Heidelberger Wasser - Hannah Corvey - E-Book

Heidelberger Wasser E-Book

Hannah Corvey

4,9

Beschreibung

Der Mord an einer jungen Frau scheint schnell aufgeklärt, als die Kommissare Klara Haag und Sebastian Langer den Freund der Toten erhängt im Heidelberger Forst auffinden. Alles deutet darauf hin, dass sich der Mann nach dem Mord an seiner Freundin das Leben genommen hat. Doch Klara und Sebastian hegen Zweifel. Als sie einen weiteren Toten im unterirdischen Versorgungstunnel unter dem Gelände der Universitätsklinik finden, werden ihre schlimmsten Befürchtungen wahr . . .

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 421

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Hannah Corvey stammt aus einem kleinen Ort an der Mosel. Sie studierte Anglistik und Französische Philologie in Trier, absolvierte ein Verlagsvolontariat und promovierte anschließend in Sprach- und Übersetzungswissenschaft. Nach Stationen in Nancy, Frankfurt und München lebt und arbeitet sie seit 2001 in Heidelberg.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.  

© 2017 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: fotolia.com/romarti Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-181-9 Der Badische Krimi Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Er ließ seine Gedanken ganz zu dem sanften Trommeln auf seiner Schädeldecke fließen. Es war ein angenehmes, vertrautes Gefühl. Seine Augen hielt er geschlossen, das warme Wasser lief an ihm hinunter, der Tag floss von ihm ab, er konnte es spüren.

Manchmal stand er eine halbe Stunde unter dem Wasserstrahl, dann glaubte er, dass er dort für immer bleiben wollte, abgeschottet durch einen Vorhang aus warmem Wasser, der ihn umgab wie ein schützender Mantel. Hier ahnte er so etwas wie Geborgenheit, ein Zuhause, hier konnte er abschalten und seinen brennenden, stechenden Gedanken eine Weile Einhalt gebieten.

Das Wasser rann an der bräunlich verfärbten Duschwand hinab, in der Luft hing ein Nebelschleier, der sich an den Kacheln niederschlug. Er stand in seiner Wasserhöhle und hatte die Zeit vergessen. Mitunter wusste er dann nicht mehr, ob er groß oder klein war, alt oder jung. Bilder aus seiner Vergangenheit zogen an ihm vorüber, aber er war sich nicht sicher, ob sie wirklich zu ihm gehörten.

Das Wasser auf seinen geschlossenen Augenlidern fühlte sich an wie das liebevolle Streicheln einer sanften Mutter, und für eine kurze Zeit war aller Schmerz vergessen.

Er stand da, und es gab nur ihn auf der Welt.

Dieser Zustand dauerte immer nur kurz an, nur einen Bruchteil seines Tages, seines Lebens, in dem irgendetwas falsch war. Auch heute fuhr irgendwann ein zuckender Blitz in seinen Kopf, so als sei das Wasser plötzlich auf hundert Grad erhitzt worden, als würde der Wasservorhang mit einem glühenden Schwert durchtrennt.

Es gab etwas, das ihn hinauszog in die Welt, etwas, das noch besser war, als unter einer wohltemperierten Dusche zu stehen. Seine Erregung nahm zu.

Er sah an sich hinunter. Sein kräftiger Körper war behaart, die Brust von einem dunklen Pelz bedeckt, sein Bauch wölbte sich deutlich nach vorn, aber seine Oberschenkel waren muskulös, er war ein schneller Läufer.

Seine breite Hand griff nach dem Stück billiger Seife, er schäumte sich ein, die Brust und die Arme. Dann nahm er den Nassrasierer, der auf der Mischbatterie lag, und begann, sorgfältig die Körperbehaarung zu entfernen. Das Wasser trug die dunklen Haare mit sich fort und spülte sie in den Abfluss, kurze, gebogene Fäden, die aussahen wie Widerhaken. Unter dem Pelz kam die blasse Haut zum Vorschein, auf der sich unzählige Leberflecken abzeichneten– braune Male auf der Landkarte seines Körpers. Er fühlte sich nun seltsam nackt, obwohl er es vorher schon gewesen war. Doch die Rasur gehörte zur Vorbereitung, sie diente seiner Sicherheit.

Er stellte das Wasser ab und stieg aus der Dusche. Dann nahm er das Handtuch, dessen blauer Stoff verblichen und dünn geworden war, vom Haken neben dem Fenster und rieb damit die Wassertropfen von seiner hellen Haut. Mit einer Ecke des Tuchs wischte er ein kleines rundes Fenster in den beschlagenen Spiegel und betrachtete kurz sein kantiges Gesicht mit den dunklen, fast schwarzen Augen.

Er wusste nicht, ob er attraktiv oder unansehnlich war, er hatte keinen rechten Bezug zu diesem Gesicht. Aber so, wie die Frauen auf ihn reagierten, war er wohl nicht hässlich.

Eilig zog er die ausgebeulte Cordhose an, die über dem Hocker neben dem Waschbecken lag, und streifte sein Hemd über. Er war ein Jäger, er musste raus.

Es war bereits dunkel, als er das Haus verließ und in seinen Mittelklassewagen, ein silbergraues Allerweltsmodell, stieg. Er fuhr zu ihrem Haus, er kannte sie, viel besser, als sie ihn kannte. Sie war blond und hübsch, sie war wie ein Frühlingsregen im Mai, der die nasse Erde duften lässt und nach dem das Grün des frischen, jungen Laubes einen fast blendet. Ein Regen, der einem verspricht, dass es weitergeht, dass das Leben nicht zu Ende ist, ein sanfter Schauer, der einem Mut macht.

Deutlich erinnerte er sich an einen Spaziergang mit der Mutter vor über dreißig Jahren. Es war Frühsommer gewesen, sie waren auf einem Waldweg gegangen, als es plötzlich zu regnen angefangen hatte. Ein schöner Regen, milde, warme Tropfen, ein Regen, mit dem es die Natur gut meinte. Der Mann war auch dabei gewesen, er erinnerte sich nicht mehr an seinen Namen. Er war ihm alt und verbraucht vorgekommen, hatte nach Zigarettenrauch gerochen, und in seinem Mund hatten braune Zähne gestanden, von denen vorn einer fehlte. Sie stellten sich zu dritt unter einem alten Baum mit dichter Laubkrone unter, der Mann tätschelte ihm den Kopf. »Na, Jungchen, bist doch nicht aus Zuckerwatte, was?« Dann zog er die Mutter an sich und lachte mit seiner schwarzen Zahnlücke.

Später in der Wohnung waren wieder die merkwürdigen Geräusche aus dem Schlafzimmer der Mutter gedrungen, der Mann hatte gestöhnt und gekeucht und ab und zu mit lauter Stimme etwas Unverständliches hervorgestoßen. Die Mutter und der Mann kämpfen, dachte er als kleiner Junge und hatte Angst.

Nach Jahren, mit siebzehn oder achtzehn, hatte er den Kampf auch gekämpft, es war immer ein Kampf für ihn geblieben. Damals, als der Mann bei der Mutter gewesen war und er selbst noch ein Kind, hatte er vor dem Fernseher gesessen und auf zappelnde Zeichentrickfiguren gestarrt. Er wusste, dass er nicht in das Schlafzimmer gehen durfte, wenn der Mann da war. Die Mutter hatte es ihm erklärt. »Fred, du musst sein wie Wasser. Du darfst nur da fließen, wo Platz für dich ist.«

Er umfasste das Lenkrad mit seinen kräftigen Händen und trieb seine Gedanken zurück in die Gegenwart wie versprengtes, scheues Wild. Der Wagen glitt ein paar Kilometer weiter durch die Dunkelheit bis zu ihrem Haus in einem weitläufigen Stadtteil im Südwesten von Heidelberg. Das Gefühl irgendwo zwischen Erregung, Gier und Vorfreude hob ihn aus dem schmutzigen Rinnstein seines Alltags.

Schließlich parkte er sein Auto am Straßenrand und sah aus dem Seitenfenster, in ihrer Wohnung im Souterrain gegenüber brannte Licht. Sie hieß Susanne, der Name passte zu ihr, es war ein freundlicher Name. Vielleicht nannten ihre Freundinnen sie Susi, aber er wollte sie nicht so nennen.

