Multiple Sklerose -  - E-Book

Multiple Sklerose E-Book

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Beschreibung

Multiple Sklerose: häufig beginnt sie mit auffallender Müdigkeit und Kraftlosigkeit oder auch Sehstörungen und Unsicherheiten im Gang. Oft treten die Symptome sehr plötzlich auf. Die Diagnose kommt unerwartet und stellt das Leben auf den Kopf. Dieser Ratgeber hilft mit einer chronisch entzündlichen Erkrankung des Nervensystems umzugehen und das Leben mit ihr aktiv zu gestalten. Manche Betroffene empfinden sie als unaufhaltsame, schwere Behinderung. Doch das muss nicht sein. Denn obwohl die Krankheit bis heute nicht heilbar ist, kann ihr Verlauf positiv beeinflusst werden. Was getan werden kann, um die Krankheit zu verstehen, welche Möglichkeiten es gibt, Symptome zu behandeln und wie ein Leben mit der Krankheit möglich ist, das behandeln Prof. Dr. med. Thomas Henze und sein fachärztliches Autoren-Team in der aktuellen Auflage ihres bewährten Ratgebers. Was kann bei einem akuten Schub getan werden? Welche Therapien eignen sich? Wie viel Sport ist förderlich und wie verhält es sich mit der Familienplanung? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, findet sie in diesem Buch. Leicht verständlich, umfassend und aktuell.

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MULTIPLE SKLEROSE

VERSTEHEN • SYMPTOME BEHANDELN • MIT DER KRANKHEIT LEBEN

Prof. Dr. med. Thomas Henze (Herausgeber)

Herausgeber

Prof. Dr. med. Thomas Henze

Neurologische Praxis Dr. Blersch

Günzstraße 1, 93059 Regensburg

Ko-Autoren

Dr. med. Holger Albrecht

Praxis für Neurologie

Truderinger Straße 337, 81825 München

Dr. med. Birgit Basedow-Rajsich

Marianne-Strauß-Klinik

Milchberg 21, 82335 Berg

Prof. Dr. med. Christian Dettmers

Kliniken Schmieder Konstanz

Eichhornstraße 68, 78464 Konstanz

Dr. med. Wolfgang Feneberg

Marianne-Strauß-Klinik

Milchberg 21, 82335 Berg

Prof. Dr. med Peter Flachenecker

Neurologisches Rehabilitationszentrum Quellenhof

Kuranlagenallee 2, 75323 Bad Wildbad

Prof. Dr. med. Jutta Gärtner

Klinik für Kinder- und Jugendmedizin

Universitätsmedizin Göttingen

Robert-Koch-Straße 40, 37075 Göttingen

Prof. Dr. med. Michael Haupts

Augustahospital Anholt

Augustastraße 8, 46419 Isselburg-Anholt

Prof. Dr. med. Christoph Heesen

Institut für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistraße 52, 20246 Hamburg

Prof. Dr. med. Kerstin Hellwig

St. Josef-Hospital

Klinikum der Ruhr-Universität Bochum

Neurologische Klinik

Gudrunstraße 56, 44791 Bochum

Prof. Dr. med. Ingo Kleiter

Marianne-Strauß-Klinik

Milchberg 21, 82335 Berg

Dipl. Psychologe Herbert König

Theaterstraße 14, 97070 Würzburg

Prof. Dr. med. Sylvia Kotterba

Klinik für Geriatrie

Klinikum Leer

Augustenstraße 35–37, 26789 Leer

Prof. Dr. med. Ralf Linker

Neurologische Universitätsklinik im Bezirksklinikum Regensburg

Universitätsstraße 84, 93053 Regensburg

Dipl. Psychologe Heike Meissner

Neurologisches Rehabilitationszentrum Quellenhof

Kuranlagenallee 2, 75323 Bad Wildbad

Dr. med. David Olmes

Neurologische Universitätsklinik im Bezirksklinikum Regensburg

Universitätsstraße 84, 93053 Regensburg

Dr. med. Walter Pöllmann

Marianne-Strauß-Klinik

Milchberg 21, 82335 Berg

Dr. phil Anne Christin Rahn

Kopf- und Neurozentrum

Klinik und Poliklinik für Neurologie

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistraße 52, 20246 Hamburg

Dr. rer. nat. Stina Schiller

Klinik für Kinder- und Jugendmedizin

Universitätsmedizin Göttingen

Robert-Koch-Straße 40, 37075 Göttingen

Prof. Dr. med. Roger Schmidt

Klinik für Psychosomatik und Konsiliarpsychiatrie, Department Innere Medizin, St. Gallen/Schweiz und Lurija-Institut Universität Konstanz

Prof. Dr. med. Dietmar Seidel

Gelderse Weg 23, 46399 Bocholt

Dr. med. Michaela Starck

Marianne-Strauß-Klinik

Milchberg 21, 82335 Berg

PD Dr. med. Andreas Steinbrecher

Helios-Klinikum Erfurt

Neurologische Klinik

Nordhäuser 74, 99089 Erfurt

Dr. phil. Alexander Tallner

Department Sportwissenschaft und Sport

Lehrstuhl für Sportwissenschaft

Schwerpunkt Bewegung und Gesundheit

Gebbertstraße 123b, 91058 Erlangen

Dr. med. Sandra Thiel

St. Josef-Hospital

Klinikum der Ruhr-Universität Bochum

Neurologische Klinik

Gudrunstraße 56, 44791 Bochum

Prof. Dr. med. Raymond Voltz

Zentrum für Palliativmedizin

Universitätsklinik Köln, 50924 Köln

INHALT

Herausgeber und Autoren

Geleitwort

Vorwort

KAPITEL 1

Einführung und Grundlagen(Thomas Henze)

KAPITEL 2

Spastik und eingeschränkte Mobilität(Thomas Henze)

KAPITEL 3

Ataktische Bewegungsstörungen und Tremor (Holger Albrecht)

KAPITEL 4

Fatigue(Peter Flachenecker)

KAPITEL 5

Kognitive Störungen(Herbert König und Peter Flachenecker)

KAPITEL 6

Depression(Heike Meißner und Peter Flachenecker)

KAPITEL 7

Neuropsychiatrische Störungen(Michael Haupts)

KAPITEL 8

Schmerzen und Sensibilitätsstörungen(Walter Pöllmann und Wolfgang Feneberg)

KAPITEL 9

Paroxysmale Symptome(Andreas Steinbrecher)

KAPITEL 10

Blasenfunktionsstörungen(Wolfgang Feneberg)

KAPITEL 11

Störungen der Darmtätigkeit(Wolfgang Feneberg)

KAPITEL 12

Störungen der Sexualität(Dietmar Seidel)

KAPITEL 13

Seh- und Augenbewegungsstörungen(Michaela Starck)

KAPITEL 14

Sprechstörungen(Holger Albrecht)

KAPITEL 15

Schluckstörungen(Holger Albrecht)

KAPITEL 16

Epileptische Anfälle(Thomas Henze)

KAPITEL 17

Schlafstörungen und Restless-Legs-Syndrom(Sylvia Kotterba)

KAPITEL 18

Körperliche Aktivität und Sport(Alexander Tallner und Michael Haupts, unter Mitwirkung von Jens Kirstein)

KAPITEL 19

Rehabilitation bei MS(Christian Dettmers und Thomas Henze)

KAPITEL 20

Krankheitsbewältigung und Achtsamkeit bei MS(Roger Schmidt)

KAPITEL 21

Selbstmanagement und Patientenautonomie in der MS-Therapie(Christoph Heesen und Anne Christin Rahn)

KAPITEL 22

Schwangerschaft und Stillen(Kerstin Hellwig und Sandra Thiel)

KAPITEL 23

MS in Kindheit und Jugend(Jutta Gärtner und Stina Schiller)

KAPITEL 24

Risikofaktoren der MS(Ingo Kleiter)

KAPITEL 25

Darm, Ernährung und Diäten(Ralf Linker und David Olmes)

KAPITEL 26

Palliativmedizinische Betreuung – nicht nur am Lebensende(Raymond Voltz, Birgit Basedow-Rajwich und Walter Pöllmann)

ANHANG

Wichtige Adressen

Stichwortverzeichnis

Impressum

Geleitwort

Multiple Sklerose (MS) ist noch immer die häufigste entzündliche neurologische Erkrankung, die zu bleibenden Einschränkungen im jungen Erwachsenenalter führen kann und nach wie vor nicht heilbar ist. Der ungewisse Verlauf und die individuell sehr verschieden auftretenden Symptome machen diese Erkrankung für die Menschen, die die Diagnose erhalten, unberechenbar. Die zahlreichen Symptome der Multiplen Sklerose können den Tagesablauf, die sozialen Aktivitäten, das Berufsleben und die Lebensqualität MS-Erkrankter ganz erheblich beeinträchtigen. Zum Unberechenbaren gehört aber auch, dass die Erkrankung über viele Jahre gutartig verlaufen kann und der an Multipler Sklerose erkrankte Mensch die Symptome kaum bemerkt oder nur einige wenige an sich feststellen muss. 1993 gab es mit den Interferonen die ersten der heute verfügbaren immunmodulatorischen Therapien. Inzwischen hat sich das Spektrum der von der Europäischen Medizinagentur (EMA) zugelassenen krankheitsmodifizierenden Therapien deutlich vergrößert.

