Möwen, Strand und Küstentod - Das Geheimnis in den Dünen - Tilda Larsen - E-Book
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Möwen, Strand und Küstentod - Das Geheimnis in den Dünen E-Book

Tilda Larsen

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Beschreibung

Die Dünen von Usedom kennen das Geheimnis

Auf Usedom ist es vorbei mit der beschaulichen Ruhe! Der ehemalige Bürgermeister kündigt eine große Enthüllung an. Doch dazu kommt es nicht. Er stirbt in der Nacht darauf an Herzversagen. Da läuten sofort die Alarmglocken bei Hobbydetektivin Ulla. Schnell stellt sich heraus: Der Bürgermeister hatte nicht nur Freunde auf der Insel. Grund genug für Ulla und den ehemaligen Tierarzt Bernhard, sich umzuhören. Denn in den Dünen von Usedom finden sich nicht nur Sand und Muscheln, sondern auch tief vergrabene Geheimnisse ...

Der zweite Fall von Hobbydetektivin Ulla und dem kauzigen Usedomer Urgestein Bernhard. Das ungleiche, aber herzliche Duo ermittelt gemeinsam auf der schönen und wilden Ostseeinsel und kommt dabei dem ein oder anderen Übeltäter auf die Spur.

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Seitenzahl: 297

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Prolog

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Epilog

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Auf Usedom ist es vorbei mit der beschaulichen Ruhe! Der ehemalige Bürgermeister kündigt eine große Enthüllung an. Doch dazu kommt es nicht. Er stirbt in der Nacht darauf an Herzversagen. Da läuten sofort die Alarmglocken bei Hobbydetektivin Ulla. Schnell stellt sich heraus: Der Bürgermeister hatte nicht nur Freunde auf der Insel. Grund genug für Ulla und den ehemaligen Tierarzt Bernhard, sich umzuhören. Denn in den Dünen von Usedom finden sich nicht nur Sand und Muscheln, sondern auch tief vergrabene Geheimnisse ...

Für alle Omis dieser Welt

Prolog

14. 04. 1945, Baracke im Usedomer Küstenwald

Ein letztes Mal lasse ich den Rest meiner geschrumpften Einheit antreten. Nichts schien mir vor einem Jahr bedeutsamer als die Offizierslaufbahn. Ruhm und Ehre? Davon ist nicht viel geblieben. Von den ehemals dreiundneunzig sind beim Durchzählen meiner ausgemergelten Soldaten nur noch sieben übrig. Freunde, Söhne von Freunden, noch halbe Kinder, sind unter meinem Kommando gefallen.

In der Ferne höre ich Gefechtsgrollen. Ich zucke innerlich zusammen, lasse mir aber nichts anmerken. Die Propaganda wird nicht mehr lange aufrechtzuerhalten sein. Mir ist völlig unklar, wie wir unsere Insel, unsere Heimat verteidigen sollen. Wie ich die Jungs vor den Grausamkeiten oder dem nahenden Tod schützen soll. Wie ich mich schützen soll.

Ich zähle laut durch: »Eins, zwei, drei, vier, fünf – ihr dürft abtreten. Entscheidet selbst, ob ihr geht oder bleibt.« Ich schaue in entsetzte, ungläubige Gesichter. Wie gern würde ich sagen, geht zu euren Familien, flieht, solange ihr noch könnt. Aber auf Fahnenflucht steht der Tod. Das wissen sie.

»Sechs und sieben, ihr kommt mit mir.« Ich lasse die anderen zurück, überlasse sie ihrem Schicksal – und wir drei verschwinden im Wachturm. Der ältere Soldat sieht mich mit festem Blick an. »Was soll ich tun, Herr Oberleutnant?« Der Jüngere wischt sich den Schweiß von der Stirn, bringt kein Wort heraus.

Wir werden ernten, was wir sähen, wiederhole ich in Gedanken die Worte des im Dorf verbliebenen Pfarrers. Nicht sentimental werden, hat Hilde zum Abschied gesagt. Wie gern würde ich sie und meinen kleinen Arthur fest in die Arme schließen. Wie sehr wünsche ich mir, dass mein Sohn in Frieden aufwachsen kann. Ich schüttle den Gedanken ab, reibe meine brennenden Augen und kämpfe gegen die Enge in der Brust. »Ihr müsst noch etwas tun, bevor auch ihr gehen könnt.« Wie gewohnt mache ich klare, unmissverständliche Ansagen, fordere ein letztes Mal Gehorsam.

»Jawohl, Herr Oberleutnant!«, sagt der Ältere und schlägt die Hacken zusammen.

Drei Stunden später sind die Holzkisten im Bunker verstaut und die Klappe nicht nur sicher verriegelt, sondern auch unter Ostseesand begraben. In wenigen Jahren wird sprichwörtlich Gras über die Sache gewachsen sein. Damit sind die zu bewahrenden Geheimnisse für immer in Sicherheit. Ich bringe es nicht übers Herz, alles zu vernichten. Wer auch immer noch Nutzen davon haben wird oder ob sie verborgen bleiben, es soll jetzt so sein.

Ich stehe am Fenster, sehe die zwei zurückkommen, fast wirkt ihr Schritt beschwingt. Was ich getan habe, tun werde, fühlt sich richtig an.

»Es ist vollbracht«, ruft der Ältere.

Ich nicke ihm zu. Drehe mich um. Gehe an meinen Schreibtisch und öffne die Schublade. Ich streiche über das kalte Metall, halte es in meinen Mund, zögere einen Moment. Und dann drücke ich ab.

