Mühlstein - Margaret Drabble - E-Book

Mühlstein E-Book

Margaret Drabble

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Beschreibung

Rosamunde macht sich nicht viel aus der Liebe. Die wohl einzige Jungfrau im London der Swinging Sixties hätte zwar mehr als genug Gelegenheiten für heiße Affären, sitzt aber lieber über den Büchern. Und ausgerechnet sie wird nach einem mäßigen One-Night-Stand schwanger. Im ersten Schreck versucht sie die Angelegenheit mit Gin und einem heißen Bad zu beenden. Doch alles geht schief, und der Abend endet in einem großen Besäufnis.Rosamunde schafft es nicht, sich gegen das Kind zu entscheiden. Na gut, dann zieht sie es eben allein auf. Auch wenn das Leben als ledige Mutter wohl nicht einfach werden wird.Nicht in ihren kühnsten Träumen hätte sie für möglich gehalten, sich so rückhaltlos in ihre kleine Tochter zu verlieben. Als diese lebensbedrohlich erkrankt, lernt die eher hasenfü.ige Rosamunde sich von einer komplett anderen Seite kennen.

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Seitenzahl: 343

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Margaret Drabble

Mühlstein

Roman

Aus dem Englischenvon Irmela Erckenbrecht

Mit einem Nachwortvon Verena Roßbacher

DÖRLEMANN

Die Originalausgabe »The Millstone« erschien 1965 bei Weidenfeld & Nicolson, London   Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten © 1965 by Margarete Drabble © 2024 Dörlemann Verlag AG, Zürich Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung eines Fotos von Andrew Love, Getty Images Porträt: The Jane Brown Literary Estate, NPG, London Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-03820-895-2www.doerlemann.ch

Inhalt

CoverTitelei und ImpressumAutorenabbildungNachwortZur Autorin, zur Übersetzerin und zur Verfasserin des NachwortsZum Buch

Margaret Drabble

 

Mein Lebensweg war schon immer von einer seltsamen Mischung aus Zuversicht und Feigheit gezeichnet – ja, man könnte fast sagen, davon bestimmt. Nehmen wir zum Beispiel meinen ersten Versuch, eine Nacht mit einem Mann im Hotel zu verbringen. Ich war damals neunzehn – das richtige Alter für solche Abenteuer – und selbstverständlich noch nicht verheiratet (was ich immer noch nicht bin, eine Tatsache von einiger Bedeutung – doch davon später). Wenn ich mich recht erinnere, hieß der Junge Hamish. Natürlich erinnere ich mich recht. Ich muss aufhören, so negativ zu sein; schließlich ist es die Zuversicht und nicht die Feigheit, die ich an mir bewundere.

Hamish und ich waren am Ende des Wintersemesters von Cambridge nach London gekommen. Wir hatten alles im Voraus geplant und beide unseren Eltern mitgeteilt, das Semester würde erst einen Tag später enden. Uns war klar, dass sie nicht interessiert genug wären, um es nachzuprüfen; und selbst wenn, sie wären sowieso nicht schlau genug, um dieser Falschinformation den richtigen Wert beizumessen. Wir kamen am späten Nachmittag gemeinsam in London an und fuhren mit einem Taxi zu unserem Hotel. Alles war genau vorbereitet, sogar ein Zimmer hatten wir reservieren lassen, was wahrscheinlich gar nicht notwendig gewesen wäre, da das von uns ausersehene Hotel zu jenen großen, billig herausgeputzten Häusern gehörte, die eigens für Abenteuer wie unsere vorgesehen sind. Am entscheidenden Finger trug ich einen goldenen Gardinenring. Wir hatten uns für Hamishs Nachnamen ›Andrews‹ entschieden: Das würde sich bestimmt keiner merken, und es war weniger verwirrend, als sich ein Pseudonym zuzulegen. Wir wussten gut Bescheid, denn wir hatten beide in unserem Leben eine ganze Menge billiger Romane gelesen und traten mit betonter Gelassenheit auf. Wir kamen an, stellten unsere entsprechend beschrifteten Koffer ab und fragten beim Empfang nach unserem Schlüssel. Und da machte ich dann meinen Fehler. Aus irgendeinem Grund sollte ich mich im Hotelregister eintragen. Inzwischen weiß ich, dass es keineswegs üblich ist, Ehefrauen im Register unterschreiben zu lassen; ich kann nur annehmen, dass es am Status des Hotels lag oder daran, dass ich so schuldbewusst herumstand und nur darauf zu warten schien, gefragt zu werden. Jedenfalls unterzeichnete ich mit meinem Mädchennamen: ›Rosamund Stacey‹ schrieb ich in meiner riesigen Kinderschrift unter den hübsch unleserlichen Namenszug von Hamish Andrews. Ich bemerkte noch nicht einmal, was ich getan hatte, bis ich dem Mädchen das Buch zurückgegeben hatte. Es schaute meine Unterschrift an und gab einen verärgerten Seufzer von sich: »Na, was soll das denn?«

Sie klang weder amüsiert noch böse oder tadelnd, sondern einfach lustlos und genervt. Ich machte ihr Arbeit, das war mir sofort klar: Ich hielt die ganze Maschinerie auf, weil ich versehentlich die Wahrheit gesagt hatte. Eigentlich hatte ich lügen wollen, und sie wiederum hatte erwartet, dass ich lüge; doch aus irgendeinem tief verwurzelten, freudianischen Grund hatte ich es vergessen. Während sie Hamish wegen meines Irrtums zur Rede stellte, stand ich da wie ein begossener Pudel – überwältigt von trüber, reumütiger Verzweiflung. Ich hatte die Situation nicht verkomplizieren wollen. Hamish redete sich so gut es ging heraus, indem er ein paar Witze über unsere erst sehr kürzlich stattgefundene Hochzeit riss. Sie lachte nicht über seine Scherze, sondern nahm sie für das, was sie waren. Als er fertig war, griff sie nach dem Register und sagte: »Da muss ich erst fragen gehen.«

Sie verschwand hinter einer Tür und ließ Hamish und mich am Empfangsschalter stehen – Seite an Seite, wir schauten uns kaum an.