Menschen, die an Multipler Sklerose erkrankt sind, nehmen ihre Erkrankung über die für sie spürbaren Krankheitszeichen wahr. Darauf baut dieser Patientenratgeber auf, der die wichtigsten Krankheitszeichen verständlich erklärt. Es wird erläutert, wie die Fehlfunktionen entstehen und wie sie sich auf den Menschen und sein Leben auswirken können. Zu jedem Krankheitszeichen wird dargestellt, was vonseiten der Medizin, durch Psychotherapie oder rehabilitative Therapien oder durch den an MS erkrankten Menschen selbst getan werden kann. Viele Symptome können nicht oder nicht vollständig durch gezielte Behandlung zum Verschwinden gebracht werden, da die Ursache der Funktionsstörungen ebenfalls noch nicht gestoppt werden kann. Aber viele der Symptome können so behandelt werden, dass der an MS erkrankte Mensch mit ihnen leben und sich die Lebensqualität entscheidend verbessern kann.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen wichtigen Hinweis, wenn Ihnen erst vor kurzer Zeit die Diagnose MS mitgeteilt worden ist: Lesen Sie nicht das ganze Buch auf einmal von vorne bis hinten durch. Sie könnten aber zum Beispiel nach der „Einführung und Grundlagen“ mit den Kapiteln „Krankheitsbewältigung und Achtsamkeit“ oder dem Kapitel „Selbstmanagement und Patientenautonomie in der MS-Therapie“ beginnen. Empfehlenswert wären für Sie auch aus meiner Sicht die Abschnitte über „Ernährung und Darm“ oder „Sport und physische Aktivität“, weil Sie sich damit auseinandersetzen können, was Sie selbst tun können und was Ihnen eventuell in dieser Situation guttut. Zu den Symptombeiträgen sollten Sie als selbst an MS erkrankter Mensch nur greifen, wenn ein Krankheitszeichen bereits bei Ihnen aufgetreten ist. Machen Sie sich nicht verrückt! Dieser Ratgeber möchte möglichst vollständig alles erklären, was durch die Krankheit auftreten kann. Aber vieles muss bei Ihnen gar nicht erst vorkommen.

Nutzen Sie das Buch als Nachschlagewerk, d. h., schlagen Sie nach dem Gespräch mit Ihrem Arzt oder einem Therapeuten nochmals die Kapitel auf, um sich vertiefend damit zu beschäftigen. Sie können, wenn Sie mit Ihren Behandlern bereits über Symptome gesprochen haben, dann auch vor dem nächsten Termin vorbereitend lesen, um Ihre Fragen besser und gezielter stellen zu können.

Dem vorliegenden Buch aus der Feder vieler namhafter Ärzte und Wissenschaftler, die im Bereich der MS tätig sind, das gegenüber der dritten Auflage um einige bedeutsame Kapitel erweitert und insgesamt aktualisiert worden ist, wünsche ich eine zahlreiche Leserschaft.

Herbert Temmes

Geschäftsführer der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), Bundesverband e.V.

Vorwort

Prof. Dr. med. Thomas Henze

Die Multiple Sklerose oder MS gehört mit etwa 250.000 Betroffenen in Deutschland zu den häufigsten chronischen Erkrankungen des Zentralen Nervensystems im jungen Erwachsenenalter. Ihre Ursachen sind auch heute nur zum Teil geklärt.

„Multiple Sklerose“ bedeutete lange Zeit ein nicht aufhaltbares Leiden, das schon junge Menschen in den Rollstuhl zwang und sie rasch von fremder Hilfe und Unterstützung abhängig machte. Diese mittlerweile überholte Einschätzung ist leider immer noch weit verbreitet. Die Realität sieht mittlerweile aber ganz anders aus. Die MS ist nämlich immer besser und wirksamer zu behandeln: Für die Betroffenen gibt es mittlerweile sehr viele Therapien, die den Krankheitsverlauf aufhalten, die vielfältigen Symptome verringern und im täglichen Leben wirksame Hilfen bieten.

Vor allem um diese Symptome und deren Behandlung geht es in diesem Ratgeber. Und dies umso mehr, als aus den regelmäßig erhobenen Daten des Deutschen MS-Registers immer wieder klar wird, dass viele MS-Patienten an ihnen leiden, aber nur eine Minderheit diesbezüglich gezielt behandelt wird (https://www.msregister.de).

In seiner mittlerweile 4. Auflage haben wir alle Kapitel gründlich überarbeitet und die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse eingefügt. In einigen neuen Kapiteln wollen wir Ihnen aber auch aktuelle Erkenntnisse zu weiteren wichtigen Themen geben. Hierzu gehören (1) die Krankheitsbewältigung, (2) Schwangerschaft und Stillen, (3) die MS bei Kindern und Jugendlichen, (4) mögliche Risikofaktoren für oder (5) die Ernährung bei MS.

In diesem Buch finden Sie damit als Betroffene oder Angehörige umfangreiche und aktuelle Informationen zu vielen Aspekten der MS und die durch sie berührten Lebensbereiche. Von immer größerer Bedeutung sind aber auch die stetig zunehmenden Immuntherapien. Diese ebenfalls ausführlich zu besprechen, hätte den Buchumfang jedoch gesprengt. Zu den Immuntherapien können Sie sich aber umfassend auf der Homepage der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (www.dmsg.de) und derjenigen des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS, www.kknms.de) informieren. Dort finden Sie alle notwendigen und regelmäßig aktualisierten Informationen zu Immuntherapien.

Die Autorinnen und Autoren dieses Buches sind sämtlich ausgewiesene Fachleute und seit vielen Jahren in der Betreuung von MS-Betroffenen engagiert: in neurologischen Praxen, in Krankenhäusern und Universitätskliniken sowie Reha-Kliniken. Die meisten von ihnen haben schon an den vorherigen Auflagen mitgearbeitet. Lediglich Prof. Kristoferitsch, der früher die Kapitel „Sprechstörungen“ und „Schluckstörungen“ geschrieben hatte, hat sich mittlerweile aus Altersgründen zurückgezogen. In dieser neuen Auflage hat daher Herr Dr. Albrecht dankenswerterweise die Überarbeitung dieser beiden Kapitel übernommen.

Dieses Buch ist ebenso wie die gerade erwähnten Internetadressen allerdings kein Ersatz für Nachfragen bei oder Gespräche mit Ihrem Arzt über Ihre jeweils beste Behandlung. Nutzen Sie es aber durchaus zur gezielten Vorbereitung.

Wir, Herausgeber, Autoren und Verlag, wünschen Ihnen viel Gewinn beim Lesen!

Prof. Dr. med. Thomas Henze

KAPITEL 1

Einführung und Grundlagen(Thomas Henze)

Zuallererst

Auch wenn die Diagnose einer Multiplen Sklerose (MS) bei vielen Betroffenen zunächst große Angst und Unsicherheit auslöst: In den vergangenen 10 Jahren haben sich die Behandlungsmöglichkeiten der MS ganz erheblich verbessert, sodass sie heute zumeist leichter als früher verläuft und viele Betroffene keine oder nur geringe Abstriche an ihrer Lebensplanung vornehmen müssen. Dieses Buch soll Ihnen also Mut machen! Sie werden sehen, dass viele Symptome einer MS, unter denen vielleicht auch Sie leiden, wirksam behandelt werden können. Und die Zahl möglicher Behandlungen nimmt stetig zu. Auch in denjenigen Kapiteln, in denen nicht auf einzelne Symptome, sondern auf spezielle Lebenssituationen und alltägliche Aktivitäten und Herausforderungen eingegangen wird, werden zahlreiche neue Erkenntnisse beschrieben, die das Leben mit dieser Erkrankung einfacher machen können. Hierzu gehören Schwangerschaft und Stillen, MS bei Kindern und Jugendlichen, Ernährung, Risikofaktoren, Krankheitsbewältigung, Selbstmanagement und Patientenautonomie sowie Sport. Auch wenn die MS weiterhin nicht heilbar ist, können doch ihre Auswirkungen auf Sie, auf Familie, Freunde und Beruf oft erheblich verringert werden, sodass sich auch ihre Lebensqualität wieder spürbar verbessert.

Diese Behandlungen erfordern allerdings Ihre Mitarbeit und Ihre Motivation. Daher sollten Sie möglichst viel über diese Erkrankung wissen und sich regelmäßig informieren. Hierzu will dieses Buch beitragen. Das Wissen über die MS wächst beständig und mit großer Geschwindigkeit. Fragen Sie daher immer wieder Ihren Arzt und erkundigen Sie sich bei Selbsthilfegruppen (Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft/DMSG, www.dmsg.de).

In diesem ersten Teil unseres Buches werden wir Ihnen zunächst einige allgemeine Informationen über die MS geben, die zum besseren Verständnis der folgenden Kapitel notwendig sind.

Was bedeutet „Multiple Sklerose“?

Die MS ist bekanntlich eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, also des Gehirns und des Rückenmarks, während die Nerven in den Armen und Beinen sowie im Rumpf (das periphere Nervensystem) nicht betroffen sind. Im Zentralen Nervensystem entwickeln sich entzündliche Herde, die wiederum unterschiedliche Symptome zur Folge haben. Da es sich zumeist um mehrere („multiple“) Herde handelt, die nach einiger Zeit eine harte („sklerotische“) Konsistenz aufweisen, wird die Erkrankung „Multiple Sklerose“ genannt.

