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Tauche ein in die fantastische Welt der liebenswerten Hexe Muriel, die im Kampf gegen Tierfänger und den Teufel höchstpersönlich über sich hinauswächst! Es kann die netteste Hexe nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Teufel nicht gefällt. Da hat sich Muriel Krötenbein unauffällig durch die Jahrhunderte gemogelt, hat Inquisition und Hexenverfolgung unbeschadet überstanden und nun das: Der Herr der Finsternis persönlich trachtet nach ihrer Seele. Dabei hat die Hexe gerade ganz andere Sorgen. Sie ist einer Bande von Tierfängern auf der Spur. In einem geheimen Labor geschehen merkwürdige Dinge. Und nun soll sie es auch noch mit dem Teufel aufnehmen. Dabei ist es mit Muriels magischen Fähigkeiten nicht gerade gut bestellt. Zu lange hat sie angepasst mitten unter Menschen gelebt und ihr Können als Hexe sträflich vernachlässigt. Glücklicherweise erhält sie unerwartet Hilfe und findet neue Freunde. In letzter Sekunde erkennt Muriel, dass einer ihrer Verbündeten, Gevatter Tod, in ernsten Schwierigkeiten steckt und dass all die merkwürdigen Dinge, die ihr plötzlich widerfahren, miteinander verknüpft sind. Sie muss über sich selbst hinauswachsen. Aber ist sie dem Herrn der Finsternis gewachsen?
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Seitenzahl: 405
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Sokrates Hyronimus Moritz Leo Hector......
Gevatter Tod
Das Labor
Pascha
Achtung! Neugierige Nachbarin!
Unerwartete Wendungen
Der Zahn der Zeit
Almanach
Endlich! Ein Plan
Direktor Ricotta
Ein magischer Ort
Der Herr der Finsternis
Professor X
Veränderungen
Das Wesen
Zwischenspiel
Wulf
Der Teppich
Gorgul
Die Lage spitzt sich zu
Das Ende
Epilog
Muriel saß gemütlich in ihrem alten Schaukelstuhl und blickte versonnen über den Rand einer Teetasse aus dem Fenster. Eine leichte Decke schützte sie vor der morgendlichen Kühle und der Tee in ihrer Lieblingstasse verbreitete seinen aromatischen Duft. Melisse und Minze. Das passt zu der Stimmung dieser Tageszeit sinnierte die Hexe. Sie liebte diese frühe Stunde, ihre blaue Stunde, wie sie sie gerne nannte. Die Stunde, die nur ganz ihr allein gehörte, die Stunde, an der sie von ihrem Platz aus zusehen konnte, wie alles Leben um sie herum erwachte. Wie so oft um diese Zeit dachte sie darüber nach, wie die Welt sich doch im Laufe der letzten Jahrhunderte verändert hatte. Woher mochten diese Gedanken wohl kommen? Möglichweise war die leichte Melancholie daran schuld, die über allem lag, kurz bevor die ersten Sonnenstrahlen über den milchigen Horizont krochen. Aber eigentlich spielte das keine Rolle. Schon schweiften Muriels Gedanken weiter. Heute, da die natürlichen Biotope immer weniger wurden, musste eine Hexe mit dem Vorlieb nehmen, was sich ihr eben bot. Einsame Waldlichtungen waren so selten geworden, wie rosafarbene Drachen. Wenn man wirklich einmal einen idyllischen Flecken fand, an dem keine Autobahn die Landschaft mit lauten Getöse durchquerte, suchten oft ganze Horden von Wanderern die Wälder heim und Radfahrer in schreiend bunten Sportklamotten holperten mit ihren Mountainbikes über Wiesen, Wald und Feld. Ohne Rücksicht auf Verluste und erst recht ohne Rücksicht auf die Privatsphäre einer Hexe. Nirgends hatte man seine Ruhe, ständig musste man damit rechnen, dass ein schlammbespritzter Radler plötzlich an die Tür klopfte und das Klo benutzen wollte. Da war es schon besser, am Rande der großen Stadt in einem kleinen Schrebergarten möglichst unbehelligt sein Dasein zu fristen. Wobei – Muriel hätte es deutlich schlechter treffen können. Schließlich liebte sie ihren kleinen verwunschenen Garten, der durchaus das eine oder andere Geheimnis vor den neugierigen Augen ihrer Nachbarn verbarg. Und wirklich klein war er – nebenbei bemerkt – auch nicht. Wenn es anders wäre, hätte ich es hier nicht so lange ausgehalten grübelte sie. Schließlich lebte sie nun schon seit fast einem Jahrhundert auf diesem Fleckchen Erde und die meiste Zeit hatte sie es sich hier richtig gut gehen lassen.
Die Hexe seufzte wohlig, kuschelte sich ein wenig tiefer in ihre Decke und trank noch einen Schluck Tee. Der Morgen war frisch. Sie spürte deutlich, dass der Sommer sich seinem Ende entgegen neigte und der Herbst vor der Tür stand. Heute hatte sie zum ersten Mal seit Monaten ein Feuer in dem kleinen Holzofen geschürt, aber es würde noch ein wenig dauern, bis es die Kühle der Nacht aus ihrem Häuschen vertrieben hatte. Nur noch wenige Wochen, und das Laub der Bäume, das sich sein ein paar Tagen deutlich färbte, würde zu Boden rieseln wie herbstlich-buntes Konfetti. Aber noch war es nicht soweit. Muriels Gedanken begaben sich erneut auf Wanderschaft. Eigentlich konnte sie zufrieden sein. Sie hatte ihr Auskommen, das sie durch den Verkauf von selbst erzeugten Bioprodukten und durch ihre wunderbaren Tees mit den mehr oder weniger starken „Nebenwirkungen“ bestritt. Ihr Liebestrank zum Beispiel, war inzwischen ein zu einem Selbstläufer geworden. Offensichtlich bestand auf der Welt immer noch ein großer Bedarf an Liebe. Das ließ doch hoffen. Auch der Trank gegen Ängste jeder Art lief ganz gut (was natürlich dafür sprach, dass auch die Ängste zunahmen – weniger gut…). Die Kräuter dafür wuchsen in ihrem geheimen Garten, wurden bei Vollmond gepflückt und mit ganz speziellen Zaubersprüchen belegt. Aufgepimpt würde man heute wohl sagen, dachte die Hexe leicht amüsiert. Die Menschen, die zu ihr an den Verkaufsstand auf dem Wochenmarkt kamen, hielten die Namen ihrer Waren für eine ausgeklügelte Marketingstrategie, nicht ahnend, dass sie genau das waren, was auf den Etiketten der kleinen bunten Packungen und den bauchigen Flakons stand – nämlich Zaubertränke und magische Tees.