1

Das Sommerfest im Seniorenstift AM ROSENGARTEN im wunderschönen Seebad Koserow war in vollem Gange. Ulla hatte versucht, sich davor zu drücken. Doch Bernhard hatte keinen Widerspruch geduldet. Der hagere, aber topfitte dreiundsechzigjährige pensionierte Tierarzt war nach anfänglichen Startschwierigkeiten zu einem echten Freund geworden. Ulla musste schmunzeln, als sie an den »alten« Bernhard dachte, den selbsternannten mürrischen Ortssheriff, der nicht nur am Ückeritzer Strand für Zucht und Ordnung sorgte. Wie gern hätte sie ihm auch heute von ihren aktuellen Sorgen erzählt. Aber sie musste sich das für später aufheben. Jetzt sollte er erst mal unbeschwert das Fest mit seiner Mutter Else verbringen können.

»Ich dachte, du magst meine Mutter?«, fragte er auf dem Weg über die Festwiese und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber wenn man dich so ansieht, könnte man meinen, du gehst zum Schafott.«

»Natürlich mag ich sie. Aber ich bin ...« Wie sollte sie es am besten unverfänglich formulieren? »Müde. Mir ist einfach nicht nach Feiern zumute.« Ein zarter Hauch von Kaffeeduft wehte in ihre Nase.

»Gerade dann.« Bernhard zog eine Augenbraue nach oben und schnaubte. Da war er wieder, der grummelige Alte, der Ulla am Anfang ihrer Begegnungen so oft unfreundlich im Weg gestanden hatte. Grummelig war er immer noch. Aber Ulla wusste, was hinter dieser manchmal harschen und kontrollierten Fassade steckte. Wieder musste sie schmunzeln.

»So gefällst du mir schon besser. Mit einem Lächeln auf den Lippen, wird der Tag gleich ...«

»Schöner«, ergänzte Ulla.

»Und es steht dir ausgesprochen gut zu Gesicht.« Er zwinkerte ihr zu. »Falls es dich aufmuntert: Seit Mutter im Heim ist, war niemand gut genug für ihr Häuschen. Dass du dort wohnen darfst, ist eine Auszeichnung.«

Ulla nickte zustimmend. »Du hast recht. Aber ich komme nicht aus Pflichtgefühl mit. Dass das klar ist.« Sie hakte sich bei ihm unter. »Lass uns Else suchen. Mal sehen, wo sie sitzt.«

An den festlich geschmückten Tafeln im Freien war das Sommerfest bereits in vollem Gange, und eine bunte Mischung aus Bewohnern, Angehörigen und Personal versprühte angeregte Lebendigkeit. Überall hingen bunte Ballons, Girlanden und Luftschlangen. Möwen kreischten und spähten nach Essbarem. Aber die Platten mit wunderbar duftenden Kuchen und Torten und der frisch gebrühte Kaffee schienen sie nicht sonderlich zu interessieren. Und da, ganz hinten am Rand der Festwiese, stand ein Alpaka. Ulla hatte dieses Tier noch nie so nah gesehen. »Schau mal, wie hübsch.«

Doch Bernhard zog sie weiter.

Vielleicht war diese Feier wirklich eine willkommene Abwechslung. Ulla ließ ihren Blick weiter über die Festgesellschaft schweifen. »Da ist Else, schau Bernhard.« Sie stupste ihn in die Seite und deutete mit dem Zeigefinger in die Richtung, in der sie Else entdeckt hatte. »Sie wird gerade mit ihrem Rollstuhl an den Tisch geschoben.«

Bernhard verdrehte die Augen. »Nur drei Plätze entfernt von Heinz Schulz. Na, das wird eine Freude.« Er lief weiter.

»Ach komm, so schlimm ist der doch gar nicht. Ein bisschen verschroben und ...«

»Verschroben? Der ist ignorant, egoistisch und selbstverliebt.«

Ja, Heinz Schulz war kein unbeschriebenes Blatt im Heim. Der Zimmernachbar von Bernhards Mutter Else war manchmal ein wenig streitsüchtig und selbstgefällig. »Er kann mit seinen neunundachtzig Jahren aber auch charmant und witzig sein.«

»Aber nur, wenn er etwas möchte.« Bernhard winkte ab.

Er drückte seiner Mutter gerade zur Begrüßung ein Küsschen auf die Wange, als Herr Schulz schon wild gestikulierend das Wort ergriff. »Und dann fliegt alles in die Luft, peng bumm bähm, kein Stein bleibt auf dem anderen.« Der alte Mann an der Frontseite der langen Kaffeetafel ließ seine Arme wie Rotorblätter durch die Luft wirbeln und fegte dabei schwungvoll seine Kaffeetasse vom Tisch.

»Herr Schulz, das geht ja gleich wieder gut los.« Pfleger Tommy, der gerade eben noch Bernhards Mutter am Tisch platziert hatte, hob die Scherben vom Boden auf. Dabei verhakte sich ein Bruchstück in seinem Armband aus Yin- und Yang-Perlen. »Verdammt ...«

»Was denn? Stellt das halt nicht immer alles so eng.« Heinz presste die Lippen aufeinander und schob die komplette Deko und das Geschirr schräg nach links zu seiner Tischnachbarin Roswitha.

Die verzog keine Miene.

»Alles in Ordnung. Es ist ja nichts passiert«, beschwichtigte ihn der Altenpfleger höflich.

Wieder musste Ulla schmunzeln. Immer nett und freundlich sein zu müssen, selbst in solchen Momenten, war die Königsdisziplin. Der Anfang dreißigjährige, gut aussehende und sportliche Pfleger war bei den Heimbewohnern sehr beliebt. Er hatte meist einen frechen Spruch auf den Lippen und nahm sich immer Zeit für ein Schwätzchen. Nicht selten sah Ulla ihn mit den Senioren angeregt Karten oder Dame spielen.