Nahezu jeder Bereich des Gehirns und des Rückenmarks steuert bestimmte Körperfunktionen, z. B. die Bewegungsfähigkeit, das Sehen, Hören, Fühlen (auch von Schmerzen), das Riechen, das Sprechen, das Schluckvermögen, die geregelte Entleerung der Blase und des Darms, die sexuellen Funktionen; ebenso aber auch die kognitiven Leistungen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentration, Planen, abstrahierendes Denken, Reaktionen auf Reize. Diese Aufzählung ist aber bei Weitem nicht vollständig.

Abb. [1] Zentrales (blau) und peripheres (grün) Nervensystem.

Je nachdem, wo sich die Entzündungen („Herde“) entwickeln, treten also entsprechende Symptome auf. So führt ein entzündlicher Herd im Sehnerv bzw. die Entzündung eines Sehnervs („Optikusneuritis“) zu einer verringerten Sehkraft und oft auch zu Schmerzen bei Bewegungen des betroffenen Auges.

Ein weiteres Beispiel: Entsteht eine akute Entzündung im unteren Rückenmark, sind die Folgen zumeist eine Muskelschwäche und eine Gefühlsstörung (z. B. Taubheit) eines oder beider Beine sowie eine Störung der Blasenfunktion.

Diese Symptome müssen natürlich behandelt werden, dies ist Aufgabe der symptomatischen Therapie. Ebenso aber muss auch die akute Entzündung selbst beendet werden, dies erfolgt mit der Schubtherapie. Um künftigen Entzündungen und Schüben vorzubeugen, ist außerdem eine Immuntherapie erforderlich.

In diesem Buch werden die Therapie der Symptome und einige wichtige Lebenssituationen im Vordergrund stehen. Zuvor wollen wir Sie aber kurz über einige grundlegende Aspekte der MS informieren:

Wie entsteht die MS und wie entstehen ihre Symptome?

Was ist ein Schub?

Wann beginnt die MS und wie verläuft sie?

Welches sind die Symptome der MS?

Wie wird MS diagnostiziert?

Wie wird MS behandelt?

Wie entsteht die Multiple Sklerose und wie entstehen ihre Symptome?

Leider ist die Entstehung der MS noch immer nicht endgültig geklärt. Es ist jedoch unbestritten, dass das Immunsystem eine wesentliche Rolle spielt. Seine Aufgabe ist es bekanntlich, den menschlichen Organismus vor Krankheitserregern zu schützen. Wenn also Bakterien oder Viren in den Körper eingedrungen sind, wird unser Immunsystem sie unschädlich machen. Das Immunsystem erkennt diese Krankheitserreger nämlich als „fremd“, als nicht zum eigenen Körper gehörend. Zum Immunsystem gehören – neben den Lymphknoten, der Milz, Teilen des Knochenmarks und anderen Organen – vor allem die vielfältigen Arten weißer Blutkörperchen (Leukozyten) und andere Blutzellen sowie einige Botenstoffe, die die Verbindung zwischen diesen immunologisch aktiven Zellen und anderen Organen herstellen bzw. aufrechterhalten.

Bei der MS nun richten sich einige Immunzellen gegen die Hüllsubstanz unserer Nerven, die Markscheiden (oder: Myelin), die wiederum für die ungestörte und rasche Weiterleitung elektrischer Impulse im Nervensystem unabdingbar sind. Dies beschreibt der Fachbegriff Demyelinisierung (siehe Abb. 2). Fehlen diese Markscheiden an einzelnen Stellen im Gehirn oder im Rückenmark, können hier keine geordneten elektrischen Impulse weitergeleitet werden. In dem eingangs erwähnten Beispiel der Sehnerventzündung attackiert unser Immunsystem die Markscheiden des Sehnervs. Folge ist eine verschlechterte Leitung elektrischer Impulse, sodass die Sehfähigkeit abnimmt.

Warum das Immunsystem aber plötzlich „verrücktspielt“ und sich gegen Teile des eigenen Körpers richtet, ist bislang nicht vollständig geklärt.

Für das Auftreten der Symptome und den Verlauf einer MS spielt neben der Entmarkung aber noch ein weiterer Vorgang eine wichtige Rolle, die axonale Degeneration. Hiermit ist gemeint, dass im Verlauf einer MS nicht nur die Markscheiden der Nerven geschädigt werden, sondern auch die Nervenfasern (die Axone) selbst „degenerieren“, d. h. dünner und kürzer werden und dann sogar absterben können (siehe auch Abb. 2).

Mittlerweile weiß man, dass die axonale Degeneration schon früh im Verlauf einer MS einsetzt, aber erst später zunehmende Bedeutung bekommt. Sie ist wahrscheinlich für einen großen Teil der in späteren MS-Stadien langsam zunehmenden Symptome verantwortlich. Die Mechanismen der axonalen Degeneration sind bislang ebenfalls nicht vollständig geklärt.

Was ist ein Schub?

Als Schub wird das Auftreten eines oder mehrerer neuer neurologischer Symptome innerhalb kurzer Zeit angesehen, die sich nicht rasch wieder zurückbilden, sondern mindestens 24 Stunden bestehen bleiben oder in den folgenden Tagen noch weiter zunehmen. Häufige Auslöser sind Infekte, ausgeprägte seelische oder körperliche Belastungen (Stress) oder Operationen. Sie können aber auch ohne Anlass auftreten. Gelegentlich kommen auch kurze Verschlechterungen bestehender Symptome vor, z. B. nach starker körperlicher Anstrengung, bei großer Hitze oder Fieber (Uhthoff-Phänomen). Sie werden dann aber nicht als MS-Schub eingestuft.

Abb. [3] Entzündungsherd – Demyelinisierung – Symptomentstehung.

Wann beginnt die MS und wie verläuft sie?

Die Zahl der Menschen mit MS in Deutschland wird derzeit auf mindestens 250.000 geschätzt, weltweit geht man von deutlich mehr als 2 Millionen Betroffenen aus. Am häufigsten beginnt die Erkrankung im frühen Erwachsenenalter, also zwischen dem 20. und 35. Lebensjahr. Aber auch Kinder können an MS erkranken, ebenso wie Menschen in höherem Lebensalter (> 50 Jahre). Frauen sind etwa 2,5-mal so häufig wie Männer betroffen.

Nur selten verläuft die MS ausschließlich in Schüben. Dann ist eine komplette wie auch eine unvollständige Rückbildung der aktuell entstandenen Symptome möglich (schubförmiger Verlauf, Abb. 4a + b). In der überwiegenden Zahl der Fälle treten zunächst Schübe auf; langsam entwickelt sich danach jedoch ein Stadium, in dem die Symptome langsam fortschreiten bzw. schleichend neue Symptome hinzukommen (sekundär chronisch progredient, Abb. 4e + f). Auch in diesem Stadium können noch Schübe auftreten. Lediglich 10 bis 15 % aller MS-Erkrankungen gelten als von Anfang an (primär) chronisch progredient, d. h. sie verlaufen ohne Schübe (primär chronisch progredient, Abb. 4c + d). Bei diesem Verlaufstyp liegt das Alter der Betroffenen bei Erkrankungsbeginn höher und Frauen sind nicht häufiger betroffen als Männer.

Abb. [4] Verschiedene Verlaufsformen der MS.4a: schubförmiger Verlauf ohne Restsymptome;4b: schubförmiger Verlauf mit Restsymptomen;4c + d: primär chronisch progrediente Verläufe;4e + f: sekundär chronisch progrediente Verläufe;4g + h: chronisch progrediente Verläufe mit Schüben.

Wie bereits erwähnt, wird die langsame und stetige Zunahme einzelner Krankheitssymptome in den späteren Krankheitsstadien großenteils der fortschreitenden Nervendegeneration zugeschrieben. Dann vor allem gewinnt die Behandlung dieser Symptome zunehmende Bedeutung, zumal bislang leider keine Medikamente bekannt sind, die die Degeneration selbst wirksam aufhalten könnten.

Welches sind die Symptome der MS?

Entzündliche Veränderungen können praktisch überall in Gehirn und Rückenmark entstehen. Dementsprechend vielfältig sind auch die Symptome der MS (s. Tab. 1) und deshalb wird sie auch als die Erkrankung mit den 1000 Gesichtern bezeichnet. Wie Sie vielleicht selbst schon erlebt haben, schränken ihre Symptome oft die täglichen Aktivitäten, die Mobilität und viele Fähigkeiten erheblich ein, die man für den Alltag benötigt. Das wiederum belastet und beeinträchtigt das Leben in der Familie, in der Partnerschaft und im Freundeskreis. Auch die berufliche Leistungsfähigkeit kann eingeschränkt sein, nicht selten ist die Berufsausübung nicht mehr möglich. Kurz: Lebensqualität und Lebensumstände sind oft erheblich betroffen. Umso wichtiger ist daher die konsequente Behandlung dieser Symptome.

