MUSIK-KONZEPTE 194: Chaya Czernowin -  - E-Book

MUSIK-KONZEPTE 194: Chaya Czernowin E-Book

0,0
27,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die israelische Komponistin Chaya Czernowin (*1957) genießt international ein hohes Renommee. Auch als Lehrerin ist sie seit vielen Jahren sehr gefragt – sei es als Professorin für Komposition an der Harvard University oder als Dozentin bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt. Chaya Czernowins kompositorisches Œuvre umfasst Opern, Orchester- und Kammermusik, Musik für Tasteninstrumente und Vokalmusik, soweit man diese Gattungsbegriffe weit genug fasst. Czernowin ist eine Suchende, eine Grenzgängerin, durch deren Kompositionen wir neue Klangerfahrungen machen, deren Musik uns innere und äußere Welten erschließt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 224

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ulrich Tadday (Hrsg.)

MUSIK-KONZEPTE 194VII/2021

Chaya Czernowin

MUSIK-KONZEPTE

Die Reihe über Komponisten

Herausgegeben von Ulrich Tadday

Heft 194

Chaya Czernowin

Herausgegeben von Ulrich Tadday

Juli 2021

Wissenschaftlicher Beirat:

Ludger Engels (Berlin, Regisseur)

Detlev Glanert (Berlin, Komponist)

Jörn Peter Hiekel (HfM Dresden/ZHdK Zürich)

Laurenz Lütteken (Universität Zürich)

Georg Mohr (Universität Bremen)

Wolfgang Rathert (Universität München)

Print ISBN 978-3-96707-393-5 E-ISBN 978-3-96707-395-9

Umschlaggestaltung: Victor Gegiu

Umschlagabbildung: Chaya Czernowin, Foto: Astrid Ackermann

Die Hefte 1–122 und die Sonderbände dieses Zeitraums wurden von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn herausgegeben.

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Vorwort

TIM RUTHERFORD-JOHNSON Struktur, Klang und Metapher in Chaya Czernowins Opern

LUDGER ENGELS Über Komposition und Regie Im Gespräch mit Chaya Czernowin

HILA TAMIR OSTROVER Die driftenden Klänge in Chaya Czernowins Sahaf Vom Klang hinfortgetragen werden

JULIA KURSELL Schwärme und andere VersteckeHIDDEN für Streichquartett und Elektronik von Chaya Czernowin

BARBARA ECKLE Der auflösende Blick Chaya Czernowins Landschaftsbegriff im Kontext ihrer Komposition HIDDEN

TREVOR BAČA Träume vom Fliegen und Fallen Chaya Czernowins Guardian für Violoncello und Orchester

Abstracts

Bibliografische Hinweise

Zeittafel

Autorinnen und Autoren

[4|5]Vorwort

Die 1957 geborene Komponistin Chaya Czernowin genießt international ein hohes Renommee, auch als Lehrerin ist sie – sei es als Professorin für Komposition an der Harvard University Cambridge, sei es als Dozentin bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt – sehr gefragt. Ihr kompositorisches Œuvre umfasst Opern, Orchester- und Kammermusik, Musik für Tasteninstrumente und Vokalmusik, soweit man diese Gattungsbegriffe weit genug fasst. Czernowin ist eine Suchende, eine Grenzgängerin, durch deren Kompositionen wir neue Klangerfahrungen machen, deren Musik uns innere und äußere Welten erschließt.

Der vorliegende Band versucht, möglichst viele Facetten des Schaffens von Chaya Czernowin in den Blick zu bekommen: Den Anfang macht Tim Rutherford-Johnson mit einem Aufsatz, der die Opern Infinite Now (2015/16) und Heart Chamber (2017–19) zum Gegenstand hat und der Frage nachgeht, welchen verborgenen Sinn Czernowins metaphorisches Sprechen über Musik enthüllt, aber auch verhüllt. Das sich anschließende Gespräch, das Ludger Engels mit der Komponistin über die gemeinsame Arbeit an Zaide/Adama (2004/05, 2016) geführt hat, veranschaulicht auch, in welcher Art und Weise Chaya Czernowin ihre kompositorischen Intentionen metaphorisch zur Sprache bringt. Hila Tamir Ostrover spinnt den Faden weiter fort, indem Sie am Beispiel von Sahaf (2008) zeigt, wie Czernowins Komposition(en) und metaphorische Bildersprache auf die komplexe Beziehung zwischen Klang und Körpererfahrung verweisen. HIDDEN für Streichquartett und Elektronik (2013–14) versucht zu zeigen, »was hinter der Musik und ihren Empfindungen verborgen liegt, bis hin zum jenseits unserer Wahrnehmung liegenden Unhörbaren«.1 Während Julia Kursell untersucht, wie das Stück verschiedene Instanzen der Beziehung zwischen dem Hörbaren und dem Unhörbaren schafft, erkundet Barbara Eckle die musikalischen Wege, die uns in die schwer zugänglichen inneren Seelenlandschaften führen, die Czernowin in Werken wie HIDDEN, Adiantum Capillus-Veneris und Winter SongsV (2014–16) entworfen hat. Den Abschluss des Bandes bildet Trevor Bačas Studie zu Guardian für Cello und Orchester (2017), dessen fesselnd narrative Struktur der Autor exemplarisch für Chaya Czernowins Instrumentalmusik verfolgt.