»Hallo, Ulla.« Elses Mundwinkel zogen sich steil nach oben, und sie drückte fest ihre Hand. »Wie schön, dass ihr gekommen seid.« Als sie sich umarmten, kehrte wieder Ruhe am Tisch ein. Aber nur kurz.

»Ich will auch Kaffee. Eine neue Tasse. Wie lange dauert das denn noch?«, ertönte erneut die Stimme von der Frontseite des Tisches.

Else schüttelte den Kopf. »Zum Glück sitze ich hier weit genug entfernt. Es reicht schon, wenn ich den tagein, tagaus im Nachbarzimmer ertragen muss.« Sie nahm die Hände von der Festtafel, als diese bedrohlich wackelte, weil Heinz energisch mit der flachen Hand auf die Tischplatte schlug.

»Dauert das noch lange? Damals« – er machte eine gewichtige Pause – »als ich noch Bürgermeister war, hätte sich das niemand getraut!«

»Ob der damals auch schon so unfassbar laut war?«, flüsterte Ulla.

Bernhard machte mit seinen Fingerspitzen einen waagerechten Schnitt an seiner Kehle. »Der merkt nicht, dass sein Amtsgehabe keinen mehr beeindruckt. Er sieht sich immer noch an der Spitze der Macht.«

Ulla sah das jüngere Ich von Heinz Schulz vor sich, in einem überdimensionierten Büro, hinter einem imposanten Schreibtisch aus Echtholz – wie er Tag für Tag Anweisungen an seine Untergebenen schmetterte. Auch ihr Ex-Mann Christopher hatte einen ähnlichen Führungsstil und eine opulent-repräsentative Büroeinrichtung. Wenn man es genau nahm, hatte Christopher der einvernehmlichen Scheidung noch immer nicht zugestimmt. Eigentlich war er damit nicht ihr Ex-Mann, sondern ihr ... nicht weiter darüber nachdenken.

»Ulla?« Else tippte an ihren Unterarm. »Hörst du mir eigentlich zu?«

»Jaja – was hast du gesagt?«

Bernhard presste die Lippen aufeinander.

Else dagegen lächelte sanftmütig. »Ist schon gut. War nicht so wichtig.« Sie tätschelte Ullas Unterarm.

Plötzlich gab es einen riesigen Knall. Nein, eher ein lautes Scheppern. Und wieder flog die gerade erst dazugestellte und neu gefüllte Kaffeetasse vom Tisch. Direkt in den Schoß von Roswitha, die es dieses Mal nicht stillschweigend hinnahm und zu einer Schimpftirade ansetzte. »Heinz, es reicht jetzt! Wirklich!«

»Für dich immer noch Herr Bürgermeister Schulz.« Er richtete sich auf und umfasste mit beiden Händen die linke und rechte Tischkante. »Es reicht noch lange nicht! Alles fliegt in die Luft, peng bumm bähm, kein Stein bleibt auf dem anderen.« Dann ließ er sich zurück auf seinen Stuhl fallen, und wieder fuchtelten seine Arme wild rotierend durch die Gegend. Alle am Tisch brachten vorsichtshalber ihr Geschirr in Sicherheit.

»Immer die gleichen Phrasen. Hohle Worte. Ich kann es nicht mehr hören. Wir alle können es nicht mehr hören, Herr Bürgermeister Schulz.« Roswitha tupfte sich mit einer Serviette ihren Rock trocken. »Immer diese Geheimnisse. Große, weitreichende Geheimnisse. Dann erzählen Sie doch mal. Wir sind alle ganz Ohr.«

»Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt. Morgen Mittag, da werde ich das Geheimnis lüften. Morgen Mittag! Und dann, dann steht hier kein Stein mehr auf dem anderen.«

2

»Warum muss das alles so verdammt schwierig sein, Maple?« Ulla seufzte. »Wenn du nur hier sein könntest.« Zum Glück war ihre beste Freundin, ganz im Gegensatz zu Bernhard, telefonisch immer erreichbar. Ulla ließ sich tief in die Kissen ihrer senfgelben Chaiselongue sinken, eines der Möbelstücke, die sie von Else übernommen hatte. Das Häuschen am Ückeritzer Achterwasser war ein kleines Schmuckstück und nun ihr Zuhause.

»Das würde auch nichts ändern. Außer, dass ich dich ganz fest in den Arm nehmen könnte.«

Eine kurze, wohltuende Stille breitete sich in der Telefonleitung aus. Maple und sie kannten sich schon eine gefühlte Ewigkeit, teilten ihre Leidenschaft für ungelöste Kriminalfälle und gutes Essen. Sonst waren sie grundverschieden. Aber vielleicht war es gerade das, was sie beide wie zwei ungleiche, doch sich liebende Schwestern verband. Maple, die jüngere, ausgelassene, unbefangene – und Ulla, die ältere, angepasstere und auf Sicherheit bedachte.

Ulla wurde warm ums Herz. Nie hätte sie gedacht, dass sich aus einer Internetbekanntschaft im Krimiforum eine derart tiefe Freundschaft entwickeln würde. »Es ist so schön, dass es dich gibt, Maple. Weißt du eigentlich, dass wir bald Jahrestag haben? Dann kennen wir uns schon fünfzehn Jahre.«

»Stimmt. Der Wahnsinn, oder?«

Ulla hörte ein Rascheln und Knistern auf der Gegenseite, dann tapsende Schritte. Unwillkürlich zog sich ihr rechter Mundwinkel nach oben. Ihre Freundin konnte nie still sitzen, einfach nur telefonieren, entspannt in die Kissen versunken wie sie. Nein, sie brauchte immerzu Bewegung, erledigte unzählige Dinge gleichzeitig, und – sie hatte immer etwas zu naschen in greifbarer Nähe. Offen, nicht versteckt in einer Schublade. Während Ulla wegen jedem Pfund zu viel ein stetig schlechtes Gewissen mit sich herumtrug, waren Maple ihre Wohlfühlkilos einerlei. Sie war der absolute Genussmensch.