Im Krankheitsverlauf entwickeln sich die Symptome zumeist in unterschiedlicher Kombination, unterschiedlicher Ausprägung und nicht vorhersehbarer zeitlicher Abfolge. Es gibt kein typisches Erstsymptom. Vielmehr kann sich die Erkrankung erstmals sowohl mit einer – häufigen – Optikusneuritis (der schon erwähnten Sehnerventzündung), aber auch mit Blasenfunktionsstörungen, einem Gesichtsschmerz (Trigeminusneuralgie), kurz dauernden Störungen des Sprechens, Muskelschwäche, Gefühlsstörungen, Blasenentleerungsstörungen u. a. zeigen.

Einzelne Symptome bilden sich im weiteren Verlauf spontan zurück, sind nur während eines umschriebenen Krankheitsabschnitts vorhanden oder nehmen mit zunehmender Krankheitsdauer ebenfalls zu. Letzteres gilt insbesondere für Symptome wie Spastik, Muskelschwäche, Störungen der Feinmotorik oder der Blasenfunktion.

Einige Symptome werden erst seit kurzer Zeit intensiver beachtet, nachdem ihr Zusammenhang mit der MS deutlich wurde. Hierzu gehören vor allem die chronische Müdigkeit, die verschiedenen Formen von Schmerzen bei MS und die kognitiven Funktionsstörungen, d. h. Einschränkungen der Gedächtnis-, Aufmerksamkeits-, Konzentrationsleistungen und zahlreicher anderer sogenannter „höherer“ Hirnfunktionen. In Tabelle 1 sind zahlreiche MS-Symptome zusammengestellt, sie erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Insbesondere Spastik und Muskelschwäche, Schmerzen, Müdigkeit, Blasen- und Darmfunktionsstörungen, Ataxie und kognitive Funktionsstörungen sind häufig und können die Lebensqualität von Menschen mit MS erheblich einschränken.

TABELLE 1. ZUSAMMENSTELLUNG MÖGLICHER SYMPTOME DER MS.

Störungen der Motorik

Muskelschwäche, Spastik, Probleme beim Stehen, Gehen, Sitzen, Störungen der Feinmotorik und der Koordination, Zittern (Tremor), Bewegungsstörungen

Störungen der Hirnnerven

Eingeschränkte Sehkraft, Doppelbilder durch Schwäche einzelner Augenmuskeln bzw. aufgrund von Bewegungsstörungen von Augenmuskeln

kurz dauernde, sich aber wiederholende Gesichtsschmerzen

Gesichtslähmung, Schwindel, Augenzittern (Nystagmus), Schwerhörigkeit, eingeschränktes Riechvermögen, Sprechstörungen, Schluckstörungen

Störungen des vegetativen Nervensystems

Blasen- und Darmfunktionsstörungen

sexuelle Funktionsstörungen

Kreislaufstörungen, Herzrhythmusstörungen, erniedrigte Körpertemperatur, Störungen des Schwitzens

Kognition, psychiatrische Symptome, Hirnwerkzeugstörungen

Störungen der gezielten oder der geteilten Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, der Konzentration, des Planens und Entscheidens u. a.

Depression, Halluzinationen, Manie

Sprachstörungen, Lesestörungen, Einschränkungen des Gesichtsfeldes u. a.

Schmerzen

primäre Schmerzen: bei Sehnerventzündung, entzündlichen Herden im Hirnstamm oder Halsmark.

sekundäre Schmerzen: z. B. Gelenk- oder Muskelschmerzen bei Fehlhaltungen, Spastik, Wundliegen, Blasenentzündung, Darmträgheit, Osteoporose, u. a.

Schmerzen durch schlecht angepasste Hilfsmittel

Schmerzen im Rahmen der medikamentösen Therapie

Weitere

Müdigkeitssyndrom („Fatigue“), Schlafstörungen, epileptische Anfälle

Die Beeinträchtigungen durch die MS, d. h. die Ausprägung der Symptome mit ihren Folgen, werden üblicherweise durch eine vor Jahrzehnten von dem amerikanischen Neurologen J. F. Kurtzke veröffentlichte Skala festgestellt, die Expanded Disability Status Scale oder EDSS. Sie reicht von 0 (keine Symptome) bis 10 (Tod durch MS) und beurteilt insbesondere die Mobilität bzw. Gehfähigkeit, weniger andere Symptome wie Störungen der Hirnnerven, der sensiblen Nerven, des Sehens, der Blase oder der kognitiven Fähigkeiten. Schmerzen und Fatigue und einige andere Symptome fehlen gänzlich. Eine bessere Skala konnte bislang aber nicht entwickelt werden.

Wie wird die MS diagnostiziert?

Bislang gibt es keinen einzigen Test, der die Diagnose einer MS rasch und eindeutig sichern kann. Vielmehr benötigt der Neurologe zahlreiche Befunde, um eine MS sicher feststellen zu können. Die „Verdachtsdiagnose“ liegt dann nahe, wenn sich Symptome entwickeln, die auf eine Störung im zentralen Nervensystem, also in Gehirn oder Rückenmark, zurückzuführen sind. Dies kann die schon erwähnte Sehnervenentzündung sein. Aber auch Gefühlsstörungen in den Armen oder Beinen, eine Muskelschwäche, die zunehmende Ungeschicklichkeit einer Hand, eine Störung der Blasenentleerung und viele mehr kommen vor (s. Tab. 1).

Abb. [5 a–f] Typische Kernspintomogramme: periventrikuläre Herde (Abb. 5a), Herde im Bereich des Balkens (Abb. 5b), infratentoriell (Abb. 5c) sowie spinal (Abb. 5d); nach Kontrastmittelgabe (Abb. 5e), alte Herde („black holes“ (Abb. 5f).

Diese Symptome stellt der Neurologe bei einer sorgfältigen körperlichen Untersuchung fest. Vermutet er danach eine MS, wird er weitere Untersuchungen veranlassen. Hierzu gehören die Kernspintomographie, die Liquoruntersuchung (Lumbal-punktion) und die Messung der evozierten Potenziale. Auch müssen zahlreiche andere Erkrankungen, die zu ähnlichen Krankheitsbildern bzw. Symptomen führen können, durch eine ergänzende Blutuntersuchung ausgeschlossen werden.

Die Ergebnisse dieser Untersuchungen gehen in ein diagnostisches Schema ein, die sog. McDonald-Kriterien, die im Abstand weniger Jahre immer wieder überarbeitet werden, zuletzt Ende 2017. Mit diesem Schema kann eindeutig festgelegt werden, ob bei Ihnen eine MS vorliegt oder nicht.

Kernspintomographie

Die heutzutage wohl wichtigste technische Untersuchungsmethode ist dabei die Kernspintomographie oder MRT (= Magnetresonanztomographie, Abb. 6). Mit dem MRT kann man Entzündungsherde, eine Verminderung von Hirn- und/oder Rückenmarkgewebe, ggf. auch weitere Veränderungen erkennen (Abb. 5). Für die Diagnose einer MS ist vor allem von Bedeutung, wie viele dieser Herde nachweisbar sind und wo sie liegen. Wichtig ist auch die Information, ob es sich bei diesen Herden um frische, d. h. neue Veränderungen handelt oder ob sie eventuell schon längere Zeit bestehen. Um dies zu klären, wird im Verlauf der MRT Kontrastmittel in eine Vene gespritzt. Herde, die durch dieses Kontrastmittel deutlich „aufleuchten“, sind zumeist neu, also 4 – 6 Wochen alt (Abb. 5e).

Abb. [6] Kernspintomographie-Gerät

Abb. [7] Technik der Lumbalpunktion

Die Kernspintomographie kommt ohne Röntgenstrahlen aus und kann daher häufiger eingesetzt werden. Menschen, die einen Herzschrittmacher oder andere elektronische Systeme im Körper tragen, dürfen allerdings ebenso wie schwangere Frauen mit dieser Methode nicht untersucht werden.

Liquor

Der wichtigste Befund, der auf eine MS hindeutet, ist der Nachweis oligoklonaler IgG-Banden im Liquor. Hierbei handelt es sich um spezielle Antikörper, die bei der MS nur im Liquor, nicht jedoch im Blut (genauer: im Serum) nachweisbar sind. Es wird daher bei jeder Lumbalpunktion auch eine Blutprobe aus einer Armvene entnommen. Die oligoklonalen IgG-Banden werden bei bis zu 98 % aller MS-Betroffenen nachgewiesen.

Blutuntersuchungen

Zusätzlich zur Liquordiagnostik sind einige Blutuntersuchungen erforderlich, um weitere Erkrankungen des Gehirns oder des Rückenmarks, z. B. eine andere Autoimmunkrankheit mit Beteiligung von Hirn und/oder Rückenmark, eine Neuroborreliose oder eine Neurosyphilis, auszuschließen.

Evozierte Potenziale

Eine gute Ergänzung der Diagnose einer MS sind die evozierten Potenziale. Hierbei handelt es sich um Untersuchungen, bei denen ein Sinnesorgan, z. B. ein Auge, mit einem festgelegten Reiz stimuliert wird. Dabei wird die Zeit gemessen, in der dieser Reiz über den Sehnerv in die Sehrinde im Gehirn geleitet wird. Bei einer Entmarkung des Sehnervs, z. B. nach einer Sehnerventzündung, ist die Weiterleitung von Sehreizen deutlich verzögert. Dies kann mit den visuell evozierten Potenzialen gemessen werden (Abb. 8). Mit weiteren Untersuchungen lassen sich auch Entmarkungsherde in den sensorischen sowie den motorischen Bahnen feststellen.