Ich danke allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge sehr, nicht zuletzt Ludger Engels für die Anregung dieses Bandes und die Vermittlung der finanziellen Förderung, die die Übersetzungen Florian Hollerwegers ermöglicht hat.

Ulrich Tadday

1 Online unter: https://de.schott-music.com/shop/hidden-no319261.html [letzter Zugriff: 28.04.2021].

[6|7]TIM RUTHERFORD-JOHNSON

Struktur, Klang und Metapher in Chaya Czernowins Opern

Im April 2017 und Oktober 2019 führte ich zwei Interviews mit Chaya Czernowin. Das erste, für einen Artikel in der schwedischen Zeitschrift Nutida musik, fand am Morgen nach der Uraufführung ihrer dritten Oper Infinite Now an der Vlaamse Opera in Gent statt.1 Das zweite Interview führten wir einige Wochen vor der Uraufführung ihrer vierten Oper Heart Chamber an der Deutschen Oper Berlin von zu Hause aus über Skype. Man hatte mich gebeten, einen Text für das Programmheft letzterer Inszenierung zu schreiben, und dieses zweite Interview bot eine Möglichkeit, einiges über die Gedanken der Komponistin zu ihrem Stück zu erfahren.2 Zum Zeitpunkt des ersten Interviews hatte ich Infinite Now erst einmal (am vorhergehenden Abend) gesehen und hatte davor einige Wochen lang Zugriff auf die Partitur gehabt. Für das Interview zu Heart Chamber stand mir lediglich die Partitur zur Verfügung. Zum Zeitpunkt der Niederschrift konnte ich weiters auf die Rohfassung einer Tonaufnahme zurückgreifen, hatte allerdings keine visuelle Vorstellung der szenischen Umsetzung. Bei beiden Gelegenheiten verwendete Czernowin eine komplexe metaphorische Sprache zur Beschreibung ihrer Werke und deren Struktur, so wie sie es in Interviews und ihren eigenen Texten häufig tut. Aufgrund meiner eingeschränkten direkten Erfahrung mit beiden Werken war ich relativ stark auf diese Darstellungen angewiesen. Viele Komponisten verlassen sich zur Beschreibung ihres Schaffens auf derartige Metaphern, und obwohl sie beim Schreiben – beispielsweise von Programmhefttexten für eine allgemeine Öffentlichkeit – hilfreich sein können, fehlt es ihnen mitunter an der nötigen Präzision zur Erläuterung stilistischer oder kompositionstechnischer Fragen.

Im vorliegenden Aufsatz kehre ich nun zu diesen Interviews zurück und stelle dabei die Worte der Komponistin in einen Zusammenhang genauerer, damals noch nicht möglicher Analysen beider Opern. Diese wurden durch den Zugriff auf Videoaufnahmen der Inszenierungen an der Vlaamse Opera sowie der Deutschen Oper unterstützt. Mein Ziel ist einerseits eine detaillierte Beschreibung beider Opern im Kontext von Czernowins bisherigem Schaffen. Andererseits möchte ich versuchen zu bewerten, inwieweit die [7|8]metaphorische Sprache, die Czernowin zur Beschreibung ihrer Werke heranzieht, deren Analyse dienen kann.