»Dann lass uns darauf anstoßen. Hier in Ückeritz. Du brauchst doch bestimmt gerade ganz dringend Urlaub, oder? Ich lade dich ein.« In Ullas Stimme klang die Vorfreude auf ein baldiges Wiedersehen mit.

Maple lachte. »Sag das meinem Chef. Dann bin ich noch heute Abend bei dir. Nein, Spaß beiseite, was gibt's bei dir Neues?«

»Ah, das wollte ich dir sowieso gerade erzählen. Wir waren heute auf dem Sommerfest im Seniorenstift bei Bernhards Mutter. Kannst du dich an Heinz Schulz erinnern, der aus dem Nachbarzimmer von Else?«

»Der ehemalige Bürgermeister mit der viel jüngeren Frau? Wie hieß sie gleich noch mal?«

»Anita. Aber um die geht es nicht.« Beide lachten. »Herr Schulz hat auf dem Sommerfest ein großes Geheimnis angekündigt, das er morgen Mittag preisgeben möchte.«

»Na, da bin ich aber gespannt.«

»Und wir erst.« Wieder lachten beide.

»Und sonst so?«

Ulla zuckte mit den Schultern, wohl wissend, dass Maple diese Geste nicht sehen konnte. »Alles beim Alten. Ich packe Umzugskisten aus, und Christopher wird nicht müde, seinen Frust an mir abzuarbeiten.« Sie holte tief Luft. »So langsam wird es finanziell eng. Ich brauche dringend einen Job. Das macht mich alles ein bisschen unruhig. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal eine Nacht tief und fest durchgeschlafen habe.«

»Okay ...« Maple machte eine kurze Pause. »Raus mit der Sprache, ist es auf Usedom nicht so schön, wie du sonst immer behauptest?«

»Doch, natürlich. Auch wenn Berlin und Usedom Kontrastprogramm pur sind, ist das eine Entscheidung, die ich noch keinen Tag bereut habe.«

Das Knuspergeräusch wurde lauter. »Ich versteh schon. Geldsorgen sind echt unangenehm. Aber schau, du hast einen Mörder auf Usedom gefasst, Lenis Leben gerettet, dich von Christopher getrennt und wohnst jetzt in diesem wunderschönen, urigen Häuschen. Es läuft doch, oder?«

Das stetige Knuspern im Hintergrund wirkte fast meditativ auf Ullas angespannte Nerven und ließ sie an Paprikachips, Paranüsse und Salzbrezeln denken. Ihr Magen begann zu knurren. »Das ist es nicht, Maple.« Sie seufzte.

»Was dann?«

»Diese Landschaft, die Ruhe, ich kann sie nicht genießen.«

»Das Problem möchte ich haben.« Ihre Freundin lachte laut und herzhaft.

Ulla zögerte. Das hier war zwar kein erholsamer Ostseeurlaub, aber auch kein Straflager. »Stimmt, du hast recht. Eigentlich ist alles gut. Ich brauche nur einen Job.«

Doch Maples Gespür durchschaute diese Lüge. »Da ist doch noch mehr, oder? Was bedrückt dich wirklich? Hier geht es nicht nur um einen neuen Job.«

Nein, ging es nicht. Da war dieser kaum auszuhaltende Schmerz um den Verlust ihrer gleich nach der Geburt zur Adoption freigegebenen Tochter, der sich immer tiefer in ihr Herz grub. Ein bohrender Stachel, der sie beständig an die Geburt vor fünfundzwanzig Jahren erinnerte. Sie durfte ihr Mädchen nicht einmal kurz im Arm halten. Nicht ein einziges Mal. Ulla konnte ein weiteres Seufzen nicht unterdrücken. »Es fühlt sich an, als hätte ich alles falsch gemacht. Ich vermisse sie so sehr.«

»Hast du nicht. Rede dir so etwas nicht ein.«

Zwischen dem Knuspern am anderen Ende der Leitung konnte Ulla ein »Du meinst doch deine Tochter?« erahnen. Dieses Geräusch, das gerade noch entspannend und ausgleichend auf sie gewirkt hatte, drohte plötzlich, ihre Stimmung zu beeinträchtigen. Es wirkte aggressiv, ja lauernd. »In jeder freien Minute überlege ich, ob ich diese Adoption damals hätte verhindern können. Müssen!« Ein langes Schweigen füllte die Telefonleitung.

»Ich verstehe dich, und Klaus und Bernhard sicher auch, oder?«, fragte ihre Freundin mit sanfter Stimme.

Bernhard und Klaus Dornbusch. Vater und Sohn. Beide waren sie rettende Anker während ihrer Rehazeit in Ückeritz im letzten Jahr gewesen. In einer Zeit, als ihr Herz zu versagen drohte, sie ihre Ehe infrage stellte, ihre Zimmergenossin Leni spurlos verschwand und damit das Trauma mit ihrer eigenen Tochter von Neuem ausgelöst wurde. Ohne Klaus und Bernhard wäre sie heute nicht hier. Ihr Seufzen wurde leiser und wich einem zaghaften Lächeln.

»Du musst das nicht alles allein mit dir ausmachen. Rede darüber. Wenn du dich irgendwann dazu entschließt ...«

»Zu was entschließen?« Ullas Worte kamen wie aus der Pistole geschossen.