Abb. [8] Ableitung der VEP.

Diese Untersuchungen sind praktisch schmerzlos und können im Verlauf der Erkrankung ebenfalls wiederholt werden. Komplikationen oder Nebenwirkungen sind nicht zu erwarten.

Eindeutige Diagnose

Entsprechend den schon genannten McDonald-Kriterien kann die Diagnose einer MS dann gestellt werden, wenn – nach einem ersten Krankheitsschub – ein zweiter Schub auftritt oder die Symptome länger als 6 Monate andauern. Diese Symptome müssen durch eine Entzündung in Hirn und/oder Rückenmark verursacht sein. Die Diagnose ist auch dann möglich, wenn beim erstmaligen Auftreten eines Symptoms entsprechende MRT-Befunde bestehen und bei einer weiteren MRT nach etwa 3 Monaten eine weitere Läsion, auch ohne neues Symptom, sichtbar ist.

Damit kann die Diagnose heute rasch gestellt werden. Dies ist für die Betroffenen einerseits zwar oft hart, ermöglicht andererseits aber auch den frühen Beginn einer Immuntherapie (siehe unten).

Zu erwähnen ist noch, dass in jüngerer Zeit einige Erkrankungen genauer definiert wurden, die der MS ähnlich sind, aber andere diagnostische Befunde, oft auch andere Symptome und einen anderen Verlauf aufweisen und z. T. auch anders behandelt werden. Hierzu gehören z. B. die Neuromyelitis optica und die MOG-Antikörper-Enzephalomyelitis. Diese Erkrankungen wird Ihr Neurologe aber in seine diagnostischen Überlegungen einbeziehen.

Wie wird die MS behandelt?

Es war ja schon davon die Rede, dass die MS einerseits auf fehlerhaften Abläufen in unserem Immunsystem beruht, die zu Entzündungen in Hirn und Rückenmark führen. Die Symptome der MS hängen andererseits von der genauen Lokalisation der Entzündungen ab. Die Behandlung der MS besteht daher aus mehreren sich ergänzenden Bausteinen (Abb. 9). Tritt ein neues Symptom im Rahmen eines Schubes auf, erfolgt möglichst rasch eine Schubtherapie (s. unten). Die eigentliche Immuntherapie hat zum Ziel, neue Entzündungsherde und Schübe möglichst zu verhindern (Immuntherapie), während die Auswirkungen einzelner MS-Symptome mithilfe der symptomatischen Therapie verringert werden sollen.

Abb. [9] Die verschiedenen Bestandteile der MS-Therapie

Therapie des MS-Schubes

Die Behandlung eines MS-Schubes erfolgt mit intravenös verabreichten Kortikosteroiden („Kortison-Infusionen“) in hoher Dosis über 3 – 5 Tage (jeweils 500 oder 1000 mg Methylprednisolon täglich). Auch eine hoch dosierte Therapie mit Tabletten ist möglich. Unter dieser Therapie bilden sich die neu aufgetretenen Symptome meist bald zurück. Ist die Wirkung der Infusionen jedoch nur mäßig und führt das neue Symptom zu einer deutlichen Beeinträchtigung, kann die Therapie mit einer noch höheren Dosis – ebenfalls über 3 bis 5 Tage – wiederholt werden (jeweils 2000 mg täglich). Auch die Behandlung mit einem Blutwäsche-Verfahren (Plasmapherese, Immunadsorption) kann dann erwogen werden, jedoch nur in enger Kooperation mit einem MS-Zentrum. Sehr leichte Schübe dagegen müssen nicht unbedingt behandelt werden.

Die in früheren Jahren oft durchgeführte Therapie eines MS-Schubes mit niedrig dosierten Kortison-Tabletten ist ebenso wie eine Dauertherapie mit Kortison abzulehnen, da eine ausreichende Wirksamkeit nicht erwiesen ist und – bei der Dauertherapie – langfristig zahlreiche Nebenwirkungen und Komplikationen auftreten können.

Immuntherapie

Wie bereits erwähnt, soll mit der Immuntherapie das Immunsystem mit dem Ziel beeinflusst werden, die Zahl neuer entzündlicher Herde und weiterer Schübe zu verringern und damit neue Symptome zu verhindern. Aktuell stehen hierfür 13 verschiedene Medikamente zur Verfügung (Tab. 2), weitere sind in der Entwicklung. Sie sind ganz überwiegend zur Behandlung der schubförmigen MS zugelassen.

Seit Kurzem steht jedoch mit Ocrelizumab (Ocrevus®) auch ein Medikament zur Behandlung der primär progredienten MS zur Verfügung. Mit der Zulassung seit 2020 ist mit Siponimod (Mayzent®) ein neues Arzneimittel zur Behandlung der sekundär progredienten MS zugelassen. Davor waren für diese Verlaufsform nur einige Beta-Interferone sowie Mitoxantron zugelassen. Letzteres wird heute auf Grund seiner potenziellen Nebenwirkungen allenfalls als Reservemedikament eingesetzt und ist daher in Tab. 2 nicht erwähnt.

Die Medikamente zur Immuntherapie müssen regelmäßig und längerfristig genommen werden. Sie können die Zahl neuer Entzündungen und Schübe zumeist deutlich und über längere Zeiträume verringern, diese aber nicht ganz verhindern. Auch ist eine Heilung der MS durch diese Medikamente weiterhin nicht möglich, bei konsequenter Therapie aber bei vielen Betroffenen eine deutliche Verbesserung des langfristigen Krankheitsverlaufs. Zu einer konsequenten Behandlung gehören regelmäßige körperliche Untersuchungen und Bluttests beim Neurologen, ebenso regelmäßige MRT-Untersuchungen. Deren Häufigkeit richtet sich nach dem individuellen Verlauf der MS und den Untersuchungsbefunden.

Bei der schubförmigen MS wird heute eine milde/mäßig aktive Verlaufsform einerseits und eine aktive/hochaktive Verlaufsform andererseits unterschieden. Für die erstere stehen die langjährig bewährten Beta-Interferone und Glatiramer sowie Dimethylfumarat (Tecfidera®) und Terifluomid (Aubagio®) zur Verfügung. Für die aktive/hochaktive Form sind es Fingolimod (Gilenya®), Cladribin (Mavenclad®), Natalizumab (Tysabri®), Ocrelizumab (Ocrevus®) und Alemtuzumab (Lemtrada®). In der folgenden Tabelle 2 finden Sie hierzu eine kurze Zusammenstellung. Die genauen Details wird Ihr Neurologe mit Ihnen besprechen. Weitere wissenschaftlich gesicherte Informationen können Sie in den Patientenhandbüchern des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS, http://www.kompetenznetze-medizin.de/Netzwerke/NeurologischeErkrankungen/MultipleSklerose.aspx) nachlesen. Jede dieser Therapien sollte von erfahrenen Neurologen durchgeführt werden.

Regelmäßig werden weitere Medikamente entwickelt, sodass es ratsam ist, sich bei Ihrem behandelnden Neurologen oder bei Selbsthilfegruppen (z. B. www.dmsg.de) hierüber zu informieren.

Erwähnt seien hier auch die Stammzelltransplantationen, über die immer wieder – vor allem in Sensationsmeldungen – berichtet wird. Diese Therapie kommt am ehesten bei sehr schwerem Krankheitsverlauf in Betracht. Sie ist jedoch bislang wissenschaftlich in Bezug auf ihre Indikationen und die Art der Durchführung bei Weitem nicht gesichert und birgt vor allem bei Anwendung durch wenig erfahrene Ärzte sehr große Risiken. Sie sollte daher ausnahmslos im Rahmen wissenschaftlicher Studien und nur in Zusammenarbeit mit MS-Zentren erfolgen!

Therapie der Symptome

Die Behandlung der vielfältigen Symptome ist ein weiterer wesentlicher Bestandteil der MS-Therapie. Sie soll Beeinträchtigungen im Alltag, im sozialen Leben, in Freizeit und Beruf verhindern. Kurz: Sie als Betroffene sollen in der Lage sein, Ihr gewohntes Leben zu leben. Ihre Lebensplanung und Ihre Lebensqualität sollen möglichst unverändert bleiben.

Um die einzelnen Symptome der MS zu behandeln, stehen zahlreiche Therapien zur Verfügung: Medikamente, Physiotherapie (Krankengymnastik), Ergotherapie, Sprachtherapie, Neuropsychologie sowie die Rehabilitation. Auch regelmäßige körperliche Aktivität und Sport spielen eine große Rolle, da hierdurch nicht nur Ihre Lebensqualität, sondern auch einzelne Symptome gebessert werden können. Diesen Behandlungsmöglichkeiten sind die meisten Kapitel dieses Buches gewidmet. Einzelheiten der hier genannten Therapien wurden zuletzt in einer umfassenden Behandlungsleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zusammengestellt und veröffentlicht (https://www.dgn.org/images/red_leitlinien/LL_2012/pdf/030–050l_S2e_Multiple_Sklerose_Diagnostik_Therapie_2014–08_verlaengert.pdf).