Sie arbeitete in dem großen Lebensmittelgeschäft, in dem er immer einkaufte, und sie war jung, in der unbesorgten Blüte ihres Lebens. Ihre meerblauen Augen strahlten klar und ohne Arglist, und ihr Lächeln war bezaubernd. Sie war ihm sofort aufgefallen, ihr Parfüm roch nach Maiglöckchen.

Er konnte nicht sagen, warum es passierte, aber hin und wieder begegnete er Frauen, die etwas auslösten in seinem Kopf, denen er nahe sein musste, deren Nähe ihn tröstete und ihn nährte wie das Wasser eine verdorrte Pflanze.

Manchmal ging er zu Huren, aber es brachte ihm nicht viel. Eigentlich ging er nur dorthin, um seiner einzigartigen Fähigkeit Beschäftigung zu geben, zu Studienzwecken sozusagen. Er konnte Frauen in ihrem tiefsten Wesen erkennen und sie dem Element zuordnen, dem sie entstammten: dem Wasser. Doch die Huren waren alle verdorben, alle wie trübe, schlammige Gewässer, dunkelgrüne Tümpel, fischiges Brackwasser. Manche waren wie ein Gewitterregen, grob und anstrengend, andere faul wie ein seit Jahren stehendes Gewässer, manche kalt wie Eisregen, manche unverschämt wie Hagel.

Susanne war so anders als diese Frauen, sie gab ihm Hoffnung, Hoffnung auf Linderung. Wenn er an sie dachte, fühlte er sich heil. Susanne war der helle, klare Bach, der an einem Frühlingstag dahinplätscherte, ohne Untiefen und ohne böse Überraschungen. Er konnte an diesem Bach spielen, kleine Staudämme bauen, ein Holzschiffchen auf die klare Wasseroberfläche setzen, das tanzend den Bachlauf hinabfuhr, er konnte von dem Bach trinken, seine Wunden darin baden, den jahrzehntealten Eiter auswaschen.

Ein paarmal hatte er mit ihr gesprochen, sie nach einem besonderen Whiskey gefragt, den der Laden nicht führte, oder sie einmal bei der Tiefkühlkost abgepasst und nach Wildlachs gefragt. Sie hatte ihm freundlich lächelnd geantwortet, und er hatte ihr ein Kompliment gemacht zu ihren wunderschönen blauen Augen. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert, ein Hauch nur, aber er hatte es registriert. Über das Lächeln hatten sich Unsicherheit und Ablehnung gelegt, es hatte ihm einen Stich versetzt. Aber sie kannte ihn ja auch noch nicht.

Er stieg aus seinem Wagen und ging im Schutze der Dunkelheit zu ihrem Haus. Die Luft war mild, diese Zeit im Sommer weckte eigenartige Gefühle in ihm, kaum greifbare Erinnerungen, Wehmut, Schmerz und eine vage Trauer, von der er nicht wusste, woher sie kam. Vielleicht daher, nicht noch einmal ganz von vorn anfangen zu können.

Leise schlich er durch den Vorgarten an der linken Seite des Hauses entlang und brachte sich hinter einer Rhododendronhecke in Position. Er hatte Glück, er sah sie, sein Herz klopfte. Susanne stand in ihrer kleinen Küche, sein Blick erfasste sie in dem erleuchteten Rechteck des Küchenfensters, den Kopf leicht gesenkt, vielleicht schnitt sie gerade Tomaten oder bereitete ein Stück helles Fleisch zu.

Wie schön sie war, die Augenlider mit den langen Wimpern gesenkt, die geschwungenen Lippen entspannt, in sich ruhend und doch voller Leben. Dann ging sie zum Kühlschrank, öffnete ihn, nahm etwas heraus, gab der Tür einen beiläufigen Stoß mit dem Ellbogen und ging wieder zu ihrem Platz vor dem Fenster.

Er wollte sie besitzen, er musste es– und ein Zurück gab es ohnehin nicht mehr. Immer wieder war er zu ihr in den Laden gegangen, hatte sie mit seinen hungrigen Augen gesucht, sich so lange zwischen den Regalen herumgedrückt, bis er sie gesehen hatte, jeden Abend nach der Arbeit und an Samstagen manchmal zwei- oder dreimal. Es gab keine Möglichkeit mehr, sie aus seinen Gedanken zu verbannen, und er wollte es auch gar nicht. Frauen wie Susanne waren selten, er konnte es sich schlicht nicht leisten, auf sie zu verzichten.

Susanne hob den Kopf und sah geradeaus durch das Glas des Küchenfensters, dann lächelte sie ein wenig und strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie hatte ihrem Spiegelbild zugelächelt, aber er wusste, dass es eigentlich ihm gegolten hatte.

Es war nicht allzu schwierig gewesen herauszufinden, wo sie wohnte und wie sie lebte, einmal hatte er auf dem Kundenparkplatz gewartet, bis sie aus dem Personaleingang gekommen war, und war ihr unbemerkt bis zu ihrem Haus gefolgt. Während der Arbeit trug sie ein Namensschild an ihrer Kleidung, und es war ein Leichtes gewesen, sie in den sozialen Netzwerken im Internet ausfindig zu machen. Dort erzählte sie genug über sich selbst. Auch wenn es nicht die Dinge waren, die er zu wissen begehrte.

Seine Erregung drängte und brannte in ihm. Schon zu viele Abende hatte er hier geduckt im Gebüsch verbracht, es war Zeit zu handeln. Als Jäger wusste er, wann das Stück reif war, wann die Natur ihren Lauf nehmen musste.

Er hatte in seinem Leben schon viele Frauen gehabt, hatte viel Übung darin bekommen zu wissen, was er nicht gebrauchen konnte. Künstliche Frauen, die waren wie ein überchlortes Freibad, das nur mit Unmengen an Chemie die Ausscheidungen in seinem Wasser verbergen konnte. Frauen, die unsinnig teuer waren wie Rosenwasser und doch nie hielten, was sie versprachen. Esoterische Mondphasen-Frauen, grünliches Fruchtwasser nach der vierten Hausgeburt. Er hatte Tsunami-Frauen getroffen, die nur Zerstörung und Verwüstung hinterließen, und jede Menge einfach bedeutungsloser Frauen, Pfützen am Wegesrand.

Ein einziges Mal war er in seiner Jugend mit der Mutter am Meer gewesen, im Herbst, irgendwo in Holland. Das Meer hatte grau und unfreundlich ausgesehen, die Wellen hatten weiße Gischtkronen getragen, aber die Weite des Wassers hatte ihn beeindruckt, ihn tief bewegt.

Als er nach seiner Ausbildung ein wenig Geld gespart hatte, war er nach Griechenland geflogen und hatte dort ein anderes Meer gesehen. Eine Frau wie dieses Meer in der Ägäis müsste es geben, hatte er gedacht, eine wie dieses unglaublich klare blaue ursprüngliche Wasser, das weise ist wie eine Urmutter, alt und neu zugleich und weit wie die Ewigkeit. Aber eine solche Frau hatte er bislang nicht getroffen, womöglich war das auch zu viel verlangt.

Langsam richtete er sich aus der Hocke auf und streckte seine klammen, kräftigen Beine durch. Dann ging er vorsichtig im Schutz der Hecken zur Haustür der Einliegerwohnung im Souterrain und presste seinen Daumen, über den er den karierten Baumwollstoff seines Hemdsärmels gerollt hatte, auf die Klingel mit der Aufschrift »S. Scheidt«.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sie die Tür öffnete. Er sah direkt in ihre Augen.

In ihrem Gesicht wechselte das Erstaunen hin zu einem plötzlichen Erkennen, das Sekundenbruchteile später von Entsetzen abgelöst wurde, als er sie eilig mit seinem massigen Körper in den Hausflur drängte und die Tür hinter sich schloss.

Dann ging es sehr schnell.

* * *

Hauptkommissarin Klara Haag warf ihre graue Ledertasche auf den Schreibtisch ihres Büros im Heidelberger Polizeirevier. Sie hatte schlechte Laune, sie brauchte dringend Urlaub. Das Problem war, dass sie nicht Urlaub von sich selbst nehmen konnte– und dass sie das genau wusste.