»Oh, verdammt«, sagte ich nach einer Weile. »Es tut mir so leid, Liebster, ich habe einfach nicht daran gedacht.«

»Ich glaube nicht, dass es etwas ausmacht.«

Natürlich machte es nichts aus. Nach wenigen Minuten kam das Mädchen mit unverändert ausdruckslosem Gesicht – jedoch ohne das Register – wieder, meinte, es sei alles in Ordnung, und gab uns unseren Zimmerschlüssel. Wahrscheinlich steht mein Name immer noch dort. Und diese Inschrift in so verdächtiger Umgebung ist genauso irreführend und heuchlerisch wie alles an mir und meinem Leben, denn Hamish und ich haben noch nicht einmal miteinander geschlafen, obgleich wir etwa ein Jahr lang jeden Tag glaubten, kurz davor zu sein. Wir nahmen uns Zimmer in Hotels und verbrachten die Nächte jeweils im College des anderen – teils aus Spaß, teils, weil wir einfach gern zusammen waren. Das war damals in unserem Alter gang und gäbe, und während ich es tat, glaubte ich, die Liebe und ihre Gesetze auf meine Weise von neuem zu erschaffen. Die furchtbaren Wahrheiten des Lebens kannte ich damals noch nicht. Ich wusste nicht, dass sich Muster herausbilden, lange bevor es uns bewusst wird, und dass das, von dem wir denken, wir würden es beherrschen, zu einem Gefängnis wird, das uns beherrscht. Voller Unwissenheit und Unschuld legte ich mir meine eigenen Fesseln an, und als ich alt genug war, um zu erkennen, was ich getan hatte, war es schon viel zu spät, um sie wieder zu lösen.

Während des Jahres, in dem Hamish und ich uns geliebt hatten, ohne je Liebe zu machen, hatte ich nicht erkannt, dass ich damit das Modell meines ganzen Lebens gegossen hatte. Man kann beliebig viele Gründe für unsere damalige Enthaltung finden – Angst, Tugend, Unwissenheit, Perversion –, doch unbestritten bleibt die Tatsache, dass sich das ›Hamish-Muster‹ von da an immer wiederholen sollte, und zwar mit immer größerer Geschwindigkeit und ohne jene Tiefe, sodass schließlich die Vorstellung von der Liebe in mir fast am gleichen Tag zerbrach, an dem sie entstanden war. Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg, sagt man, und sicherlich ist nichts so erfolglos wie der Misserfolg. Bei meiner Arbeit habe ich immer Erfolg gehabt; es war wohl vermessen, auf mehr Erfolge zu hoffen. Ich kann mich gut an Hamish erinnern, obgleich ich nicht mehr genau weiß, wie wir eigentlich auseinandergegangen sind. Ich weiß nur noch, dass es so war. Es ist auch nicht weiter wichtig, sondern nur ein Beispiel meiner Unfähigkeit sowohl in praktischen als auch in gefühlsmäßigen Dingen. Abgesehen von meiner Arbeit sind alle meine Versuche im Leben fehlgeschlagen. Mein Versuch etwa, eine Fehlgeburt herbeizuführen, muss ein klassisches Beispiel für irgendetwas sein – zumindest für mein Leben.

Als ich einige Jahre nach der Geschichte mit Hamish schwanger wurde, hatte ich mehr durchzumachen als den üblichen ungläubigen Schrecken, und zwar aus Gründen, die ich wohl oder übel nennen muss: Ich hatte niemanden, dem ich es hätte erzählen, niemanden, den ich um Rat hätte fragen können. Also blieb mir wieder einmal nichts Anderes übrig, als auf die vage gehaltenen Erfahrungsberichte von Freundinnen und auf die Informationen zurückzugreifen, die ich im Laufe der Jahre aus billigen Romanen gezogen hatte. Nie habe ich auch nur im Entferntesten daran gedacht, zu einem Arzt zu gehen. Ich war schon so lange nicht mehr krank gewesen, dass ich gar nicht mehr wusste, wie ein Arztbesuch überhaupt vonstattengeht; und ich hatte das Gefühl, selbst wenn ich es schaffte hinzugehen, würde man mich für meinen Zustand tadeln wie ein Schulkind. Nach Tadel aber war mir nicht zu Mute. Also behielt ich es für mich; ich wollte zumindest versuchen, selbst damit klarzukommen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich meinen Mut zusammengenommen hatte: Einen ganzen Tag lang saß ich schwitzend vor Angst im Britischen Museum, starrte unverwandt auf den aufgeschlagenen Gedichtband von Samuel Daniel und dachte an – Gin. Vage wusste ich, dass Gin irgendwie schlecht für die Gebärmutter sein sollte – hat etwas mit Chinin zu tun, glaube ich –, und dass er zusammen mit einem heißen Bad manchmal seine Wirkung tat. Wenn andere Mädchen es damit geschafft hatten, warum dann nicht auch ich? Vielleicht hatte ich Glück. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Gin man nun trinken musste, aber ich bekam das unangenehme Gefühl, dass es wohl eine ganze Flasche war. Die Aussicht darauf erschütterte mich sowohl körperlich als auch finanziell. Es widerstrebte mir, zwei Pfund für eine Flasche Gin auszugeben, nur um mich selbst krank zu machen. Es war jedoch sinnlos, so zu tun, als könnte ich es mir nicht leisten, und verglichen mit anderen Methoden schließlich war diese noch ziemlich billig. Also drehte ich mit verbissener Miene die Seiten von Daniels Gedichten um und entschloss mich, den Versuch zu wagen. Beim Durchblättern stieß ich auf eine sehr nützliche Metapher für meine Doktorarbeit und schrieb sie mir auf. Glück in der Arbeit, Pech in der Liebe. »Im Leben eines Mannes ist die Liebe nur ein Ding unter anderen, im Leben einer Frau ist sie alles«, wie Byron fälschlicherweise bemerkt hatte.

Auf dem Weg nach Hause ging ich bei Unwin’s vorbei und kaufte eine Flasche Gin. Als der Mann sie mir in weißes Seidenpapier gewickelt über den Tresen reichte, wünschte ich, ich hätte sie aus einem festlicheren Anlass gekauft. Ich lief die Marylebone High Street hinunter, sah mir die Schaufenster an und hatte das Gefühl, die teuren Gemüse, Schokoladenhasen und behaglichen Antiquitäten zum letzten Mal in meinem Leben betrachten zu dürfen. All die Umstandskleider zum letzten Mal zu sehen, hätte mir dagegen nichts ausgemacht. Die Gegend, in der ich damals wohnte, war – angesichts der folgenden Ereignisse muss man sagen, unglücklicherweise – von Läden für Umstandskleider und Babysachen nur so überschwemmt: Ich konnte kaum die Straße hinuntergehen, ohne den vorwurfsvollen Blick einer gut gekleideten, flachbäuchigen Schaufensterpuppe aufzufangen, die mit einstudierter Anmut und weißen Plastikhaaren irgendein schickes, nobles Gewand zur Schau stellte. Ihr Anblick ließ mich die Ginflasche nur noch heftiger umklammern. Entschlossen bog ich in meine Straße ein.