Komplementärmedizin

Viele von MS betroffene Menschen wenden sich immer wieder auch der Komplementärmedizin (früher: Alternativmedizin) zu. Hierzu gehören spezielle Diäten, die Homöopathie, die Traditionelle Chinesische Medizin, die indische Ayurveda-Medizin, Entspannungsmethoden, die Bachblütentherapie und viele andere. Die Kosten für diese Behandlungen müssen ganz überwiegend von den Betroffenen selbst getragen werden, da ihre Wirkung wissenschaftlich zumeist nicht belegt ist und sie daher von den meisten Krankenkassen nicht übernommen werden. Neben einigen möglicherweise wirksamen bzw. zumindest nicht schädigenden Methoden werden allerdings auch immer wieder Behandlungen angeboten, die direkt schädlich sein können oder sehr teuer sind. Sie können die in diesem Buch vorgestellten „schulmedizinischen“ Behandlungen nicht ersetzen, haben ggf. aber einen unterstützenden Stellenwert. Dies sollten Sie jedoch mit Ihrem Neurologen zuvor besprechen.

Behandlungskonzept bei Multipler Sklerose

Ergänzend zu Immuntherapie, Schubbehandlung und symptomatischer Therapie beinhaltet eine umfassende Betreuung von Menschen mit MS auch sozialrechtliche, berufliche und Maßnahmen der Pflege (s. Tab. 3).

TABELLE 3: UMFASSENDES THERAPIEKONZEPT DER MS.

Behandlungsart

Was soll erreicht werden?

Womit?

Immuntherapie

Verhinderung neuer Entzündungen und Schübe

Medikamente, s. Tab. 2

Behandlung einzelner Schübe

Rückbildung schubbedingter Symptome

Kortikosteroide; Plasmapherese oder Immunadsorption („Blutwäsche“)

Symptomatische Therapie

Behandlung einzelner Symptome,

Verbesserung funktioneller Fähigkeiten, Verhinderung späterer Komplikationen

Medikamente; Physio-, Ergo-, Sprachtherapie etc., Versorgung mit Hilfsmitteln

Rehabilitation

intensive Behandlung ausgeprägter

Symptome oder von Symptomkombinationen,

Verbesserung funktioneller Fähigkeiten,

Verhinderung späterer Komplikationen

ambulant oder stationär

multimodale hochfrequente funktionelle Therapie

zusätzlich medikamentöse Therapie

Versorgung mit Hilfsmitteln

Sport und körperliche Aktivität

Verbesserung der Lebensqualität,

Behandlung einzelner Symptome

„Eigenregie“

Sozial-medizinische Maßnahmen

Erschließung und Sicherung finanzieller Ansprüche,

berufliche Rehabilitation,

soziale Hilfen: ambulante, teilstationäre und stationäre Angebote, betreutes Wohnen, Wohnungsanpassung,

Psychosoziale Beratung, Erholungsmaßnahmen

Zusammenarbeit mit sozialen Leistungsträgern (Krankenkassen, Rentenversicherungsträger, Arbeitsamt), Familie, Hausarzt, Arbeitgeber

Klärung der häuslichen und beruflichen Situation

Beratung bei sozialrechtlichen Ansprüchen

Pflege und palliative Therapie

Unterstützung und Entlastung von Betroffenen und Angehörigen, insbesondere bei stark erhöhtem Pflegebedarf,

Erleichterung bei ausgeprägten Beschwerden und Bettlägerigkeit

unterstützende/aktivierende Pflege, Beratung von Angehörigen

Schmerztherapie

psychologische, soziale und geistliche Betreuung

Betreuung der Angehörigen

Die hier genannten Teilbereiche ergänzen sich gegenseitig. Viele Personen und Institutionen sind beteiligt, die eng zusammenarbeiten sollten: Neurologe, Hausarzt, Klinik mit Spezialambulanz, Pflegekräfte, Physio- und andere Therapeuten, Selbsthilfegruppen, Kostenträger (Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung) und gegebenenfalls der Betriebsarzt.

Literatur

Patientenhandbücher des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS). http://www.kompetenznetze-medizin.de/Netzwerke/NeurologischeErkrankungen/MultipleSklerose.aspx; aufgerufen am 8.12.2019

KAPITEL 2

Spastik und eingeschränkte Mobilität(Thomas Henze)

Was bedeutet „Spastik“, was bedeutet „eingeschränkte Mobilität“?

Mit „Spastik“ ist eine erhöhte Muskelspannung gemeint. Meist sind mehrere Muskeln eines Armes oder Beines oder auch einer Körperhälfte betroffen. Die Spastik wird umso stärker, je schneller z. B. ein Bein passiv bewegt wird oder Sie es aktiv bewegen. Häufig ist mit der Spastik auch eine verringerte Kraftentwicklung der betroffenen Muskeln verbunden (Muskelschwäche, Lähmung, Parese). Sie können sich sicher vorstellen, dass hierdurch vor allem Ihre Mobilität und Ihre feinmotorischen Fähigkeiten eingeschränkt werden.

Abb. [10] Pyramidenbahn – Verlauf

Spastik und Muskelschwäche sind Folge einer Schädigung der sogenannten Pyramidenbahnen, die vom Gehirn zum Rückenmark ziehen, dort weitergeschaltet werden und in ihrem weiteren Verlauf zu ihrem eigentlichen Ziel, den vielen Willkürmuskeln der Arme und Beine, aber auch des Rumpfes gelangen (Abb. 10).

Neben der erhöhten Muskelspannung und der verringerten Muskelkraft ist zumeist die motorische Geschicklichkeit eingeschränkt. Außerdem sind die Reflexe (genauer: die Muskeleigenreflexe) oft sehr lebhaft. Ist die Spastik ausgeprägt, kann sich vor allem bei Aufregung, aber auch bei Fieber, Schmerzen oder Erschöpfung ein Klonus entwickeln, ein unwillkürliches Zucken eines Armes oder Beines, das oft nur durch entspannendes Umlagern beendet wird. Gelegentlich kommt es zum Taschenmesserphänomen, bei dem bei passiver Dehnung eines Beines die Muskelspannung plötzlich nachgibt und man den Halt verlieren kann und hinstürzt. Schließlich ist die Spastik nicht selten auch mit heftigen Schmerzen verbunden, die im Tagesverlauf wechseln und sehr heftig und quälend in ein Bein oder einen Arm „einschießen“ können. Einige dieser Symptome können sich auf Ihre Mobilität auswirken, also auf Ihre Gehfähigkeit. Hierzu mehr im folgenden Abschnitt.

SYMPTOME, DIE ZUR SPASTIK DAZUGEHÖREN

erhöhte Muskelspannung

Muskelschwäche, die oft mit einer Ermüdung der Muskeln verbunden ist

Verlangsamung einzelner Bewegungen und Verringerung der Geschicklichkeit

lebhafte Reflexe („Muskeleigenreflexe“), gelegentlich auch Klonus (siehe oben)

„Taschenmesserphänomen“ (eher selten)

gleichzeitig mit der Spastik „einschießende“ Schmerzen (bei der sogenannten phasischen Spastik)

Spastik und Muskelschwäche können durchaus einmal erstes Symptom einer MS sein. Im weiteren Verlauf der Erkrankung werden sie zumeist häufiger und treten bei bis zu zwei Dritteln aller Menschen mit MS auf. Die Spastik ist dabei sehr unterschiedlich ausgeprägt. Sie reicht von „zwar vorhanden – aber nicht beeinträchtigend“ über „gelegentliche“ oder „häufige“ Beeinträchtigungen im täglichen Leben bis zu „Änderungen bei den täglichen Aktivitäten erforderlich“ oder sogar „Verhinderung der erforderlichen täglichen Aktivitäten“.

Wie wirken sich Spastik und eingeschränkte Mobilität aus?

Die Beine sind häufiger betroffen als die Arme oder die Muskeln des Rumpfs. Je nachdem, wo die entzündlichen Herde in Gehirn und Rückenmark lokalisiert sind, entwickelt sich die Spastik in den verschiedenen Extremitäten. Die Erhöhung der Muskelspannung, des Tonus, kann sowohl dauerhaft sein (tonische Spastik) als auch plötzlich in die betroffenen Muskeln „einschießen“ (phasische Spastik). Beide Formen der Spastik kommen gelegentlich auch nebeneinander vor. Nicht selten bemerkt man die Spastik erst bei zunehmender Belastung der Muskeln. So kann z. B. bei einem längeren Spaziergang die Muskulatur eines Beines zunächst noch locker sein, „verkrampft“ dann aber umso stärker, je weiter man geht.

Die Ausprägung einer Spastik kann sich auch unabhängig von Belastungen im Tagesverlauf verändern. In ausgeprägten Fällen lösen bereits Veränderungen der Körperhaltung, z. B. nachts im Bett, eine Zunahme der Spastik, gelegentlich auch ein „Einschießen“ der Spastik aus. Selbst in völliger körperlicher Ruhe sind Veränderungen der Muskelspannung möglich.