Und dann war da noch ihr Haus, ihr Zuhause. Es hatte sich im Laufe der Jahrzehnte verändert und natürlich war es etwas ganz Besonderes. Von außen wirkte es bescheiden und klein mit einem geschindelten Dach und Holz an den Wänden. Rotblättriger Wein rankte an einem Spalier bis hinauf zum Dach und die leuchtenden Farben schufen einen schönen Kontrast zu den grünen Fensterläden. Innen aber war das Haus eindeutig das Heim einer Hexe. Auch wenn Muriel es vorzog, sich eher auf ihren wachen Verstand als auf ihre beschränkten magischen Fähigkeiten zu verlassen – in ein paar Dingen war sie eben doch ziemlich gut und was sie tat, machte sie richtig. Meistens jedenfalls. So hatte sie im Laufe der Jahre immer wieder neue Räume angebaut, aber eben nur innen. Außen sah ihr Häuschen mehr oder weniger genau so aus, wie viele andere rings herum. Übrigens - es ist natürlich ein Märchen, das Hexen in einem Lebkuchenhaus wohnen. Hexen, die überleben wollten, hatten gelernt sich anzupassen. Das galt für Ihre Kleidung und ihr Auftreten genauso, wie für die Art, wie sie wohnten. Und heute legte eine moderne Hexe in der Regel Wert auf ein ansprechendes modernes Design, eine gewisse Funktionalität und Platz. Viel Platz! Und Muriel Krötenbein mochte es außerdem gerne gemütlich. In ihren rund 1000 Jahren auf dieser Erde hatte sie schon so Einiges erlebt. Behaglich lehnte sie sich in ihrem Schaukelstuhl zurück und nahm einen Schluck Tee. Versonnen blickte sie auf das verblasste Rosenmuster ihrer Tasse. Sie fand, sie hatte sich ein wenig Gemütlichkeit durchaus verdient. Und wie sollte so etwas wohl in einem Lebkuchenhaus möglich sein? Eben. So etwas geht doch gar nicht! Nach jedem Regen hätte sie das aufgeweichte Dach nachbessern müssen und dazu hatte die Hexe nicht die mindeste Lust (einmal ganz abgesehen davon, was ihre sterblichen Nachbarn wohl davon halten würden). Nein, da werkelte sie lieber im Garten, las in ihren alten Büchern oder stellte neue Mixturen für Zaubertränke (beziehungswiese offiziell besser: Tees und Tinkturen) zusammen. Zaubertränke erfinden, war Muriels Lieblingsbeschäftigung, dabei konnte man so wunderbar kreativ sein! Zwar klappte nicht jedes Rezept auf Anhieb, aber wie sagte man heute doch so schön: Try and Error. Vor ein paar Tagen war ihr eine Mixtur vollkommen daneben geraten und hatte ein Loch in die Arbeitsplatte ihrer Küche geätzt. Überhaupt hatte ihre Küche danach ausgesehen, als hätte ein überambitionierter Siebenjähriger dort seinen Chemiebaukasten explodieren lassen. Zumindest stellte Muriel sich das Ergebnis so vor. Ehrlich gesagt hatte sie aber eher weniger Erfahrungen mit Siebenjährigen. Jedenfalls waren Wände, Schränke und Fenster ihrer Küche mit einer zähflüssigen, schleimigen grünen Masse bedeckt gewesen, die ziemlich eklige Schlieren hinterließ und sich zunächst auch hartnäckig allen Versuchen, sie zu beseitigen, widersetzte. Sie hatte einen ganzen Tag und mehrere Beschwörungen benötigt, um das Chaos zu beseitigen. Aber - mit Rückschlägen musste eine moderne Frau eben auch umgehen können. Im Großen und Ganzen machte sich Muriel keinerlei Illusionen über ihre magischen Fähigkeiten, das störte sie jedoch nicht im Mindesten. Sie hatte sich auch so - oder vielleicht genau deshalb - ganz gut durch die Jahrhunderte gemogelt, Hexenverfolgung und Inquisition unbeschadet überstanden und erfreute sich heute, in Ihren 985sten Lebensjahr, bester Gesundheit. 985 ist für eine Hexe kein Alter. Und sie sah gut aus. Jedenfalls war Muriel zufrieden mit ihrem Aussehen, was natürlich keine Kunst war, schließlich hatte sie als Hexe einen gewissen Einfluss auf ihre menschliche Hülle. Ein wenig Zauberglanz hier und da war dabei durchaus hilfreich. So zeigte sie sich als junge Frau mit einem sportlichen Körper und einer blonden, scheinbar nicht zu bändigenden Lockenmähne. Ihre Haut war makellos und meist leicht gebräunt, im Sommer zierte die eine oder andere Sommersprosse die vorwitzige Nase. Muriels Augen waren blau und wenn sich das Licht auf eine bestimmte Weise darin spiegelte, nahmen sie einen leichten Violett-Ton an. Im Moment konnte man sie auf Anfang dreißig schätzen, allerdings musste sie ihr Äußeres in den nächsten Jahren anpassen, sollte sie auch weiterhin unauffällig in diesem Schrebergarten leben wollen. Eine ewig Dreißigjährige unter lauter Menschen, die immer älter wurden, wäre auch in Zeiten von Botox und Hyaluronsäure zu auffällig. Und nebenbei bemerkt, die Nachbarn waren auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Seit einigen Monaten lebte da zum Beispiel eine ältere Witwe im Haus gegenüber, die mehr Interesse am Leben ihrer Mitmenschen zeigte, als Muriel lieb sein konnte. Die Hexe verscheuchte den Gedanken an Frau Kandelblum resolut und nahm einen Schluck ihres kälter werdenden Tees. Nun - das ließ sich mit zwei kleinen Worten und ein wenig Zauberglanz rasch ändern. Schon dampfte es wieder in ihrer Tasse. Hexen-Grundwissen eben. Muriel blickte wieder nach draußen in ihren Garten. Ach der Garten! Sicher muss nicht extra gesagt werden, dass auch er gewisse Geheimnisse barg, die sich ausschließlich der Hexe erschlossen. Auf den ersten Blick sah sie unzählige bunte Blumen, die einträchtig neben allen möglichen mehr oder weniger bekannten Kräutern wuchsen. Muriel glaubte fast, den betörenden Duft der wilden Rosen zu riechen. An sonnigen Tagen summte und brummte es um einen kleinen Bienenstock herum und in der Gartenmitte lag verschlafen ein winziger Teich im morgendlichen Dunst. Dort saß Muriel übrigens besonders gerne auf der alten Holzbank mit den verschnörkelten Metallfüßen. Ein perfekter Ort zum Entspannen und Nachdenken. Auf den zweiten Blick – nennen wir es den Hexenblick - gab es da einige sehr exotische Pflanzen und Bäume. Der Stamm einer alten Eiche war so dick, das man einen Kleinwagen darin parken könnte. Er erinnerte Muriel an ihre Kindheit. Weil der wirkliche Garten natürlich – genau wie das Haus – viel, viel größer war als er schien, wucherten heimische Pflanzen friedlich neben Gewächsen aus fernen Ländern. Und ganz weit hinten, dort, wo der Garten in das einzige Stück unberührte Natur auf dieser Seite der Straße überging, befand sich sogar eine Art Dschungel mit Schlingpflanzen und einem Mangrovensumpf. Diese Ecke des Gartens suchte die Hexe zwar nur selten auf, aber es gefiel ihr doch, dort alles wuchern zu lassen, wie es der Natur beliebte. Aber wie schon gesagt, Muriels Lieblingsplatz war die Bank am Teich. Morgens saß sie oft dort. Nur – heute regnete es. Leider! Ein grauer, trister, stetig rieselnder kalter Regen. Zu kalt und ungemütlich für Muriels Geschmack. So saß sie an diesem – sehr frühen - Morgen in ihrem Schaukelstuhl in der Küche, wippte leicht vor sich hin und beobachtete, wie die Regentropfen an der Scheibe des Fensters hinunterliefen. Auf dem Schoß hatte sie ein altes Fotoalbum, das sie vor vielen, vielen Jahren einmal angelegt hatte. Die Bilder darin waren vergilbt und grünstichig aber Muriel fand es dennoch schön, von Zeit zu Zeit in der Vergangenheit zu stöbern. Wie schade, dass die Fotografie erst so spät erfunden worden war. Sie hatte nur wenige Erinnerungen an ihre Eltern, denen sie ihre Existenz verdanke und von denen sie ihren Namen bekommen hatte. Krötenbein. Ein wenig stolz betrachtete sie ihre Beine, oder das, was davon zu sehen war. Wie meistens stecken sie nämlich einer nicht besonders dekorativen, aber dafür sehr gemütlichen Jogginghose, einer grauen an diesem Tag. Passend zu Wetter. Jedenfalls verbarg diese Hose wohlgeformte, muskulöse Beine, wie eben die einer Kröte. Und genau wie ihre Namensvetterin konnte sie damit enorm weite und hohe Sprünge machen. Die Hexe schmunzelte in sich hinein. Das war sicher sehr hilfreich, wenn man auf einem Besen ritt und sich beim Start kräftig vom Boden abstoßend musste. Aber das mit dem Besen war schon lange Schnee von gestern. Natürlich gab es immer noch hier und da ein paar Hexenzirkel, die sich mit traditionellem Besenreiten und ähnlichem Firlefanz beschäftigten. Aber eben nur aus Tradition. Die moderne Hexe reiste ganz anders. Viel weniger auffällig und deutlich schneller. Wie bekanntlich jeder weiß, können Hexen sich in Abermillionen winziger elektromagnetischer Pixel zerteilen und schneller als ein Gedanke durch das Internet, durch Stromleitungen oder mit Funkwellen reisen. So können sie an jeden beliebigen Ort der Welt gelangen. Na ja, an fast jeden beliebigen Ort. Und das auch noch schneller als der Schall! Wozu sich also auf einen unbequemen und langsamen Besen quälen? Wer das Reiten auf einem Besen für eine romantische Vorstellung hält, dachte die Hexe, hat noch nie versucht auf einem schmalen Besenstiel bei Windstärke sieben durch ein Gewitter zu fliegen......