Zu jener Zeit hatte ich eine Wohnung, die meinen Eltern gehörte und daher ein völlig schiefes Bild von meinen Einkommensverhältnissen gab. Meine Eltern waren für einige Jahre in Afrika; mein Vater war dort als Professor für Wirtschaftswissenschaften an eine neue Universität gegangen, um die Leute auf den rechten Weg zu führen. Er selbst war natürlich schon lange auf dem rechten Weg, sonst hätten sie ihn ja gar nicht erst eingeladen. Der Mietvertrag für ihre Wohnung lief über fünfzehn Jahre, und sie meinten, solange sie fort seien, könne ich die Wohnung benutzen, was sehr nett von ihnen war, denn sie hätten sie für viel Geld weitervermieten können. Sie hielten jedoch überhaupt nichts von Privateigentum und wollten nichts damit zu tun haben – außer vielleicht durch eigene Leiden und Opfer. Ihr Angebot war also nicht durch reine Freundlichkeit bestimmt, sondern diente zum Teil dem eigennützigen Freispruch von Schuld. Ich zog auf jeden Fall meinen Nutzen daraus: Es war eine hübsche Wohnung im vierten Stock eines großen Gebäudes aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert; Regent’s Park, Oxford Circus, Marylebone High Street, Harley Street und viele andere, wichtige Plätze lagen nur einen Katzensprung entfernt. Der einzige Nachteil bestand darin, dass man mich, weil ich dort wohnte, für ziemlich reich hielt, was ich allem menschlichen Ermessen nach mit meinen fünfhundert Pfund an Forschungsstipendien und Stiftungsgeldern im Jahr auch wirklich war. Allerdings gilt das natürlich in den Augen der Leute, die von solchen Annahmen auszugehen pflegen, keineswegs als reich; hätten sie die Wahrheit gekannt, hätten sie gesagt, ich würde am Hungertuch nagen, und aufgehört, Bemerkungen über meine extrem alten Schuhe zu machen. Abgesehen von der freien Unterkunft, unterstützten mich meine Eltern nämlich überhaupt nicht, obgleich sie es sich ohne weiteres hätten leisten können. Doch sie glaubten an die Unabhängigkeit. Sie hatten mir den Grundsatz der Selbstständigkeit so gründlich eingehämmert, dass ich die Abhängigkeit für eine Todsünde hielt. Eine emanzipierte Frau war ich: eine Ginflasche in der Hand, öffnete ich meine eigene Tür mit meinem eigenen Schlüssel.

Als ich mich allein in meiner Wohnung wiederfand, bekam ich furchtbare Angst. Was ich vorhatte, schien mir so brutal und beängstigend zu sein, fast so brutal und beängstigend wie der Akt, der mich in diese Situation gebracht hatte – und diesmal hatte ich dabei noch nicht einmal Gesellschaft. Ich war auf mich selbst angewiesen, was es in einer Hinsicht leichter machte: Wenigstens konnte mich keiner sehen. Ich stellte den Gin auf den Küchentisch zu den anderen Flaschen, von denen die meisten bis auf einen kleinen Rest geleert waren, und schaute auf die Uhr. Es war halb sieben. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich um halb sieben schon anfangen sollte, aber ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Noch ein paar Stunden zu arbeiten, konnte ich mir erst recht nicht vorstellen. Und nach Essen war mir ebenfalls nicht zu Mute, trotz eines ziemlichen Hungers. Also lief ich eine Weile den Flur auf und ab und wollte gerade ins Schlafzimmer gehen, um mich auszuziehen, als es an der Tür klingelte. Ich schrak nervös zusammen, als hätte man mich auf frischer Tat ertappt, und doch war ich erleichtert über die Gnadenfrist, die mir damit gewährt worden war. Im Vergleich zu dem, was ich vorhatte, konnte alles andere nur besser sein, und die Leute, die da vor meiner Tür standen, waren es auch. Als ich sie sah, war mir klar, wie sehr ich mich freute, sie zu sehen, und ich hieß sie fröhlich willkommen.

»Du wolltest doch nicht etwa gerade ausgehen, Rosamund?« fragte Dick, während er geradewegs in die Küche ging und sich auf den Tisch setzte. »Bei dir weiß man das ja nie, du führst so ein geheimnisvolles Leben … Wir dachten, du hättest vielleicht Lust, mit uns in den neuen Fellini zu gehen. Aber wahrscheinlich hast du ihn längst gesehen.«

»Was für eine nette Idee«, sagte ich.

»Kennst du ihn schon?« fragte Lydia. »Falls ja, sag kein Wort über den Film. Irgendwie möchte ich gerne, dass er mir gefällt, und er wird mir nicht gefallen, wenn du ihn schlecht fandest. Und wenn er dir gefallen hat, erst recht nicht. Also: erspar mir deine Urteile, bitte.«

»Ich habe ihn noch nicht gesehen«, sagte ich. »Wo läuft er?«

»Im Cameo-Poly. Regent Street.«

»Oh«, erwiderte ich. »Nein, ohne mich. In die Regent Street gehe ich nicht mehr.«

»Warum denn das?«

»Ich gehe nicht mehr hin, das ist alles«, sagte ich. Das war die Wahrheit, und es war mir ein gewisser Trost, sie ihnen mitzuteilen, auch wenn sie weder den Grund dafür ahnen konnten noch sich etwas aus ihm gemacht hätten, wenn sie ihn gekannt hätten.

»Schon wieder diese Geheimniskrämerei«, sagte Dick. »Du willst also wirklich nicht mitkommen?«

»Nein, wirklich, ich bleibe lieber hier. Ich muss heute Abend noch arbeiten.«

»Hast du Mike mal wieder gesehen?« fragte Dick schnell. Unerklärlicherweise hatte er immer Angst, ich würde ihm im nächsten Moment einen Vortrag über elisabethanische Sonettfolgen halten.