Vor allem bei der im Rückenmark ausgelösten Spastik treten immer wieder sogenannte Automatismen auf, z. B. das plötzliche Heranziehen der Beine an den Rumpf oder auch das unwillkürliche Strecken eines oder beider Beine. Diese Symptome werden oft durch Angst oder seelische Anspannung, durch Schmerzen, Fieber (z. B. bei einer Blasenentzündung), aber auch durch einfache Berührung ausgelöst. Verstärkt sich eine Spastik beim Gehen oder Stehen ganz plötzlich, kann sogar ein Sturz drohen. Die einschießende Spastik wird oft von teilweise heftigen Schmerzen begleitet, dies ganz besonders in den Nacht- oder den frühen Morgenstunden.

Spastik beeinträchtigt also zumeist die Bewegungsfähigkeit und die Geschicklichkeit der betroffenen Muskelgruppe(n). Die Ausdauer der Muskeln ist eingeschränkt, feine und zielgerichtete Bewegungen sind nicht mehr so sicher durchführbar wie zuvor. Kraft und Ausdauer der betroffenen Muskeln sind ebenfalls geringer. Die Spastik kann damit die Aktivitäten des täglichen Lebens, also Körperpflege, An- und Auskleiden, die Einnahme von Mahlzeiten ebenso wie Hausarbeiten und die Beteiligung am sozialen und beruflichen Leben, erheblich beeinträchtigen.

Wie erwähnt, wirken sich Spastik und Muskelschwäche oft auch auf Ihre Mobilität aus. Sie bemerken es z. B. durch eine Verringerung der Gehstrecke und/oder der Gehgeschwindigkeit, vermehrte Gangunsicherheit mit der Gefahr von Stürzen, mühseligeres Einsteigen in ein Kfz. usw. Das wiederum hat, je nach Ausmaß, Auswirkungen auf Ihre sportlichen Aktivitäten, auf Urlaubspläne, die notwendigen Wege zum Einkaufen, zu Ämtern, zu Freunden und kulturellen Veranstaltungen, zu Ihrer beruflichen Tätigkeit, eventuell sogar auf Ihre Bewegungsfreiheit in der eigenen Wohnung.

Wird Spastik nicht konsequent behandelt, drohen zudem einige Komplikationen. Hierzu gehören Sehnenverkürzungen an den Gelenken (Kontrakturen) oder Fehlbelastungen und Fehlhaltungen der Wirbelsäule, die später zu einer weiteren Abnutzung von Knochen, Gelenken oder Bandscheiben führen. In sehr ausgeprägten Fällen droht sogar eine Behinderung der Körperpflege – z. B. wenn durch eine zu starke Spastik die Oberschenkelmuskeln zu sehr nach innen gezogen werden und dadurch Intimhygiene oder Blasenentleerung beeinträchtigt sind. Bei schwer betroffenen Menschen mit MS kann Spastik auch zur Bettlägerigkeit führen.

Neben all diesen negativen Aspekten kann Spastik gelegentlich aber auch hilfreich sein. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn geschwächte Muskeln eines Beins (mit dem man aufgrund der Schwäche einknicken würde) durch die Spastik so „versteift“ werden, dass dieses Einknicken vermieden wird.

EINIGE KENNZEICHEN DER SPASTIK

wechselnde Ausprägung

die Beine sind häufiger als Arme oder Rumpf betroffen

nachts oft stärker als tagsüber vorhanden

Schmerzen, vor allem bei einschießender Spastik

unwillkürliche Muskelbewegungen

Wie kann man Spastik und eine eingeschränkte Mobilität messen?

Wie bereits erwähnt, kann sich die Ausprägung einer Spastik sowohl im Tagesverlauf als auch im längerfristigen Verlauf der MS verändern. Ihr Ausmaß ist abhängig von Ihrer aktuellen körperlichen Belastung, Ihrem Trainingszustand, Ihrem seelischen Befinden, zusätzlichen Erkrankungen, Schmerzen, einer Ataxie (siehe Kapitel 3) oder selbst einer Darmverstopfung. Darüber hinaus sind die einzelnen Extremitäten oft in unterschiedlichem Maß betroffen. Spastik ist also kein statisches, sondern oft ein höchst dynamisches Symptom. Der Versuch, Spastik zu messen, zeigt daher immer nur eine Momentaufnahme. Um das Ausmaß einer Spastik genau beurteilen zu können, sind demnach immer mehrere Messungen erforderlich, möglichst auch in verschiedenen Situationen von Belastung und Ruhe. Nur so kann später auch die richtige Therapie gefunden werden.

Es besteht eine weitere Schwierigkeit: Einige der heute zur Verfügung stehenden Messmethoden sind zwar einfach durchzuführen, allerdings auch sehr subjektiv und oft ungenau. Andere Methoden erfordern komplizierte biomechanische Geräte, die weder in der Praxis Ihres Neurologen oder auch in einer Klinik vorgehalten werden können. Eine natürlich subjektive, trotzdem aber aussagefähige und wenig aufwendige Methode ist dagegen die Spastikskala, die Sie selbst ausfüllen können (Werte zwischen 0 und 10; 0 bedeutet „keine Spastik“, 10 bedeutet „maximal vorstellbare Spastik“). Die Spastik wird außerdem anhand einer neurologischen Untersuchung oder bei der Physiotherapie (Krankengymnastik) beurteilt, also ebenfalls subjektiv. Sie selbst sollten Ihrem Neurologen Auskunft sowohl über Ausprägung, Tagesverlauf und auslösende Situationen geben können als auch über die Häufigkeit, mit der eine plötzliche und dann oft mit Schmerzen einhergehende Spastik einsetzt.

Auch Mobilität kann man messen; hierfür stehen zahlreiche Tests zur Verfügung, die allerdings nicht die gesamte Bandbreite von Mobilität abdecken können. Am häufigsten werden von Ihrem Neurologen oder Physiotherapeuten die Zeit, in der Sie 7,6 m zurücklegen können (englisch: Timed 25 Foot Walk), oder die Gehstrecke, die Sie in 2 oder in 6 Minuten schaffen, herangezogen (2 min. oder 6 min. Gehtest).

Therapieziele

Verbesserung der Beweglichkeit von Beinen und Armen durch Verringerung der Spastik sowie durch verbesserte Kraft und Ausdauer der Muskeln

Erreichen bestmöglicher Bewegungsmuster

Verringerung Spastik-bedingter Schmerzen

Erleichterung pflegerischer Maßnahmen

Vermeidung von Komplikationen wie Sehnenverkürzungen, Gelenkversteifungen, Fehlstellungen von Gelenken sowie des Wundliegens (Dekubitus)

Verbesserung der Lebensqualität

Behandlung

Allgemeines

Eine Behandlung sollte immer dann begonnen werden, wenn die Spastik Ihre Bewegungsfähigkeit einschränkt, wenn also die Aktivitäten des täglichen Lebens wie Waschen oder Ankleiden, ebenso aber auch Tätigkeiten im Haushalt, im Beruf oder in der Freizeit beeinträchtigt sind oder wenn die Gefahr von Folgeschäden durch die Spastik besteht.

Die Behandlung ist jedoch oft schwierig, da die Spastik – wie erwähnt – oftmals sehr wechselnd ist, unterschiedliche Körperpartien betrifft und von vielen äußeren Faktoren abhängig ist. Das gilt auch für die Therapie einer Muskelschwäche, vor allem dann, wenn mehrere Extremitäten betroffen sind oder die Schwäche erheblich ist. Immer ist es bei der Behandlung der Spastik erforderlich, dass Sie als Betroffene eng mit Ihrem Physiotherapeuten, Ihrem Arzt und gegebenenfalls auch mit Pflegekräften zusammenarbeiten. Mit Ihrem Neurologen und Ihrem Physiotherapeuten sollten Sie genaue Therapieziele festlegen. Eventuell sollten auch Ihre Angehörigen hierzu gefragt werden, wenn diese sich an Ihrer Betreuung beteiligen. Die Ziele sollten immer realitätsnah sein, um Enttäuschungen zu vermeiden. Wesentlichste Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist allerdings, dass Sie selbst möglichst aktiv an der Therapie teilnehmen.

Was sind die ersten Schritte?

Mindestens ebenso wichtig ist die Physiotherapie. Diese wird nach unterschiedlichen Methoden durchgeführt (s. unten). Ergänzend kommen die Behandlung mit Kälte bzw. Eis sowie – bei ausgeprägter Spastik – auch Schienensysteme zur Anwendung.

Nicht immer allerdings reicht die Physiotherapie aus, um eine starke Spastik zu verringern. Dann ist die Behandlung mit Medikamenten erforderlich, die zumeist als Tabletten, Dragees oder als Spray eingenommen, in speziellen Situationen aber auch auf anderem Wege, z. B. durch Injektionen, verabreicht werden können (Abb. 11). Komplementärmedizinische Behandlungen (Alternativmedizin) der Spastik wurden bislang kaum untersucht. Hierauf soll aber am Ende dieses Kapitels ebenfalls eingegangen werden.

DIE WICHTIGSTEN BEHANDLUNGS-MASSNAHMEN BEI SPASTIK

Kooperation im Team: Patient, Angehörige, Physiotherapeut, Arzt, gegebenenfalls Pflegekräfte sowie Hilfsmittel-Versorger

Ausschaltung, Verminderung oder Vermeidung von Spastik auslösenden oder verstärkenden Faktoren

Physiotherapie

medikamentöse Therapie

Hilfsmittel, z. B. Geländer, Gehstock, Rollator, Rollstuhl, Begleitperson, wenn erforderlich.