Maple seufzte und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Ich will dir nichts Böses. Hast du jetzt angefangen, nach ihr zu suchen, oder willst du das weiter aufschieben?«

Warum musste Maple den Finger immer direkt in die offene Wunde legen? »Nein. Das hat mich Klaus auch schon gefragt. Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich schaffe das emotional gerade nicht. Aber danke, dass du nachfragst. Es tut gut, nicht alles allein mit sich ausmachen zu müssen.«

Ihre Freundin lachte. »Na siehst du. Dann hast du zusätzlich zu Guido jetzt auch noch einen Maple-Spürsinn.«

Maples unbeschwert-fröhliche Art war wie Balsam für ihre Seele. Jetzt musste auch Ulla lachen. »Du bist unverbesserlich.« Doch sofort schweiften ihre Gedanken ab. Zu Guido. Es war ruhig geworden um ihren bei Gefahr kribbelnden linken großen Zeh. Nach der Aufregung in der Rehaklinik und dem Überlebenskampf auf dem offenen Meer, bei dem sie und Leni fast ertrunken wären, brauchte er die Auszeit wahrscheinlich genauso sehr wie sie. Auch er schien die Suche nach ihrer Tochter gerade nicht für sinnvoll und Erfolg versprechend zu halten, denn er schwieg beharrlich. Eine aufsteigende Unruhe machte sich in Ullas Magengegend breit. »Auf Guido ist gerade kein Verlass, der hat nicht mal bei den Einbrüchen und dem Telefonterror gezuckt.« Upps, jetzt war es raus.

»Bei dem was?« Maples Stimme schoss schrill nach oben.

»Bei den Einbrüchen und dem Telefonterror«, sagte Ulla leise.

»Ich glaub, ich spinne. Das hast du noch gar nicht erzählt. Wann war das?«

»Es begann im April, gleich nachdem ich hier hochgezogen bin.«

»Wo wurde eingebrochen, wer hat angerufen? Mensch, lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Erst hat irgendjemand um meinen Wohnwagen auf dem Campingplatz herum randaliert, dann gab es zwei Einbrüche, und zeitgleich bekam ich immer wieder diese Anrufe.«

»Eigentlich ist das doch nicht dein Wohnwagen. Vielleicht galt das gar nicht dir, sondern den Dornbuschs? Und wer hat dich angerufen?«

Ulla zuckte mit den Schultern, wohl wissend, dass ihre Freundin auch diese Geste nicht sehen konnte. »Ich weiß es nicht. Es hat immer wieder geklingelt, und wenn ich rangegangen bin, war da nur Stille. Immer anonym.«

»Hast du denn nicht gleich eine neue Nummer beantragt?«

»Nein, noch nicht. Ich wollte noch warten.«

»Ulla, ehrlich, warum sagst du das nicht eher? Wir erzählen uns doch sonst auch alles.« In Maples Stimme schwang ein Anflug von Traurigkeit und verband sich mit Ullas schlechtem Gewissen mitten in ihrer Magengegend.

»Ich wollte dich nicht beunruhigen. Das ist ganz sicher die Handschrift von meinem Ex. Christopher will mir Angst einjagen und mich zurück nach Berlin zwingen. Aber das wird er nicht schaffen.« Das anfängliche Bauchgrummeln wich einer starken inneren Unruhe, die Ullas Körper zittern ließ. Jedes noch so kleine Härchen schien zu vibrieren.

Und endlich kam auch wieder Leben in Guido. Er zuckte kurz und schmerzhaft und begann dann heftig zu kribbeln.

Ulla versuchte es mit einer Gegenfrage. Ablenkung! »Erzählst du mir immer alles?«

Die Stille in der Leitung verhieß nichts Gutes. Maple war sonst nie um eine Antwort verlegen. Nie!

»Gibt es etwas, das ich wissen müsste?« Ulla hatte ihr Gleichgewicht wiedergefunden.

»Mmh«, grummelte Maple. »Bist du dir denn sicher, dass das alles dein Ex in die Wege geleitet hat?«

»Wer denn sonst? Lenk jetzt nicht ab.« Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen schmeißen, schoss es Ulla durch den Kopf. Aber Angriff war die beste Verteidigung.

»Mir würden da spontan noch einige Alternativen einfallen. Lege dich nie sofort auf einen Täter fest, heißt es doch so schön. Deine Worte, Ulla-chen.«

»Du kleine Hexe. Na warte.« Ullas Fluchen ging in ein Lachen über. Ulla-chen war das Kosewort von Klaus für sie während der Rehazeit gewesen, und obwohl Ulla es für alle auf die No-Go-Liste gesetzt hatte, hielt sich keiner daran. Dafür mussten die anderen mit ihrer Vorliebe für italienische Namensendungen leben. Eigentlich nutzte sie diese nur für das Abspeichern ihrer Kontakte im Telefonbuch. Aber wenn sie jemand ärgerte, hängte sie aus Spaß auch gern einmal im Gespräch ein -ino hinten an.

Auch Maple lachte. Sie klang erleichtert. »Lachen ist gesund. Leg los, wer könnte es noch gewesen sein?«

»Keine Ahnung. Ich tu doch keinem was. Sag du es mir.«

»Vielleicht eine heimliche Verehrerin von Klaus, die gerade ihre Felle davonschwimmen sieht?« In Maples Stimme lag ein leicht süffisanter Unterton.

»Eine eifersüchtige Nebenbuhlerin?« Ulla musste schmunzeln. »Lass mal, es gab nie einen Kurschatten, auch wenn Christopher nicht müde wird, das immer wieder aufzuwärmen.« Sie dachte an das wunderschöne Picknick mit Klaus und seiner Hündin Gundula am Ückeritzer Ostseestrand. Daran, wie Christopher aufgetaucht war und ihnen eine Szene gemacht hatte. Seitdem behauptete er beharrlich, dass sie ihn betrogen hatte und dass Klaus der Anlass für ihre Trennung im letzten Jahr gewesen war. Was für ein Quatsch! Ulla schüttelte sich. »Ich habe wirklich keine Ahnung, wer mir sonst meinen Start auf der Insel so vehement vermiesen sollte.« Für sie kam nach wie vor nur Christopher infrage. Sein Ego war tief verletzt. »Er nimmt mir immer noch übel, dass ich nach der Reha in eine unserer Mietwohnungen gezogen bin. Die wurde nicht für dich luxussaniert!, meinte er.« Die gemeinsamen Mietimmobilien waren ein weiterer Streitpunkt im anstehenden Scheidungsprozess. Christopher hatte die Vier-Zimmer-Wohnung im Herzen von Berlin-Dahlem aufwendig sanieren lassen, um sie im neuen Jahr weiterzuvermieten. Und dann war sie nach der Trennung kurzerhand dort eingezogen, was ihm natürlich gar nicht gefiel.