Selbst auf einer abgelegenen karibischen Insel, einen Cocktail in der Hand, den Blick auf den Strand und das grünblaue Meer gerichtet, während ihre fünfjährige Tochter Josephine im Sand buddelte, selbst in diesem Paradies hätte sie die Kriminalhauptkommissarin nicht hinter sich lassen können. Sie war ein Teil von ihr, der ihr viel gab, aber der auch an ihr zehrte und sie nie ganz zur Ruhe kommen ließ, der oft in ihr brannte wie ein Fieber, wie ein bohrendes Verlangen, die Wahrheit zu erfahren.

Man nahm sich selbst immer mit, so war es nun einmal. Aber wenn man sich auch noch verliebt in seinen Kollegen selbst mitnahm, konnte man vermutlich gleich zu Hause bleiben.

Klara setzte sich auf ihren Bürostuhl und murmelte ein »Guten Morgen« zu Hauptkommissar Sebastian Langer hinüber.

Der lächelte, und um seine dunkelgrünen Augen legten sich leichte Fältchen. »Guten Morgen zum zweiten Mal.«

Sofort spürte Klara eine Röte in ihre Wangen steigen, ja, zum zweiten Mal. Das erste Mal waren seine Lippen ganz nah an ihrem Ohr gewesen, bevor er sich frühmorgens aus dem Bett geschält und wenig später ihre Wohnung verlassen hatte. Wohin sollte das nur führen?

Zu schlechter Laune und dem dringenden Wunsch nach Urlaub.

Dabei war Klara verliebt wie lange nicht mehr. Aber das machte es nur noch schlimmer. Seit jenem Abend in einer Heidelberger Kneipe im letzten Jahr war ihre geordnete Welt aus den Fugen geraten. Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen– ihre Bezeichnung für die Kombination aus einem ungelösten Fall, zu viel trockenem Rieslingsekt und Sebastians Bergsee-Augen dicht vor ihr. Dazu hatte sie kurz vor diesem Treffen mit ihm erfahren, dass Jan, der Vater ihrer Tochter Josephine, eine neue Freundin hatte. Der Abend hatte geendet, wie er nicht hätte enden sollen: mit Sebastian in ihrer Wohnung, in ihrem Bett und, was am schlimmsten war, in ihrem Herzen.

Klara strich sich eine lange dunkle Haarsträhne hinters Ohr und schaltete ihren Computer an. Sie war eine berufstätige Mutter, und ihr Beruf war anstrengend und fordernd, zumindest in ihrem Privatleben brauchte sie eine schön gleichmäßige Beschaulichkeit, in der nichts ihren Puls nach oben trieb, in der es keine offenen Fragen gab und keine Ungewissheiten über die Zukunft. In der man planen konnte und die Dinge selbst in der Hand hatte.

Mit diesem– was war es überhaupt?– diesem Sebastian-Ding fühlte sich Klara zunehmend unwohl, etwas nagte an ihr, es schien ihr kompliziert zu werden. Sie hatte Angst, mehr von Sebastian zu wollen, als er geben konnte. Bevor sie zusammengekommen waren, hatte sie immer wieder seine Frauengeschichten mitbekommen– und es waren viele gewesen.

Es war ihr noch nie leichtgefallen, zu vertrauen, das brachte auch ihr Beruf mit sich. Und nun brannte immer wieder die Frage in ihr, ob Sebastian sich wirklich ändern konnte, ob er sich wirklich geändert hatte. Er war ja noch so jung. Sie war eine Frau in den besten Jahren und er ein junger Mann, der sich womöglich immer noch die Hörner abstoßen musste. So war es. Oder so ähnlich.

Genau genommen betrug ihr Altersunterschied nur zwei Jahre, aber Klara hatte in den letzten Wochen immer wieder versucht, ihrem rosa verblümten Gehirn Gründe gegen diese Beziehung abzuringen, wohl aus Selbstschutz. Sie hatte sich noch etwa ein Dutzend weitere gute, stichhaltige Argumente zurechtgelegt, und nach einigen hatte sie gar nicht so lange suchen müssen. Aber wenn Sebastian sie anlächelte und mit seiner warmen Stimme fragte: »Na, Klärchen, worüber grübelst du denn wieder?«, fiel ihr plötzlich keins mehr ein. Sie musste dringend an sich arbeiten.

Für einige Sekunden sah Klara aus dem Fenster ihres Büros im ersten Stock. Gegenüber dem Polizeirevier lag der Gebäudekomplex der Alten Glockengießerei, ziemlich neue Wohnungen in Innenstadtlage, wobei Glockengießerei an irgendetwas historisch Ansehnliches oder gar Romantisches denken ließ und die Wohngebäude weit von Derartigem entfernt waren. Aber es war endlich einmal ein sonniger Morgen, und bei blauem Himmel wirkte die Fassade mit ihren nach Plan gesetzten, aufrankenden Grünpflanzen gar nicht so übel. Die Markisen der Wohnungen hatten alle das gleiche Streifenmuster, es herrschte Ordnung.

Klara seufzte kaum hörbar, sie sollte ihrem Liebesleben auch einheitliche Markisen verpassen. Und dann Schotten dicht. Entschlossen riss sie ihren Blick los und wandte sich dem Computerbildschirm zu, der Bericht musste heute endlich fertig werden. Gerade hatte sie zwei Sätze getippt, als das Telefon klingelte.

Sebastian ging ran. »Hm, ja, okay… Ja, wo genau?… Ist gut, wir kommen.« Er legte auf und sah Klara an. »Leichenfund in Kirchheim. Eine junge Frau liegt erdrosselt in ihrer Badewanne. Vermutlich schon seit zwei oder drei Tagen.«

Klara spürte, wie sich ihr Rücken unwillkürlich straffte. Sie mussten zu einem Tatort, oder zumindest zu einem Fundort. Über die Jahre hatte sie eine professionelle Distanz zu dem entwickelt, was sie bei einem Leichenfund sehen musste, aber sie fühlte immer wieder eine Anspannung. Vieles hing von der Beobachtungsgabe, Wachheit und Erfahrung ab, die sie in den ersten Minuten am Ort des Geschehens zeigte. Wenn sie etwas übersah, ging der Täter oder die Täterin bereits eins zu null in Führung. Die Atmosphäre am Tatort und viele Details ließen sich nach dem Abtransport der Leiche in die Rechtsmedizin nicht mehr rekonstruieren. Die Hauptkommissarin schuldete dem Opfer ihre maximale Aufmerksamkeit.

Hastig griff Klara nach ihrer Tasche, verließ mit Sebastian zusammen das Büro und eilte die Treppen hinunter. Draußen angekommen, gingen sie ein paar Schritte entlang des Gebäudes und stiegen in einen der Dienstwagen, die auf dem Parkplatz seitlich des Polizeireviers standen. Sebastian startete den Motor und fädelte sich in den Verkehr auf der Römerstraße ein. Wie so oft sagte er erst einmal nichts.

Sie fuhren in Richtung Kirchheim. Klara stellte wieder einmal fest, dass selbst der morgendliche Berufsverkehr in Heidelberg noch etwas Beschauliches hatte. Die meisten Autofahrer kamen mit intakten Nerven ans Ziel oder waren ohnehin schon vor langer Zeit aufs Fahrrad umgestiegen.

Sebastian rieb sich über seinen Dreitagebart.

Klara mochte das leicht kratzende Geräusch. Außerdem folgte dieser Geste oft ein Kommentar. Sie wartete ab.

Schweigend beschleunigte Sebastian den Wagen auf der mehrspurigen Ausfahrtstraße, um nach kurzer Zeit von der ersten Ampel wieder ausgebremst zu werden. Dann schließlich murmelte er: »Tja… erdrosselt.«

Klara wusste, was er dachte. Es gab gewisse Abstufungen bei den Todesarten und dem Täterverhalten, aber es kam auf die Perspektive an. Für Laien und für junge Beamte frisch im Dienst war »erdrosselt« besser als »erstochen«, was wiederum besser war als »verstümmelt« oder »zerteilt«, was in etwa gleichauf lag mit »bereits vor Wochen verstorben«. Die eher seltenen und meist Täterinnen anheimgefallenen Opfer von Giftmorden hingegen waren fast ein Spaziergang, sah man von den mitunter entsetzten und schmerzverzerrten Gesichtern ab.