»Seit Wochen schon nicht mehr«, antwortete ich. Alex, der bisher schweigend dagestanden und kleine Stückchen von dem Brot abgerissen hatte, das er unter dem Arm trug, schlug plötzlich vor:

»Warum gehen wir nicht alle zusammen etwas trinken?«

Ich war gut erzogen. Ohne auch nur nachzudenken, lud ich sie ein: »Warum trinken wir nicht hier?« Und da Dick, Lydia und Alex zu den Leuten gehörten, die meine finanziellen Mittel überschätzten, nahmen sie die Einladung ohne Umschweife an. Sowie ich sie ausgesprochen hatte, wurde mir klar, dass sie ohnehin schon ein Auge auf meine Ginflasche geworfen hatten: Wahrscheinlich waren sie mir sogar vom Geschäft an gefolgt. Ich goss allen ein Glas ein, und da ich keinen Grund dafür sah, mich selbst zurückzuhalten, nahm ich mir ebenfalls ein großes Glas. Dann setzten wir uns alle ins Wohnzimmer und redeten. Dick erzählte uns von einem Päckchen, das er am Nachmittag aufgeben wollte: Erst hätten die Leute auf der Post gesagt, es sei zu schwer, dann hätten sie etwas an dem Bindfaden auszusetzen gehabt, und schließlich hätten sie das Postamt einfach geschlossen, während er zu Hause den Bindfaden in Ordnung gebracht habe. Wir fragten ihn, was in dem Päckchen gewesen sei, und er sagte, ein paar Bauklötze für den Geburtstag seines Neffen. Dann erzählte uns Lydia, wie sie damals ihren ersten Roman an ihren ersten Verleger schicken wollte. Sie habe das Päckchen im Postamt über den Schalter gereicht und in ihrem vorgeblich unterwürfigen Mittelklasse-Tonfall gefragt: ›Kann ich das per Einschreiben schicken, bitte?‹ und felsenfest mit der Antwort ›Aber selbstverständlich, Ma’am‹ gerechnet. Doch der Mann habe ganz schlicht und einfach ›Nein‹ gesagt. Auch hier habe es sich um eine technische Frage von Siegellack und Bindfäden gehandelt, aber sie habe es als ein schlechtes Omen für den Inhalt des Päckchens angesehen und sich von dieser unerwarteten Zurückweisung so erschüttern lassen, dass sie es wieder mit nach Hause genommen habe und für drei Monate in einer Schublade habe verschwinden lassen. »Als ich es dann schließlich doch noch abschickte, war der Begleitbrief bereits drei Monate alt, als sie ihn endlich lasen, war er sechs Monate alt. Und nach drei Monaten rief ich an und sagte, sie hätten ihn schon sechs Monate gehabt – und sie glaubten mir. Versteht ihr, was ich meine?«

Wir verstanden es zwar nicht ganz, aber wir lachten und tranken noch mehr Gin und erzählten uns noch mehr Geschichten, diesmal über die literarischen Leistungen unserer verschiedenen Bekannten. Dies erwies sich als ein fruchtbares Thema, denn alle von uns hatten schriftstellerische Ambitionen, obwohl Lydia die Einzige war, die sich selbst als kreative Künstlerin bezeichnet hätte. Ich selbst war vollkommen unkreativ. Ich verbrachte mein Leben mit dem gründlichen, langweiligen Vergleich lyrischen Materials aus dem sechzehnten Jahrhundert – eine Aufgabe, die mich zwar fesseln konnte, im Allgemeinen aber als ziemlich nutzlos angesehen wurde. Es gab jedoch auch andere Bereiche, in denen man mir einen kritischen Geist nachsagte. So schrieb ich von Zeit zu Zeit ein paar Buchbesprechungen und las jede Menge Stücke, Gedichte, Romane und Briefe meiner Freunde. Dick zum Beispiel hatte mir einige seiner bisher unveröffentlichten – und meiner Meinung nach auch nicht veröffentlichbaren – Werke anvertraut, darunter einen Roman. Er war nicht ohne Charme und Talent geschrieben, aber völlig fehlerhaft, was die Handlung und – noch schlimmer – den Zeitplan anging. Ich mache mir eigentlich nicht besonders viel aus Handlungen, aber eine bestimmte Reihenfolge der Ereignisse ist mir schon wichtig. Seine Charaktere schienen allerdings überhaupt keinen Bezug zur Zeit zu haben: Es war unmöglich auszumachen, was welchem Ereignis vorausging und ob eine bestimmte Szene Stunden oder Tage dauerte, oder ob sie Stunden, Tage oder Jahre später stattfand als die vorausgegangene Szene oder vielleicht auch früher – man hatte nicht die geringste Ahnung. Als ich Dick darauf hinwies, reagierte er erschreckt und beunruhigt – weil er nicht verstand, was ich meinte –, was bedeutet, dass der Fehler grundsätzlicher und nicht etwa technischer Natur war. Er verdiente sich sein Geld mit Gelegenheitsarbeiten für eine Fernsehanstalt, ging aber nicht wirklich in seiner Arbeit auf. Alex andererseits war genauso engagiert wie ich: Er schrieb Anzeigentexte für eine Werbeagentur und war von seinem Job rundum begeistert. Tief in seinem Herzen war er eher ein ernsthafter, puritanischer junger Mann, und ich glaube, er zog großes Vergnügen daraus, in einer so lasterhaften Atmosphäre aus Witz und Betrügerei zu leben und sich an sie zu verkaufen. Er hatte ein gutes Gespür für Werbetexte und las ständig aus herumliegenden Zeitungen oder Zeitschriften seine Sprüche vor. Heimlich schrieb er Gedichte und veröffentlichte sogar einige davon. Lydia aber war die Einzige, die es wirklich geschafft hatte: Sie hatte bereits ein paar Romane veröffentlichen können. Seit einiger Zeit lief sie jedoch durch London und jammerte anderen die Ohren voll, dass sie nichts mehr zu sagen hätte. Keiner hatte Mitleid mit ihr – verständlicherweise: Sie war erst sechsundzwanzig, worüber sollte sie sich also Sorgen machen?

Im Moment suhlte sie sich geradezu in den Gräuelmärchen über die Bücher anderer Leute, von denen wir ihr freundlicherweise eine ganze Reihe anbieten konnten.

