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Shortlist Deutscher Buchpreis 2023. »Ein ganz glänzendes Buch. Es ist eines der besten, das sie geschrieben hat.« Daniela Strigl
Muna liebt Magnus. Ob und wen Magnus liebt, ist schwer zu sagen. Was geschieht mit einem Leben, das man in Abhängigkeit von einem anderen führt? Muna steht vor dem Abitur, als sie Magnus kennenlernt, Französischlehrer und Fotograf. Mit ihm verbringt sie eine Nacht. Mit dem Mauerfall verschwindet er. Erst sieben Jahre später begegnen sich die beiden wieder und werden ein Paar. Muna glaubt, in der Beziehung zu Magnus ihr Zuhause gefunden zu haben. Doch schon auf der ersten gemeinsamen Reise treten Risse in der Beziehung auf. Im Laufe der Jahre nehmen Kälte, Unberechenbarkeit und Gewalt immer nur zu. Doch Muna ist nicht gewillt aufzugeben.
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Seitenzahl: 500
Veröffentlichungsjahr: 2023
»Ich weiß, was du willst«, sagte er. »Du bekommst es nicht.«
Muna liebt Magnus. Ob und wen Magnus liebt, ist schwer zu sagen. Was geschieht mit einem Leben, das man in Abhängigkeit von einem anderen führt? – Der neue große Roman der Georg-Büchner-Preisträgerin und Gewinnerin des Deutschen Buchpreises.
Muna steht vor dem Abitur, als sie Magnus kennenlernt, Französischlehrer und Fotograf. Mit ihm verbringt sie eine Nacht. Mit dem Mauerfall verschwindet er. Erst sieben Jahre später begegnen sich die beiden wieder und werden ein Paar. Muna glaubt, in der Beziehung zu Magnus ihr Zuhause gefunden zu haben. Doch schon auf der ersten gemeinsamen Reise treten Risse in der Beziehung auf. Im Laufe der Jahre nehmen Kälte, Unberechenbarkeit und Gewalt immer nur zu. Doch Muna ist nicht gewillt aufzugeben.
»Terézia Mora ist eine der feinsten, originellsten und furchtlosesten Stimmen der deutschen Literatur.« Tilman Spreckelsen, FAZ
Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman »Das Ungeheuer« erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband »Seltsame Materie«, wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt außerdem zu den renommiertesten ÜbersetzerInnen aus dem Ungarischen.
Terézia Mora
Roman
Die weibliche Variante
Luchterhand
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Die Arbeit an diesem Roman wurde vom Deutschen Literaturfonds und dem Sonderstipendium »Initial« der Akademie der Künste Berlin gefördert.
Copyright © 2023 Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: buxdesign / Ruth Botzenhardt unter Verwendung des Gemäldes »Frau im roten Kleid« von Johannes Strieder
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-641-17244-2V007
www.luchterhand-literaturverlag.de
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1. Achtzehn
2. Die Männer
3. Eine geschickte Hochstaplerin
4. Im Wirbel
5. This carcass
6. Wer mag das Theater nicht?
7. Die Umarmung
8. Die Arbeiter von Wien
9. »Ueber der dummen kurzen Komödie Sind ernste lange Jahre vergangen«
10. Sektion A, Reihe 5
11. Die Gestalten des Lichts
12. »Und abermals dies Lächeln, Das mich so elend gemacht«
13. Lebt in Wien und Berlin
14. Geteilte Gefühle
15. Die Geschichte mit dem Sekretär
16. »… neben dir schlafen und für dich einkaufen und deine Tüten tragen und dir sagen, wie sehr ich es liebe …«
17. Die Wolken? Ernsthaft?
18. Was ist mit ihr?
19. Das fruchtbare Sein
20. »Dann sprach er von seinem Windspiel, Daß es kein schön’res gibt«
21. »Laß mich sterben, überstrahlet von dem Himmel deiner Augen!«
Nachdem sie meine Mutter mit Blaulicht weggebracht hatten, ging ich in den Hof, wo das Fahrrad stand, und schon wieder hatte es einen Platten. Ihr miesen Arschlöcher! Der Innenhof schallte.
Eine junge Dame schreit doch nicht so laut! Und was für Worte!
Die alte Frau Mäder. Vorhin war ich noch Herzchen. Was ist los, Herzchen? Deine arme Mutter? Das ist ja furchtbar, Herzchen, was ist passiert?!
Meine Mutter hat genau eine Woche bis nach meinem achtzehnten Geburtstag durchgehalten, bevor sie zu viel Tabletten mit zu viel Alkohol eingenommen hat, das ist passiert.
Ich kann Sie nicht verstehen, wenn Sie so heulen, maulte die Dispatcherin, aber dann schickte sie die Rettung doch an die richtige Adresse. Keine Minute später war auch die Polizei da. Sie ließen mich nicht mit dem Krankenwagen mitfahren, sie befragten mich in der Wohnung, die Tür stand die ganze Zeit offen. Frau Mäder traute sich nicht einzutreten, sie stand im Hausflur, das Wesentliche wird sie auch so mitbekommen haben. Was für Alkohol ist nicht so wichtig, Rotwein, die Tabletten sind wichtig, was für Tabletten. Die nahmen sie mit, mich ließen sie da, obwohl sie auch ins Krankenhaus fuhren. Die Polizei ist kein Taxiunternehmen. Mein Haar war ganz verschwitzt, und ich hatte zu kurze Trainingshosen an, ich schaffte es nicht, mich umzuziehen, meine Hände zitterten so stark, aber abgesehen davon hatte ich mir die Worte der Dispatcherin durchaus zu Herzen genommen, mich zusammenzureißen, sonst wäre ich keine Hilfe. Ich war bereit, mit dem Fahrrad ins Krankenhaus zu fahren, aber dann war das Rad schon wieder platt, und immer nur dann, wenn ich es ans Geländer der Kellertreppe stellte, ich hatte sogar schon den Boden untersucht, ob da vielleicht Nägel waren oder Glassplitter, die man nicht sah, aber nichts. Jemand aus dem Haus, der nicht wollte, dass ich das Rad dort hinstellte, stach mir immer den Gummi auf, immer abwechselnd, mal vorne, mal hinten, ihr miesen Arschlöcher! Und Sie, Frau Mäder, belehren Sie mich nicht, ich rede, wie ich will!
Meine Mutter stirbt vielleicht, schrie ich in den Innenhof hoch, und ihr stecht mir das Rad auf? Verreckt doch alle!
Frau Mäder war immer noch dagegen, wie ich mich benahm, so kann man sich doch nicht benehmen. Die anderen duckten sich. Eben hingen noch alle in den Fenstern und Türen, Rettung und Polizei, Zinkwanne, oder nicht?, aber jetzt war alles wieder verrammelt. Ich zerrte das Rad aus dem Hof, direkt zur Reparatur, wo man mich schon kannte und wo Ehrke, der ehemalige Rennfahrer, bis morgen gesagt hätte, weil du es bist. Aber es war ein gottverdammter Sonntag, die Werkstatt hatte zu. Ich ließ das Rad einfach dort stehen. Ehrke würde es erkennen, wenn es bis dahin nicht geklaut wäre.
Zuerst lebten meine Eltern acht Jahre lang glücklich und zufrieden, dann bekam mein Vater Krebs und starb innerhalb weniger Monate.
Solange meine Eltern beide noch jung und gesund waren, unterhielten sie sich über wichtige Angelegenheiten nur miteinander, und ihr Zimmer war für mich auch am Sonntagmorgen tabu. Frau Helfer (das war wirklich ihr Name, eine andere Nachbarin) und ich kochten Hochzeitssuppe und Schnitzel Wiener Art, jeden Sonntag dasselbe, und wenn es fertig war, sagte Frau Helfer, ich solle mich umziehen und kämmen, damit ich fürs Mittagessen hübsch war, dann erst kamen auch sie hervor, ebenfalls hübsch angezogen und vorzüglich duftend nach Parfüm, Rasierwasser und Zigaretten.
Mein Vater war Kettenraucher und bekam Lungenkrebs, wie es im Buche steht. Diagnose im Januar, im April war er tot. In den letzten Tagen, als er begriffen hatte, dass er nicht überleben würde, wünschte er, dass ich mich zu ihm ins Bett legte, und solange er noch reden konnte, flüsterte er mir Geschichten ins Ohr über Soldaten, Pistolen und Befehle. So alt war mein Vater, dass er beim Endsturm schon vierzehn Jahre war. Meine Mutter war da noch gar nicht geboren. Unter den Märchen mochte er am liebsten das von Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein. Das hat mich sehr aufgeregt. »Du mit deinen zwei Augen siehst aus wie gewöhnliche Menschen, du gehörst nicht zu uns.« Zweiäugig, wie ich war, bereitete mir das nur Alpträume. Von diesen Kameradengeschichten schlief ich aber bald ein. Als ich aufwachte, lag ich jedes Mal in meinem eigenen Bett. Mutter wird mich von ihm weggetragen haben, obwohl sie, wenn ich wach war, sagte, sie könne mich nicht mehr tragen, ich sei zu schwer. Eines Morgens, nachdem ich in meinem eigenen Bett aufgewacht war, sagte sie, er sei in der Nacht gestorben.
