang.« Er dirigierte seine Schwiegertochter auf den Weg, der zu dem Aussiedlerhof führte. Schweigend gingen beide nebeneinanderher.