»Es taugt sowieso nichts, wenn man sie am laufenden Band auf den Markt wirft«, sagte Dick, nachdem er Joe Hurts letztes Buch höhnisch verrissen hatte. »Eins im Jahr. Das ist doch schon rein mechanisch.«

»Ein bisschen Mechanik könnte dir allerdings auch nicht schaden«, erwiderte ich fröhlich. Ich war schon bei meinem zweiten Glas Gin angelangt.

Lydia, die unseren hinterhältigen Trost bisher dankbar angenommen hatte, wandte sich plötzlich mit wehklagender Verzweiflung gegen uns.

»Ist mir egal, was ihr meint«, sagte sie. »Es ist immer noch besser, schlechte Bücher zu schreiben als gar keine, ehrlich. Nichts zu schreiben – das ist nichts, schlicht und einfach nichts. Es ist wunderbar, ein Buch pro Jahr zu schreiben. Ich finde Joe Hurt wunderbar, ich bewundere ihn, ich bewundere so etwas.«

»Du hast es doch gar nicht gelesen«, sagte Dick.

»Darum geht es nicht«, erwiderte Lydia, »er hat sich bemüht, das ist es doch.«

»Warum schreibst du dann kein schlechtes Buch?« fragte ich. »Ich wette, du könntest ein schlechtes Buch schreiben, wenn du wolltest, oder nicht?«

»Nicht, wenn ich beim Schreiben schon wüsste, dass es schlecht ist, das könnte ich nicht. Ich würde es nicht fertigbringen.«

»Was für ein romantisches Bild literarischen Schaffens«, sagte Dick.

»Ach, was weißt du!« versetzte Lydia ärgerlich.

»Veröffentliche erst einmal deine Bücher, dann kannst du mich romantisch nennen. Gib mal den Gin rüber, Rosie. Bist ein Schatz.«

»Wie auch immer«, warf Alex ein, der in der Zwischenzeit den halben Brotlaib verzehrt hatte, »wenn ihr mich fragt, hat Joe Hurt genau gewusst, wie schlecht sein Buch war, als er es schrieb. Jede einzelne Seite stinkt förmlich nach bewusster Schlamperei. Findest du nicht, Rosie?«

»Ich habe es nicht gelesen«, antwortete ich. »Aber du weißt doch, was Joe immer sagt: ›Bisher hat noch niemand unter fünfunddreißig ein Meisterwerk geschrieben, also habe ich noch sechs Jahre Zeit.‹«

»Gehst du noch mit ihm aus, Rosie?«

»Wir sehen uns. Und nenn mich nicht Rosie, wer hat dich bloß auf diese Idee gebracht?«

»Lydia. Sie hat dich gerade Rosie genannt.«

»Sie macht andere gern klein. Sie fühlt sich dann selbst besser, nicht wahr, Lyd?«

Darüber lachten wir alle, und als ich nach dem Gin griff, bemerkte ich voller Schrecken, dass die Flasche bereits zur Hälfte leer war – mehr als zur Hälfte. Plötzlich drängte sich mir die Erinnerung an das auf, was ich nie ganz vergessen hatte. Ich sah auf die Uhr und fragte, ob es nicht Zeit für ihren Fellini-Film sei. Es war nicht gerade einfach, sie wieder loszuwerden. Sie hatten sich in den tiefen, alten Sesseln meiner Eltern so richtig bequem festgeschwatzt, wie Tiere, die von der Wärme der Zentralheizung angezogen worden waren. Sie winkten nur ab und meinten, sie würden lieber hierbleiben und weiterplaudern. Ich hatte es fast gehofft und wäre selbst auch wieder in meinem Sessel versunken, hätte wie immer nur das Naheliegende gesehen und den bequemen Weg gewählt, wenn Alex nicht plötzlich ein Gedanke gekommen wäre. Ich wusste gleich, was es war, als ich ihn sich aufsetzen und ängstlich besorgt um sich schauen sah: Er dachte, ihre Kommentare über Hurt hätten mich verletzt – was ja auch hätte sein können, in Wirklichkeit jedoch nicht der Fall war. Als sich diese Möglichkeit auf seinem Gesicht widerspiegelte, wusste ich sofort, dass sie gehen würden. Und genau das taten sie auch – gewissenhaft, wenn es sich um persönliche Beziehungen handelte, und genauso gewissenlos, wenn es um eine Flasche Gin ging. Ich hielt sie noch fünf Minuten plaudernd auf der Schwelle fest und schaute ängstlich von einem zum anderen: von dem hübschen, ringellockigen Dick zu Alex mit seinem scharfgeschnittenen Gesicht und seinen krummen, knochigen Schultern; von ihm zu der blassen, übel gelaunten, nägelkauenden, augenzuckenden, schönen Lydia Reynolds in ihrem schmutzigen Aquascutum-Regenmantel. Ich fragte mich, ob ich wohl einen von ihnen bitten könnte, bei mir zu bleiben und mein Martyrium mit mir zu teilen. Später kam mir in den Sinn, dass sie meine Bitte sicherlich mit Freuden erfüllt hätten, und zwar alle drei: Die Aussicht auf einen so bewegenden, anrüchigen, neuen Schreibstoff versprechenden Abend hätte sie begeistert. Doch damals waren meine Gedanken von der Not verwirrt, ich sah es nicht in diesem Licht und ließ sie ohne mich zu ihrem Fellini-Film gehen.