Willst du ihn noch einmal sehen?
Nein.
Auf gar keinen Fall. Später fragte ich einmal, wann er genau gestorben war. Bevor oder nachdem sie mich von ihm weggetragen hatte.
Danach, sagte sie. Sie saß noch eine Weile bei ihm und ging dann auch schlafen. Und erst danach.
Keine von uns weinte, erst als es wieder Nacht wurde und meine Mutter sich zu mir ins Bett legte. Sie sagte, sie könne nicht mehr im Ehebett liegen, in dem sie doch schon die Wochen zuvor allein gelegen hatte. So gab es bei uns zu Hause ein Totenbett, ein leeres Ehebett und ein Kinderbett, in dem meine Mutter und ich zusammen lagen und kaum schliefen.
Anders als ihr Schlafzimmer und die Sachen, die in Kinderhänden schmutzig werden oder kaputtgehen könnten, seine Bücher und Manuskripte, ihr Schmuck und ihre Kosmetika, war der Alkoholismus meiner Mutter kein Tabu. Sie sprachen mit mir darüber wie über eine ganz normale Krankheit. Fast jeder in ihrer Familie war Alkoholiker, da ist es schwer, keiner zu werden. Großvater, Vater, Mutter, Bruder. Nur ihre ältere Schwester Angela nicht. Dafür ist sie Ordentlichkeitsfanatikerin und hasst alles, was Kunst ist oder Leben (meine Mutter). Mein Vater hatte meine Mutter geheiratet, wissend, dass sie Alkoholikerin war. Er drängte sie nicht, sich zu ändern, er passte nur auf sie auf. Jeden Abend trank er zwei bis drei Gläser Rotwein aus der täglichen Weinflasche ab. Als sie schwanger wurde, gab es keinen Wein mehr, denn, das sah auch sie ein, diesem Kind durfte sie nicht schaden. Sie hat mir auch nicht geschadet. Nur um die Geburt einzuleiten, trank sie zwei Cognac, damit es endlich losging.
Die Mutter meiner Mutter konnte nach ihren Geburten den Urin nicht mehr halten, auch anderen Frauen, die meiner Mutter bekannt waren, wurde der Beckenboden zerfetzt, deswegen machte meine Mutter Beckenbodentraining. Beckenbodentraining ist die Grundlage der Gesundheitsvorsorge bei einer Frau. Tägliche Schönheitspflege ist optional, außer man ist Schauspielerin, dann ist sie Pflicht. Meine Mutter massierte ihren Körper, jeden Morgen und jeden Abend. Es gab ein langes Programm und ein kurzes. Das lange dauerte zwischen 1,5 und 2,5 Stunden, aber dann war alles mit drin, auch die Haare (Entfernung einiger, Pflege anderer). Das kurze Programm dauerte 40 Minuten und konzentrierte sich auf die Gesichts- und Körpermassage, insbesondere des Dekolletés, der Oberschenkel und der Pobacken, die Unterschenkel halten auch von alleine, aber Knie aufwärts muss man sich kümmern. Der Bauchdecke lässt man, insbesondere wenn man geboren hat, eine Zupfmassage angedeihen, die Brüste werden von Bürstenmassagen straffer. Außerdem muss man die Haut an den Unterarmen zusammenschieben, das bringt die Brüste zum Hüpfen. Man muss das hundertmal machen, aber wenn es fünfhundertmal ist, schadet das auch nicht.
Deine Mutter ist Schauspielerin geworden, um sagen zu können: Schließlich handelt es sich hier um mein Arbeitsinstrument, das gewartet werden muss, ich kann mich nicht gehen lassen wie die anderen Frauen mit Schichtdiensten und Familien, sagte die nüchterne Tante Angela. Wir sind von Natur aus üppige Frauen in der Familie, anders gesagt von Natur aus dickliche, deine Mutter hat nur alles dafür getan, gegen ihre Natur zu arbeiten, aber Alkohol schwemmt nun einmal auf, auch wenn man nicht isst.
Rotwein, Cognac und Dessertwein waren die Lieblingsgetränke meiner Mutter, im Winter Glühwein. Nach dem Tod meines Vaters trank sie all das allein. Es gab ein kurzes Programm und ein langes. Sie konzentrierte sich darauf, bei der Arbeit mehr oder weniger nüchtern zu bleiben, aber sobald der Vorhang gefallen war, trank sie das erste Glas Wein noch im Theater, den Rest der Flasche dann zu Hause, das war das kurze Programm. Anfangs kippte sie seinen Teil davon in die Spüle, später konnte sie so eine Verschwendung nicht mehr übers Herz bringen. Dem langen Programm gab sie nur an Tagen nach, an denen sie keinen Auftritt hatte. Das lange Programm hatte eine fröhliche, soziale Form, bei der sie noch draußen unterwegs sein konnte. Sie hat sich im Antikladen einen Flachmann gekauft, sie kicherte darüber, aber später wurde sie wütend, weil der Verschluss nicht dicht war. Man müsste ihn zurücktragen und ihn ihnen vor die Füße schmeißen, aber sie traute sich nicht.
Ich habe Angst vor den Frauen in den Geschäften. Vor allen Frauen in allen Geschäften, den Verkäuferinnen. Warum muss es überall Verkäuferinnen geben? Warum gibt es nur im Schraubenladen männliche Verkäufer? Mit denen komme ich viel besser klar.
Das lange Programm, bei dem sie zu Hause blieb, dauerte in der Regel zwei Tage. Sie blieb im Schlafzimmer, soff, hörte alle Schallplatten durch und tanzte, solange sie noch tanzen konnte. Sie tanzte zu Chansons ebenso wie zu Symphonien. Ich mochte dieses lange Programm mehr als das kurze oder das lange, bei dem sie draußen unterwegs war, weil dieses ihr am meisten Erleichterung verschaffte. Eine schön komprimierte Erleichterung. Danach war es über Wochen viel besser. Sie tanzte sehr schön, selbst als sie nur noch taumelte.
Meine Mutter hatte keine guten Freunde oder Freundinnen. Sie hatte Kollegen, Bekannte, Konkurrentinnen und Verehrer. Sie vertraute Frauen nicht und schätzte Männer ausschließlich für ihr Können. Meine Mutter kümmerte sich viel um ihr eigenes Aussehen, das der Männer interessierte sie nicht, Ämter, Titel oder Vermögen konnten sie auch nicht beeindrucken. Ausschließlich die Genialität.
An einem Mann interessiert mich ausschließlich seine Genialität.
In diesem Sinne bewunderte sie manche Regisseure (während sie andere verachtete), manche Schriftsteller und Künstler anderer Sparten sowie ihren Friseur. Er ist ein genialer Friseur, in Berlin könnte er ein Star sein. Und noch woanders ein Weltstar.
Ich verehre Ihre Kunst, sagte meine Mutter allen Ernstes zu ihrem Friseur.
Die Frau des Friseurs war Kosmetikerin. Sie hatte scharfe schwarze Augenbrauen. Nein, ich möchte meine Augenbrauen nicht gefärbt haben, sagte meine Mutter. Das machen die im Theater, wie es ihnen passt, weißt du. Die Kosmetikerin mochte die kokette falsche Blondine, die meine Mutter angeblich war, nicht, aber sie fanden ein Thema, hinter dem man das gut verstecken konnte: Theaterklatsch. Meine Mutter erkaufte sich mit Theaterklatsch das Wohlwollen der eifersüchtigen Kosmetikerin. Sie fummelt mir schließlich im Gesicht herum. Man müsste woanders hingehen, aber das ist schwierig. Es ist schwierig zu sagen: Ich geh zum Mann, dem Friseur, aber nicht zu seiner Frau, die nebenan die Kosmetik macht.
Solange mein Vater noch lebte, hatten sie öfter Gäste, seine Leute von der Uni, ihre vom Theater kamen zu Rotwein und Zigaretten, ich schlief nebenan oder schlief nicht, der Rauch zog an der undichten Tür vorbei in mein Zimmer, ich mochte das. Nach seinem Tod kamen sie noch eine Weile, um sie zu trösten, und tatsächlich wurden alle allmählich wieder fröhlicher, bis die Nachbarn Beschwerde wegen Lärm- und Geruchsbelästigung einlegten. Mit Hinweis auf die notwendige Nachtruhe der arbeitenden Bevölkerung und auf mich. Eine minderjährige Schutzbefohlene. Es gab sogar ein Gespräch mit einer Mitarbeiterin der Jugendhilfe. Ich trug einen Strickpullover mit Blümchen. Hat den deine Mama gestrickt? Ja. (Nein.) Dass ich eine sehr gute Schülerin war und nie Probleme in der Gemeinschaft hatte, wurde mehrfach lobend erwähnt. Meine Mutter fürchtete sich vor den Nachbarn und der Jugendhilfe, und es gab keine Zusammenkünfte mehr bei uns.