I Von Pnima zu Infinite Now

Mit ihrer ersten Oper Pnima … ins Innere erreichte Czernowin einen wichtigen Punkt ihrer Karriere. Die Oper gewann den Bayerischen Theaterpreis 2000 und wurde von der Zeitschrift Opernwelt zur »besten Uraufführung des Jahres« erkoren. In der darauffolgenden Dekade wurde Czernowin unter anderem mit Preisen der Ernst von Siemens Musikstiftung (2003), der Rockefeller Foundation (2004), der Fromm Foundation (2008) sowie dem Guggenheim Fellowship (2011) ausgezeichnet. Obwohl derartige Preise ein nur unzureichendes Maß der Bedeutung eines Komponisten darstellen, dienen sie dennoch als Gradmesser seiner Sichtbarkeit auf internationaler Ebene und jenseits zeitgenössischer Musikkreise. Bezeichnender ist vielleicht der Umstand, dass sich Umfang und Anspruch der von Czernowin nach Pnima komponierten Werke dramatisch gesteigert haben, wohl auch dank der erleichterten Verfügbarkeit größerer und prestigeträchtigerer Aufträge. Die umfangreichsten der in ihrem Werkeverzeichnis vor Pnima angeführten neun Stücke waren wohl das 25-minütige Shu Hai mitamen behatalat kidon (1996–97) für Frauenstimme, Tonband und Live-Elektronik, das zehnminütige für das Ensemble Recherche geschriebene Afatsim (1996) sowie das 18-minütige Amber (1993) für das La Jolla Symphony Orchestra. Im Werkkatalog der Jahre unmittelbar nach Pnima finden sich hingegen Aufträge der Münchener Biennale, der Salzburger Festspiele, der Donaueschinger Musiktage, des Pariser IRCAM sowie des Ensemble Modern, wie zum Beispiel Liquid Amber für drei Piccoloflöten und großes Orchester (2000) oder das einstündige Triptychon Maim (2001–07) für Solistenquintett, Elektronik und Orchester.

Pnima war auch ein bedeutender Moment in der Entwicklung von Czernowins kompositorischem Stil. In ihren Werken der späten 1980er und 1990er erkundete sie Themen wie Konstruktion und Dekonstruktion oder multiple und singuläre Identitäten. Einige Arbeiten (z. B. Afatsim und das Streichquartett, 1995) kombinierten ungleichartige Instrumente zu Hyperinstrumenten, ähnlich wie in Brian Ferneyhoughs zweitem Streichquartett (1979–80) oder Richard Barretts Orchesterwerk Vanity (1990–94).3 Andere Werke wie zum Beispiel Ina für Bassflöte und sechs aufgezeichnete Flöten (1988) erforschten das umgekehrte Konzept divergenter Teilstimmen innerhalb einer einzigen Stimme. Beide dieser Ansätze sind nach wie vor charakteristisch für Czernowins Arbeit, wurden von ihr aber in Pnima erstmals innerhalb eines dramaturgischen Großformats zusammengeführt.

[8|9]Das auf der Erzählung See under: Love von David Grossman (1986) beruhende Stück Pnima ist eine Studie der generationenübergreifenden Konsequenzen des Traumas des Holocaust. Seine beiden Protagonisten sind ein alter Mann und ein Junge. Der Mann ist ein Überlebender des Holocaust; der Junge versucht das Trauma seines Großvaters zu verstehen, über das sich dieser zu sprechen weigert. Sowohl Czernowin als auch Grossman sind Israeli der zweiten Generation, die zwar in Kenntnis der Gräuel aufwuchsen, mit denen ihre Eltern während des Holocaust konfrontiert gewesen waren, auf die ihnen gleichzeitig aber nur ein eingeschränkter Blick gewährt wurde. Im ersten Teil von Grossmans Roman versucht Momik, der Junge, der im Israel der 1950er Jahre aufwächst, mehr über diesen Geschichtsabschnitt, den seine Eltern schlicht als »dort drüben« bezeichnen, herauszufinden – mit verheerenden Folgen für ihn selbst und seinen Großonkel (ein weiterer Überlebender). In Czernowins Oper drückt sich die tief schürfende Diskontinuität zwischen den Erfahrungen der beiden Generationen in Form einer musikalischen Sprache der Reibung und Störung aus, wie sie in der Kombination aus Film und Musik am Beginn des Werkes skizziert wird.

Der Film zeigt eine Taxifahrt durch eine Stadt (München – der Ort der Uraufführung der Oper). Die Reise wird jedoch wiederholt von Verkehr, Kreuzungen und Fußgängern unterbrochen, ebenso durch Filmschnitte und Wechsel der Kameraeinstellung. Die Musik wird auf ähnliche Weise in ihrem Fluss behindert: Sie ist von abgebrochenen, verzerrten und zerstückelten Klängen aus Bläsern und Streichern geprägt und in kurzen, scheinbar unzusammenhängenden Fragmenten komponiert – Gesten oder Handlungen, die ohne Kontext oder Entwicklung stattfinden und somit ohne offensichtlichen Sinn. Die Musik konzentriert sich dabei besonders auf verschiedene Arten des Scheuerns und Drucks: Luft wird gegen sich weitende Lippen gepresst; Bogenhaare gegen Saiten; Fingerkuppen zupfen und gleiten. Manchmal bewegen sich diese Klänge ruckfrei fort; andernorts scheinen sie sich zu verfangen und zu zerbrechen. Der musikalische Raum wird nicht durch eine Kontinuität von Melodie, Rhythmus oder Harmonie artikuliert, sondern, ebenso wie die Autofahrt, durch verschiedene Abstufungen des Widerstands und Stockens.