Als sie gegangen waren, schlenderte ich ins Wohnzimmer zurück, setzte mich auf den Kaminvorleger und überprüfte noch einmal den Inhalt meiner Ginflasche. Es war nicht mehr viel übrig. Nicht genug, dachte ich. Nicht genug, hoffte ich. Ich fühlte mich bereits recht merkwürdig, in meinem Kopf drehte sich alles; ich fühlte mich leicht, doch unnatürlich angeheitert. Alkohol macht mich immer fröhlich. Fast hätte ich mein ganzes Vorhaben aufgegeben, wäre stattdessen ins Bett gegangen oder hätte mir Eier mit Schinken gemacht oder Radio gehört. Aber ich wusste, dass ich es durchstehen musste, nachdem ich es mir einmal vorgenommen hatte – egal, was dabei herauskommen würde. Es würde unangenehm sein, und ich dürfte mich selbst deswegen nicht schonen. Also nahm ich die Flasche und trug sie ins Schlafzimmer hinüber, wo ich mich auszog und meinen Morgenmantel überstreifte. Auf dem Weg ins Badezimmer stolperte ich über die Schnur des Staubsaugers, der die ganze Woche über im Flur gestanden hatte, und griff bei meinem ersten Versuch, die Klinke der Badezimmertür zu fassen, ins Leere. Mir fiel ein, dass ich seit dem Mittag nichts mehr gegessen hatte. Aber erst als ich versuchte, das Wasser einzulassen, dämmerte mir mein wahrer Zustand. Das Wasser im Badezimmer wurde von einem Gasboiler erhitzt. Die Wanne ließ sich nur mit ausreichend heißem Wasser füllen, wenn man den Wasserstrahl sorgfältig regulierte; zwischen der Stärke des Wasserstrahls und der Menge des austretenden Gases bestand nämlich eine enge Wechselbeziehung: Floss zu viel Wasser aus dem Hahn, wurde das Wasser lauwarm, war es zu wenig Wasser, stellte sich das Gas gänzlich aus, und das Badewasser blieb eiskalt. Schon unter besten Bedingungen war es schwierig, Wasser und Gas genau zu regulieren, aber an jenem Abend wollte es überhaupt nicht klappen. Ich saß auf dem Badezimmerhocker, ließ das Wasser laufen, prüfte die Temperatur mit einem Finger und probierte es von neuem. Schließlich glaubte ich, die richtige Temperatur gefunden zu haben, also drückte ich den Stöpsel ein, und während ich wartete, dass die Wanne voll wurde, trank ich den Rest der Flasche aus – pur. Unverdünnt schmeckte der Gin so furchtbar, dass ich das Trinken selbst als einen Akt der Buße für mein unmoralisches Verhalten empfand. Der Alkohol zeigte unmittelbar Wirkung: Ich wurde auf der Stelle so betrunken, dass ich fast mit dem Morgenmantel in die Wanne fiel. Es gelang mir jedoch, wieder auf die Füße zu kommen und den Mantel auf den Boden gleiten zu lassen. Dann stieg ich ins Wasser.

Ich stieg sofort wieder heraus, denn das Wasser war eisig kalt. Der Strahl war mir wohl zu schwach geraten, und abgesehen von der Zündflamme hatte sich das Gas völlig abgeschaltet. Zitternd stand ich da und starrte niedergeschlagen auf den Heißwasserhahn. Vielleicht hat dieser Kälteschock auf meinen Organismus die gleiche Wirkung wie Hitze, dachte ich. Meine unnatürliche Fröhlichkeit steigerte sich noch, als mir die ganze Absurdität der Situation bewusst wurde. Irgendwie gelang es mir, zurück in meinen Morgenmantel zu kriechen und durch den Flur ins Schlafzimmer zu wanken, wo ich sofort aufs Bett fiel. Mir war so schlecht, dass ich noch einmal aufstand und beschloss, etwas zu gehen. Also lief ich den Flur auf und ab, durch alle Zimmer und wieder zurück, weiter und immer weiter, wobei ich ständig gegen die Wände stieß. Währenddessen dachte ich daran, wie es wohl wäre, ein Baby zu haben. Im Zustand totaler Trunkenheit kam mir der Gedanke gar nicht so schlecht vor, so unpraktisch und unmöglich es auch immer sein mochte. Meine Schwester hatte Kinder, sehr nette Kinder sogar, und schien sie zu mögen. Meine Freundinnen hatten Kinder. Es gab keinen Grund, warum ich nicht auch eines haben sollte. Das würde mir nur recht geschehen, dachte ich, warum musste ich auch als Frau auf die Welt kommen? Schließlich konnte ich nicht so tun, als wenn ich keine Frau sei, oder? Sosehr ich auch Tag für Tag versuchte, dieser Tatsache aus dem Weg zu gehen. Warum sollte ich nicht genauso büßen wie all die anderen auch? Ich versuchte, verbittert darüber zu sein, wie sonst, wenn ich nüchtern war – und in letzter Zeit hatten sich in die Bitterkeit sogar Selbstmordgedanken gefügt –, aber ich schaffte es nicht: Der Gin ließ mich froh und hartnäckig unverzweifelt sein. Ich dachte daran, George anzurufen und ihm alles zu erzählen. Damals schien es noch möglich. Ich hatte seine Telefonnummer nicht, sonst hätte ich vielleicht sogar angerufen. Und da wurde ich schon wieder von einer Enthaltung in die Falle gelockt, denn nachdem ich einmal der Versuchung widerstanden hatte, gab es keinen Grund mehr, ihr später nachzugeben – keinen Grund mehr dafür, warum ich jemals einen Punkt erreichen sollte, an dem ich mein eigenes Schweigen nicht mehr länger ertragen konnte. Hätte ich mich damals nur selbst besser gekannt, hätte ich seine Nummer herausbekommen und es ihm erzählt, gleich an Ort und Stelle. Aber ich tat es nicht. Und vielleicht war es auch besser so. Besser für ihn, meine ich.

 

Ich habe niemandem erzählt, dass George der Vater meines Kindes ist. Die Leute wären sehr erstaunt gewesen, denn er hatte mein Leben so beiläufig gestreift, dass kaum jemand wusste, dass ich ihn überhaupt kannte. Sie hätten mich bestimmt gefragt, ob ich mir auch sicher wäre. Ich war mir sicher, denn ich hatte einen untrüglichen Beweis für Georges Vaterschaft: Er war der einzige Mann, mit dem ich jemals geschlafen hatte – und das auch nur einmal. Die Sache war von Anfang bis Ende vom Zufall bestimmt gewesen, und was mich in all diesen schmerzlichen Monaten tatsächlich am schmerzlichsten empörte, war ebendiese absolute Unwahrscheinlichkeit des Ganzen. Schließlich war ich nicht im Geringsten darauf aus gewesen – ich hatte es genauso viel oder wenig gewollt wie alle anderen, die es je erwischt hat. Man liest immer diese beruhigenden Geschichten von Frauen, die jahrelang nicht schwanger werden, aber es gibt natürlich auch die anderen Geschichten, die ich immer ignorieren wollte wegen ihres unüberhörbar verbitterten Untertons von Strafe und Vergeltung, ihrer Assoziation mit scharlachroten Buchstaben1 und ihrer Detailbeflissenheit bei der Aufdeckung der schmählichen Tat, die an Auge-um-Auge und Bunyan erinnerte. Heutzutage neigt man eher dazu, diese Geschichten als Ausgeburten unterdrückter Fantasien abzutun. Es ist außerordentlich schwer, jemanden davon zu überzeugen, dass es überhaupt möglich ist, beim allerersten Mal schwanger zu werden – obwohl es ja merkwürdig wäre, wenn es nicht so sein könnte. Wie auch immer: Ich weiß, dass es möglich ist, weil es mir selbst passiert ist – wie in der besten Moralpredigt für junge Mädchen beschworen. Und leider gab es genug Kräfte in mir, die nur allzu bereit waren, darin eine Bestrafung zu sehen.