Komm her, sagte meine Mutter. Lass dich drücken. Jetzt habe ich nur noch dich.
Deine Haut. Diese zarte Babyhaut.
Dein glänzendes goldenes Haar.
Der Duft, der durch dein Haar aufsteigt, wenn ich an deinem Kopf rieche.
Der Duft deines Halses, deines Nackens.
Dein Geruch verändert sich. Du bekommst Teenagerschweiß. Der Geruch deiner Talgdrüsen verändert sich. Er erinnert mich an meine Mutter. Meine Mutter roch immer nach Milch und Mehl. Nach roher Milch und rohem Mehl, nicht nach Kuchen. Dein Haar riecht nach Mehl, dein Hals nach Milch. Deine Brüste werden groß. Dein Bauch auch. Nein, er ist noch nicht zu groß. Du wirst bloß eine üppige Frau, wie alle in der Familie. Du wirst eine üppige Blondine, eine Marilynmonroe, daran ist nichts auszusetzen. Irgendwann muss man sich als Frau sowieso entscheiden: Ziege oder Kuh. Ziegen denken, es gibt bessere Rollen für Kühe, Kühe denken, es gibt bessere Rollen für Ziegen, jeder beneidet jeden. Meine Nase wird rot. Verdammt. Ich bekomme eine Trinkernase. Ich muss was gegen die Augenringe machen lassen, sonst kann ich die Teebeutel gleich drauflassen und so aus dem Haus gehen, keiner würde den Unterschied sehen. Ich werde alt, meine Kleine. Meine Kinnlinie fällt. Du musst deine Oberschenkel massieren, deinen Po, deinen Bauch, deine Brüste, aber vergiss ja nicht den Hals und die Kinnlinie. Ich habe den Hals und die Kinnlinie vernachlässigt, wie konnte ich so dumm sein, das kann man jetzt nicht mehr aufholen. Ich habe nie gerne meinen Hals massiert, das ist wie gewürgt werden. Das ist die Schilddrüse. Schilddrüsenhormone als Diätmittel einzusetzen ist todgefährlich, besonders in Kombination mit Alkohol. Ich bekomme sie auch nicht mehr. Meine Leber ist im Eimer. Ich schaue mir jeden Morgen voller Bange in die Augen, ob das Weiße schon gelb wird. Das Gute ist: Als Alkoholikerin bekommst du eine neue Leber, als Krebspatientin nicht. Das ist ungerecht, aber medizinisch wäre es sinnlos, einem Krebspatienten eine neue Leber zu geben. Lass mich dich umarmen. Wenn ich dich nicht hätte. Er ist nicht mehr da, um auf uns aufzupassen, wir müssen aufeinander aufpassen. Ich muss auf dich aufpassen, weil du noch ein Kind bist. Ich kann nicht jung und schön sterben, solange du noch ein Kind bist. Das soll kein Vorwurf sein. Die Welt ist scheiße, die Leute sind Schweine, dein Vater hat uns beide vor ihnen beschützt, jetzt muss ich das machen.
Solange ich noch klein war, weinte ich mit ihr, tröstete sie und sorgte mich. Später fing ich an, ihr aus dem Weg zu gehen. Wie auch mehr oder weniger allem anderen. Ich war freier als die meisten fünfzehnjährigen Mädchen, das war außerhalb der Schule gut, innerhalb der Schule schlecht, wie sollte es anders sein. Ich konnte in der Stadt unterwegs sein, wie ich wollte, auch abends. Die Klassenlehrerin, die bei uns in der Straße wohnte, sprach mich einmal darauf an. Was sich eine Schülerin nach Einbruch der Dunkelheit allein auf der Straße herumzutreiben hätte? Zum Glück war ich allein. Wäre ich mit einem Jungen unterwegs gewesen, hätte sie auch mich, wie schon einige, vor der ganzen Klasse quasi der Hurerei bezichtigt. Ich konnte sagen, ich triebe mich nicht herum, sondern sei auf dem Weg von oder zu einer Vorstellung/einer Probe meiner Mutter, es gibt nur noch uns zwei, wer sollte mich begleiten? Das hätte sogar stimmen können, ich war häufig im Theater, obwohl die Atmosphäre zuletzt auch dort merkwürdig geworden war, nachdem meine Mutter angefangen hatte, paranoid zu werden. Oder sie wurde tatsächlich benachteiligt. Möglicherweise, weil sie fahrig und unzuverlässig geworden war. Sie schimpfte und klagte über die Zustände, die unmenschlichen, demütigenden Umstände am Theater, aber natürlich hätte sie sich ein anderes Leben nicht einmal vorstellen können. Das ist wie eine schlechte Ehe, ich sag’s dir. Und ich sage dir noch etwas, sie beugte sich vertraulich nah, ich roch den Rotwein an ihr: Dass sie dich ficken, lässt sich nicht vermeiden. Achte nur immer darauf, dass du sie ebenso fickst wie sie dich.
(Mutter. Das ist das Widerlichste, das du jemals zu mir gesagt hast.)
Ich muss gestehen, zuletzt wurde sie auch mir etwas lästig.
Ich ahnte, dass ich Silvester vor meinem achtzehnten Geburtstag lieber woanders oder gar nicht feiern sollte, andererseits war ich schon mein ganzes Leben, soweit ich mich daran erinnerte, zu Silvester im Theater, und wer weiß, vielleicht würde es diesmal das letzte Mal sein.
Die Aufführung war, wie sie zu Silvester immer ist, ein wenig albern, sie machten Theatersport und Cabaret mit Liedern, alle waren aufgekratzt, ständig fragte jemand, ob schon neue Würstchen da sind (nein, sie hatten immer zu wenig), zu trinken gab es aber reichlich. Wie jedes Jahr bekam ich von den älteren Kollegen meiner Mutter Komplimente für meine erblühende Schönheit. Seitdem ich nicht mehr klein war, gingen mir die jüngeren vorsichtshalber aus dem Weg. Danke, sagte ich, freundlich, so wie ich es von meiner Mutter gelernt habe, und nicht etwa schüchtern oder abwehrend, und stromerte weiter durch das Gebäude, bis es mir zu unangenehm wurde, überall auf Paare zu stoßen, die irgendwas machten, und sie wiederzuerkennen oder nicht zu kennen. Meine Mutter war nirgends zu sehen. Ich beschloss, in der Bar im ersten Stock zu bleiben, bevor ich sie auch in irgendeiner Ecke wiederfand mit jemandem, den ich kannte oder nicht kannte. In der Bar würde sie sicher irgendwann auftauchen.
Das Foyer im ersten Stock war rammelvoll. Tanzende Paare und andere, die nur beieinanderstanden und lachten, und natürlich die in der obligatorischen Schlange an der Bar: als würden sie sich dabei schlängeln und aufreizende Laute ausstoßen. Ich sollte gehen. Wo steht denn geschrieben, dass man bis Mitternacht bleiben muss? Andererseits war es fast Mitternacht. Zu Mitternacht hat sie mich bis jetzt noch immer gefunden, um mich abzuküssen. Und prompt:
Na, was machst du? Hütest du die Ecke?
Weil ich mit dem Rücken zur getäfelten Wand stand. Sie war natürlich lange nicht mehr nüchtern.
Was machst du für ein Gesicht wie neun Tage Regenwetter?
Ich habe dich gesucht.
Wenn’s dir keinen Spaß macht, geh nach Hause. Du musst nicht andere Leute herunterziehen mit so ’ner Fresse.
Sie kämpfte sich an mir und natürlich auch an der Schlange vorbei an die Theke. Ich hasste sie so sehr in diesem Moment. Kannst du nicht sterben? Hier, stilvoll, im Theater? Von der Galerie stürzen, aus dem Schnürboden?
Das Jahr 1988 endete mit dem Vorsatz, sobald es möglich war, diese Frau und diese Stadt auf Nimmerwiedersehen zu verlassen.
Im neuen Jahr riss sich meine Mutter allerdings wieder eine Weile zusammen. Der Januar verging ohne Zwischenfälle, und ab Anfang Februar bereitete sie sich schon voller Vorfreude auf meinen Geburtstag Anfang März vor.
Ganze drei Wochen warst du zu spät! Statt am 8. Februar am 1. März!
Ich weiß.
Fische statt Wassermann!
… (Ich weiß.)
Und so riesig!
Schließlich gelang es ihr doch, mich zu überraschen. Sie ließ mir Blumen durch einen Boten bringen und Karten von den älteren Kollegen schreiben, die mich von klein auf kannten, und schenkte mir in liebevollen Verpackungen Sachen von sich und meinem Vater:
Eine Mappe aus dickem Leder mit einem schon etwas vergilbten Notizblock, von dem einige Blätter fehlten. In einer der Stifteschlaufen steckte ein Füllfederhalter meines Vaters. Sie hat eine neue Spitze und ein neues Fässchen Tinte dazu gekauft.
Den kleinen Goldschmiede-Amboss aus Messing vom Flohmarkt, den sie ihm einst als Briefbeschwerer geschenkt hatte.