Muriel nahm noch einen Schluck Tee. Eine Bewegung hinter dem Teich zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ein sehr nasser und arg zerzauster Kater steckte seinen Kopf aus der Hecke und erschien neben ihrer Bank. Ah Socke ist auch mal wieder da dachte die Hexe. Sie hatte ihn Socke genannt, weil seine Füße schwarz waren, der Rest aber schneeweiß. Normalerweise war er mit einer grau getigerten Katze zusammen, aber heute schien er alleine unterwegs zu sein. Der Kater wirkte zögerlich und gab ein Bild des Jammers ab wie er da, vorsichtig das Terrain sondierend, durch den Garten schlich. Armer Kerl, Du bist ganz nass dachte Muriel. Vielleicht sollte ich ein Dach über die Veranda bauen überlegte sie weiter, damit er ein trockenes Plätzchen findet. Für sie war es natürlich kein Problem, das sofort zu erledigen, sozusagen mit einem Augenzwinkern. Für ihre Nachbarn dagegen schon….Die würden sicher nicht schlecht staunen. Sowieso hatten die meisten Gartennachbarn während der letzten paar Jahre gewechselt. Und die Veränderungen waren nicht immer zum besseren gewesen. Die alte Witwe Kandelblum vom Garten gegenüber zum Beispiel, war irrsinnig neugierig und hatte den lieben langen Tag nichts anderes zu tun als hinter ihren Gartennachbarn her zu spionieren. Das konnte manchmal ganz schön nervig sein, wenn man seine Ruhe haben und möglichst unauffällig seinem Hexenwerk nachgehen wollte. Letzte Woche zum Beispiel, hatte sie an Muriels Tür geklopft und nach Zucker gefragt. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, war sie schnell wie ein Wiesel durch die Tür gehuscht und hatte mit ihren kleinen durchdringenden Vogelaugen jedes Detail von Muriels kleiner Stube in Augenschein genommen. Fast so, als hätte sie einen eingebauten Scanner in ihren Augen. Nur gut, dass normale Menschen (und nebenbei bemerkt auch die meisten Hexen) die einzig wahre Realität trotzdem nicht sehen konnten und so nahm Witwe Kandelblum nur das wahr, was sie eben sehen sollte. Ein Vordach über der Veranda von heute auf morgen, ohne die dazugehörigen Bauarbeiten kam aber eher nicht in Frage. Macht nichts, dachte Muriel, gleich wenn die Geschäfte öffnen, gehe ich in den Baumarkt, Holz kaufen. Warum bin ich eigentlich nicht schon viel früher auf diese Idee gekommen? Nicht nur der Kater, auch sie selbst hätte dann draußen ein trockenes Plätzchen. Sie stellte es sich nett vor, auf einem Schaukelstuhl auf der Veranda zu sitzen und in den Sonnenuntergang zu blicken.
Socke war wohl auch schon wieder verschwunden, zumindest konnte sie ihn von ihrem Platz aus nicht mehr sehen. Muriel hätte gerne ein Tier bei sich wohnen lassen, aber Katzen liebten bekanntermaßen ihre Freiheit, genau wie sie. Das musste sie akzeptieren.
Draußen wurde es langsam heller, aber der Regen ließ kein bisschen nach. Muriel seufzte tief und griff nach ihrer Tasse. Genau in diesem Moment sprang der Kater auf das Fensterbrett und um ein Haar wäre der Hexe die Tasse aus der Hand gefallen, so sehr erschrak sie. „Nanu“, sagte sie. „Was um alles in der Welt…..?“ Der Kater wandte ihr seinen Kopf zu und sah sie mit seinen undurchdringlichen goldenen Augen an. Sein hagerer Körper war durchnässt und das Weiß seines Fells hatte sich in ein schmutziges Rosa-Grau verwandelt. Sein linkes Ohr hatte einen Riss und am Hals erkannte Muriel eine böse Wunde. Oh je – da ist jemand in einen Kampf geraten, dachte sie. Der Kater öffnete das Maul und maunzte. Dann sprang er zu Boden und kratzte an der Tür. „Also das ist nun wirklich seltsam“ murmelte Muriel und stellte die Tasse auf das kleine Tischchen. So ein Verhalten hätte sie vielleicht bei einem Hund erwartet, aber doch nicht bei einer Katze! Der Schaukelstuhl knarrte protestierend, als sie sich daraus erhob um die Tür zu öffnen. Der Kater trippelte vorsichtig einen Schritt zurück. Prüfend hob er das rosa Näschen und schnüffelte in ihre Richtung, als wollte er herausfinden, ob ihm hier vielleicht Gefahr drohte. Aus der Nähe sah er sogar noch jämmerlicher aus als durch das Fenster. Die Wunde war verkrustet und schorfig. „Du armer kleiner Kerl“ sagte Muriel leise. „Möchtest Du nicht herein kommen ins Trockene?“ „Mau“ antwortete der Kater und in Muriels Kopf erklang gleichzeitig ein zaghaftes „helfen?“ Das wird ja immer seltsamer, dachte sie. Natürlich können Hexen mit Tieren kommunizieren aber, ehrlich gesagt, war das nicht gerade eine ihrer Stärken. Schon in der Hexenschule war sie in Tiersprachen schlecht gewesen und hatte sich mehr oder weniger durch den Unterricht geschummelt. Und da sie auch nie viel Gelegenheit gehabt hatte, mit einem Tier zu reden, war sie jetzt natürlich komplett aus der Übung. Und nun so etwas!