Abb. [11] Einzelne Therapieschritte

Physiotherapie

Die Physiotherapie ist die wichtigste Behandlungsmaßnahme, um eine bestehende Spastik zu verringern. Sie sollte möglichst 2-mal pro Woche erfolgen, bei ausgeprägter Spastik auch häufiger. Da die Spastik zumeist ein dauerhaftes Symptom ist, soll die Behandlung langfristig angelegt sein.

Neben den schon lang bekannten und eingesetzten Techniken nach Bobath (Abb. 12), nach Vojta sowie der propriozeptiven neuromuskulären Fazilitation (PNF) gibt es heute zahlreiche neuere Therapiemethoden, die mithilfe der wachsenden Kenntnisse über Hirnfunktionen und deren Neuorganisation (s. Kapitel 21 Rehabilitation) und mittels speziellen Trainings und – immer mehr – unter Zuhilfenahme von Geräten entwickelt werden; Beispiele hierzu sind in Abb. 13 und 14 dargestellt. Diese neueren Methoden werden auch ganz überwiegend in wissenschaftlichen Studien auf ihre Wirksamkeit hin untersucht.

So kann man mit dem sogenannten repetitiven Training – mithilfe Aufgabenspezifischer Übungen – manchmal erhebliche Verbesserungen einzelner Arm- und Handfunktionen sowie auch eine Verringerung der spastischen Muskelspannung erzielen.

Mithilfe der Laufbandtherapie kann ein spastisches Gangbild ebenfalls verbessert werden. Der Patient übt hierbei auf einem Laufband unter aktiver Anleitung der Physiotherapeutin das gleichmäßige Gehen. Bei höhergradiger Muskelschwäche der Beine kann mithilfe eines Hüft- und Beckengurts eine gleichzeitige Körpergewichtsentlastung erfolgen (Abb. 13).

Motorgetriebene Fahrräder (Abb. 14) zur Durchführung aktiver und passiver Tretbewegungen bewirken oftmals nicht nur eine Zunahme von Kraft und Ausdauer, sondern auch eine Verringerung der Spastik.

Bei Behandlungen im Wasser (Wassertherapie) muss sehr auf die Wassertemperatur geachtet werden, da eine zu hohe Temperatur auch zu einer anschließenden Verstärkung der Spastik oder vermehrter Muskelschwäche und Müdigkeit führen kann (siehe Kapitel 4).

Abb. [12] Krankengymnastik nach Bobath

Therapeutisches Reiten (Hippotherapie) (Abb. 15): Therapeutisches Reiten wird seit vielen Jahren immer wieder auch bei MS-Patienten angewandt. Die Bewegungen des Pferdes sollen u. a. die erhöhte Muskelspannung lockern. Obwohl es zunehmende Hinweise auf die Wirksamkeit der Hippotherapie in der Behandlung von MS-Betroffenen gibt, werden die Kosten von den Krankenkassen zumeist nicht erstattet.

Abb. [13] Laufbandtherapie mit Körpergewichtsentlastung

Kühlung/Kältetherapie

Dass Kälte zu einer Verringerung von Spastik beitragen kann, ist seit Langem bekannt und daher auch immer wieder Bestandteil der Behandlung einer ausgeprägten Spastik. Einige wissenschaftliche Studien belegen die Wirkung dieser Therapie. Hierbei werden vor allem Eistauchbäder (Abb. 16) oder großflächige Eisabreibungen an Armen oder Beinen eingesetzt. Diese Eistherapien sind natürlich gewöhnungsbedürftig, andererseits für viele Patienten aber auch eine gute Hilfe, zumindest für einige Stunden eine geringere Ausprägung ihrer Spastik zu erreichen.

Abb. [14] Motorgetriebenes Fahrrad

Abb. [15] Hippotherapie. Mit freundlicher Genehmigung von S. Lamprecht, Kirchheim

Orale medikamentöse Therapien

Nicht immer reicht Physiotherapie aus, um eine bestehende Spastik ausreichend zu verringern. Dann sind zusätzlich Medikamente erforderlich. Dabei muss immer bedacht werden, dass sich das eingenommene Medikament im ganzen Körper verteilt und damit auch auf alle Muskeln des Körpers einwirken kann, nicht nur auf diejenigen mit Spastik. Und da kann sich ein besonderes Problem ergeben: Bei Menschen mit MS sind oft mehrere Muskeln nicht mehr so stark wie zuvor, vor allem Muskeln der Beine. Trotzdem aber ist das Gehvermögen oft erhalten, besonders wenn eine gleichzeitig bestehende Spastik die Schwäche der Beinmuskeln „ausgleicht“. Wirkt dann das gegen die Spastik eingesetzte Medikament auch in diesen – Halt gebenden – Muskeln, kann gegebenenfalls der in diesem Fall eher günstige Effekt der Spastik aufgehoben werden und damit das Gehvermögen eingeschränkt sein. Hier müssen Sie mit Ihrem Neurologen besprechen, wie die Behandlung so optimal wie möglich durchgeführt werden kann.

Abb. [16] Kühltherapie

PHYSIOTHERAPIE BEI SPASTIK

am häufigsten werden die Krankengymnastik, z. B. nach Bobath oder Vojta, oder auch die PNF eingesetzt. Andere Behandlungen wie das repetitive Training, die Laufbandtherapie oder motorgetriebene Fahrräder sowie weitere Geräte-gestützte Methoden bekommen aber einen zunehmenden Stellenwert. Wichtig ist ihre regelmäßige Anwendung.

kühlende Maßnahmen können die Wirkung der Physiotherapie oftmals unterstützen.

Es gibt heute zahlreiche Medikamente, die gegen die Spastik eingesetzt werden können („Antispastika“) und deren Wirksamkeit ausreichend belegt ist. Die richtige Auswahl wird von der Stärke der Spastik, von Begleitsymptomen (z. B. Schmerzen), der Art der Spastik (dauernd vorhanden oder phasenweise auftretend) und natürlich auch von der Verträglichkeit abhängen, die von Patient zu Patient unterschiedlich sein kann.

Generell gilt, dass die Einnahme eines solchen Medikamentes, eines Antispastikums, individuell geplant und durchgeführt werden sollte. Eine starre „3-mal tägliche“ Gabe ist meist nicht hilfreich. Sowohl die Dosis als auch die Zeitpunkte der Einnahme müssen einzeln abgestimmt werden. Man beginnt mit einer niedrigen Dosis und steigert diese dann allmählich, bis die beste Wirkung erzielt wird und gleichzeitig keine oder allenfalls sehr geringe Nebenwirkungen auftreten. Diese dürfen dann die Beweglichkeit der Muskeln und auch die allgemeine Leistungsfähigkeit nicht negativ beeinflussen.

Gelegentlich ist es hilfreich, die erste Dosis bereits 30–45 Minuten vor dem Aufstehen einzunehmen, vor allem dann, wenn morgens die Spastik so erheblich ist, dass sie beim Aufstehen, Waschen und Ankleiden behindert. Manchmal ist es auch besser, 4 bis 5 Einnahmezeitpunkte vorzusehen und dabei jeweils eine etwas geringere Dosis einzunehmen. Ist die Spastik vor allem nachts störend, kann das Medikament noch einmal kurz vor dem Schlafengehen genommen werden. Bei einigen Patienten empfiehlt es sich, eine zusätzliche Dosis für die Nacht bereitzustellen, im Sinne einer „Bedarfsmedikation“, um so die Nachtruhe zu erleichtern.

Auf jeden Fall sollte ein abruptes Absetzen des antispastischen Medikamentes ebenso wie ein wiederholtes Auslassen vermieden werden.

ALLGEMEINES ZUR BEHANDLUNG MIT ANTISPASTISCHEN MEDIKAMENTEN

langsames Aufdosieren

individuelle Dosierung, kein starres Einnahme-Schema

Anpassung an Schwankungen der Spastik im Tagesverlauf

Beachtung einer eventuellen „Haltefunktion“ der Spastik

Die wichtigsten oral einzunehmenden Antispastika sind Baclofen (z. B. Lioresal®) und Tizanidin (z. B. Sirdalud®). Beide Substanzen werden seit mehreren Jahrzehnten eingesetzt, sodass auch viel Erfahrung mit deren Anwendung besteht. Seit einigen Jahren wird auch das Medikament Gabapentin (z. B. Neurontin®) eingesetzt, da einige wissenschaftliche Untersuchungen dessen Wert belegen. Bei unzureichendem Effekt von Baclofen und/oder Tizanidin ist eine Behandlung mit Nabiximols (Sativex®), welches 2 Cannabinoide (Cannabis-Inhaltsstoffe) enthält, möglich.

Medikamente wie Dantrolen (z. B. Dantamacrin®) oder Benzodiazepine werden heute üblicherweise nicht mehr verschrieben, Tolperison (z. B. Viveo®, Mydocalm®) ist zur Behandlung der Spastik bei MS nicht mehr zugelassen.

ORALE ANTISPASTISCH WIRKENDE MEDIKAMENTE

Baclofen (z. B. Lioresal®)

Tizanidin (z. B. Sirdalud®)

Gabapentin (z. B. Neurontin®)

Nabiximols (Sativex®)