Ein himmelblaues Unterkleid mit schwarzer Spitze von sich und neue Netzstrümpfe (Noch kannst du sie nirgends tragen, aber kommt Zeit, kommt Gelegenheit).
Eine kleine, alte Handtasche, deren Verschluss nicht mehr richtig funktionierte, aber man konnte sie noch als Schmuckschatulle verwenden für das Medaillon mit Fotos von ihr und meinem Vater in jungen Jahren und einen Bernsteinring mit Einschlüssen wie ein Wundergarten, den sie von einem Gastspiel in Moskau mitgebracht hatte.
Und als Krönung: ihren Kimono-Hausmantel aus echter Seide, von dem ich träumte, seitdem ich denken kann. Sie forderte mich auf, diese Sachen immer mitzunehmen, wohin ich auch ging. Ich freute mich aufrichtig. So vieles und so wertvoll!
Man wird nur einmal achtzehn.
Eine ganze Woche lang war ich sehr glücklich, dankbar und zuversichtlich. Ich schenkte ihr die welke Blume, die ich zum Internationalen Frauentag in die Hand gedrückt bekam, und sie schenkte mir ihre, und wir lachten. Das war am Mittwoch. Am Sonntag fand ich sie.
Ich ließ das Rad vor Ehrkes Werkstatt stehen und marschierte zu Fuß zum Krankenhaus, so groß ist unsere Stadt nicht. Am Portier am Haupteingang kam ich noch vorbei, aber auf die Station ließen sie mich nicht mehr. Das ist nichts für dich, du kannst eh nichts tun, ruf morgen an, dann weiß man mehr.
Auf dem Rückweg wurde es schon dunkel und auch kalt. Der Fluss kühlt zusätzlich, dennoch ging ich lieber dort entlang. Von einer Brücke ins Wasser zu schauen hilft auch, wenn man nicht vorhat, sich hinabzustürzen. Wie häufig war ich hier, wenn ich wütend auf sie war!
Oh, diese Blicke! Aber reden ist nicht, was? Ja, ich bin schon wieder besoffen! Das siehst du! Dass ich weine, siehst du nicht! Oder es ist ihr egal. Man kann neben ihnen vor die Hunde gehen, es ist ihnen egal!
Erst winselte sie – Egal, egal! –, dann schluchzte sie, schließlich riss sie am Fenster herum, das, wie immer, klemmte. Der Rahmen wurde während einer unsachgemäßen Renovierung mit zu viel Farbe zugekleckst und noch feucht geschlossen, oder das Holz ist aufgequollen, was weiß ich, seit Jahr und Tag ließ sich dieses Fenster zur Straße nicht mehr öffnen. Und überhaupt. Zweiter Stock! Das könnte reichen, oder auch nicht.
Verdammte Scheiße! Nichts geht! Nichts geht! Geh ich halt aufs Scheißdach!
Mach doch, sagte ich und ging selbst. Schnell um die nächste Ecke, nicht dass ich mich noch umschauen und tatsächlich sehen hätte müssen, wie sie auf dem Dach stand.
Ich ging zum Fluss und schaute hinein, weg von der Stadt, dorthin, wo keiner zu einem zurückschauen kann. So ein flacher kleiner Fluss, bis zu den Schienbeinen, dem Oberschenkel, maximal, man kann die Steine am Grund sehen, und er ist ganz ruhig, man hört ihn kaum. Die Brücke wie viele Meter darüber? Auch das könnte reichen oder auch nicht. Aber ich würde nicht springen, und sie würde es auch nicht. Und wenn doch? Nein, würde sie nicht. Ich blieb dort, bis es so kalt wurde, dass ich es nicht mehr aushielt, dann ging ich nach Hause zurück. Sie wartete in der Küche auf mich. Entschuldigte sich dafür, am Fenster gerissen, und noch mehr dafür, vom Dach geredet zu haben. Sie war doch für mich verantwortlich, solange ich noch minderjährig war.
Und dann hat sie doch sowas gemacht. Oder es war ein Versehen. Wer konnte das wissen? Vielleicht nicht einmal sie selbst.
Der frühe März roch noch nach Winter, ich trug eine hässliche kurze Daunenjacke, mein Kopf fror, mein Hals, meine Beine, meine Füße. Die Sohlen meiner chinesischen Turnschuhe waren unter den Ballen nur noch einen Millimeter dünn. Die wenigen Leute, die unterwegs waren, sputeten sich mit eingezogenem Hals am Ufer entlang. Die meisten waren schon zu Hause, wie es sich am Sonntagabend gehört. Ich werde rennen müssen. Ich hasse es zu rennen. Tu es trotzdem.
Ich drehte mich vom Geländer weg, um Schwung zu nehmen, oder eher, um in den ersten Stolperschritt hineinzutaumeln, aus dem dann so etwas wie ein Rennen hätte werden können, nimm dir ein Beispiel an den Todbetrunkenen, die immer noch auf Symphonien tanzen können: Da flitzte er an mir vorbei, so schnell und so nah, dass ich mich fast am eigenen Atem verschluckt hätte, als ich erschrocken stehen blieb, um nicht mit ihm zu kollidieren. Dabei stand ich noch oben auf der Brücke, und er fuhr unten, am Ufer, mit einem Fahrrad, dessen Rücklicht auf eine Weise funzelte, dass ich ihn überall daran erkennen würde: den Mann, in den ich seit mittlerweile 6 Monaten verliebt war. Ich wollte mich ducken, nicht dass er mich in dieser Aufmachung sah, aber ich hatte es noch nicht einmal zu Ende gedacht, da war er schon in der Dunkelheit verschwunden.
Ich rannte von der Brücke, jetzt war mir auf einmal ganz heiß, die unförmige Wattejacke rutschte hoch, raschelte in den Ohren, ich hörte das laute Klatschen der chinesischen Sohlen auf den Steinen kaum und spürte auch kaum den Schmerz in den Ballen. Ich rannte nach Hause, warf alles von mir, was hässlich war und störte, wusch mich unter den Achseln, kämmte mein Haar, all das war zu wenig, egal, ich zog schnell meine schwarzen Samthosen, einen Rollkragenpullover und den schwarzen Wollmantel meiner Mutter an und rannte wieder hinaus.
Wohin konnte er am Sonntagabend gefahren sein? Die Möglichkeiten waren nicht gerade zahlreich. Eine Ausstellungseröffnung eher nicht. Zwei Kinos und ein Theater. Wenn er nicht zu Leuten ging. Aber er ging nie zu Leuten. Nicht seitdem ich ihn beobachtete. Das Theater hatte gerade angefangen, Kino in einer Viertelstunde. Es wäre logischer gewesen, dorthin zu gehen, aber zu welchem der beiden? Es war gar nicht sicher, dass er in großer Eile war, er fuhr nie langsamer. Ich entschied mich für das weniger Wahrscheinliche und ging zum Theater, schließlich war es mein zweites Zuhause.
Ich ging nicht bei den Kassen hinein, sondern gleich hinten, der Portier winkte mir nur zu. Die Vorstellung lief schon. Ich schlängelte mich extraleise durch die Schleichwege, Treppen rauf und wieder runter, bis ich bei der Tür in der Nähe der Frauentoiletten im Parterre wieder herauskam. Ich kam auch noch die Treppen bis in den zweiten Rang hoch, wo sich sonst immer die Studenten hineinschlichen, jeder wusste es, man drückte ein Auge zu. Aber jetzt stand da eine Saalaufseherin, die ich nicht kannte und die, was noch viel wichtiger war, mich nicht kannte.
Ich sagte ihr flüsternd, wer ich sei. Wer meine Mutter sei. Dass ich den Aufführungen immer hier zuschaute. Mehr noch, manchmal schaute ich sogar von der Abendregie aus zu.
Worauf sie: ungläubig den Kopf wiegte.
Als ob ich lügen würde! Wie kann sie mich für eine Lügnerin halten, wo sie mich doch gar nicht kennt? Wer ist sie überhaupt? Sie ist die Fremde hier, die sich nicht auskennt, nicht ich! Ich spürte, wie ich einen roten Kopf bekam.
Okay, sagte ich, dann frage ich Herrn Schubert!
Leiter Einlasspersonal. Der so streng war, dass er selbst Besuchern in der Pause sagte, wo und wie sie im Foyer sitzen durften und wo und wie nicht (auf den Treppen, im Schoß voneinander). Aber selbst er tat so, als wüsste er nicht, dass sich Leute in den zweiten Rang schleichen! Nicht immer, nicht jeden Abend, aber es kam vor! (Auch er hätte mich vor der Pause nicht reingelassen. Aber er hätte es nett gesagt. Sie müssen warten, Sie wissen ja, wie es ist.)
Aber sie hier: zuckte nur stumm die Achseln. Als sagte ihr der Name Schubert gar nichts. Da kam endgültig dieser ganze Tag über mich: erst der Schrecken und die Angst, dann die Wut, die Kälte, das Alleinsein mit allem, und ich machte mich mitnichten auf die Suche nach ihrem Chef, ich blieb dort stehen und fing zu zittern an und dann auch zu schluchzen. Rotz und Tränen explodierten in meine vors Gesicht geschlagenen Handflächen und würden bald durch die Finger tropfen, mit so einer Wucht musste ich weinen. Woraufhin sie: mir einfach den Rücken zukehrte. So standen wir da, im Flur vor dem zweiten Rang: ich mich schüttelnd und schluchzend, sie mit dem Rücken zu mir.