Diese Diskontinuitäten setzen sich in der Dramaturgie fort. Obwohl es sich bei Pnima um eine Oper handelt, singen oder sprechen der Junge und der alte Mann weder miteinander, noch richten sie sich derart an das Publikum. Stattdessen werden sie von zwei separaten Instrumenten- und Stimmgruppen repräsentiert. Diese stellen nicht nur den Raum zwischen den beiden Protagonisten dar, sondern auch – anstelle ihrer äußeren (und somit im Raum vereinten) Stimmen – ihre einander widersprechenden, komplexen und fragmentierten inneren Zustände. Die Lücke zwischen Regung und Resultat, zwischen Aktion und Klang, spiegelt die unüberbrückbare Distanz zwischen dem Jungen und seinem Großvater bzw. ihren jeweiligen Erfahrungen wider. Wie wir sehen werden, ist eine solch enge Übereinstimmung [9|10]von musikalischer Geste, Struktur und Dramatik charakteristisch für Czernowins Bühnenwerke.

Trotz seines künstlerischen Erfolges und der positiven Kritik betrachtete Czernowin Pnima als ein Werk, das es zu überwinden galt. Ihre Motivation hierfür war teilweise persönlicher Natur. Mit Pnima, sagte sie, »bezeugte ich meine Achtung und beglich in diesem Sinn meine Schuld gegenüber meinen Eltern«. Gleichzeitig war das auch ein Ansporn zum Weitermachen und zur »Rebellion«: »Dieses Kapitel war damit bis zu einem gewissen Grad abgeschlossen, sodass ich zu mir selbst finden konnte.«4 Es war nunmehr ihr Wunsch, sich von psychologisierenden und den Mensch in den Mittelpunkt stellenden Themen zu entfernen. In ihren eigenen Worten war ihre Rebellion eine gegen »die Zeitlichkeit des Psychologischen, die immer auch eine sprachliche ist; die Tendenz, musikalische Phrasen innerhalb von Zeitspannen zu artikulieren, die unserer gesprochenen Sprache entsprechen«.5

Czernowins Erkundungen dieser Zeitlichkeit erfolgen seither anhand zweier Parameter. Der Erste betrifft Tempo und Dauer. Während der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts verlangsamte sie die Änderungsgeschwindigkeit ihrer Musik (die wir, in Analogie zum »harmonischen Rhythmus«, als »strukturellen Rhythmus« bezeichnen mögen) in hohem Maße. Im Gegensatz zu den raschen Trennungsvorgängen und schwindelerregenden Richtungsänderungen in Pnima oder auch späteren Werken wie Sahaf (2008) konzentriert sich ihre musikalische Sprache zunehmend auf allgemeine Klangzustände anstatt minutiöser Details. Hierbei haben Naturphänomene jenseits menschlicher Zeiterfahrung der Komponistin fruchtbare Zugänge eröffnet. Das umfangreichste Beispiel dafür ist Maim (2001–07) für Solistenquintett, Orchester und Elektronik. Diese einstündige Fantasie über das Wasser in all seinen Zuständen – vom Tröpfchen bis zum Gletscher, vom Mikroskopischen bis zum Geologischen – stellt vielleicht Czernowins wichtigste Arbeit der 2000er Jahre dar. Anhand dieses Werks lässt sich auch ihre stilistische Entwicklung von akribischen Details hin zu allgemeineren Domänen nachvollziehen, wie er sich im Gegensatz zwischen den flüchtigen und hochgradig verfeinerten Gesten am Beginn des ersten Satzes (Maim zarim maim gnuvim) und den nahezu statischen Bildern des dritten (Mei mecha’a) ausdrückt.