Eigenartigerweise betrachtete ich es nie als Strafe für jenen einen Abend mit George, sondern für all die anderen Abende der Enthaltung mit Hamish und seinen Nachfolgern. Ich war eines Verbrechens schuldig. Aber es war ein ganz neues Verbrechen, eins unseres Jahrhunderts, und nicht das alte, traditionelle Verbrechen von Gier und Leidenschaft. Mein Verbrechen war das Misstrauen, die Furcht, die panische Angst vor Sex. Ich mochte Männer und war seit Jahren immer entweder gerade verliebt oder nicht mehr verliebt gewesen. Aber der Gedanke an Sex ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Je länger ich mich enthielt, und je mehr ich darüber hörte und las, dass ich mich nicht enthalten sollte, desto ängstlicher wurde ich. Es muss die körperliche Sache selbst gewesen sein, die mir so viel Angst bereitete, denn gegen ihre sozialen Auswirkungen hatte ich eigentlich keine Bedenken. Mein Name in Registern zwielichtiger Hotels oder als Gesprächsstoff auf nächtlichen Partys – davor fürchtete ich mich nicht, auch nicht vor den gefühlsmäßigen Erschütterungen, die sie begleiten sollten. Es war der Akt selbst, den ich mir weder vorstellen noch selbst vollziehen konnte. Bis zu einem bestimmten Punkt konnte ich gehen – und nicht weiter. Ich habe versucht, alle möglichen Gründe für meine seltsame Eigenheit zu finden – die übergesunde, geschäftsmäßige Atmosphäre in meiner Familie, meine Isolation als Kind (aufgrund intellektueller Überlegenheit), mein selbstsüchtiger, selbstschützender Hass gegen Bevormundung –, aber keiner dieser eingebildeten Gründe konnte erklären, warum sich meine keusche Abneigung so unwahrscheinlich hartnäckig hielt. Natürlich machte mich das sehr unglücklich, genauso unglücklich, wie es die Mädchen auf der letzten Seite der Frauenmagazine gemacht hätte, denn wie sie genoss ich es, verliebt zu sein und auf der Türschwelle geküsst zu werden, und wie sie hasste ich die Einsamkeit. Dazu kam, dass ich mein eigenes Verhalten noch nicht einmal gutheißen konnte; als Kind meiner Zeit wusste ich, wie irregeführt und töricht ich war. Der scharlachrote Buchstabe auf meiner Brust war bald für jedermann sichtbar, aber das E stand für Enthaltung, nicht für Ehebruch. Am Ende glaubte ich, dass die Strafe nichts anderem als meinem langen Zaudern und Zögern galt. Wäre ich mit achtzehn voll überschäumender Leidenschaft einfach gedankenlos hineingeschlittert wie andere Mädchen, wäre ich wohl glimpflicher davongekommen. Im Herzen Viktorianerin, musste ich nun die viktorianische Strafe erleiden.

Glücklicherweise erlitt ich ihren beschämenderen Teil heimlich. Niemand hat je erfahren, wie verkorkst mein Sexualleben war, und niemand – nicht einmal die Männer, die ich hinters Licht führte – hätten geglaubt, dass ich immer noch Jungfrau war. Abgesehen von Hamish natürlich: Er war der Erste und wusste es genau. Doch selbst Hamish muss angenommen haben, dass ich später doch dazu kam – genau wie er. (Er ist inzwischen verheiratet und hat zwei Kinder.) Ich brauchte jedoch nicht lange, um zu erkennen, dass ich nicht alles haben konnte; wenn ich bei meiner Enthaltung bleiben wollte, würde ich etwas anderes dafür opfern müssen. Es dauerte etwas länger, bis ich herausgefunden hatte, was ich von anderen am meisten brauchte, und erst nach einigen traurigen Erfahrungen kam ich zu dem Schluss, dass es etwas gab, auf das ich keinesfalls verzichten konnte, und zwar Gesellschaft. Nach vielen Versuchen und Fehlschlägen gelang es mir schließlich, ein hervorragendes System aufzubauen, das – wie ich fand – Fairness gegenüber anderen mit dem größtmöglichen Nutzen für mich selbst verband.

Mein System funktionierte ungefähr ein Jahr lang, und solange es funktionierte, war es sehr befriedigend. Noch jetzt kommt mir diese Zeit vor wie eine weit entfernte, romantische Idylle. Ihr Geheimnis war Folgendes: Ich ging mit zwei Männern gleichzeitig aus, mit Joe Hurt und Roger Anderson. Joe dachte, ich würde mit Roger schlafen, und Roger dachte, ich schliefe mit Joe. Auf diese Weise gelang es mir, von beiden genau so viel Aufmerksamkeit zu erhalten, wie ich ertragen konnte – gelegentliches Händchenhalten im Kino zum Beispiel –, ohne mich ihrem ritterlichen, sexuellen Eifer aussetzen zu müssen, der sie – hätten sie die Wahrheit gekannt – schon um der Ehre willen dazu getrieben hätte, mich zu verführen und in die wahren Freuden des Lebens einzuweihen. Offensichtlich hatte keiner von ihnen besonders großes Interesse an mir, sonst hätten sie sich mit diesem Arrangement gar nicht erst zufrieden gegeben. Alles, was ich zu opfern hatte, war also Interesse und Liebe. Auf diese Dinge konnte ich gut verzichten.