Für erfahrene Ermittler lag die Sache etwas anders. Die Tötungsart gab Hinweise auf den Täter, und eine besonders grausame Tötung konnte aufschlussreicher für die Erstellung eines Täterprofils sein. Beim Erdrosseln blieb der Körper des Getöteten einigermaßen unversehrt, keine blindwütige Raserei, die auf Zerstörung und Auslöschung des Opfers aus war, dennoch eine sichere Tötungsart, sicherer als Erwürgen, bei dem der Täter außerdem seine Hände zu Tatwerkzeugen macht.

»Aber Badewanne ist gut«, ergänzte Sebastian nach einer längeren Pause.

Mittlerweile kannte Klara ihn gut genug, um zu wissen, dass er im Kopf bereits sämtliche Möglichkeiten durchgespielt und Wahrscheinlichkeiten ausgelotet hatte. Als er vor einigen Jahren zur Heidelberger Kripo gekommen war, hatte sie ihn für einen grünen Jungen gehalten. Wie andere hatte sie sich von seiner freundlichen Art, seinem guten Aussehen und seinem bubenhaften Charme verleiten lassen, ihn in die Schublade der Harmlosigkeit zu stecken, und in einer leicht überheblichen Art gedacht: »Der muss noch viel lernen.«

Aber sie hatte sich getäuscht. Sebastian war ein ermittlungstaktisches Naturtalent, er war analytisch, genau und mit einer sicheren Intuition ausgestattet. Und er war schnell im Kopf. Klara mochte das, mit zerebralen Nacktschnecken an ihrer Seite konnte sie nicht arbeiten.

Sebastian fuhr nach Kirchheim ein, es war der älteste Stadtteil Heidelbergs und angeblich schon zur Bronzezeit besiedelt. Aber geläufiger als die Geschichte war Klara die politisch eher unkorrekte Aufteilung Kirchheims, die es in der Wahrnehmung gutbürgerlicher Familien so gab. Kirchheim hatte einen Teil, »in dem man wohnen konnte«, und einen anderen, »der gar nicht ging«.

Nach ein paar Minuten hielt der Wagen der Ermittler vor einem gepflegten weiß gestrichenen Einfamilienhaus in einer ruhigen Seitenstraße, wobei das Aufgebot an Polizeibeamten bereits die Ruhe zunichtegemacht hatte. Klara und Sebastian stiegen aus und gingen an einem Kollegen von der Streife vorbei durch die Absperrung im Vorgarten des Hauses. Hinter ihnen trafen gerade die Männer von der Spurensicherung ein.

Der Eingang zur Einliegerwohnung im Souterrain stand offen, vorsichtig traten die Hauptkommissare ein.

»Wer hat die Frau gefunden?« Klara wandte sich an einen der uniformierten Beamten.

»Sie war zwei Tage lang nicht zur Arbeit erschienen und nicht ans Telefon gegangen. Da sie als sehr zuverlässig galt, schien das äußerst ungewöhnlich. Eine Freundin und Kollegin hat die Polizei benachrichtigt, und wir haben die Tür öffnen lassen.«

»Ist diese Freundin hier?«

»Nein, sie musste zur Arbeit.«

Klara runzelte die Stirn. Hinter Sebastian ging sie weiter durch einen schmalen Flur mit weißen Bodenfliesen und hellgelben Wänden, eine offene Tür auf der linken Seite gab den Blick frei in eine kleine Küche mit dunkelroten Einbauschränken.

Auf einem Schneidebrett auf der Arbeitsfläche vor dem Fenster lagen runzelig gewordene Zucchini und Karotten, daneben ein kleines Gemüsemesser. Auf Anhieb war es schwer zu sagen, ob hier ein Gericht für ein oder zwei Personen zubereitet worden war.

»Das Bad ist dahinten, zweite Tür rechts.« Der Streifenbeamte gab sich dienstbeflissen. »Die Frau hieß Susanne Scheidt. Kein schöner Anblick.«

Unwillkürlich fragte sich Klara, wie oft sie diese hohle Floskel im Laufe der Jahre schon gehört hatte. Es war nie ein schöner Anblick. Und die Vergangenheitsform von »heißen« war auch nicht schön, ihren Namen durften die Toten auch nach ihrem Ableben behalten.

Sie ging hinter Sebastian her, vorbei an der geöffneten Tür zum Wohnzimmer, und wandte sich nach rechts. In der Luft lag ein süßlich-fauliger Geruch, der so dicht war, dass er fast greifbar schien, brechreizerregend und irgendwo in einem uralten Teil des menschlichen Gehirns abgespeichert als ein Auslöser für einen kaum zu unterdrückenden Fluchtimpuls. Schon vor langer Zeit hatte Klara diesen Reflex unter Kontrolle gebracht, sie war nicht hier, um wieder wegzulaufen. Aber ihr Geruchssinn war dabei über die Jahre immer empfindlicher geworden.

Hinter Sebastian betrat sie das Bad, dessen beigefarbene Wand- und Bodenfliesen den Leichengeruch merkwürdig zu verstärken schienen. Dann sah sie auf die tote Frau, die nackt in der fast bis zum Rand gefüllten Wanne lag.

Ihre Augen waren geschlossen, die Lider bläulich verfärbt und aufgequollen, das blonde schulterlange Haar klebte strähnig um ihr aufgedunsenes Gesicht, vermutlich war sie hübsch gewesen, aber das war Vergangenheit. Der linke Arm der Frau hing in einer fast obszön wirkenden Lässigkeit über den Badewannenrand, wahrscheinlich hatte dieser Arm, an dem sich violett-schwarze Totenflecken abzeichneten, die Leiche in der schräg sitzenden Position gehalten. Am Hals des Opfers zeigte sich eine deutliche Drosselmarke, die Zunge der Frau war dunkel verfärbt und versperrte den halb geöffneten Mund wie ein blaufleischiger Knebel, der sie für immer verstummen ließ. Das Wasser in der Wanne war bräunlich und undurchsichtig von den postmortalen Ausscheidungen.

Obwohl der Tod stets das Gleiche bei einem Körper bewirkt, sahen ermordete Menschen immer unterschiedlich aus, es gab kein Bild, das man zweimal antraf. Womöglich war es auch deshalb so schwierig, sich an den gewaltsamen Tod zu gewöhnen. Diese Toten erschienen viel unterschiedlicher als Lebendige, jedes Mordopfer sah aus, als käme es von einem anderen Stern.

Klara trat einen Schritt näher an die Badewanne heran und ging vorsichtig in die Hocke. Am Hinterkopf der Frau zeigten sich bei genauerem Hinsehen dunklere Strähnen im Haar, möglicherweise von einer Kopfwunde. An den Ohrläppchen hingen Ohrringe mit rosafarbenen Steinen, unechter Modeschmuck, der fast schmerzhaft grotesk wirkte neben dem zerstörten Gesicht.

Sebastian räusperte sich und fuhr sich durch das kurze dunkelblonde Haar. »Ich glaube, ich kannte die Frau.«

Klara zuckte zusammen. »Wie, kannte?« Ihre Stimme war ungewollt hoch und laut, sie hob ihren Blick von dem grauenvollen Bild der Toten.

Sebastian war grün im Gesicht. »Kannte eben.«

Klara wurde schlecht. Scheiße. Das hatte man nun davon, wenn man sich mit einem Frauenhelden oder ehemaligen Frauenhelden oder was auch immer einließ. Vor ein paar Monaten noch hatte sie Sebastian immer mit seinen Frauengeschichten aufgezogen und leicht genervt die Anrufe der wechselnden Jennys, Jacquelines und Jessicas kommentiert: »Basti, such dir doch mal was Richtiges.« Und jetzt das.

Auf Sebastians krank wirkendem Gesicht lag ein jämmerlicher Ausdruck. »Klara, das ist lang her«, flüsterte er.

Es war zu spät. In Klaras Kopf hatte sich dieses unsägliche Bild der toten Frau, der Anblick von Gewalt, Entstellung und beginnender Verwesung, schon mit Sebastians Körper verknüpft, wie zwei Schablonen, die man übereinanderlegte, so wie die Körper übereinandergelegen hatten.

Der ekelerregende Geruch, der den Raum ausfüllte, durchdrang die Bilder, markierte sie unwiderruflich, nagelte sie fest im Unterbewusstsein. Etwas schnürte Klara den Hals zu. Und was genau heißt »lang her«?, fragte sie sich. Lang genug?