Beim zweiten Parameter handelt es sich um Mehrschichtigkeit. Mehrere Arbeiten der 2000er Jahre wenden bereits in Czernowins früheren Stücken erkundete Prinzipien des Flechtens und Entflechtens auf formal höheren Ebenen an. Czernowins erste Stücke nach der Fertigstellung von Pnima – Liquid Amber (2000), While Liquid Amber (2000) und Shu Hai in an orchestral setting (2000–01) – bauen auf vor der Oper fertiggestellten Werken auf und fügen ihnen neue Schichten hinzu. Der Zyklus Anea Crystal (2008) umfasst [10|11]zwei Stücke für Streichquartett (Seed I und Seed II), die (zu Seed III) kombiniert werden können, um so ein zusammengesetztes Werk für Streichoktett (oder Streichquartett und Tonband) zu bilden. Weiters umfasst die zwischen 2002 und 2014 komponierte Reihe Winter Songs fünf Stücke, die von einem Werk für gemischtes Septett und Elektronik ausgehen (Winter Songs I: Pending Light, 2002–03). Die Struktur dieser letzten Werkreihe, in der jedes neue Stück dem zugrunde liegenden Septett eine weitere Schicht hinzufügt und es so seiner nächsten Verwandlungsstufe zuführt, wird noch für das Verständnis der Großform von Infinite Now und Heart Chamber von Bedeutung sein.

In den 2010er Jahren fügte Czernowin ihrer Musik weitere Schichten in Form von Elektronik und Klangspatialisierung hinzu. Bereits in Maim wurde ein System zur Projektion des Orchesterklanges von der hinter dem Publikum gelegenen Rückseite des Saals verwendet, und einige Schichten der Reihe Winter Songs werden durch das Hinzufügen von Elektronik artikuliert. Czernowins 45-minütiges Stück HIDDEN für Streichquartett und Elektronik, welches dem JACK-Quartett gewidmet ist und von diesem 2014 am Pariser IRCAM uraufgeführt wurde, ging einen Schritt weiter. Hier wird mithilfe eines Raumklangsystems eine sich immerzu verändernde virtuelle Architektur um das Ensemble herum komponiert. Für dieses Stück arbeitete Czernowin erstmals mit dem Computermusikdesigner Carlo Laurenzi am IRCAM zusammen, der später eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der Elektronik für Infinite Now spielen sollte. Wie wir sehen werden, sind elektronische Klänge und Klangspatialisierung von zentraler Bedeutung für die musikalische und dramaturgische Konzeption der Opern Infinite Now und Heart Chamber.

II Metaphern und ihre musikalische Umsetzung in Infinite Now

Infinite Now wurde am 18. April 2017 an der Vlaamse Opera in Gent unter Titus Engel uraufgeführt. Das Stück ist für sechs Sänger, sieben Schauspieler, großes Orchester, Elektronik sowie ein Solistenquartett aus verstärkter Gitarre, E-Gitarre und zwei Celli komponiert. Das Libretto basiert auf der Kurzgeschichte Homecoming der chinesischen Avantgarde-Schriftstellerin Can Xue (englische Übersetzung von Ronald R. Janssen und Jian Zhang, 1997) sowie dem Theaterstück FRONT des belgischen Regisseurs Luk Perceval (2014), welches wiederum teilweise auf Erich Maria Remarques berühmtem Roman Im Westen nichts Neues von 1929 aufbaut. In Homecoming kehrt eine Frau in der Dunkelheit in ein ihr, wie sie glaubt, vertrautes Haus zurück, wo sie allerdings feststellen muss, dass dieses nunmehr an der Klippe über einem Abgrund hängt und sie daher gefangen ist. In FRONT schreiben Soldaten Briefe an ihre Angehörigen aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, in denen sie die endlosen Gräuel und die Hoffnungslosig[11|12]keit beschreiben, die sie dort erfahren. Die Sänger spielen die namenlosen Rollen der Frau und eines Mannes aus der Erzählung Homecoming sowie ebenso namenlose Nebenstimmen; die Schauspieler spielen sieben Rollen aus FRONT auf deutscher wie alliierter Seite des Konflikts: Paul Bäumer, Stanislaus Katczinsky, Leutnant De Wit, Oberst Magots, Van Outryve, Soldat Seghers und die Krankenschwester Elisabeth. In Infinite Now verflechten Perceval und Czernowin die feminin geprägte Geschichte einer Frau, die sich nach ihrer Rückkehr nach Hause ebendort gefangen wiederfindet, mit einer maskulin geprägten Geschichte von Männern, die in den Krieg gezogen sind, nur um sich dort in endlosen Grabenkämpfen gefangen zu finden. Beide Erzählungen stellen jeweils eine unveränderliche, höllische Ewigkeit dar.