»Aber dass die Handwerker genau pünktlich zu der Zeit fertig geworden sind, als du eine neue Bleibe gebraucht hast, war schon richtig gut, oder? Lass dir von ihm kein schlechtes Gewissen einreden.«

»Mache ich nicht. Aber Christopher muss eine Strichliste führen, damit er auch ja nichts vergisst. Die angebliche Affäre mit Klaus in der Reha, die räumliche Trennung, meine vorgebliche Undankbarkeit, die von mir eingereichte Scheidung, nachdem wir es noch einmal miteinander versucht hatten. Und dann der GAU, als alles kurz vor Weihnachten im totalen Fiasko endete.« Ulla atmete tief aus.

»Die Kündigung. Das hat mich richtig wütend gemacht.« Maples Stimme vibrierte.

Und Ulla kam es vor, als wäre es gestern gewesen. Christopher hatte ihr zwischen Weihnachten und Neujahr gekündigt. Aus Rache. Ohne ein Gespräch. Nur ein anwaltlicher Brief. Um ihr zu zeigen, wie abhängig sie von ihm war. Nicht nur finanziell. Zwar wollte Ulla es ihm nicht gleichtun, aber sie hatte sich dann doch dazu entschieden, sich ebenfalls einen Anwalt zu nehmen. Der hatte ihr Mut gemacht. Christopher würde mit dieser Kündigung nicht durchkommen. Aber sie musste Geduld haben. Die Gerichte waren überlastet, und eine außergerichtliche Einigung hatte Christopher bisher rigoros abgelehnt. Ulla schnaubte. »Ich bin einfach nur traurig und schrecklich enttäuscht. Wir hatten doch auch gute Zeiten, sonst wären wir nicht vierundzwanzig Jahre verheiratet gewesen. Und jetzt wirft er mir vor, dass ich seine Gefühle mit Füßen trete, unsere Liebe verrate, ihn hintergehe, privat und in der Firma. So ein Quatsch. Meinst du, ich sollte seinen Forderungen zustimmen?«

»Stopp, Ulla. Nichts solltest du. Nichts, außer wütend sein. Was Christopher da abzieht, ist Kindergarten par excellence. Dem habe ich mal gehörig die Meinung gesagt, als er ...« Maple stoppte mitten im Satz.

»Als er was? Wann hast du mit ihm gesprochen?« Ullas Gedanken fuhren Achterbahn, überschlugen sich, verloren den Halt und drohten abzustürzen. »Maple! Wann hast du mit Christopher gesprochen? Und woher hat er deine Nummer?«

»Ich habe ihn angerufen.«

»Du hast was? Wieso?« Ulla wurde gleichzeitig heiß und kalt. Ihre Härchen auf den Unterarmen stellten sich auf. Sie begann zu zittern.

»Ich wollte, dass er mit diesen Spielchen aufhört. Er sollte begreifen, dass du nicht allein bist.« Maple stockte erneut. »Aber er meinte, ich solle lieber dir ins Gewissen reden. Na, dem hab ich was erzählt. Der braucht nicht zu glauben, dass er mit dir machen kann, was er will.«

»Stopp! Stopp! Langsam. Was hat er noch gesagt?«

»Nichts. Nichts Wichtiges. Du kennst doch deinen Ex.«

Guido begann wie wild zu kribbeln und drückte sich straff nach oben gegen Ullas Schuh. »Was, Maple? Was hat er gesagt?«

Ein tiefes Ausatmen folgte. »Ich kann es dir nicht sagen. Ich bringe das nicht übers Herz.« Die Stimme ihrer Freundin wirkte plötzlich zerbrechlich.

»Maple, bitte, es ist schon schlimm genug, dass du das nicht vorher mit mir abgesprochen hast. Noch schlimmer kann es jetzt nicht werden.« Resignation lag in Ullas Stimme, die Worte kamen leise und gleichmäßig.

Wieder ein tiefer Seufzer. »Er hat gesagt, dass ich dir ausrichten soll, dass du ihm egal bist, dass seine neue Freundin eingezogen ist und dass sie ein ...« Ihre Stimme brach. »Dass sie ein gemeinsames Kind erwarten.«

3

Es sollte ein gemütlicher Sonntag bei Else im Heim werden. Ruhiger und entspannter als gestern auf dem Sommerfest. Da hatten sich Ulla und Bernhard bereits nach zwei Stunden verabschiedet. Zu viel Trubel und ein anstrengender Heinz Schulz in Hochform, gegen dessen Reden das eher sanfte Animationsprogramm für die Senioren wie kalter Kaffee wirkte.

Else hatte sie gestern aber nur unter einer Bedingung gehen lassen – dass sie heute zu Besuch kommen würden, um mit ihr gemeinsam über dieses Geheimnis des alten Schulz' zu rätseln und es im besten Fall zu lüften. Doch das war leichter gesagt als getan. Denn Ulla hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Sie war nicht nur müde, sondern auch kraftlos. Und sicher sah sie auch genauso aus, wie sie sich fühlte. »So kann ich doch nicht unter Leute«, stöhnte sie. Ihr stets gestylter kastanienbrauner Bob hing heute wie träges Lametta nach unten. Und unter ihren Augen hatten sich dunkle Ringe eingenistet, die sie nur mit viel Aufwand und Geschick abzudecken vermochte. Aber sie hatte es nicht übers Herz gebracht, Bernhard und seiner Mutter abzusagen.