Wie durch einen Schleier nahm sie Bewegungen in dem schmalen Flur der Wohnung wahr, draußen vor der Tür dieses gekachelten Raums, in dem man glaubte zu ersticken. Kurz darauf standen drei Kollegen von der Spurensicherung in ihren weißen Ganzkörperanzügen am Türrahmen.

In Windeseile versuchte Klara, ihr Gesicht aufzuräumen. Sebastian und sie boten in ihrer Verstörtheit vermutlich ein äußerst merkwürdiges Bild. Sebastian schien dankbar, das Bad verlassen zu können, um den Kollegen Platz zu machen. Klara richtete sich aus der Hocke auf, ihre Beine fühlten sich kraftlos an. Sie trat ein paar Schritte zur Seite und blieb dann bei der Tür stehen.

Die Männer von der Spurensicherung begannen mit ihrer Arbeit. Höchstwahrscheinlich gab es Spuren des Täters in dem bräunlichen Badewasser, in der heutigen Zeit war es kaum möglich, einen Mord zu begehen, ohne verwertbares Material zu hinterlassen, Fasern, Haare, Hautschuppen, Körperflüssigkeiten.

Wasserproben wurden gesichert, Ablagerungen vom Wannenboden präpariert, die Umgebung der Badewanne abgeklebt, auf der Suche nach Fingerabdrücken oder anderen Spuren. Zahlreiche Fotos dokumentierten die Szenerie.

Einer der Männer zog eine steril verpackte Schere aus einem Koffer und nahm vorsichtig Susanne Scheidts linke Hand auf. Er betrachtete die Fingernägel, rot lackierte Ovale, die einen absurden Kontrast auf der wachsgelben Leichenhand bildeten. Dann schnitt er die Nägel, schmale rote Halbmonde fielen in einen kleinen Plastikbeutel, die Auswertung von möglichem Fremdmaterial war so einfacher.

Für Klara dauerte das alles eine Ewigkeit. Sie stand an der Tür und hatte das Gefühl, sich nicht bewegen zu können. Eigentlich hätte sie sich in der kleinen Wohnung umsehen wollen, so lange, bis der Pathologe eintraf, aber dort wäre sie auf Sebastian gestoßen, der wahrscheinlich gerade die Küche oder das Wohnzimmer in Augenschein nahm. Oder das Schlafzimmer.

»Morgen.« Klara vernahm die kräftige Stimme von Dr.Klaus Lohmeyer, einen Moment später stand der Rechtsmediziner neben ihr am Türrahmen. In wenigen Sätzen gab sie dem groß gewachsenen Mann mit der randlosen Brille und dem schütteren Haar die wenigen Informationen weiter, die sie bislang hatte.

Lohmeyer trat an die Tote heran und begann mit der Untersuchung. »Deutlich ausgeprägte Drosselmarken«, er sah über seine Brille hinweg nach oben, »habt ihr das Drosselwerkzeug schon?«

Klara verneinte, während der Pathologe mit Klebestreifen Spuren von der Halsoberfläche des Opfers sicherte. »Keine auffälligen Faserspuren, eventuell wurde ein Kunststoffband benutzt, Kabelbinder oder so etwas. Kann aber auch sein, dass Fasern vom Wasser abgespült wurden.«

Vorsichtig schob Lohmeyer ein paar Haarsträhnen des Opfers zur Seite. »Es erfolgte ein Schlag mit einem stumpfen Gegenstand auf den Hinterkopf, großflächiges Hämatom, die Schädeldecke ist aber nicht gebrochen, ich würde sagen, der Schlag war nicht tödlich.« Fragend sah er zu einem der Kollegen von der Spurensicherung. »Könnt ihr das Wasser ablassen?«

»Klar.« Der Mann betätigte den Regler für den Ablauf an der Armatur. Langsam senkte sich der Wasserspiegel mit einem leisen Glucksen, aber schon nach kurzer Zeit bewegte sich der bräunliche Rand am weißen Email der Wanne nicht mehr weiter nach unten. Der Abfluss war verstopft.

»Okay, dann heben wir sie vorsichtig heraus.« Dr.Lohmeyer wandte sich an den Beamten, der am dichtesten neben ihm stand. Bislang war unklar, welche Verletzungen sich unter der trüben Wasseroberfläche verbargen, offenbar keine stark blutenden Wunden, aber der Täter oder die Täterin konnte andere Visitenkarten hinterlassen haben.

Die beiden Männer hoben Susanne Scheidt aus dem Wasser und legten den Leichnam auf den mit Plastikfolie bedeckten Boden. Der Körper war nicht mehr steif, die Totenstarre hatte sich bereits wieder gelöst. Die Haut war runzelig und verquollen– sogenannte Waschhaut, wie sie auch typisch für Wasserleichen ist. Sie umgab den Körper wie ein schlecht sitzendes Kleid.

Dr.Lohmeyer setzte die Untersuchung fort, er nahm die Körperkerntemperatur, dann die Wassertemperatur. »Ziemlich gleich, dazu die Totenflecken, die sich kaum noch wegdrücken lassen, und vor allem die bereits gelöste Leichenstarre und die beginnende Zersetzung… Als erstes Zeitfenster für den Eintritt des Todes würde ich sagen, vor achtundvierzig bis zweiundsiebzig Stunden.«

»Also irgendwann zwischen Montagmorgen und Dienstagmorgen, wobei die Frau am Montag wohl noch auf der Arbeit war.«

»Dann eher Montagabend als Dienstagmorgen«, meinte Lohmeyer. »Siehst du die gelbgrünen Verfärbungen hier am Unterbauch? Erste Fäulnisanzeichen.« Er untersuchte weiter den Leichnam und murmelte: »Körperöffnungen frei…«

Klara kämpfte mit inneren Bildern.

Vorsichtig bog Lohmeyer die Oberschenkel der Toten ein wenig auseinander und schickte sich an, Abstriche zu nehmen. »Na ja, nach der ganzen Zeit im Wasser wird da im vorderen Bereich nicht mehr viel zu sichern sein.«

Klara verschränkte die Arme vor der Brust und dachte an einen Sonnenuntergang auf ihrer karibischen Insel. An eine warme Brise klarer salziger Luft.

»Die Kollegen in der Rechtsmedizin finden unter Umständen tiefer in der Gebärmutter oder im Darm noch was.«

Klaras Sonne fiel abrupt ins Wasser, ihre Kiefer krampften sich aufeinander. »Hm…«

»Aber auf den ersten Blick gibt es im Vaginal- und Analbereich keine auffallenden Verletzungen.«

»Hm…« Klara vergrub die Hände in den Taschen ihrer ausgeblichenen Jeans, ihr Hals fühlte sich rau und trocken an. »Klaus, denkst du, die Frau wurde erdrosselt, während sie ein Bad nahm, oder wurde sie nach dem Tod in der Wanne abgelegt?«

Wenn sich keine Einbruchspuren fanden, war es im ersten Fall wahrscheinlich, dass der Täter oder die Täterin gut mit dem Opfer bekannt gewesen war, immerhin hatte die Frau in Anwesenheit dieser Person ein Bad genommen. Im zweiten Fall hatte man es mit einem auffälligen Nachtatverhalten zu tun, das eine bestimmte Bedeutung gehabt hätte.

»Kann ich so nicht sagen, es dürfte auch schwierig sein, das genau zu bestimmen. Wenn Frau Scheidt unmittelbar nach dem Tod in der Wanne platziert wurde, finden wir kaum anatomische Unterschiede gegenüber dem Tod in der Wanne. Die Schlagwunde am Hinterkopf blutete leicht und trieb ein deutliches Hämatom auf. Dass sie post mortem noch zugefügt wurde, ist unwahrscheinlich. Vermutlich erfolgte also erst der Schlag auf den Kopf, dann das Drosseln.«

Einen Moment zögerte Dr.Lohmeyer und fuhr dann fort. »Wenn die Frau in der Wanne gedrosselt wurde, wäre es logischer, wenn auch der Schlag erfolgte, während sie in der Wanne saß. Dann säße die Wunde aber möglicherweise höher am Kopf, eher auf der Schädeldecke. Habt ihr Anzeichen eines Todeskampfes gefunden… Wasserlachen vor der Wanne, umgefallene Shampoo-Flaschen am Wannenrand, etwas in der Art?«

Klara verneinte. Auffällige Spuren eines Kampfes waren nicht zu erkennen, möglicherweise hatte der Täter aber auch alles wieder aufgeräumt.