Sowohl in den Interviews, die ich mit Czernowin führte, als auch in ihren Texten zur Oper, stützt sie ihre Beschreibung des Werkes auf räumliche Metaphern – auf nach innen gerichtete Bewegungen, architektonische Formen und Landschaften – sowie auf von der Natur inspirierte Konzepte wie Amöben, Atem und den menschlichen Körper. Ihr Einführungstext zu dem Stück6 beginnt mit einer Kombination zweier solcher Metaphern: »Stellen Sie sich vor, dass eine Halle bzw. der gesamte Raum dieser Halle das Innere eines Kopfes/Herzens/Körpers ist.« Dieser innere, architektonische Raum ist jedoch nicht statisch konzipiert. Wie Czernowin weiter anmerkt, ist die in der Oper beschriebene Situation »ein existenzieller Zustand der Nacktheit, in dem sich der normale Sinn für Kontrolle und Vernunft auflöst«. Diese beiden Bilder umreißen eine grundlegende Dichotomie in der dramaturgischen und musikalischen Konzeption von Infinite Now: einerseits als fixierte, räumliche Architektur (das Innere eines Raums oder Körpers), andererseits als dynamische, möglicherweise mehrere Schichten durchlaufende Bewegung nach vorne oder nach innen (Nacktheit, entblößen).

In meinem Interview mit Czernowin beschrieb sie diese metaphorischen Felder näher. Besonders bemerkenswert war dabei ihre zur Beschreibung der Großform der Oper verwendete Kombination aus architektonischen und körperbezogenen Metaphern. Infinite Now ist in sechs ohne Pausen aufgeführte Akte unterteilt. Jeder dieser Akte folgt einer ähnlichen strukturellen Kontur. Der sich in jedem Akt durch das Hinzufügen oder Wegnehmen von Schichten sowie das Erweitern, Kombinieren oder Aufteilen einzelner Abschnitte wiederholende Erneuerungsprozess ähnelt den Flechtstrukturen in Anea Crystal oder Winter Songs ebenso wie den auseinander- und zusammenlaufenden Stimmen in Pnima. All diese Zugänge beruhen auf einem gemeinsamen Grundprinzip der Erschaffung von Vielfalt aus einem einzelnen Objekt.

[12|13]Jeder Akt beginnt mit dem elektronisch transformierten Klang eines Metalltores, gefolgt von einer etwa sechsminütigen Passage, die von Elektronik und Stimmen geprägt ist. Dem schließt sich ein Homecoming gewidmeter und auf Englisch von zwei Vokaltrios gesungener Abschnitt an, der wiederum von einem FRONT gewidmeten und von sieben Schauspielern auf Französisch, Deutsch und Flämisch gesprochenen Abschnitt abgelöst wird. (Alle 13 Schauspieler bzw. Sänger verbleiben durchgehend auf der Bühne.) Nach etwa dem dritten Viertel jedes Aktes ergibt sich ein Moment musikalischer sowie dramaturgischer Intensivierung, gefolgt von einer kurzen Coda oder einem Nachspiel, wo sich die so erzeugte Spannung auflöst. Mit jedem neuen Akt wird diese Struktur durch eine beginnende Überlappung der verschiedenen Abschnitte zunehmend verschleiert, während gleichzeitig neue Elemente aus ihr erwachsen und eine dramaturgische oder musikalische Bedeutung annehmen, die sich in den Folgeakten fortsetzt. Abb. 1 (Seite 14) zeigt eine mögliche Zusammenfassung dieser Struktur. Die Aufteilung und Organisation dieser Tabelle ist rein subjektiver Natur; andere Konfigurationen und Wege durch das Werk sind denkbar. Es ist nicht meine Absicht, eine endgültige strukturelle Analyse der Oper vorzulegen, sondern eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie Themen und Klangmaterialien von einem Akt zum nächsten weitergereicht werden, sowie vom dramaturgischen Bogen jedes Aktes und der Oper als Ganzes.