„Aber ja“ beeilte sie sich dennoch zu antworten und gab sich dabei ganz besonders viel Mühe, laut und klar zu denken. Vorsichtig stakste der Kater durch die Tür und sah sich um. Er zitterte am ganzen Körper – ein Bild des Jammers. „Komm an den Ofen, ich hole Dir ein Kissen und dann sehen wir erst mal zu, dass Du trocken wirst, Socke.“ „Socke.“ Echote es in ihrem Kopf. „Wer das?“. „Nun, so habe ich Dich genannt – ich kenne Deinen richtigen Namen ja nicht.“ „Ich Sokrates“ antwortete der Kater in Muriels Kopf und gleichzeitig hörte sie sein Maunzen. Die Hexe ging nach hinten um ein Kissen vom Sofa zu holen und Sokrates folgte ihr mit wackeligen Schritten durch den großen Raum. „Du kannst das alles hier sehen?“ staunte sie, als der Kater sich vor dem bullernden Ofen niederließ. „Sehen alles. Zauberhaus groß. Zaubergarten auch groß. Tiere sehen alle. Nur Menschen nicht.“ Seufzend streckte er sich auf dem Kissen aus und ließ zu, das Muriel ihn vorsichtig abrubbelte. „Ich muss nach Deiner Wunde sehen“ meinte sie. „Das sieht böse aus und hat sich entzündet.“ Der Kater antwortete ihr nicht mehr. „Eingeschlafen oder schlimmeres“ murmelte die Hexe. Gut, dass sie sich auf Heilkunde verstand. So wusste sie genau, was zu tun war und schon kurz darauf was Sokrates Wunde versorgt. Jetzt konnte sie nur noch abwarten.
Muriel beschloss, sich noch eine Kanne Tee zuzubereiten. Tee half ihr beim Denken. Diese ganz besondere Sorte sowieso. Er machte wach und half, den Kopf klar zu bekommen. Irgendwie hatte sie nämlich das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Und dieses Gefühl mochte sie nun überhaupt nicht. Dem Kater ging es sichtlich schlecht, er litt Schmerzen. Die Wunde war entzündet, nässte und roch überaus unerfreulich. Muriel hätte Socke – Sokrates mahnte sie sich in Gedanken - gerne eine Medizin eingeflößt, die ihm half, aber er war weggedämmert, bevor sie das in Angriff nehmen konnte. Seine Flanken hoben sich mühsam bei jedem Atemzug. Du Armer, dachte die Hexe. Wie bekomme ich die Medizin nur in dich hinein? Nachdenklich nippte sie an ihrem Tee und strich Sokrates über den Kopf. Als sie mit ihrer Hand in die Nähe seiner kleinen Schnauze kam, öffnete der Kater das Mäulchen und seine winzige rosa Zungenspitze blitzte hervor. Hab ich Dich dachte Krötenbein und tropfte ihm rasch 3 Tropfen ihrer hochwirksamen Kräutertinktur auf die Zunge. Das war besser als Antibiotika und musste einfach helfen! In diesem Moment klopfte es energisch an die Tür. Sicher schon wieder die Witwe Kandelblum – einen noch schlechteren Zeitpunkt hätte sie sich gar nicht aussuchen können. Wobei das eine ihrer Spezialitäten zu sein schien: die absolut schlechteste Zeit für einen Überraschungsbesuch zu finden. Gründe schien es genug zu geben. Mal war ihr angeblich der Zucker ausgegangen, ein anderes Mal wollte sie sich unbedingt eine Fernsehzeitschrift ausborgen. Dabei besaß Muriel noch nicht einmal einen Fernseher! Na ja – zumindest keinen im Sinne eines menschlichen Fernsehers. Prinzipiell gab es aber ohnehin nie einen guten Zeitpunkt für einen Besuch der Witwe, dafür war sie einfach zu aufdringlich und steckte ihre Nase zu gern in anderer Leute Angelegenheiten. Muriel hatte inzwischen eine Reihe Strategien entwickelt, diese Besuche möglichst kurz zu halten und auf ein Minimum zu beschränken. Ein leichtes Abführmittel in den Tee begrenzte die Dauer eines Besuches immerhin auf ein einigermaßen erträgliches Maß. Auch die Erwähnung einer überaus ansteckenden Pilzinfektion hatte sich als wirksam erwiesen. Aber heute hatte sie nun wirklich Besseres zu tun und beschloss, das Klopfen der Witwe einfach zu ignorieren. „Nur noch ein winziges Tröpfchen“ murmelte sie und versuchte angestrengt, dem bewusstlosen Kater noch einen Tropfen ins Maul zu geben. Aber immer wenn sie die Pipette endlich an der richtigen Stelle hatte, hämmerte es wieder an die Tür und der Tropfen ging daneben. „Also das geht jetzt aber wirklich zu weit“ schimpfte die Hexe erbost. Rasch ließ sie die Medizinflasche in der Tasche ihrer Hose verschwinden und wirbelte herum. Wütend stapfte sie zur Tür. Gerade noch rechtzeitig erhaschte sie einen Blick in den Spiegel und sah, dass ihr sonst blondes Haar sich rot gefärbt hatte. Auch das noch. Immer wenn sie sich aufregte oder wütend wurde, verlor sie die Kontrolle über ihre Gestalt. Dann konnte es passieren, dass sie sich in etwas verwandelte. Einmal, vor ein paar Jahren, waren zwei Nichtsnutze in ihr Haus eingebrochen und hatten nach Geld gesucht – natürlich vergeblich. Sie hatte die beiden ertappt, als sie gerade von einem Treffen mit ihrer Tante Zelda zurückgekommen war. Ihre kleine Küche war total verwüstet, Geschirr lag auf dem Boden und ihr kostbarer Tee war überall im Raum verteilt. Da war sie wirklich sehr, sehr wütend geworden! Wie von Sinnen hatte sie sich auf die beiden Eindringlinge geworfen, die überhaupt nicht wussten, wie ihnen geschah. Und während sie durch ihre Küche tobte hatte sie sich in ein fast 2 Meter großes Wesen verwandelt, mit Klauen statt Händen und mit beeindruckenden großen, nadelspitzen gelben Zähnen. Die Einbrecher waren kopflos geflüchtet und hatten später behauptet, in einer Kleingartenanlage von einem Vampir angegriffen worden zu sein. Natürlich hatte das niemand geglaubt. Rote Haare waren dagegen noch relativ harmlos und ließen sich mit einem Fingerschnippen wieder in blond verwandeln.
Energisch riss Muriel die Tür auf um Frau Kandelblum gehörig die Meinung zu sagen und erstarrte. Statt der Witwe stand ein großer, sehr dünner Mann vor ihr. Sein asketisches Gesicht wirkte blass, fast weiß, die schmalen Lippen ungesund bläulich. Das schwarze, schulterlange Haar unter dem eleganten Hut war modisch nach hinten gekämmt und glänzte vor Feuchtigkeit oder Haargel. Der nachtschwarze Anzug, den der Fremde trug, sah teuer aus. Ebenso die lederne Aktentasche in seiner linken Hand, die Rechte hielt er erhoben um nochmals an die Tür zu klopfen. „Ich kaufe nichts, abonniere keine Zeitung und habe nicht die Absicht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten“ fauchte die Hexe und warf die Tür mit so viel Schwung zu, dass das ganze Haus wackelte wie bei einem leichten Erdbeben. Dann eilte sie zurück in ihre Küche. Noch im Gehen angelte sie nach der Medizinflasche. Sokrates lag noch genauso auf dem Kissen wie sie ihn zurückgelassen hatte. Jeder Atemzug schien ihm mehr Mühe zu bereiten als der davor. Ab und zu lief ein Zittern durch seinen kleinen Körper, so als friere er. Eigentlich müsste es doch schon etwas besser sein dachte Muriel verzweifelt und runzelte die Stirn. Wenn sie nur wüsste, was diese vermaledeite Verletzung verursacht hatte.