Und nun standen sie hier in der gepflegten Außenanlage des Seniorenstifts und sahen schon von Weitem Else winken, die im Rollstuhl vor dem Eingangsportal wartete. Während Ulla ihre Müdigkeit fröhlich zu überspielen versuchte und zurückwinkte, grummelte Bernhard leise vor sich hin. »Hier ist was faul. Mutter lässt sich doch sonst auch nicht schon mit dem Rollstuhl vor die Tür fahren, wenn sie Besuch erwartet.«

Ulla wollte gerade antworten, da platzte es aus Bernhard heraus: »Verdammter Mist!«, fluchte er. »Erst wieder alle Besucher-Parkplätze belegt, und jetzt auch noch das.« Er blieb stehen und begutachtete seine Schuhsohle.

»Alpaka-Kacke«, witzelte Ulla und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Ich könnte ...!« Bernhard presste seine Lippen fest aufeinander und wischte seine Sohle über die Rasenkante. »Ein Alpaka auf einem Sommerfest. Das braucht wirklich kein Mensch. Das Vieh gehört in die Anden nach Südamerika.«

Ulla schmunzelte in sich hinein. Bernhard konnte nicht raus aus seiner Haut. Wer ihn nicht kannte, hielt ihn wahrscheinlich für einen pedantischen Nörgler und Miesepeter. Aber sie wusste es besser. Sie hatte hinter seine harte Schale blicken dürfen. »Ich fand es echt süß. Die haben bestimmt kuschelweiches Fell.«

»Du hast es doch gar nicht angefasst. Und überhaupt heißt das Vlies. Alpakas haben Vlies.« Mit zügigem Schritt lief er weiter.

»Warte!« Ulla hatte keine Lust auf Diskussionen. Sie machte sich vielmehr Gedanken darüber, ob es ihr gelingen würde, vor Else so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Sie musste es zumindest versuchen. »Jetzt warte doch! Wieso glaubst du, dass etwas nicht stimmt? Vielleicht hat Heinz sie wieder mit seiner offenen Tür und seinen Bürgermeisteransprachen genervt, und sie ist deshalb ins Freie geflüchtet?«, vermutete Ulla, als sie ihn eingeholt hatte.

»Nein, die weiß sich schon zu helfen. Unterschätz sie bloß nicht.« Nun winkte auch er seiner Mutter zu. »Aber wir werden es gleich erfahren.«

Ulla nickte, und zeitgleich erwachte Guido mit einem deutlichen Kribbeln. »Vielleicht hast du recht, Bernhard, es liegt etwas in der Luft.« Sie blieb stehen und bewegte ihren Zeh. »Verdammt, tut das weh. Ich wusste gar nicht mehr, wie sich das anfühlt.«

»Hat Guido wieder etwas zu sagen?« Bernhard feixte.

»He, du brauchst dich gar nicht darüber lustig zu machen. Keiner außer Maple und dir weiß von meinem Spürzeh.«

»Und das ist auch gut so«, stichelte er weiter.

Ulla knuffte ihn freundschaftlich in den Oberarm, als sie bei Else auf der Terrasse ankamen.

Sie wurden mit einem Redeschwall empfangen: »Hallo, ihr zwei. Endlich. Ich warte schon eine gefühlte Ewigkeit auf euch. Wo wart ihr denn solange?«

Bernhard verdrehte die Augen. »Es ist vierzehn Uhr. Früher ging es nicht. Die Kaffeezeit beginnt erst in einer Stunde, oder nicht?« Nach einer kurzen Pause setzte er nach: »War nicht gerade Mittagsruhe?«

Else schüttelte aufgebracht den Kopf. »Ich bin zu alt für Mittagsruhe. Ich habe dich angerufen. Bestimmt zehn Mal. Mindestens! Warum rufst du nicht zurück?«

Bernhard zog sein Handy aus der Tasche und hielt es in Elses Richtung. »Lautlos.«

Dieses Mal lachte Ulla. Herzhaft und aus voller Kehle. »Du bist unverbesserlich, Bernhard. Das wird sich n-i-e ändern. Du und dein Handy.«

»Dafür habe ich ein Multitool-Taschenmesser und«, er öffnete den Reißverschluss seiner Bauchtasche, »die hier.« Er wedelte mit einer kleinen schwarzen Taschenlampe durch die Luft. »Wenn mal etwas passiert.«

»Wenn mal etwas passiert. Genau darum geht es, Junge. Du bist nie zu erreichen«, bekam Ulla Unterstützung von Else.

»Was soll denn hier passieren, Mutter?«

»Das will ich euch gerade berichten. Aber ich komme ja nicht zu Wort.«

Abwartend hob er beide Handflächen neben dem Körper nach oben. »Natürlich. Wir sind schon still. Erzähl.«

»Nicht hier. Lasst uns eine ruhige Ecke suchen.«

»Dein Zimmer?«, fragte Ulla und ignorierte das ungläubige Kopfschütteln von Bernhard.

»Nein, auf keinen Fall. Auf. Gar. Keinen. Fall.«

»Warum denn nicht dein Zimmer?« Bernhards Ton klang nun leicht ungeduldig.

»Weil ich es sage. Vertraut mir einfach.« Sie stemmte beide Hände in die Taille und legte die Unterarme auf die Armlehnen des Rollstuhls.

Ulla und Bernhard sahen sich fragend an, als Else den rechten Zeigefinger nach vorn schnellen ließ und die Richtung angab.