[13|14]

Metalltor

Einführung

Homecoming

FRONT

Höhepunkt/Intensivierung

Auflösung/Nachwirkung

1. Akt

klar definierte Klänge

Luftgeräusche, Züge, flüsternde Stimmen, Atemklänge

Ankunft der Frau beim Haus, wo sie von dessen Besitzer begrüßt wird; sie war schon mal hier, aber diesmal ist es anders

Elektronik: »verschmutzte Luft«, Brummen, Kolben; Einführung der deutschen Charaktere Bäumer and Katczinsky; »Slap-Bass«-Pedal auf E und G; Bäumer beschreibt wie es ist, unter Artilleriebeschuss zu sein

»Geräuschwand« – dissonante Pedaltöne, Glissandi; De Wit schreibt über seinen Hass auf die deutschen Soldaten

Oberst Magots beschreibt ein großes Manöver mit durch die Nacht ziehenden Militärkonvois

2. Akt

leichte Streuung der Klänge

Wind, Gesang, Vogelflügel, stehende, kurze Instrumental-gesten, Zug

Mann überzeugt Frau zu bleiben; sie hofft am Morgen abzureisen; er erklärt ihr, dass es keinen Sonnenaufgang geben wird

kleine Überschneidung mit Homecoming: Seghers fragt »Hören Sie das auch?« Seghers und van Outryve hören einen französischen Soldaten, der nach Elise ruft, während er auf dem Schlachtfeld im Sterben liegt.

Puls aus kleiner Trommel und Kuhglocke; wir erfahren von De Wit, dass der Soldat Henri heißt

Ratschen, stationär, aufsteigend/verdichtet zu weißem Rauschen

3. Akt

viel mehr Streuung; viel Hall; veränderte Tonhöhen

Wind, Menschen im Gespräch, Radio, instrumentale Pedaltöne, Arpeggio-Gesten

größere Überschneidung der Erzählungen; die Frau beginnt, sich mit ihrer Lage abzufinden; die Schützengräben werden bombardiert; die Frau versucht ein Feuer zu machen; sie erblickt den ursprünglichen Besitzer des Hauses tot in einem Boot am Fuß der Klippe

Einführung der Figur Schwester Elisabeths; der Krieg treibt sie in den Wahnsinn, aber der Erinnerung an Henri wegen möchte sie den Soldaten helfen

rasche Überblendung zu einem langen Pedalton in der Stimme

4. Akt

viel mehr Streuung; teilweise Überschneidung mit anderen Klängen; zahlreiche Tonhöhen-wechsel

Hunderte Menschen, Zug, Wind, Beckenwolke, rollende Bälle, Flügel, Atemklänge, Nachrichten-sprecher

komplette Überschneidung der Erzählungen; FRONT beginnt vor Homecoming, nach wie vor durch Kolben und »verschmutzte Luft« angedeutet, Überschneidung mit Einführungsabschnitt; die Frau versucht das Haus zu verlassen, wird aber jedesmal zu diesem zurückgeleitet; Soldat Seghers schreibt einen Brief nach Hause und versucht sich dabei optimistisch zu geben; die Frau stürzt beinahe die Klippe hinab; sie beginnt sich im Haus wohlzufühlen

Schwester Elisabeth hat Albträume zu Henris Tod; ein Deserteur wird ins Krankenhaus gebracht; Pedal auf G (Fagotte und Blech) gegen Ende des Abschnitts

Atemklänge; madrigalartige Fragmente; Musik aus der Ferne; Stimmen in einem Restaurant

5. Akt

Minimale Klangver-änderung; bloß

Beinahe ausschließlich Windgeräu-sche, die zu einem Tosen anschwellen

der Mann erklärt der Frau, sie müsse mit dem Haus harmonieren

ein weiteres Bombardement; Bäumer tröstet einen sterbenden Soldaten; er erwacht aus einem Traum

Schwester Elisabeth beschreibt die zerstörten Körper auf ihrer Station; sie fragt sich, was es unter diesen Umständen bedeutet, ein Mann oder eine Frau zu sein; die Frau fühlt sich, als ob sie nicht existiere

Klänge von geschichtetem Eis und Elektrostatik leiten in den 6. Akt über

6. Akt

Metalltor und Einführung überschneiden einander zur Gänze, ineinander übergreifende Klänge; Dopplereffekt, Elektrizität, Zug, Morsecode, Wolken aus punktartigen Klängen, Sinustöne, Sturzflugklänge, Prasseln

überlagerte Phrasen beider Erzählungen; verzerrt von verschiedenen Kommunikationsmedien (Telefon, Skype, Radio, etc); Frau aus Homecoming erwacht; Schwester Elisabeth stellt fest, dass es heute einen Angriff geben wird; Erwachen/Träumen/Bombardement; De Wit: »toujours continuer«

eine Stimmung der Resignation oder des Sich-Abfindens, das Gefühl aus einem Traum zu erwachen; Musik, die auf zwei Pedaltönen auf E und dann G aufbaut; Bäumer im Sommer 1918: »nie ist uns das Leben in seiner kargen Gestalt so begehrenswert erschienen wie jetzt«; Frau: »Ich kleide mich an, und dann sitze ich mit dem Besitzer im Wohnzimmer – jeden Tag ohne Ausnahme«