Sowohl Joe als auch Roger schliefen mit anderen Mädchen, nehme ich an. Von Joe sagte man, dass er bereits irgendwo eine Frau habe. Roger aber hat wahrscheinlich, wenn ich es mir recht überlege, eher seine sexuellen von seinen sozialen Interessen getrennt. Roger war in mancher Hinsicht ein ziemlich scheußlicher junger Mann. Er verkörperte alles, was meine Eltern mich zu verachten und zu verurteilen gelehrt hatten. Er war ein reicher Tory, ein Buchhalter aus guter Familie, und ganz der Typ, der eindeutig eine Karriere vor sich hatte, die er allerdings eher seiner Persönlichkeit als seinen Fähigkeiten verdanken konnte. Er hatte viele Angewohnheiten, die meine Eltern als ›vulgär‹ bezeichnet hätten, die es aber eigentlich nicht waren, es sei denn, man hätte das Wort umgedeutet. In der Öffentlichkeit sprach er zum Beispiel sehr laut, er war unhöflich zu Kellnern, die ihn warten ließen, oder zu Leuten, die ihm erzählen wollten, wie er sein Auto zu parken hatte. Er war nicht unintelligent und hatte die – zweifellos mit seinem Beruf zusammenhängende – Fähigkeit, die wichtigsten Punkte eines Buches oder eines Theaterstückes herauszufiltern, ohne es ganz durchzulesen oder genau zuzuhören. Die Schroffheit seiner Urteile gefiel mir, denn sie war nicht von Unwissenheit, sondern von Ungeduld und Unbefangenheit geprägt. Er mochte mich, glaube ich, weil ich gute Manieren hatte, gesprächig und ein praktisches Mitbringsel war, am meisten jedoch deshalb, weil ich aus einem verwegenen, zwielichtigen literarischen Milieu stammte; das entsprach seinem Wunsch, die Welt gründlich kennenzulernen. Er wiederum sprach natürlich genau den gleichen Wunsch in mir an; es faszinierte mich, dass es solche Leute gab. Ihm gefiel die Vorstellung, dass ich mit Joe Hurt schlief, denn das verlieh mir in seinen Augen einen besonders verwegenen Status. Er hatte ein glattes Gesicht und trug hübsche Anzüge, dieser Roger. Sein Gesicht war wie das eines Kindes, rein und gepflegt, warm durch eine kühle, innere Wärme.

Joe wiederum gefiel merkwürdigerweise die Vorstellung, dass ich mit Roger schlief, obwohl er Roger nicht ausstehen konnte und ihn mir gegenüber häufig mit wortgewandten, brutalen Schmähreden bedachte. Joe war ganz das Gegenteil von Roger, allein schon, was die Beschaffenheit seiner Haut anging: Wo Roger glatt war, war Joe so schrecklich zerfurcht, vernarbt und verfallen, als hätte er die Pocken gehabt. Joe sah fürchterlich aus; er war 1,85 m groß und hatte einen schleppenden Gang – sicherlich ursprünglich Produkt seiner Minderwertigkeitskomplexe, jetzt jedoch ein Zeichen seiner geradezu unverschämten Launenhaftigkeit. Er war auf abstoßende Weise attraktiv: Auf den ersten Blick hielt man ihn für den hässlichsten Mann, den man je gesehen hatte, aber im Handumdrehen ertappte man sich dann bei einer fast schmerzlichen Bewunderung all der Ecken und Kanten seiner außergewöhnlichen Schönheit. Als Junge war er zweifellos mit einer durch nichts gemilderten, erdrückenden Hässlichkeit geschlagen gewesen, und er hatte sich aus jener Epoche einige aggressive Verteidigungsstrategien bewahrt. Zu der Zeit aber, als ich ihn kennenlernte, musste er sich seiner magnetischen Anziehungskraft schon seit Jahren bewusst gewesen sein. So genoss er seine persönlichen Erfolge mit trotzigem Vergnügen. Nach den langen Jahren der Benachteiligung war sein jetziger Vorteil nicht wie der Rogers eine Art Geburtsrecht, ein gegebener Ausgangspunkt, sondern eine Herausforderung, der es gerecht zu werden galt. Er war mit einer Amerikanerin verheiratet, die er auf irgendeiner Universität aufgegabelt haben sollte, als er für ein paar Jahre drüben war, aber niemand hatte sie je gesehen. Er schrieb Romane. Seit seiner Rückkehr nach England hatte er alle Versuche, eine akademische Karriere einzuschlagen, aufgegeben und beschäftigte sich jetzt nebenbei mit Filmen, filmischen Bearbeitungen und so weiter, während er noch immer einen Roman pro Jahr veröffentlichte. Seine Bücher waren fesselnd geschrieben, aber ich sah ihn immer am Rande einer künstlerischen Klippe entlang taumeln: Er hatte das Talent, sehr gut zu schreiben, und behauptete, dass er es eines Tages auch wirklich tun würde; doch je tüchtiger und lesbarer er wurde, desto mehr spotteten seine Freunde und sahen und sagten sein Scheitern voraus. Ich wusste nicht, was ich eigentlich von der Sache halten sollte; seine Schwächen und Stärken schienen eng miteinander verbunden zu sein. Er war natürlicherweise fruchtbar, wie ich natürlicherweise (oder unnatürlicherweise?) keusch war. Jedenfalls nahm er mich ernst, wenn ich (nicht ernst gemeinte) Bemerkungen machte, wie zum Beispiel: »Tja, Henry James jedenfalls war sehr schöpferisch«, oder: »Shakespeare hat mehr Stücke geschrieben als jeder seiner Zeitgenossen.« Seine Wünsche müssen also recht bombastisch gewesen sein. Es war fast rührend, wie man ihn für all seine Erfolge trösten musste. Er und Roger kannten sich offenbar nicht näher; sie hatten ein paar gemeinsame Bekannte – mich zum Beispiel – und trafen sich gelegentlich bei gesellschaftlichen Zusammenkünften anspruchsloserer Art. Einer vermutete beim anderen eine gewisse Weltlichkeit, die er selbst nicht besaß, und so verachteten und verehrten sie sich gleichermaßen. Dabei hatten sie beide recht. Ich glaube, Joe war in vieler Hinsicht derjenige, mit dem ich mich besser verstand. Wir hatten gemeinsame Interessen und genossen unsere Streitgespräche über Bücher, Filme, Leute und Ideen. Wie Roger fand er es praktisch, mehrere Eisen im Feuer zu haben, und ich stimmte da ganz mit ihnen überein. Es war ein hervorragendes System.

Es lag an George, dass das ganze zerbrechliche, unnatürliche System in sich zusammenbrach – an dem lieben, hübschen, liebenswürdigen, weiblichen, bescheidenen George. Selbst jetzt, wo es längst viel zu spät ist, erlaube ich mir, wenn ich an George denke, noch ein wenig Zärtlichkeit.