»Kannst du anhand der Drosselmarke sehen, ob das Kabel oder was auch immer von schräg oben geführt wurde oder waagerecht?«

Auch das konnte einen Hinweis darauf geben, ob das Opfer gesessen oder gestanden hatte, ob die Badewanne der Tatort oder der Ablageort war.

Lohmeyer legte den Kopf leicht schräg. »Es kann zu ansteigenden Drosselmarken kommen, wenn eine sitzende oder liegende Person gedrosselt wurde, das muss aber nicht sein. In diesem Fall hier sehe ich eine gleichmäßig horizontale Marke.«

»Verstehe.« Klara trat an den Spiegelschrank heran, der über dem Waschbecken hing, öffnete ihn vorsichtig und ließ ihren Blick über die Utensilien schweifen: Make-up, Deo, Nagellack, Wattepads, Körperlotion– Dinge einer jungen Frau, ohne Hinweise auf einen männlichen Mitbewohner.

Klara fragte sich, wo die Kleidung von Susanne Scheidt war, wo hatte sie sich ausgezogen, oder war sie ausgezogen worden?

Nachdem sie den Hängeschrank wieder geschlossen hatte, sah Klara für einen Moment auf ihr eigenes Spiegelbild. Sie war blass, unter ihren blauen Augen lagen Schatten, das Rot war aus den geschwungenen Lippen gewichen, als habe die Anwesenheit des Todes den Raum in Beschlag genommen und mit feinen Fingern in den Gesichtern der noch Lebenden gemalt.

Sie wandte sich ab und verließ das Bad, um sich in der Wohnung umzusehen. Sie wollte sich nicht mehr anmerken lassen, welchen Teil von ihr diese Tote erschüttert hatte, und Sebastian ging es genauso, das wusste sie. Wahrscheinlich war seine eigenartig sachliche, unpersönliche Sprache, sein formalisierter Polizeijargon, in den er immer verfiel, wenn ihm etwas naheging, nun besonders stark ausgeprägt. Wahrscheinlich redete er gleich in druckreifen Lehrbuchsätzen, in entpersönlichter Terminologie, aber das wären auch die einzigen wahrnehmbaren Anzeichen seiner Betroffenheit.

Noch immer mit Übelkeit kämpfend, betrat Klara das kleine Wohnzimmer, das hübsch, aber belanglos eingerichtet war, eine helle Couch mit bunten Kissen, ein Kiefernholzschrank, ein Flachbildfernseher, ein Bücherregal, auf dem ein paar Fotos von Susanne und anderen jungen Frauen, die in die Kamera lachten, angeordnet waren. Die Ähnlichkeit zwischen der blonden, attraktiven Frau auf den Bildern und der Toten im Bad war kaum noch herzustellen.

Auf dem Couchtisch lagen einige Zeitschriften, eine angebrochene Packung Kekse und das obligatorische Smartphone, in dessen kleinem Gehäuse sich ein noch kleinerer Speicherchip mit all den Kontakten und Nachrichten verbarg, deren Überprüfung der Mordkommission wochenlange Arbeit bescheren konnte.

Klara bemerkte graue Plüschpantoffel links neben dem Sofa, die aussahen wie Mäuse. Ihre Tochter Josephine hatte mit drei Jahren die gleichen getragen, fünfzehn Nummern kleiner. Was junge Frauen zu diesen Rudimenten aus der Kindheit bewegte, wusste Klara nicht. Was sollte es bedeuten, wenn sie in Spitzenunterwäsche, engem T-Shirt und Mäusepantoffeln auf der Couch saßen?

Aufmerksam sah Klara sich weiter um. Auch im Wohnzimmer waren keine Anzeichen eines Kampfes erkennbar, es gab keine auffallende Unordnung. Für den Tatort eines Gewaltverbrechens war dies eher ungewöhnlich, oder die Wohnung war gar nicht der Tatort.

Nachdenklich verließ sie das Wohnzimmer, ein weiß beanzugter Kollege klebte gerade den Türrahmen ab, auf dem das dunkle Spurensicherungspulver zahlreiche Fingerabdrücke abgebildet hatte. Klara hoffte, dass ein bestimmter Abdruck nicht dabei war.

Im Schlafzimmer traf sie auf Sebastian.

»Offenbar hat das Opfer seine Kleidung hier hinterlassen.« Es ging schon los. »Ober- und Unterbekleidung hängen über einem Stuhl, entweder das Opfer hat sich in diesem Raum entkleidet, oder der Täter hat die Kleidung hierher verbracht, um es so aussehen zu lassen.« Sebastians Stimme klang sachlich und emotionslos.

Klara deutete ein Nicken an. Auf dem breiten französischen Bett lag Bettwäsche mit lilafarbenem Blumenmuster, die Decke war ordentlich aufgeklappt, das Kissen gefaltet. Aber das Laken fehlte. Vielleicht war Susanne Scheidt selbst im Begriff gewesen, die Bettwäsche zu wechseln, oder der Täter hatte das Laken mitgenommen, um möglichst wenige Spuren zu hinterlassen.

Auf dem Beistelltisch lagen eine Cremedose, eine Brille und eine Packung Papiertaschentücher, vor dem Bett stand eine halb volle Flasche Mineralwasser.

»Gibt es hier Anzeichen eines Kampfes?« Klaras Stimme klang immer noch rau.

»Keine ersichtlichen.«

»Anzeichen für… sexuellen Kontakt vor der Tat?«, setzte sie nach.

»Keine ersichtlichen.« Sebastian blieb bei seiner Strategie.

Hörbar atmete Klara aus. Bei diesem Geruch versuchte man unwillkürlich, mehr aus- als einzuatmen, was aber schon nach wenigen Atemzügen dazu führte, dass man umso tiefer Luft holen musste. Ein Nullsummenspiel– wie so vieles im Leben. »Haben die Kollegen Einbruchspuren gesichert?«, fragte sie gepresst.

»Nein. Das Opfer hat somit entweder den Täter in die Wohnung gelassen, oder der Täter verfügte über einen Schlüssel.«

Klara runzelte die Stirn. »Es gibt an der Wohnungstür keine Gegensprechanlage und keinen Spion, das heißt, auch Unbekannten wird wahrscheinlich geöffnet. Oder das Fenster stand bei den Temperaturen offen, und der Täter drang ein?«

»Auch möglich.« Sebastian sah Klara für einen Moment an, über sein Gesicht flog etwas anderes als Emotionslosigkeit. »Aber wie wahrscheinlich ist es, dass Täter und Opfer einander nicht kannten?«

»Allein statistisch schon unwahrscheinlich.« Klara sah zu Boden, die überwiegende Mehrzahl der Morde waren Beziehungstaten. Gleichzeitig war hier die Aufklärungsrate sehr hoch, während Taten, bei denen Täter und Opfer zufällig aufeinandertrafen, häufiger ungeklärt blieben. In den letzten Bereich fielen allerdings auch die »Zufallsbekanntschaften«, im Fall von Susanne Scheidt möglicherweise ein weites Feld. Klaras Gedanken fingen erneut an zu kreisen. »Angenommen, die Frau wurde hier in ihrer Wohnung getötet, angenommen, von einem Bekannten. Wer räumt nach der Tat so sorgfältig auf, dass nirgendwo Unordnung, Hinweise auf einen Todeskampf oder Ähnliches zu sehen sind? Welche Täter machen Ordnung nach dem Mord?«

»Frauen?« Sebastians Blick ging an Klara vorbei aus dem Schlafzimmerfenster.

»Oder Muttersöhnchen«, murmelte sie mehr zu sich selbst und sah auf den rosafarbenen Flokati-Teppich vor dem Bett.

Im selben Moment klang Lohmeyers Stimme aus dem Bad: »Klara, Sebastian, kommt ihr mal bitte?«

Zusammen mit ihrem Kollegen ging Klara zurück zum Fundort der Leiche. Der Pathologe kniete in Höhe des Kopfes von Susanne Scheidt und beugte sich ein Stück hinunter. »Seht mal hier. Es gibt leichte Würgemale unterhalb der Drosselung, möglicherweise auch oberhalb, da sieht man sie aber nicht wegen der Verfärbung des Halses durch die Blutstauung. Das bedeutet, dass der Täter zunächst gewürgt hat.«

»Oder die Täterin«, ergänzte Sebastian.