„Hm hm hmmm“ vernahm sie in diesem Moment hinter sich ein Räuspern. Erschrocken fuhr sie herum. In ihrem gemütlichen Sessel am Teetisch saß der große dünne Mann. Die Beine hatte er elegant übereinander geschlagen, die Aktentasche stand ordentlich neben ihm auf dem Boden. In seinen manikürten Händen hielt er ihre allerbeste Teetasse und sah alles in allem so aus, als säße er schon seit Stunden hier. Wie war er nur herein gekommen? Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. „Deine Gastfreundschaft lässt neuerdings etwas zu wünschen übrig, meine liebe Muriel“ sagte der Mann und rührte in aller Seelenruhe seinen Tee um. Die Hexe war wie von Donner gerührt. Ihren Vornamen kannte heute zutage fast niemand mehr. Und die, die ihn kannten, waren sehr, sehr weit von ihr entfernt. Außer einem – und genau den wollte sie hier gerade in Moment nicht sehen. Unauffällig schob sie sich zwischen Sokrates und den dünnen Mann.
„Du siehst irgendwie verändert aus, Gevatter“ sagte sie vorsichtig. Der Tod tat so, als habe er ihren Versuch den Kater vor ihm zu verbergen, nicht bemerkt. Er winkte ab. „Ach weißt Du, dieses ganze Knochen-und-Sensen-Ding ist doch einfach nicht mehr zeitgemäß. Die Menschen mögen mich nicht und weißt Du warum?“ Bevor Krötenbein den Mund aufmachen konnte, beantwortete er sich die Frage selbst. „Weil sie denken, ICH bringe ihnen den Tod. Dabei ist das völliger Unsinn, wie Du weißt. Ich bin einfach nur zur Stelle, wenn es so weit ist und bringe Ihre Seelen auf die andere Seite.“ Das wusste die Hexe natürlich. Das Dasein aller Lebewesen auf Erden wurde von den drei Schicksalsgöttinnen bestimmt. Eine spann den Faden des Lebens, die Zweite bemaß seine Länge und die Dritte schnitt ihn ab, wenn es an der Zeit war, zu gehen. Der Tod war nur der Begleiter auf die andere Seite der Existenz. Damit hatte er doch eine höchst wichtige Aufgabe, denn ohne ihn und seine Hilfe konnte keine Seele diese Welt verlassen. Es gab keine Regenbogenbrücke und keinen Fährmann (auch wenn manche Kulturen ihm diese, ein wenig romantische Rolle zugedacht hatten) – es gab nur den Tod, der für eine sichere Passage auf die andere Seite sorgte. Und dieser saß nun hier in ihrer Küche und redete sich gerade so richtig in Fahrt. „Und dann diese unförmige Kutte, die Sense – so läuft doch heutzutage niemand mehr herum. Das erschreckt die Leute nur….“
„Sagt wer?“ warf Muriel rasch ein, als der Tod an seiner Tasse nippte. „Na mein PR-Berater. Er hat mir ein viel moderneres Image verpasst. Wie findest Du diesen Anzug?“ „Äh ja – moderner zweifellos. Aber ich habe Dich gar nicht erkannt! Und überhaupt, seit wann klopfst Du an?“ „Das ist auch so eine Sache – einfach so am Totenbett erscheinen geht gar nicht, sagt Mephis, also klopfe ich und warte, bis man mich einlässt. Aber ehrlich gesagt: diese Höflichkeitsnummer kostet mich enorm viel Zeit. Ich hinke gerade etwas mit meiner Arbeit hinterher.“ „Aber Du bist doch auch der Herr der Zeit“ warf Muriel verwundert ein. Sonst würdest Du diese riesige Aufgabe doch niemals bewältigen!“ „Ganz so einfach ist das nicht“ antwortete der Tod. „Richtig – ich dehne und biege die Zeit, um sozusagen an mehreren Orten gleichzeitig sein zu können aber in dem Maße wie ich es in diesem Jahrtausend bräuchte, lässt sich die Zeit nicht manipulieren. Zumindest nicht ungestraft. Offen gesagt, hatte ich in den letzten Wochen ab und zu das Gefühl, das Zeitkontinuum überdehnt zu haben. Merkwürdige Dinge sind geschehen….“ „Was für Dinge meinst Du?“ fragte die Hexe, doch der Tod winkte ab. „Es gibt einfach zu viel zu tun. Das sagt Mephis auch. Ich muss dringend an meinem Zeitmanagement arbeiten“. Das hat was dachte Muriel. Der Tod sitzt gemütlich in meiner Küche wie bei einem Teekränzchen, rührt in seiner Tasse und redet über Zeitkrümmung. „Aber irgendwie scheinst Du den Job ja im Griff zu haben“ meinte sie. „Und im Augenblick hast Du nichts zu tun nehme ich an?“
Der Tod seufzte, stellte die Tasse weg und griff nach seiner Aktentasche. „Wie Du wohl weißt, bin ich immer im Dienst! Aber keine Sorge – ich bin nicht wegen Dir hier.“ Mit einer eleganten Bewegung öffnete er den Koffer und beförderte ein Tablet zu Tage. „So dann wollen wir mal sehen - wo ist denn nur meine Brille?“ Krötenbein staunte nicht schlecht. Als sie Gevatter Tod zum letzten Mal gesehen hatte, besaß er nicht einmal Augen und jetzt zierte ein beeindruckendes Brillengestell aus Horn sein Gesicht. Nebenbei bemerkt: ein Gesicht hatte er damals ja auch nicht gehabt. Wann war das nur? Es wollte ihr einfach nicht einfallen aber soooo lange konnte es noch nicht her sein.
Der Tod wischte mit flinken Fingern über sein Tablet und sprach weiter. „Ah – da haben wir es ja! Sokrates Hyronimus Moritz Leo Hector Allistair Cäsar Rambo Klaus - neuerdings auch Socke genannt“. Ein durchdringender Blick aus den seltsam farblosen Augen traf die Hexe. „Und übrigens: Du kannst dich ruhig setzen, ich weiß, dass Du versuchst, ihn vor mir zu verstecken. Aber schau: hier steht es: Ort: Traumhausen, Gartenkolonie, Parzelle 256, Küche, vor dem Ofen. Zeitpunkt des Todes: unbestimmt!“
Muriel zog überrascht eine Augenbraue hoch. „Na das ist ja prima - dann kannst Du in Ruhe meinen Tee austrinken. Möchtest Du vielleicht einen Keks dazu? Unbestimmt ist ja bestimmt nicht jetzt.“
Gevatter Tod blickte sichtlich verwirrt auf sein Tablet, tippte zunächst wild mit den Fingern auf der Oberfläche herum um es anschließend kräftig zu schütteln. Das Gerät quittierte diese unsachgemäße Behandlung mit einem unwilligen hohen Ton, der irgendwie gequält wirkte. Muriel sah interessiert zu und schüttelte den Kopf. Der Kater gab ein merkwürdiges Schnaufen von sich. Sofort eilte sie an seine Seite, aber er war immer noch „nur“ bewusstlos. Seufzend kehrte sie an den Tisch zurück und setzte sich zu Gevatter Tod. Der hatte es aufgeben, das Tablet zu traktieren und widmete sich wieder seinem Tee. Muriel vermutete, dass er gerade wieder einmal die Zeit überdehnte….
„Merkwürdige Dinge gehen in dieser kleinen Stadt vor“ sagte er unvermittelt. „Er“ - sein Kopf wies in Richtung des Katers – „ist nicht der Erste. Tiere verschwinden. Hunde, Katzen, Schweine, dem Zirkus fehlt seit heute angeblich ein Affe…… Und ich war in dieser Woche schon vier Mal in einer alten Fabrik am Hafen um eine kleine Seele abzuholen. Als ob ich nicht schon genug mit dem zu tun hätte, was sich die Menschen gegenseitig antun.“ „Was meinst Du damit?“ wollte Muriel wissen. „Was für eine Fabrik? Etwa der alte Schlachthof?“ „Keine Ahnung meine Liebe. So ein altes Klinkergebäude, äußerlich halb verfallen. Aber Schlachthof scheint mir recht passend zu sein, so oft, wie ich dort hin muss. Irgendetwas passiert dort mit den Tieren und es ist nichts Gutes. Sie müssen vor der Ihnen zugedachten Zeit gehen und das darf nicht sein.“ Der Tod wirkte nachdenklich. In diesem Moment gab das Tablet ein Brummen von sich und. Der Bildschirm erhellte sich.