Dass ich mich auf die Tür stürzen könnte, dachte ich, der sie ebenso den Rücken zugekehrt hatte wie mir, sobald ich wieder Luft hätte und sie nicht damit rechnete. Sie aufreißen und drin sein, bevor sie was tun könnte. Mit Krach natürlich, störend für jedermann dahinter, bis hinunter zur Bühne, aber das wird ihre Schuld sein, sie hätte mich einfach reinlassen sollen, solange ich noch höflich darum bat. Aber es war wahrscheinlicher, dass ich nicht schnell genug sein würde, auch unter normalen Umständen nicht, sie war doch näher dran, ich hätte sie am Ende noch schubsen müssen, auch das hätte krachen können, und ich hätte ihr ins Gesicht schreien müssen, was sie für eine dämliche Kuh sei, ja, wisse sie denn nicht, dass sich meine Mutter heute fast umgebracht hätte? Kein Wunder, wenn man es doch tagein, tagaus mit solchen herzlosen Hexen zu tun hat!
Natürlich brachte ich nichts davon heraus und konnte mich auch weiterhin nicht rühren. Nach einer Weile schaffte ich so viel, mich auf den Boden niederzulassen, mit dem Rücken ans Treppengeländer gelehnt, die Arme auf die Knie, den Kopf auf die Arme gelegt. Herr Schubert hätte das nicht durchgehen lassen, dass man auf dem Boden herumsitzt, auf dem abgewetzten roten Teppichboden, bis man sich so weit beruhigt hat, dass man wieder stehen und die Treppen hinunterwanken kann, dabei nur noch ab und zu die Nase hochziehend. Sie hier tat die ganze Zeit so, als wäre ich längst nicht mehr da.
Irgendwann gelang es mir, aufzustehen und ins Foyer im ersten Stock hinunterzugehen, in die Bar, wo man mich kannte. Dort würde ich warten können, sie würden mich beschützen, sollte sich die Neue über mich beschweren. In der Bar war niemand. Ich setzte mich auf eine gepolsterte Bank vor dem Fenster, wie es sich gehört. Ich hörte die Schließerinnen weit weg etwas reden. Niemand kam in meine Nähe. Da fiel mir ein, dass die hier das mit meiner Mutter noch gar nicht wissen. Jemand muss es ihnen sagen. Wer könnte das sein, außer mir? Die Polizei, das Krankenhaus? Wohl eher nicht. Dieser Gedanke beruhigte mich oder zumindest lenkte er mich ab. Dass ich diejenige war, die andere informieren musste und konnte. Ich werde darüber bestimmen, wer was über meine Mutter und mich erfährt. Der Theaterdirektion werde ich es wohl sagen müssen. Aber in der Schule niemandem. Was geht es sie an? Und Tante Angela? Wenn ich sie mögen würde. Wenn sie uns mögen würde. Wenn sie fragen würde. Bernd und Noah schon eher. Meinen sogenannten väterlichen Freunden. Und ihm, auf den ich hier warte.
Das Theater, die Schule, die Tante habe ich mir nicht selbst ausgesucht. Die Männer kannte ich seit letztem Herbst. Meine Mutter, die seit einer Weile nur noch Nebenrollen bekam, darunter eine winzige mit nur einer Szene, nach der sie aufs Verbeugen verzichtete, verbrachte mehr Zeit zu Hause, als es mir lieb war, auch wenn sie das Elternschlafzimmer kaum verließ. Ich verbrachte meine freie Zeit lieber auf der Straße und noch lieber in der Redaktion.
Gegen Ende des letzten Schuljahres hatte es einen stadtweiten Schreibwettbewerb gegeben, den ich in meiner Alterskategorie mit einem Gedicht gewann. Ich schrieb sonst keine Gedichte, es hatte sich nur so eingeschliffen, dass ich an beinahe allen Wettbewerben teilnahm, die man uns in der Schule vorlegte. Ich mochte Wettbewerbe, das Nichtalltägliche daran, und dass ich recht häufig gewann. Die Preise waren Urkunden, lobende Erwähnungen, eine gute Mitarbeitsnote und manchmal ein Buchgutschein. Dieses Mal, dass die prämierten Werke in der Tageszeitung erschienen und die Gewinner eine Betriebsbesichtigung in der Redaktion und der Druckerei machen durften.
So lernte ich den Ersten kennen, einen Mann mit dem Namen Bernhard Bock und der tiefsten Bassstimme, die ich je in meinem Leben gehört hatte. Er war der stellvertretende Chefredakteur und unser Führer vor Ort und so freundlich und sogar fröhlich, wie ich das sonst kaum von einem Erwachsenen kannte, schon gar nicht von jemandem in einer »Position«. Er nannte sich selbst den Subcomandante. Ich bin der Subcomandante dieser Einheit. Ich lachte über jeden einzelnen seiner Scherze, manchmal als Einzige, er zwinkerte mir verschwörerisch zu, und ich beschloss, Schluss mit den kindischen Probeläufen in Schulwettbewerben, es wird Zeit, sich auf eine Sache zu fokussieren, und zwar mit allem, was man hat.
Gleich am nächsten Tag, bevor er vergessen würde, wer ich war, ging ich wieder hin und sagte zum Portier, denn natürlich gab es auch hier einen Portier: Muna Appelius für Bernhard Bock, bitte. Er brauchte ewig, bis er meinen Namen verstand und ins Telefon sagen konnte: »Ein Fräulein Apell ist hier.«
Fräulein Appelius, sagte der Subcomandante. Seine Augen unter den buschigen Brauen funkelten fröhlich. (Er freut sich auch, mich zu sehen!) Was kann ich für Sie tun?
Ich sagte, ich möchte bei der Zeitung hospitieren.
Was wollen Sie lernen?
Alles.
Sie wollen Redakteurin werden?
Journalistin.
Na, dann gibt es ja wenigstens in Teilbereichen Überschneidungen, sagte er und zwinkerte.
So durfte ich in den Sommerferien drei Wochen lang sechs Tage die Woche in die Redaktion kommen.
Ich tat, was man mir sagte: Ich kochte, fegte, klaubte zusammen, tischte auf, brachte hin und her, adressierte, klebte zu, begleitete, saß dabei, nahm entgegen und rief an (Das nächste Mal meldest du dich mit Namen, ja?), und schließlich verfasste ich meinen ersten Einspalter zu der Abschlussausstellung eines Amateurfotowettbewerbs zum Thema »Arbeit in der Stadt«.
Sehr schön, sagte Bernd Bock. Nun hätte ich alles getan, was ich hier tun konnte, alles Wesentliche gesehen und mehr als ausreichend passiv geraucht. Er könne meine minderjährige Anwesenheit in den Redaktionsräumen nicht länger rechtfertigen, aber er würde mich wärmstens ans Magazin weiterempfehlen, das erscheint zweimonatlich und würde besser zu mir passen. Du wirst sehen.
Das Magazin machten sie nur zu dritt in einer Wohnung im ersten Stock über dem Antiquariat mit der Eule, das von einem Mann mit gezupften Augenbrauen und Seidentüchern für Frauen um den Hals geleitet wurde. Er wurde mir als Noah Klein vorgestellt. Er duftete vorzüglich. Noah war neben dem Antiquariat auch für das Archiv des Magazins und für die Korrekturen zuständig. Denn selbstverständlich haben wir für Personal kein Geld, wir machen das alle nebenbei. Die Wohnung war zu ihren Glanzzeiten eine Schönheit mit riesigen Erkerfenstern und unendlichem Parkett, das sie brutal aufgeklopft hatten, um Gaskonvektoren unter die Fenster zu knallen. Die aus der Schule bekannten Neonleuchten hingen aus Stuckrosetten.
Wer hat diese Abscheulichkeiten hier aufgehängt?, entfuhr es mir.
So schloss Noah mich ins Herz.
Und man nennt das nicht erstes OG, sondern eine Beletage, wie meine Mutter mich aufklärte. Und natürlich kannte sie auch Noah Klein. Wer kennt Noah Klein nicht? Anders, als man vermuten würde, beschützt ihn die Tatsache, dass er Frauenkleider trägt. Oder dass seine Eltern beide zurückgekommen und geblieben sind.
Er trägt keine Frauenkleider. Nur das Tuch. Und der Pullover ist vielleicht auch ein Damenpullover. Und woher sind seine Eltern zurückgekommen? Aus dem Westen?
Aus dem KZ, Mäuschen.
Oh.
Die Neonröhren hingen über einem langen, nach Möbelpflege riechendem Holztisch, um den schwere Stühle mit geschnitzter Holzlehne und einer Sitzfläche aus abgewetztem, rissigem Leder standen. An der Wand ein altes Buffet, eingequetscht zwischen alten und neueren Regalen, die fast vollständig mit Ausgaben des Magazins gefüllt waren. Die Farbe des Magazins ist Gelb, die älteren Exemplare waren schon ganz ausgeblichen, manche verblassten mehr ins Graue, andere ins Orangefarbene.