»In welcher Reihenfolge wurden die Verletzungen zugefügt?« Klara ging in die Hocke und sah zu Lohmeyer.

»Tödlich war wie gesagt vermutlich die Drosselung, der Schlag auf den Kopf erfolgte vorher, eventuell führte er zur Bewusstlosigkeit. Dann könnte der Täter versucht haben, das Opfer zu erwürgen, um schließlich aber doch zu einem Kabel oder Ähnlichem zu greifen. Allerdings…«, Lohmeyer zögerte einen Augenblick, Klara sah ihn fragend an, »allerdings sind die Würgemale ziemlich schwach ausgeprägt. Täter, die eine Tötungsabsicht haben, drücken fester zu.«

»Die Täterin könnte schnell bemerkt haben, dass sie nicht kräftig genug ist?« Sebastian wollte die Dinge offenhalten, das war ermittlungstaktisch richtig und wirkte auf Klara dennoch irgendwie hilflos. Sie erinnerte sich an eine Fortbildung vor einigen Jahren, in der ein bekannter Fallanalytiker vorgetragen hatte. Er hatte von Tätern berichtet, die die Frau während des sexuellen Missbrauchs würgen, sie üben eine Atemkontrolle aus, die ihr Machtgefühl steigert. Aber sie wollen ihr Opfer damit nicht töten. Das kommt später.

Klara drängte den Gedanken erst einmal zur Seite. Der Anblick von Susanne Scheidt, dazu der unmenschliche Gestank in der Wohnung und immer wieder die chimärenhaft aufflammenden Erinnerungen an die vergangene Nacht mit Sebastian, sein keuchender Atem an ihrem Ohr, das alles war zu viel.

»Wir machen im Schlafzimmer weiter, okay?«, rief ein Beamter von der Spurensicherung herüber.

Sie würden die geblümte Bettwäsche nach Spuren absuchen und sie anschließend in die Kriminaltechnik mitnehmen, Fingerabdrücke auf dem Nachttisch, der Einfassung des Bettes, dem Kleiderschrank sichern, die Matratze untersuchen, den Boden absaugen… Dass es nichts Verwertbares gab, gab es nicht.

Hinter Sebastian verließ Klara das Bad wieder und traf im Flur auf zwei Bestatter, die die Leiche abtransportieren sollten. Die Polizei benachrichtigte wechselnde Unternehmen. Im Laufe der Zeit hatte Klara die unterschiedlichsten Männer in schwarzen Anzügen und weißen Hemden an Leichenfundorten wahrgenommen, womöglich gab die Kleiderordnung der Szenerie ja tatsächlich einen Hauch von Würde zurück. Einen dieser Männer hatte Klara vor ein paar Jahren einmal nachts in einem Heidelberger Club wiedergesehen, er hatte Gesichtspiercings und ein »Fuck You«-T-Shirt getragen. Der Anzug war besser.

Die beiden Männer manövrierten den Zinksarg gerade gekonnt durch den engen Flur ins Bad, als Klara ein vertrautes Husten wahrnahm. Kriminalhauptkommissar Harald Bender war eingetroffen, ein kettenrauchendes Schlachtschiff, ein Kriminaler vom alten Schlag, der schon alles gesehen hatte und dem man nur schwer etwas vormachen konnte. Seine Flüche waren legendär, sein Instinkt und seine Erfahrung ebenfalls.

»Jou.« Harald begrüßte die anwesenden Beamten ortstypisch.

Klara versuchte ein Lächeln und gab dem Kollegen eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse.

Ohne eine erkennbare Regung im Gesicht betrachtete Harald die Leiche. »Also, Betäuben, Würgen, Drosseln… und Sex gab’s möglicherweise auch noch?«

»Mein Gott, Harald, geht’s noch platter?« Sebastian rieb sich mit beiden Händen gequält über Stirn und Augen.

Klara wusste, dass es wenig Sinn hatte, Geheimnisse vor Harald zu haben. »Sebastian kannte die Frau«, sagte sie leise und sah in das von zu vielen Zigaretten fahl gewordene Gesicht ihres älteren Kollegen.

»Wie, kannte?«

Sie beschrieb mit der rechten Hand eine kleine Kreisbewegung, eine Geste, die sie häufiger ihrer Tochter gegenüber gebrauchte, wenn sie sagen wollte: Denk mal scharf nach.

»Oh.« Harald verstand. Dann sagte er erst einmal nichts mehr.

Nach ein paar Sekunden betretener Stille klärte er seine Raucherstimme mit einem kräftigen Räuspern und meinte an Sebastian gewandt: »Soll ich mit Klara in die Rechtsmedizin, und du fährst zurück aufs Revier und gibst dem Chef einen ersten Lagebericht?«

»Spinnst du jetzt? Denkst du, ich kann meinen Job nicht mehr machen, nur weil ich einmal…«

»Jaja, schon gut«, murmelte Harald beschwichtigend vor sich hin.

Klara ertrug derzeit keine weitere Vertiefung dieses Themas. »Hat schon jemand mit den Nachbarn gesprochen?«, fragte sie eilig. Die Aussicht, Susanne Scheidts Wohnung verlassen zu können, erschien ihr mittlerweile wie ein Lichtstreif am Horizont.

»Frank und Nicole sind dabei.« Harald hustete sich durch den Satz.

»Was ist mit den Leuten, die hier im Haus wohnen?«

»Die Hauseigentümer. Ein älteres Ehepaar, sie sind seit dem letzten Wochenende im Urlaub. Der Sohn ist Anwalt in Stuttgart, er benachrichtigt seine Eltern.«

»Anwalt? Das passt ja.« Klara klang müde. Sie ging Richtung Wohnungstür, wandte sich kurz vor dem Ausgang nach rechts und betrat die kleine Küche. Hier mischte sich noch ein anderer Geruch in den Verwesungsgestank– der von verdorbenen Lebensmitteln.

Klaras Augen suchten die hellgraue Arbeitsfläche der Einbauküche ab, ihr Blick blieb an dem runzeligen Gemüse auf dem Schneidebrett hängen und wandte sich dann dem Herd zu. Auf einer der Platten stand eine Pfanne mit einem schräg gestellten Deckel. Klara trat heran und hob den Deckel vorsichtig auf. Der ölige Pfannenboden war mit dunklen Krusten bedeckt, wie sie scharf gebratenes Fleisch hinterlässt. Es roch muffig.

Im Spülbecken stand ein abgewaschener Teller mit Messer und Gabel darauf. Klara stutzte und schob den Teller ein wenig zur Seite. Auf dem Abflusssieb lag ein kleiner Rest Fleisch, außen fast schwarz, innen hell. Hatte Susanne Scheidt erst das Fleisch gegessen und wollte sich dann noch Gemüse zubereiten?, fragte sich Klara. Oder hatte die junge Frau ihrem Besuch ein Stück Fleisch gebraten, während sie für sich selbst Karotten und Zucchini schnitt?

Es gab weitere Möglichkeiten, der Fleischrest konnte auch einfach von einer früheren Mahlzeit stammen, es war nur ein Detail, eines, das auch nichts bedeuten konnte.

Klara wandte sich um. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als streife sie ein kalter Hauch. Hatte sich der Mörder nach der Tat noch etwas zu essen gemacht? Die Wohnung geordnet, die Tote in der Wanne abgelegt und ein Stück Fleisch verzehrt? Es schauderte sie. Irgendetwas war anders an diesem Leichenfundort.

Klara hatte bereits einige Opfer von Morden im Affekt gesehen, Zeichen blindwütiger Raserei an gemarterten Körpern, und sie hatte Tote gesehen, die einer kühl geplanten und ausgeführten Tat zum Opfer gefallen waren, ein gezielter Schuss, ein tödliches Gift, ein fingierter Unfall. Susanne Scheidt war einer anderen Art von Täter begegnet. Es schien Klara, als habe er ein Konzept gehabt, als ginge es ihm weniger darum, dass Susanne tot war, sondern um die Tat selbst, um einen Ablauf, eine Choreografie. Hierzu passte auch der Ablageort. Warum lag die Leiche in der Badewanne? Aus rein taktischen Gründen, weil das Wasser zusätzlich Spuren verwischte, oder gab es hier eine Symbolik, eine tiefere Bedeutung?