„Ah – es rebootet“ stellte Gevatter sichtlich erfreut fest. Auf dem Display erschien eine große goldene Sanduhr, fast wie eine von denen, die dem Tod früher dienlich gewesen waren und anzeigt hatten, dass ein Leben zu Ende ging. „Alles digitalisiert“ erkläre er. Der Sand war fast ganz in die untere Hälfte der Uhr gelaufen und darunter erschienen nun wie durch Zauberei die Worte
Sokrates Hyronimus Moritz Leo Hector Allistair Cäsar Rambo Klaus genannt Socke – Traumhausen, Gartenkolonie, Parzelle 256, Küche, vor dem Ofen. Zeitpunkt des Todes: heute 09:13 Uhr.
Krötenbein blickte unwillkürlich zu der alten Standuhr neben der Küchentür. Es war exakt 09:10 Uhr.
Das Ticken der alten Uhr hallte unheilvoll durch den Raum – sonst war es still wie in einem Grab. Gevatter Tod erhob sich und ging gemessenen Schrittes auf Sokrates zu. Muriel war innerlich erstarrt. Das konnte einfach nicht sein, durfte nicht sein! Es musste doch noch irgendetwas geben, das sie tun konnte. Nur fiel ihr leider absolut nichts ein. Ihr Kopf war ein einziges großes schwarzes Loch. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie nicht in der Lage war, etwas zu ändern. Es lag einfach nicht in ihrer Macht. Die Schicksalsgöttin, eine der Nornen, hatte den Lebensfaden des Katers durchtrennt. Gevatter Tod war da, um Sokrates auf seinem Weg in die andere Welt zu begleiten und nichts was sie tat, würde das jetzt noch verhindern.
Der Brustkorb des Katers hob sich ein letztes Mal und ein tiefer Atemzug entwich seinem mageren kleinen Körper. Gevatter Tod legte sachte seine Hände um den zerzausten Kopf. Einen Moment lang geschah scheinbar nichts, dann erhob sich eine silbergraue flirrende Wolke aus der halb geöffneten Schnauze des Katers. Kleine Sterne schienen darin zu funkeln und tanzen. Die Wolke drehte sich und wirbelte über dem Kater, als könne sie sich nicht entscheiden, was sie als nächstes tun solle. Aber als der Tod einladend seine Hände öffnete, schwebte die Wolke lautlos darauf zu. Sie verwandelte sich in einen leuchtenden Ball von der Größe einer Apfelsine und landete sanft wie eine Feder auf des Todes knochiger Hand. Der trug den flirrenden Ball zum Tisch. Dort stand ein bauchiges tönernes Gefäß, das vor einem Moment ganz sicher noch nicht dagewesen war. Die Kugel glitt sachte hinein und der Tod versiegelte die Öffnung mit einer fließenden Bewegung. Dann wandte er sich zu Muriel um und lächelte.
„Es geht ihm gut, Du musst nicht traurig sein. Nun muss ich gehen. Du weißt ja – die Arbeit.“ Muriel schluckte schwer und nickte. Sie hatte einen Kloß im Hals. „Aber da ist noch etwas“ sagte der Tod bedächtig, als er das Gefäß vorsichtig in seinen Aktenkoffer verstaute. „Jemand müsste sich der Sache mit der alten Fabrik annehmen und was auch immer dort vorgeht – dem muss Einhalt geboten werden. Und“ – er kramte in einer Tasche seines Anzugs – „hier ist meine Nummer. Halte mich auf dem Laufenden, falls Du etwas Neues erfährst. Und passe gut auf den Kleinen hier auf“. Mit diesen Worten ging er zu Tür und drückte ihr im Vorübergehen eine Visitenkarte in die Hand. Dann deutete er auf den Kater, der auf seinem Platz vor dem Ofen lag und aussah, als schliefe er friedlich. Die Hexe war verwirrt. Ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
„Du kennst dich wirklich nicht mit Katzen aus, oder?“ fragte der Tod. Sie schüttelte den Kopf. „Neun Leben, liebe Muriel, eine Katze hat neun Leben, neun Namen und neun Seelen. Dies war seine erste…..“ Der Tod lächelte, winkte ihr kurz zu – und löste sich mit samt Hut und Aktentasche in Luft auf.
Muriel stand noch lange da und starrte auf die Visitenkarte in ihrer Hand ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Die betäubende Stille wich den ganz normalen Geräuschen des Tages. Das Ticken der alten Standuhr wirkte nun nicht mehr bedrohlich, von draußen klangen fröhliche Vogelstimmen in ihre Küche, der Wasserhahn tropfte leise. Was für ein seltsamer Morgen! Gevatter Tod mit PR-Berater und Visitenkarten. Sie zwang sich, die Karte anzusehen. In zierlichen schwarzen Lettern stand da tatsächlich eine Mobilfunknummer… Ein toter Kater, der doch nicht tot war….Fassungslos schüttelte die Hexe den Kopf. Sie steckte die Karte ein und ging zu Sokrates. Der Kater sah friedlich aus. Sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig - er schlief einen offenbar traumlosen, tiefen und ruhigen Schlaf.
Eine große innere Ruhe durchströmte die Hexe. Sie war so glücklich, wie seit langem nicht und beschloss, den Tag zu nutzen. Es hatte aufgehört zu regnen. Perfekt, wenn man ein Verandadach bauen möchte, dachte sie und bestellte Holz beim Baumarkt. Es kostete sie nur einen winzigen Zauber und der mürrische Mensch am anderen Ende der Telefonleitung arrangierte eine sofortige Lieferung – sehr zu seinem eigenen Erstaunen. Den Rest des Tages verbrachte die Hexe mit hämmern und sägen, bohren und schrauben. Gut, dass es mitten in der Woche war, von ihren Gartennachbarn war weit und breit nichts zu sehen und so störte sie niemanden. Trotzdem verzichtete Muriel sicherheitshalber auf Zauberei - na ja - fast. Ein unsichtbares Händchen warf ihr die passenden Schrauben zu und ein anderes bemalte die Rückseiten der Holzbalken hinter dem Haus mit einer honigfarbenen Lasur. Das meiste machte Kröten Krötenbein aber wirklich höchst persönlich und heute war das in Ordnung. Ab und zu sah sie nach dem Kater, aber der schlief immer noch tief und fest. Nachmittags war sie mit der Pergola fertig. Jetzt fehlte nur noch das eigentliche Dach und das sollte aus Glas sein. Muriel sah sich um – alles war ruhig, niemand beobachtete sie. Schnell malte sie ein magisches Zeichen in die Luft und für eine Sekunde flimmerte Zauberglanz über ihrem Häuschen als das Dach scheinbar aus dem Nichts materialisierte. Zunächst durchscheinend und blass, fast unsichtbar, dann immer deutlicher und schließlich sicht- und greifbar. Und auch noch genau da, wo es hingehörte. So macht Arbeit Spaß dachte die Hexe und grinste in sich hinein. Wenig später stand ein gemütlicher Schaukelstuhl auf der Veranda und ein paar bunte Blumentöpfe rundeten das Bild ab. Muriel war mit sich zufrieden. Sie freute sich jetzt schon auf den nächsten Regentag. Dann konnten sie und der Kater gemütlich mit einer dampfenden Tasse auf ihrem Schaukelstuhl sitzen, dem Regen beim Fallen zusehen und über die Welt philosophieren. So! Für heute nicht schlecht dachte Muriel und ging ins Haus. Welche Freude zu sehen, dass Sokrates wach war. Er saß noch etwas unsicher vor dem Ofen und putze sich das Fell. „Hallo Sock…krates“ bekam die Hexe gerade noch die Kurve. „Schön, dass es Dir besser geht. Hast Du Hunger?