War das hier mal das Esszimmer?
Kurz gesagt hatte Noahs Familie die Wohnung nicht an die Kommunisten verloren, sondern schon vorher, die Kommunisten hatten sie ihnen nur nicht wiedergegeben, aber er durfte den Laden führen und mit dem Magazin hier arbeiten und in den ehemaligen Dienstbotenräumen wohnen, in denen er auch aufgewachsen ist, er hatte es nicht weit, das war ein großer Vorteil. Wenn du mich unten nicht findest, dann hier, wenn nicht hier, dann nebenan.
Er zeigte mir die erste Ausgabe des Magazins aus dem Jahre 1958.
Warum gerade 58?
Es sollte 48 sein, hundert Jahre nachdem die Vorgängerin, die es zwischen 1832 und 1848 gab, eingestellt worden ist. Es gab halt einige Verzögerungen.
Dann die aus dem März 1971, als ich geboren wurde. Die hatte eine Kunstbeilage, leider nur in Schwarz-Weiß. Alles wird schon brüchig, wie schade.
Das Papier ist säurehaltig. Es zersetzt sich.
Bernd gab mir die drei letzten Ausgaben zum Lesen mit und außerdem einen mit Spagat zusammengehaltenen Packen, den er aus einem der neueren Regale genommen hatte. Unverlangt eingesandte Manuskripte.
Lies die mal und sag uns, was du davon hältst. Redaktionssitzung ist am Montag, 17:30 Uhr.
Das war an einem Freitag. Ich las alles im Laufe des Wochenendes. Draußen zerrte der erste Herbststurm an den Bäumen, Blätter und kleine Zweige flogen gegen das Fenster, ich legte die Papiere in unserem Wohnzimmer aus, wo auch der Schreibtisch meines Vaters stand, und hielt zwischen ihnen Hof. Ich arbeitete zweimal vierzehn Stunden und schaffte so den Packen, mit Notizen zu jedem einzelnen Text. Ich machte drei Stapel: die schlechten, die mittelmäßigen, die guten. Die guten waren zu dritt.
Es war noch genug Zeit, dennoch trabte ich – ja, ich trabte, ich hatte und habe einen schnellen und lauten Gang – nach der Schule eilig nach Hause und dann mit dem Packen gleich wieder los, um ja nicht zu spät zu kommen. Aber nachdem alles, die Schule, unsere Wohnung, das Antiquariat und die Beletage, innerhalb eines Kilometers lag, war ich natürlich zu früh, also machte ich noch eine Runde um die Innenstadt herum und wäre am Ende doch fast zu spät gekommen.
Die Türklingel war erschreckend laut, ich ließ sie los, dann drückte ich sie sicherheitshalber noch einmal, aber da hörte ich schon Absätze auf dem knarzenden Parkett. Noah trug einen pfirsichfarbenen Lippenstift zu einem pfirsichfarbenen, eng anliegenden Kurzarmpullover aus den Siebzigern, Brüste trug er nicht. Danke!, rief ich und stürmte an ihm vorbei, fiel durch die nächste Tür ins Zimmer mit dem großen Tisch und den Regalen, wer im Raum war, schreckte hoch. So sah ich ihn zum ersten Mal, sich irritiert nach mir umdrehend: den schönsten Mann, den ich je im Leben sehen würde.
Er trug ein altes braunes Sakko mit Ellbogenschonern. Die sah ich zuerst. Die Ellbogenschoner, dann die Schultern, das Revers, den Hals, das Kinn, die Lippen, die Augen, blau, und schließlich die Zornesfalte zwischen den Augenbrauen. Er hatte sich mit Bernd über Fotos gebeugt, die auf dem Tisch lagen, der Luftstoß aus der von mir aufgestoßenen Tür wehte bis dorthin und hob die Ecke eines Bildes an.
Na, wo brennt’s denn?, fragte Bernd.
Nirgends, sagte ich. Ich hab mich nur so beeilt.
Magnus, das ist Muna, unsere Praktikantin, ihr kennt euch noch nicht. Muna, das ist Magnus, unser Bildredakteur.
Er nickte und drehte sich zu den Fotos zurück. Wieder die Ellbogenschoner, wie kleine braune Schilder, die aufgerichtet wurden. Ich ging um den großen Tisch herum und stellte mich zu Bernd.
Die Zornesfalte zwischen den Augenbrauen hob sich, fragend. Ich lächelte direkt auf sie zu und fragte mit einer etwas naiveren Stimme, als ich normalerweise sprach:
Darf ich mitgucken? Was ist das?
Versteckte Statuen in der Stadt, sagte Bernd.
Von wem versteckt?
Meist von städtebaulichen Entscheidungen.
Wer hat die Fotos gemacht?
Ein Fotograf namens Motto. Bernd lachte.
Motto? Wie das Motto?
Wie M. Otto, sagte Noah. Magnus signiert so.
Die kenne ich! Die steht im Hof des Gerichts.
Magnus atmete ein und aus, schob die Fotos hin und her.
Ich sag mal, das hier, sagte Bernd und nahm eins heraus. Zwar war das eine der besten Aufnahmen, aber die Statue stand in einem abgeschlossenen Bereich zwischen einer Häuserreihe und der Stadtmauer, da kommt keiner ran.
Ich dachte, darum geht es. Um versteckte Statuen.
Offenbar doch nicht so sehr versteckt. Eine abgeschlossene Gittertür, das bringt nur Unmut.
Kann ich das Foto haben?
Bernd lachte. Noah sagte, es gehört Magnus.
Wenn man noch einen Abzug machen lässt?
Von Magnus’ Fotos kann man nicht beliebig Abzüge machen lassen, sagte Noah.
Oh.
Ich kannte Leute, die zu Hause Fotos entwickelten. Er hier aber signierte und hatte Urheberrechte.
Sie hielten noch einmal fest, welche acht Bilder erscheinen würden, dann sagte Magnus »Tschüss« und ging.
Ist er immer so mürrisch?
Ich würd’s so sagen: Er strengt sich nicht extra an. Ebenso wie du dich nicht extra anstrengst, zurückhaltend zu sein.
Ich habe sie gelesen, sagte ich, um meine mangelnde Zurückhaltung in einem günstigeren Licht erscheinen zu lassen, und teilte den Manuskriptpacken. Das sind die Guten, das sind die Fast-Guten und das die Fürchterlichen.
Bernd lächelte.
Ich schau sie mir später an.
Das sind die drei Guten!
Ich werde mich auf die konzentrieren.
Kommen sie dann im nächsten Heft? Darf ich sie korrigieren?
Im nächsten Heft? So schnell schießen die Preußen nicht. Und wir korrigieren sie nicht, sondern betreuen sie redaktionell. Und das machen Noah und ich, manchmal Magnus, du darfst mitlesen.
Ich sah mir die Fotos an. Wie schön sie waren. Die Ball spielenden Kinder, die aussahen, als würden sie von irgendwas nach unten gezogen und nur noch der Ball hielte sie an der Oberfläche. Und die muskulöse Frau, die gerade einen Brotlaib anschneidet und die ständig von jemandem mit Farbe beschmiert wird.
Wenn von einer schlechten Statue ein gutes Foto gemacht wird, also von einem schlechten Kunstwerk ein gutes: Was haben wir am Ende?
Das ist eine interessante Frage!
Noah lächelte. Er hatte etwas Lippenstift an einem Eckzahn.
Die blauen Augen unter den zusammengezogenen Brauen fielen mir wieder ein. Sein Hals über dem Hemdkragen. Ich habe eine Ader pochen gesehen.
Hat er irgendwo ein Atelier?
Wer?
Der Fotograf.
Nein. Er ist Lehrer.
Lehrer, was?!
Ja. Am Französischen Gymnasium.
Es gab in unserer kleinen Stadt zwei Gymnasien. Meins und das Französische. Meine Mutter wollte, dass ich ins Französische gehe. Verdammt. Ich versuchte, mich an noch mehr von ihm zu erinnern, an seine Hände, seine Zähne, aber es gelang nicht wirklich.
Hörst du zu?
Sie zeigten mir, was sie vom neuen Heft schon dahatten. Ich durfte die Korrekturen auf einer riesigen Optima abtippen. Ich schaffte nur eine Seite, bevor ich gehen musste, aber ich durfte einen weiteren Packen zum Lesen mitnehmen.
Aber diesmal nicht so schnell, ja? Du musst nicht nächste Woche schon fertig sein.
Ich ließ mir noch erklären, wo dieser abgesperrte Bereich der Stadtmauer war. Hier, vor meiner Nase.
Du gehst offenbar mit ganz offenen Augen durch die Welt.
Es war sogar nur ein Gitter, keine Gittertür, die einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern am Platz der Ursulinen versperrte. Dahinter schien es wieder breiter zu werden, es gab wohl mal den Gedanken an einen kleinen Park, aber er war zu versteckt, die Leute haben ihn zu schmutzigen Dingen benutzt, sprich als Toilette, zum Sex und wer weiß, vielleicht sogar für Drogen.