Ein junger Streifenbeamter trat von außen an die geöffnete Wohnungstür. »Kommt ihr mal, die Nachbarin von gegenüber, eine Frau Edeltraut Rothschenk, will etwas beobachtet haben.«

Klara sah auf. »Ja gut, wir gehen gleich zu ihr.«

Mit Sebastian zusammen verließ sie kurze Zeit später die Wohnung. Das helle Tageslicht blendete sie, die klare Luft und das Vogelgezwitscher waren unendlich wohltuend und zugleich unpassend. Die Ermittler überquerten die Straße und stiegen zwei sauber geputzte Treppen in einem Mietshaus aus den fünfziger oder sechziger Jahren hinauf.

Im ersten Stock stand eine Wohnungstür offen, sie traten ein. Aus dem Wohnzimmer kam ihnen eine etwa fünfundsiebzigjährige drahtige Frau mit kurzem hellgrauem Haar entgegen, ihr fester Blick aus wasserblauen Augen musterte die Kommissare genau.

Klara und Sebastian grüßten und stellten sich vor, doch statt die Begrüßung zu erwidern, knarzte die Frau: »Ach, haben Sie ihn schon?« Kühl sah sie in Klaras Gesicht.

»Wen sollen wir haben, Frau Rothschenk?« Erstaunt gab Klara die Frage zurück.

»Na, der junge Mann da sieht so aus wie der, der Fräulein Scheidt immer besuchte.« Die Alte bewegte ihre sehnige Hand in Sebastians Richtung.

Klara schluckte. Dann hörte sie ein Räuspern neben sich und anschließend Sebastians sachliche Stimme. »Sie haben also beobachtet, dass Frau Scheidt regelmäßig Herrenbesuch empfing?«

Vielleicht war es eine Flucht nach vorn, oder es wurde ihm einfach zu dumm.

»Leiden Sie an retrograder Amnesie? Sie müssen doch wissen, was Sie tun, junger Mann. In Ihrem Alter…«

Sebastian zögerte einen Moment. »Frau Rothschenk«, meinte er schließlich, »ich kann Ihnen versichern, dass ich Frau Scheidt nicht besucht habe. Sie müssen also jemand anderen beobachtet haben. Eventuell jemanden, der mir ähnlich sieht?«

»Papperlapapp. Ich bin vielleicht alt, aber nicht blind.« Die Frau stand mit unwirschem Gesichtsausdruck kerzengerade in ihrem aufgeräumten Wohnzimmer. »Und ich sage Ihnen noch etwas, junger Mann. Ich war in den siebziger Jahren eine der ersten Frauen, die einem Finanzgericht vorstand. Ich kann beobachten.«

Klara stöhnte innerlich auf. Aber Sebastian blieb offenbar ruhig. Widerstand motivierte ihn, das wusste Klara, je härter die Nuss, desto besser. Auf manche Nüsse konnte sie allerdings gut verzichten.

»Frau Rothschenk, wann haben Sie mich oder meinen Doppelgänger denn zuletzt bei Frau Scheidt gesehen?«

»Am Sonntagnachmittag.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

»Sehen Sie«, Sebastian lächelte milde, »am Sonntagnachmittag war ich mit anderen Dingen befasst und konnte gar nicht hier sein.«

Klara versuchte, eine aufsteigende Röte zu unterdrücken. Am Wochenende war Josephine bei ihrem Vater gewesen, und sie hatte den Sonntag mit Sebastian verbracht.

»Was wird die junge Frau da denn so rot?« Der Feldwebel zeigte mit einem altersfleckigen Finger auf Klara. »Haben Sie etwa was mit der?«

Beobachten konnte sie in der Tat.

Souverän überhörte Sebastian die Frage und fuhr ungebrochen freundlich fort. »Haben Sie am Montag auch jemanden beobachtet? Am Montagabend?«

Edeltraut Rothschenk schien einen Moment nachzudenken. »Wie ist das arme Ding denn gestorben? Na ja, wissen Sie, sie war einfach zu hübsch und zu sorglos, da lebt man gefährlich.«

Beides Eigenschaften, mit denen sich die Frau in ihrem Leben nicht herumschlagen muss, dachte Klara. Sie setzte nach: »Der Montagabend, haben Sie da jemanden beobachtet?«

»Denken Sie, ich habe nichts Besseres zu tun, als den ganzen Tag am Fenster zu stehen und aufzupassen, wer bei den Nachbarn ein und aus geht?«

Klara hätte gern »Ja« gesagt, aber sie wiederholte einfach ihre Frage.

»Nein, am Montag habe ich niemanden gesehen«, antwortete Edeltraut Rothschenk schließlich mit ihrer knarrenden Stimme.

»Kennen Sie den Namen des Mannes, der Frau Scheidt des Öfteren besuchte und meinem Kollegen ähnlich sieht?«

»Nein. Aber ich kann ihn genau beschreiben.«

»Ist Ihnen sonst irgendetwas aufgefallen, das wir wissen sollten? Kannten Sie Frau Scheidt persönlich, haben Sie hin und wieder mit ihr gesprochen?«

»Ach, gesprochen… Sie hat immer freundlich gegrüßt und war ja auch sonst ein rechter Sonnenschein.«

Der eine so, der andere so, dachte Klara.

»War Frau Scheidt in den letzten Tagen oder Wochen verändert?« Sebastian übernahm wieder. »Gab es Streitigkeiten, oder hatte sie andere Gewohnheiten, andere Zeiten, zu denen sie aus dem Haus ging oder wiederkam?«

»Mir ist nichts dergleichen aufgefallen.«

Also im Prinzip ist ihr gar nichts aufgefallen, dachte Klara und sah, wie Sebastian ihr kaum sichtbar zunickte. Das Zeichen zum Aufbruch.

»Ja, Frau Rothschenk, dann danken wir Ihnen erst einmal für Ihre Mühe und Ihre Aufmerksamkeit.«

»Äh, nun ja, möglicherweise sollte ich noch erwähnen, dass Oliver Lebenstedt das Fräulein Scheidt auch hin und wieder besuchte.«

Klara sah fragend in das Gesicht der alten Dame, in dem plötzlich eine Spur Herausforderung und Belustigung lag. »Oliver Lebenstedt?«

»Der Sohn der Hauseigentümer. Eigentlich ist er ja verheiratet und hat zwei kleine Kinder, aber na ja, Sie wissen ja selbst, wie die Männer sind…« Die knochentrockene Frau Rothschenk machte eine wegwerfende Handbewegung, gleichzeitig schien ihr ein kleiner boshafter Schalk im Nacken zu sitzen.

Klara verstand. Die Frau war Volljuristin, pensionierte Richterin, sie wusste genau, was von Bedeutung war und was nicht, und jetzt machte sie sich einen Spaß daraus, junges Gemüse wie die beiden Hauptkommissare auflaufen zu lassen.

Gegen ihren Willen fand Klara Gefallen an dem Spiel, unter Umständen konnte man von der Alten noch etwas lernen. Aber nicht, wenn man nach dem klassischen Frage-und-Antwort-Muster vorging.

Sebastian schien ebenfalls zu begreifen, Kooperation statt Befragung. »Sie haben eben gefragt, wie Frau Scheidt umgebracht wurde«, sagte er. »Sie wurde erdrosselt, und die Leiche fand sich in der Badewanne. Wie Sie wissen, haben die meisten Mörder irgendeine Beziehung zu ihrem Opfer.«

Edeltraut Rothschenk hielt den Kopf ein wenig schräg, er wackelte leicht. »Und die meisten Täter sind männlich, über neunzig Prozent«, ergänzte sie.

»Ausnahmen bestätigen die Regel«, sagte Sebastian.

»Sie denken zum Beispiel an die Frau von Oliver Lebenstedt?«

»Zum Beispiel.«

Erstmals huschte ein Lächeln über Frau Rothschenks faltiges Gesicht, ihre Zähne waren gerade und ungewöhnlich hell. »Vergessen Sie’s. Frau Lebenstedt ist eine auffallend zierliche Person, fast wie ein Püppchen.« Ihre Mundwinkel hoben sich erneut in feiner Amüsiertheit. »Manche Männer mögen so etwas ja.«

»Sie könnte jemanden beauftragt haben.« Sebastian gab noch nicht auf.

»Sicher, junger Mann. Aber das Wahrscheinliche ist wahrscheinlich, und das Unwahrscheinliche ist unwahrscheinlich.«