„Durst“ antwortete die Stimme in ihrem Kopf und sie klang schon viel weniger zaghaft als heute Morgen. Flugs stellte die Hexe ein Schälchen mit Wasser und sicherheitshalber gleich noch eines mit Sahne hin. Sie kannte sich mit Katzen nicht besonders gut aus, beschloss aber das umgehend zu ändern. Wozu gab es schließlich Göttin Google? Kurz darauf füllte sich ein neuer Vorratsschrank durch Zauberei mit vielen bunten Döschen Katzenfutter. Neben den üblichen Sorten - wie zum Beispiel Ente in Gelee oder Thunfisch - gab es einige Geschmacksrichtungen, die die Hexe soeben selbst erfunden hatte. Feldmaus in Kräutersoße und frischer Maulwurf in Aspik. Der Kater beobachtete sie interessiert. Er hatte ein paar Schluck Sahne genommen und sich dann wieder auf seinem Kissen niedergelassen. „Sokrates besser“ sagte er dann. „Aber anders. Leerer“. Oha! Ob Katzen fühlen, wenn ihnen ein Leben verloren geht? Muriel würde ihm die Wahrheit wohl schonend beibringen müssen. Mit einem Käsebrot und einer frischen Tasse Kräutertee ließ sie sich neben dem Kater nieder. „Woran erinnerst Du dich noch?“ fragte sie ihn. „Mau“ antwortete Sokrates aber in Muriels Kopf sagte die Stimme „Schmerz und müde. Sehr müde. Und traurig. Aber Sokrates schlafen, jetzt besser.“ „Das ist gut, ich freue mich, dass es Dir besser geht, aber bis diese Wunde ganz geheilt ist, wird ganz sicher noch einige Zeit ins Land gehen. Ich mache Dir nachher noch mal Salbe darauf.“ Der Kater nickte. „Aber ich muss Dir noch etwas sagen. Weißt Du, es ging Dir wirklich sehr, sehr schlecht. Du warst bewusstlos und während dieser Zeit hatten wir Besuch.“ Sokrates sah sie fragend an. „Besuch?“ Maunzte er und zwinkerte mit seinen bernsteinfarbenen Augen.
„Tja, es ist so: der Tod war hier und ich fürchte, er hat eines Deiner Leben mit sich genommen“ Muriel schluckte. Also besonders schonend war das jetzt vermutlich nicht, aber sie hatte einfach nicht gewusst, wie sie das hätte besser machen können. Sokrates sah jetzt richtig traurig aus und seine Schnurrhaare zitterten. „Der Gevatter war da? Oh……..ein Leben weniger. Deshalb leer und traurig. Nicht wissen wie viele Leben noch…..“. Er kroch näher zum Ofen und seine dünnen Flanken bebten.
„Acht. Das hat Gevatter Tod mir gesagt. Das ist zwar schlechter als neun aber viel, viel besser als eines, wie bei mir. In Zukunft musst Du einfach besser auf Dich aufpassen, dann kannst Du noch viele Jahre leben“. Der Kater seufzte und rollte sich zusammen. „Nicht aufpassen, keine Zeit. Wenn der gelbe Ball am Himmel steht, muss Sokrates gehen.“ „Oh nein! Auf gar keinen Fall. Erst musst Du ganz gesund werden“. „Heute Nacht gesund werden, morgen gehen. Princessa suchen. Schon zu viel Zeit verloren!“ Muriel dachte nach.
„Princessa, das ist die grau-getigerte Katze, mit der ich Dich schon öfter gesehen habe, oder? Und sie ist verschwunden? Was genau ist eigentlich passiert?“ Sokrates setzte sich vorsichtig wieder auf. „Männer in fahrenden Kasten sind gekommen. Fangen Princessa mit Käfig. Sokrates wollen retten aber Männer stark, haben Stange mit…“ Er rang nach Worten „mit runder Falle…“ Er schien nicht zufrieden zu sein und sah die Hexe ratlos an. „Du meinst, eine Stange mit einer Schlinge am Ende? Aus Draht?“ „Was Draht?“ fragte Sokrates. „Über Kopf und ziehen zu. Beißt mich. Macht das.“ Er sah an seiner Seite herunter wir immer noch die verschorfte Wunde zu erkennen war, auch wenn sie jetzt mit einer dicken Schicht Salbe bedeckt war. „Tierfänger – wie furchtbar“! Dagegen müssen wir etwas unternehmen. Ich helfe dir dabei!“ Sokrates sah Muriel mit großen, runden Augen an. „Du Zauberfrau – das gut! Können helfen finden Princessa?“ Muriel nickte energisch mit dem Kopf. „Und ob! Ich habe sogar schon eine Idee, wo ich anfange zu suchen. Und zwar genau heute Nacht.“ Eine rasche Handbewegung später lag ein Stadtplan vor ihr auf dem Boden. Mit den Fingern fuhr sie am Fluss entlang bis sie zu einer leeren Stelle auf der Karte kam. Genau da musste es eigentlich sein. „Gevatter Tod hat mir einen Tipp gegeben“ erklärte sie dem verdutzen Kater. „Heute Nacht sehe ich mich dort einmal um.“ „Sokrates mitkommen“ maunzte der Kater aber Muriel winkte ab. „Nein lass mal – Du musst erst gesund werden und wenn ich alleine bin, kann ich viel schneller sein. Außerdem weiß ich auch noch gar nicht, ob ich richtig liege. Ich will nur auskundschaften, ob ich Recht habe. Falls ja, brauchen wir erst mal einen guten Plan.“
Die Hexe prägte sich die Lage der alten Fabrik auf der Karte ein. Dann stand sie auf, schloss die Augen und konzentrierte sich. Einen Augenblick später waberte eine nebulöse Wolke um sie herum und den Bruchteil einer Sekunde später war sie verschwunden. Sokrates machte einen erschrockenen Satz nach hinten. Sein Fell sträubte sich und sein Schwanz wurde urplötzlich doppelt so groß und dick. Wie hatte die Zauberfrau das gemacht? Wo war sie hingegangen? Vorsichtig trottete er zu der Karte, die noch immer auf dem Boden lag. Er konnte bunte Linien darauf erkennen und das, was die Menschen Buchstaben nannten. Anfangen konnte er damit aber nichts. Unruhig zog er sich auf seinen Platz vor dem Ofen zurück. Hoffentlich geschah der Zauberfrau nichts und hoffentlich fand sie Princessa. Seufzend und voller Sorge um seine Gefährtin rollte der Kater sich zusammen. Seine Schwanzspitze zuckte unruhig hin und her.