Ich kramte die Beirette meiner Mutter hervor, es war sogar ein nur halb abfotografierter 24er-Film drin, und ging zum Gitter zurück, um eine Aufnahme davon zu machen, das heißt zwei: einmal so, dass der Vordergrund, und einmal so, dass der Hintergrund scharf war.
Und warum gehe ich eigentlich nicht aufs Französische Gymnasium?
Weil ich dorthin gehe, wohin schon mein Vater gegangen ist. Und es ist näher am Theater, aber seitdem meine Mutter so sehr unter ihren Nebenrollen litt, ging ich nach der Schule nicht mehr dorthin. Ich lief mit der Beirette in der Stadt herum. Meine Mutter und ich hatten das früher oft zusammen gemacht. Das waren die Momente größter Harmonie zwischen uns. Als ich klein war, hatte ich Angst. Ich habe keine Angst, sagte ich und griff nach ihrer Hand. Wenn ich’s mir recht überlege, waren wir gar nicht spazieren, sondern sind zu Leuten gegangen, und auf dem Rückweg war es dann schon dunkel. Komm, sagte meine Mutter dann, wir machen einen Nachtspaziergang.
Jetzt war es auch gleich dunkel, kaum dass man losging, der Herbst ist eine ungünstige Zeit, um mit Freilichtfotografie anzufangen. Bis drei in der Schule, und danach wird es gleich finster und kalt. Man bräuchte fingerlose Handschuhe. Ich werde sie mir zu Weihnachten wünschen. Meine Mutter kennt Leute, die sowas stricken können. Und ein paar neue Filme. Hoffentlich vergisst sie’s nicht. Neuerdings vergisst sie alles.
Anfangs suchte ich einige der Statuen von Magnus’ Fotos auf, an die ich mich erinnern konnte. Ich versuchte, meine eigenen Bilder von ihnen zu machen, suchte nach besonderen Perspektiven, endete schließlich bei Details, so nah, dass man nicht mehr hätte sagen können, um welchen Teil wovon es sich handelte: ein steinernes Knie, eine Augenbraue? Ich drückte selten ab. Man musste sparsam mit dem Film sein. Es waren nur noch fünf Aufnahmen übrig, als ich auf eine eigene Idee kam: eine Serie von Gittern zu machen. Würden sie eine Serie von Gittern im Magazin bringen? Oder wäre das schon zu viel?
Weil er am nächsten Montag nicht bei der Sitzung war, ging ich Dienstag nach der Schule zum Französischen Gymnasium und lungerte dort so lange herum, bis ich ihn herauskommen sah. Er schwang sich noch im Torbogen aufs Rad und fegte an mir vorbei. Er trug einen gestreiften Schal zum alten braunen Anzug mit Weste wie bei unserem ersten Zusammentreffen. Die Mädchen von seinem Gymnasium sahen ihm auch hinterher. Sie kicherten, ich kicherte nie.
Im Schrank meines Vaters hingen noch seine Hemden und auch noch eine alte Weste, wohl noch von seinem Vater oder sogar dessen Vater. Sie passte mir. Ich zog ein Hemd an und probierte auch eine Hose, ich wollte einen ganzen Anzug haben, aber das funktionierte nicht. Die Hosenbeine waren hoffnungslos zu lang. Wie ein Clown. Ich ließ die Hose weg. Ich ging am nächsten Tag im Hemd, Wollstrumpfhosen und der Weste in die Schule.
Wie siehst du denn aus?
Außerdem rochen die Sachen etwas muffig, nach Schrank, nach altem Papier, nach dem Tabakrauch eines Mannes, der seit 10 Jahren tot war.
Die Augen meiner Mutter, als sie mich darin sah.
Ist es schlimm, dass ich die Sachen angezogen habe?
Nein, sagte sie. (Ich war dankbar.) Es steht dir nur nicht. (Und schon war das wieder vorbei.)
Die Bilder von den Gittern wurden recht grau in grau. Ebenso die Sehenswürdigkeiten der fremden Stadt, die mit auf dem Film waren, aufgenommen von meiner Mutter während eines Gastspiels. Als würde es Strippen regnen. Vielleicht war der Film schon zu alt.
Wo ist unser Kellerschlüssel?
Wieso?
Ich brauche mein Rad.
Jetzt? Wo es Winter wird?
Mein altes Rad hatte eine Acht. Meine Mutter sagte, wir haben kein Geld für ein neues, aber sie könnte einen gewissen Gerd vom Theater fragen, ob er’s wieder hinkriegt. Aber warum wühlt dich das so auf?
Das wühlt mich nicht so auf! Ich meine, ich bin nicht aufgewühlt. Nur ungeduldig.
Das war ich tatsächlich. Seitdem ich mich durchgerungen hatte, mich bei der Zeitung zu bewerben, war ich in einem Modus, in dem ich immer alles jetzt und hier gelöst haben wollte.
Jetzt und hier, jetzt und hier!
Ich ging mit dem kaputten Rad zum Theater, wo ich nach einem Gerd fragte, der natürlich von nichts wusste, mich aber offenbar wiedererkannte (anders als ich ihn) und Ehrke empfahl, den ehemaligen Rennfahrer, sag, du kommst vom Gerd, und grüß deine Mutter von mir. Ehrke sagte, er brauche vier Wochen, um das Rad fertig zu machen, aber weißt du was, er hatte schon einige aufgemöbelte Räder da, für sage und schreibe 50 Mark überlasse er mir eine Schepperkiste ohne Beleuchtung, du fährst doch nachts nicht herum, oder?
Aber ich fuhr in der Nacht herum, es gab ja fast nichts anderes. Ich folgte dem funzelnden kleinen Rücklicht auf Magnus’ Rad, solange ich es eben sehen konnte. Er fuhr wie der Teufel, am Fluss entlang, durch den Park, den Hügel hinauf, Richtung Neubaugebiet. Mein Rad schepperte, meine Strumpfhose zerriss, ich keuchte, ich verlor ihn aus den Augen, aber jeden Tag kam ich ein wenig weiter mit, und eines Tages, das war schon Anfang Dezember, schaffte ich es bis in die Neustadt hinaus und konnte gerade noch sehen, in welchem Haus er verschwand. Einem zehnstöckigen Neubau. Der Nachname Otto ist bei uns so häufig, dass er zweimal auf dem Klingelschild vorkam, einmal als F. Otto und einmal als G. Otto. Einen M. Otto gab es nicht. Ich klingelte natürlich nicht.
Bei den Redaktionssitzungen ließ er durch nichts darauf schließen, dass er bemerkt hätte, dass ich ihm hinterherfuhr. Nachdem ich die Schepperkiste für weitere 20 Mark gegen mein ursprüngliches Rad getauscht hatte, hatte ich auch eine Beleuchtung, und das Rad war auch nicht mehr so laut. Eine Schaltung hatten beide Räder nicht. Der Winter blieb ohne Schnee, es war nur kalt, Magnus fuhr weiterhin jeden Tag mit dem Rad, aber nicht jeden Tag gleich in die Neustadt.
Zweimal ging er in ein Geschäft, in dem man Bilder rahmen lassen konnte, aber er hatte keine Bilder dabei. Oder sie waren so klein, dass sie in seine Tasche passten. Er hielt regelmäßig vor Antiquariaten, an der Bibliothek, am An- und Verkauf. An Tagen, an denen ich ihn aus den Augen verlor, fuhr ich all diese Orte ab, jedes Mal erfolglos. Ich hatte die fingerlosen Handschuhe bekommen, in denen ich todschick war, aber auf dem Fahrrad froren meine Hände bitterlich. Trotzdem zog ich keine anderen an. Einmal folgte ich ihm sogar bis zum Uniclub hoch. Am Anstieg verlor ich ihn natürlich, aber dann war es sowieso keine Frage, wohin er fuhr. Die Tür des Clubs stand sperrangelweit offen, Helligkeit, Musik und Menschenlärm fielen auf die Straße. Kein Mensch fragte, man konnte einfach so rein. Ein großer Raum mit einem Tresen an dem einen und einer Bühne am anderen Ende, dazwischen chaotisch Stühle und Tische. Auf der Bühne saß ein Mann hinter einem elektrischen Cello und spielte manchmal einige Töne, ein anderer zupfte ebenso zufällig an einer elektrischen Gitarre, die auf dem Tisch vor ihm lag, und drehte an Reglern auf einem Mischpult. Es gab rotes Licht, das dunkel und zugleich grell war, die Leute rauchten beißende Zigaretten. Ich setzte mich nicht an einen der Tische in der Mitte des Zuschauerraums, sondern in die Stuhlreihe an der Seite, so hatte ich die Wand im Rücken. Ich schloss die Augen und fragte mich, ob man sich an so etwas gewöhnen konnte. An so eine Musik. Anfangs versuchte ich, mich noch darauf zu konzentrieren, was auf der Bühne vor sich ging, aber das war kaum möglich, es gab zu viele andere Geräusche. Der Ausschank, die Leute, das Rascheln, die Schritte, das Reden, die Klotür, ab und zu ein Auto draußen. Aha, dachte ich, möglicherweise ist es so gemeint. Dass das alles die Performance ist. Prinzipiell war ich in der Lage, das zu verstehen, aber je mehr Zeit verging, umso weniger konnte ich mich als Teil davon betrachten, umso mehr störten mich die Misstöne darin, wie sie zupften, strichen, regelten, schritten, redeten, klimperten, lachten. Die tun doch alle nur so als ob. Ich bekam ein schlechtes Gewissen gegenüber meiner Mutter und den Leuten am Theater. Sie schauspielerten, aber sie taten nicht so als ob. Sie bemühten sich, im Gegenteil, um eine so große Aufrichtigkeit, wie es ihnen überhaupt möglich war. So gesehen konnte ich diesem sogenannten Free Jazz am Ende doch dankbar sein. Ich hatte wieder etwas gelernt.