»Wenn Else das so möchte, dann machen wir das so.« Ulla fasste entschlossen nach den Griffen des Rollstuhls und schob ihn in die angezeigte Richtung, ums Haus herum und zum Löschwasserteich.

»Noch vorbei an den zwei Alten auf der Bank da und dann rechts rein zur Sitzinsel«, gestikulierte die resolute alte Dame.

»Die drei Bänke rechts in der Nische, die mit Büschen umgrenzt sind?«

Else nickte.

»Hast du nicht gesagt, du willst keine Zuhörer, Mutter?«

Else drehte sich um und hielt den Zeigefinger dreimal tippend an die verschlossenen Lippen. »Leise.« Doch dann winkte sie ab. »Das sind die Dementen, die sitzen immer hier. Die können ruhig mithören. Denen glaubt eh keiner mehr.«

»Das ist jetzt aber nicht sehr nett. Du bist auch schon neunzig. Willst du, dass man so über dich redet?« Bernhard zog die Augenbrauen zusammen.

»Nein, aber so ist das nun mal. Es ist die Wahrheit. Wenn man alt wird, hat man keine Wahl mehr.«

Ulla fröstelte. Else hatte nie ins Pflegeheim gewollt. Bis letzten Sommer hatte sie ihren Haushalt allein gemeistert, so fit, wie das mit neunzig eben ging. Aber dann war sie gestürzt, hatte sich den Oberschenkel und zwei Lendenwirbel gebrochen. Nach dem Krankenhaus und der Anschlussheilbehandlung in der Geriatrie saß sie immer noch im Rollstuhl und konnte ihr rechtes Bein nicht belasten. Es gehört nicht mehr zu mir, sagte sie immer, wenn Ulla sie fragte, wie es ihr ging. Da ist kein Leben mehr drin. Im Kopf war die Neunzigjährige allerdings erstaunlich klar. Und auf den Mund gefallen war sie auch nicht. Und sie hatte ein großes Herz. Ganz der Sohn. Oder Bernhard ganz die Mama. »Hier, Else?«

»Ja, hier. Setzt euch, sonst bekomme ich einen steifen Nacken, wenn ich die ganze Zeit zu euch aufschauen muss.«

Bernhard, der wie immer alles genau im Auge hatte, sah hinunter zur Auffahrt und rieb ungeduldig den Daumen an den Fingern. »Was ist denn bei euch heute eigentlich los? Normalerweise ist es am Sonntag doch ruhig und idyllisch. Aber heute wimmelt es hier von Leuten, die ich noch nie gesehen habe. Und in den Parkbuchten stehen Einsatzwagen der Polizei.«

Else atmete tief durch und dann platzte es aus ihr heraus: »Heinz ist tot.«

4

Ulla schlenderte die Ückeritzer Strandstraße hinauf in Richtung Bahnhof. Bernhard hatte angeboten, sie nach dem Besuch bei Else nach Hause zu fahren, doch sie wollte die zwei Kilometer bis zum Achterwasser lieber laufen, die Sonne auf ihrer Haut spüren und ihre Gedanken sortieren. Auch wenn sich das bergauf mit High Heels nicht wirklich einfach gestaltete. Ihre Vorliebe für hohe Schuhe hatte ihr, vor allem am Strand, schon Probleme und auch einige Lacher eingebracht. Aber Ulla blieb unbeirrt – da musste sie eben durch. Zum Glück war sie mit Klaus erst um achtzehn Uhr verabredet, hatte also noch über zwei Stunden Zeit. Urlauber mit Luftmatratzen, Badetaschen und kleinen Handwagen, vollgepackt mit diversen Strandutensilien, kamen ihr entgegen. Sie lächelten sich zu, und schon waren sie vorbei. Lauter fröhliche, unbeschwerte Menschen.

Ulla blieb stehen und dachte an Elses Worte: Heinz ist tot.

Bernhard hatte auf ihre Frage, ob ihm das alles nicht komisch vorkam, mit einem Lachen und einer abwinkenden Handbewegung reagiert. Heinz sei alt und gebrechlich gewesen, hatte ein schwaches Herz. Mit neunundachtzig passierte es nun mal, dass man unerwartet, wenn man das so nennen wollte, verstarb.

Unerwartet war das eine. Aber Ulla hatte Heinz in den letzten Wochen im Heim immer als wortführend und zäh erlebt. Der hatte nicht vor zu sterben.

Eine Möwe kreiste über ihrem Kopf und zeterte laut vor sich hin.

»Dir kommt das auch komisch vor, oder?« Ulla sah hinauf und bemerkte eine ungewöhnliche Aneinanderreihung der Wolken, die ihr sofort ins Auge stach. Sie blieb stehen und beobachtete die vorbeiziehende Formation. Der vordere Teil erinnerte sie an ein luxuriöses Badezimmer mit frei stehender Badewanne und einem riesigen, fluffigen Badeschwamm. Dahinter war ein schnittiger Porsche zu erkennen. Luxus pur für wohlhabende Menschen. Menschen, wie sie einer war. Gewesen war. Mit der Trennung von Christopher war sie aus diesem goldenen Käfig ausgebrochen, hatte ihre Absicherung zugunsten ihrer Freiheit aufgegeben. Bewusst und mit allen Konsequenzen. Die Wolken zogen weiter und veränderten sich. Aus dem Luxuswagen wurde ein lang gezogener weißer Streifen mit kleinen Tupfen und aus der Badewanne ein sich streckender Hund. Ob man in Wolken lesen konnte wie im Kaffeesatz? Das wäre nicht schlecht. Dann könnte ihr dieses Orakel vielleicht ihre vielen Fragen zum Tod des alten Mannes beantworten. Zum Beispiel die, ob er freiwillig ins Seniorenstift gezogen war.