Muriel materialisierte in luftiger Höhe von etwa 3 Metern aus der Leitung eines Strommastes. Also, DAS hatte sie definitiv nicht so geplant. Sie war eindeutig aus der Übung! Die Hexe schlängelte sich am Mast entlang nach unten und fuhr als feuriger Blitz in die Erde. Das passierte ihr schon mal, wenn sie es eilig hatte. Und das hatte sie heute zweifellos! Rasch sah sie sich um. Sie war auf einem großen, zum Glück nur spärlich beleuchteten und zumindest im Moment einsamem Parkplatz gelandet. Hinter ihr erhob sich ein heruntergekommen wirkendes Gebäude. Einige Fenster waren eingeschlagen worden und es sah auf den ersten Blick so aus, als habe es hier irgendwann einmal gebrannt. Davon zeugten rußige schwarze Flecken oberhalb der leeren Fensterhöhlen. Graffiti bedeckte fast jeden freien Zentimeter der früher wohl einmal rot geklinkerten und grob verputzten Wände. Der Parkplatz war leer und verlassen, der Asphalt alt und brüchig, nur an manchen Stellen suchte sich zähes, gelbes Gras einen Weg ans Tageslicht. Oder besser gesagt, im Moment ans Mondlicht. Auf der anderen Seite des Platzes war nebulös ein eingezäuntes Grundstück auszumachen, das aber fast vollkommen im Dunkeln lag. Der Zaun bestand aus Gitterelementen und wirkte neu und dadurch merkwürdig fehl am Platz. Oben auf wand sich Stacheldraht in perfekten Kreisen und machte mehr als deutlich, dass Besuch hier unerwünscht war. Vorsichtig schlich die Hexe näher. Das muss es sein, dachte sie. Früher war hier das Viertel der Metzger und Schlachthöfe gewesen. Als sie um eine Ecke lugte, sah sie ein massives zweiflügeliges Metalltor. Eine Kette mit einem dicken Schloss daran sollte Unbefugte offensichtlich daran hindern, auf das Grundstück zu gelangen. Eine Hexe wie sie würde das natürlich nicht aufhalten. Muriel lauschte in die Dunkelheit – es war nichts zu hörten außer dem entfernten Verkehrslärm und dem leisen Summen der Stromleitung, durch die sie gekommen war. Sie spürte nach dem Fluss den Stroms und fand rasch die Stelle, an der er unter der Erde in das geheimnisvolle Grundstück floss. Wieder erschien die Wolke um die Hexe herum, sie löste sich in Millionen kleinste Teilchen auf, und folgte der Stromleitung auf ihrem unterirdischen Weg auf das Grundstück und weiter in das Gebäude. Es dauerte einen Moment, bis sie eine Steckdose fand, durch die sie nach außen glitt. Sofort zauberte sie einen undurchdringlichen Schatten um sich herum, aber diese Mühe hätte sie sich ebenso gut sparen können. Muriel war in einer Art Labor herausgekommen. Es war fast dunkel, nur einige Maschinen und Instrumente, deren Sinn sie nicht einmal erahnen konnte, spendeten ein unheimliches grünes Leuchten. Irgendwo summte ein Aggregat oder etwas Ähnliches. An der Längsseite des Raumes standen eine Reihe Metallschreibtische, mit Computern und Druckern darauf, die jedoch im Moment alle abgeschaltet waren. Ein unangenehmer Geruch schlich sich unterschwellig in Muriels Nase. Sie konnte ihn nicht einordnen. Irgendwie erdig und metallisch zugleich, mit einem unangenehm süßlichen Unterton. Ihre Nackenhaare sträubten sich. So etwas hatte sie noch nie gerochen und egal was es war – sie mochte es nicht. Sie versuchte möglichst flach zu atmen und presste einen Handrücken vor Nase und Mund, um den Geruch nicht in sie hinein zu lassen. Aber das war natürlich vergeblich. Wie ein zäher, unsichtbarer Schleim kroch er an ihrer Hand vorbei in die empfindliche Nase der Hexe und verursachte ihr leichte Übelkeit. Vorsichtig blickte sie sich um. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Tür mit einem vergitterten Glasfenster. Wie sich heraus stellte, war die Tür nur angelehnt. Langsam durchquerte Muriel auf Zehenspitzen den Raum und spähte zunächst durch das Fenster. Sie sah in ein weiteres Labor, das ungleich größer war. An den Wänden waren Schränke angebracht, Arbeitstische mit Kolben, Gläsern, Mikroskopen und einer Reihe merkwürdiger Geräte standen ordentlich in der Mitte des Raumes. Alles wirkte sehr modern, neu und steril. Mit der alten Fleischfabrik hatte das sicher nichts mehr zu tun. Seltsam war es dennoch. Wenn eine Firma hier ein Labor betrieb, wäre es dann nicht bewacht? Offenbar gab es weder einen Pförtner noch einen Sicherheitsdienst. Na wenn hier nicht jemand etwas zu verbergen hat, fresse ich meinen alten Besen dachte die Hexe. Muriel huschte durch die Tür, nebulös und so gut wie unsichtbar. Niemand arbeitete hier zu dieser nächtlichen Stunde, aber kleine rot blinkende Lichter in den Ecken des Raumes und über der Tür zeigten ihr, dass es eine Art Überwachungssystem gab. Glücklicherweise war die Hexe eine moderne Frau – mit technischen Dingen kannte sie sich zumindest ein bisschen aus. So glitt sie fast körperlos durch das Labor zur Tür gegenüber. Auch in dieser gab es ein kleines Fenster, durch das sie in den nächsten Raum blicken konnte. Und dort sah Krötenbein das, weswegen sie eigentlich gekommen war. Der Raum erinnerte entfernt an eine Lagerhalle. Rötliches Licht beleuchtete schwach eine Reihe von unterschiedlich großen Käfigen, die fein säuberlich an den Wänden entlang aufgereiht waren. Um mehr zu sehen musste sie die Halle allerdings betreten – nur war diese Tür dummerweise verschlossen. Muriel sah sich um. Rechts oben in einer Ecke, kurz unter der Decke gab es einen Lüftungsschlitz. Ah – das half! Die Hexe löste sich eine Nebelwolke auf und schwebte zur Decke. Rasch bewegte sie sich auf die Klappen der Lüftung zu, kroch hindurch und sank auf der anderen Seite zu Boden, wo sie einen Moment verharrte. Als sie sicher war, dass sie alleine im Raum war, verdichtete sie die Wolke wieder zu ihrem Körper und schlich langsam zur ersten Käfigreihe.
In der fahlen rötlichen Dunkelheit konnte Muriel zunächst nicht viel erkennen und einen Augenblick lang dachte sie, sogar, der erste Käfig wäre leer. Dann nahm sie ganz hinten eine zaghafte Bewegung wahr und sah bernsteinfarbene Augen im düsteren Licht glimmen. Eine kleine schwarze Katze kauerte in einer Ecke des Käfigs. Sie hatte sich ganz nach hinten an die Rückwand gedrückt. Die Arme hat große Angst dachte Muriel und wunderte sich, wie ruhig es in der Halle war. „Hallo Katze“ sagte sie in Gedanken und gab sich große Mühe, die Katze zu erreichen. Wenn sie doch nur besser darin wäre, mit Tieren zu reden! Die Katze starrte sie nur an und rührte sich nicht. Wie ein Stein verharrte sie so weit wie nur irgend möglich von ihr weg. Langsam und so leise wie möglich bewegte sich Muriel zum nächsten Käfig. Auch hier eine Katze. Diese war schon älter, rot-weiß gemustert und trug ein Halsband mit einem kleinen Glöckchen daran. An der linken Vorderpfote hatte sie eine Wunde, die böse aussah. Die Hexe versuchte es erneut.
„Wie heißt Du“ dachte sie angestrengt. Die Katze kroch tapsig von ihr weg und das Glöckchen klingelte leise bei jeder ihrer Bewegungen. Das ist zum Verrückt werden dachte Muriel bei Socke hat es doch auch geklappt. So erfahre ich niemals, was hier vorgeht.