Ich öffnete die Augen und erschrak fast zu Tode.
Er saß unmittelbar neben mir. Ich war im Stuhl hinuntergerutscht, die Hose schnitt zwischen den Beinen ein, es war schon längst unbequem, ich setzte mich ruckartig auf, beschämt, dass er mich vielleicht so gesehen hat und dass er vielleicht dachte, ich wäre hier eingeschlafen.
Du interessierst dich also auch für Jazz, sagte er. Er sah mehr zur Bühne als zu mir.
Nein, sagte ich. Mein Vater hat diesen Club besucht. Er hat hier meine Mutter kennengelernt.
Tatsache?
Ja. (Ich hatte nicht daran gedacht, als ich ihm hierher folgte, aber jetzt fiel es mir ein.)
Und, gefällt es dir?
Ich habe gerade darüber nachgedacht, sagte ich.
So viel und nicht mehr. Ich konnte auch knapp sein, wenn ich wollte.
Er fragte nicht weiter.
Wäre ich allein dort gewesen, wäre ich jetzt gegangen, ich war müde, der Zigarettenrauch brannte mir in den Augen und im Hals, aber nun musste ich natürlich bleiben. Er saß so da wie ich davor, etwas heruntergerutscht im Stuhl, er hielt ein Glas mit durchsichtiger Flüssigkeit auf seinem Bauch.
Was trinkst du da?
Gin Tonic.
Und sah weiter zur Bühne.
Ich ging an den Tresen. Gin Tonic kam nicht in Frage, obwohl man mir sicher ohne Weiteres einen gegeben hätte. Normalerweise hätte ich Cola genommen, um vielleicht noch etwas wacher zu werden, aber dann nahm ich doch Tonic ohne Gin.
Er sah die Flasche in meiner Hand. Als hätte er ein wenig gelächelt.
Ich mag kein Tonic, aber ich hatte großen Durst, ich leerte die halbe Flasche, als würde ich diese Bitterkeit mögen.
Und du? Magst du Jazz?
Jazz mag ich schon, sagte er. Und wieder war es, als würde er etwas lächeln.
Aber ist es überhaupt Jazz, was die beiden da machen?, fragte ich.
Endlich sah er mich etwas direkter an.
Darüber habe ich gerade nachgedacht, sagte er.
Ich lächelte, er vielleicht auch, er nahm einen Schluck aus seinem Glas, ich aus der Flasche, und dann sanken wir beide wieder zurück in unsere Stühle, denn ich hatte verstanden, dass er sich, unabhängig davon, was er von ihr hielt, die Aufführung bis zum Ende anhören würde, und das Gleiche würde ich auch tun.
Später fürchtete ich, ihn womöglich zu verlieren, weil ich bei der Toilette anstehen musste, aber er war noch draußen bei den Rädern.
Ich bin auch mit dem Rad da, sagte ich.
Er nickte, stieg auf seins, und einen Augenblick später war er schon weg. Dass er nicht auf mich wartete, nicht mit mir zusammen fuhr, wir uns nicht während der Fahrt doch noch mehr unterhielten, traf mich. Ich war schon drauf und dran, wütend statt betreten zu sein, aber dann hatte ich damit zu tun, Angst zu haben auf der abschüssigen, schlechten Straße, den rutschigen Pflastersteinen, ich hatte das Gefühl, das Rad nicht unter Kontrolle zu haben, fuhr mit angezogenen Bremsen, der Schweiß rann mir in Strömen herunter. Es war doch besser, dass er mich so nicht sah.
Bei der nächsten Redaktionssitzung war er wieder nicht da, und auch das war schmerzlich. Als würde er mich meiden. Dabei hatte ich mich beim Jazzkonzert so schlagfertig und gleichzeitig so zurückhaltend gegeben, wie es mir möglich war. Ich hätte es nicht viel besser machen können.
Ich hörte kaum zu, was Bernd erzählte, bis er sagte: Traust du dir das zu?
Ja, sagte ich. Was?
Solche Leute mögen wir hier, sagte Bernd. Die Ja sagen und erst danach fragen, wozu.
Ins Theater gehen und danach für die Ausgabe des nächsten Tages etwas für die Zeitung schreiben.
In unser Theater?
Nein, sagte Bernd. In den Friedrichstadt-Palast. Beeil dich, dann kriegst du noch den letzten Zug.
Einen Augenblick lang hielt ich das tatsächlich für möglich, und für Bernd gab es nichts Besseres als das Gesicht, das ich bei solchen Gelegenheiten machte.
Aber nein, es ging selbstverständlich um unser Theater. Es wird ein Gastspiel geben, Der Lohndrücker, jeder will es sehen, keiner kriegt Karten, außer mir und noch einigen anderen Glückseligen. Ich sagte natürlich Ja. (Obwohl ich auch ohne die Karte reingekommen wäre. Aber das braucht man nicht zu betonen.)
Meine Mutter versprach, mir das Stück zu besorgen, aber es gelang ihr nicht rechtzeitig, oder sie hatte es vergessen. Ich musste also in die Vorstellung, ohne das Stück gelesen zu haben. Während des ersten Aufzugs machte ich mir eifrig Notizen:
Gibt’s die Butter auch grammweise, Fräulein?
Wenn du mich auf den Arm nehmen willst, überhebst du dich, mein Junge.
Schlagt euch nicht den Schädel ein, zerbrecht euch lieber den Kopf.
Wo ist der Parteisekretär?
Im Westen. Kohn hat da einen Schrebergarten geerbt, und der Sekretär ist mit und hilft umgraben.
Großer Lacher auf und außerhalb der Bühne. Das werde ich wohl nicht zitieren können. Dem Programmheft konnte ich die Namen der Figuren entnehmen, aber auf der Bühne waren sie kaum auseinanderzuhalten. Ich notierte, dass das wohl so gewollt war: Sie waren das Volk. Nur dem Aktivisten Balke hatten sie goldene Hände gemacht. Das hielt ich für eine gute Lösung.
Pause war schon nach knapp einer Stunde, der zweite Akt würde auf jeden Fall noch kürzer sein, aber wenn es irgendwie möglich ist, spielt man auch kurze Stücke nicht durch, denn die Leute kommen, merk dir das meine Kleine, ebenso für die Pause ins Theater wie für die Aufführung.
Ich hatte keine Lust auf die Bar, ich ging zu den Damentoiletten, um aus dem Hahn zu trinken, und da sah ich ihn: Er stand in der Nähe der Garderobe und unterhielt sich mit einer Frau, genauer gesagt, er hörte einer Frau zu, die auf ihn einredete. Eine Rothaarige. Eine rot gefärbte. Älter als er. Er sah ihr freundlich in die Augen und nickte mehrmals, als verstünde er nicht nur, was sie sagte, sondern stimmte dem auch zu. Der Anblick traf mich mit einer Wucht, dass ich befürchtete, mir in die Hosen machen zu müssen. Ich rannte schnell auf die Toilette und blieb dann dort in der Schlange stecken. Sah mich mit roten Wangen, zerzaust, im Spiegel. In Zukunft schminkst du dich gefälligst, bevor du aus dem Haus gehst! Jetzt aber blieb mir nichts anderes übrig, als mir kaltes Wasser ins Gesicht zu patschen. Es half nicht viel. Überall rote Flecken, im Gesicht, am Hals, an den Oberarmen. Ich sah so aufgelöst aus, wie ich war. Ich biss schmerzhaft die Zähne aufeinander, um mich ein wenig härter zu machen. (Als könnte man jemals eine Kante in diese Wangen kriegen!)
Als ich wieder herauskam, redeten sie immer noch, und er hörte ihr immer noch genauso aufmerksam zu. Wieso hörst du mir nie so zu? Bin ich so ein Niemand? Ich musste ein Winseln unterdrücken, so sehr nagte die Eifersucht an mir. Die reine sexuelle Anziehung, was sonst, ich wusste doch sonst kaum was über ihn, außer dass er schön war. Ich gehe jetzt zu ihnen hin und spreche sie an. Aber, natürlich, da war die Pause vorbei.