Abbildung 1: Chaya Czernowin, Infinite Now, strukturelle und erzählerische Gliederung

In unserem Interview vom April 2017 beschrieb Czernowin ihre Struktur als eine Art »Geländer« oder Stütze, die dem Hörer den Weg weisen und sein Vertrauen erwecken soll, während das Werk in zunehmend fremdartige Gefilde vordringt. In diesem Bild drückt sich bereits eine Vorstellung von Stabilität als Mittel zur Ermöglichung von Bewegung aus. Diese Struktur tritt während der ersten drei Akte am offensichtlichsten zutage, welche Czernowin auch als »den Korridor« beschreibt – ein weiteres Bild architektonischer Beweglichkeit. Nach diesem Korridor erfolgt der vierte Akt, der »Dreh- und Angelpunkt«. Die formale Kontur, die wir bis dahin als Leitfaden verwendet haben, wird nun auf grundlegendere Art und Weise herausgefordert. Die beiden Geschichten von Homecoming und FRONT, die bis zu diesem Zeitpunkt noch relativ klar voneinander getrennt waren, beginnen nun allmählich ineinanderzugreifen. Erstmals ist es eine Passage aus FRONT, der dabei zunächst der Vortritt gewährt wird. Das Haus aus Homecoming, eingezwängt zwischen der Klippe auf der einen sowie einer sich verändernden, unbegehbaren Landschaft auf der anderen Seite, beginnt der Situation an der Westfront zu ähneln. In beiden Geschichten beginnen die Protagonisten, auf ihre ähnlichen Situationen des In-der-Falle-Steckens einzugehen. Musikalische Elemente, die zuvor noch klar einer der beiden Geschichten zugeordnet waren (wie z. B. eine als »Brummen mit Kolben« gekennzeichnete Elektronikspur, die eben noch ein charakteristischer Teil der Klangwelt in FRONT war), beginnen sich nunmehr aus ihrem ursprünglichen Kontext zu lösen. In der Inszenierung Percevals für die Uraufführung [14|15]an der Vlaamse Opera kreuzen sich in diesem Akt nun erstmals die Wege der Darsteller beider Erzählungen auf der Bühne, in einer visuellen Darstellung der beginnenden Verflechtung ihrer Geschichten.

»Die Drehpunkte«, erklärte mir Czernowin, »können uns Orte zeigen, an denen wir hinab, hinein in das zuvor Betrachtete steigen können, in einen abgeschlossenen Bereich, der sich nach innen öffnet.« Diese Wendung ins Innere spiegelt sich in der elektronischen Klangspur wider, die bis dahin von Klängen der äußeren Umgebung geprägt war – Züge, Menschen im Gespräch, das Flattern von Vogelflügeln –, nunmehr aber allmählich Klänge des menschlichen Körpers aufweist. Eine besondere Stellung nimmt dabei der Klang von Atmen ein, den Czernowin als dem Hörer äußerst nahe erscheinen lässt, als ob man »beinahe den Geruch des Atems wahrnehmen« könnte.7 Atem spielt eine bedeutende Rolle in der metaphorischen Sprache zu Infinite Now: nicht nur weil er für Intimität und Nähe steht, wie Czernowin hier beschreibt, sondern auch als weiteres Bild einer Bewegung durch eine ebendiese definierende architektonische Struktur, in diesem Fall jene der Lungen, des Brustkorbs, Rachens und Mundes.

Der Klang von Atem bzw. von bewegter Luft prägt den fünften Akt, den Czernowin »eine Windwüste« nennt: Etwa das erste Drittel des Aktes dreht sich um die Klänge des Windes (entweder in Form von Tonaufnahmen oder imitiert in Stimmen und Orchester). Auch in ihrer Beschreibung des sechsten und letzten Aktes, den sie als »weichen Bauch« der Oper bezeichnet, greift die Komponistin auf eine Bildersprache körperlicher Intimität zurück. Die tiefgehendste Freilegung der Schichten des Werkes wird in ebendiesem Akt erreicht, und der in Akt 4 und 5 erfolgte Prozess der Verlangsamung und des Heranzoomens wird seinem Höhepunkt zugeführt. Czernowin wählt hierfür die Metapher des Eintritts in einen Raum, in dem man sich auf jedes kleinste Detail einstellt:

»Wenn man langsamer wird, sich nähert, dann sieht man all diese Amöben, all diese Bakterien, und plötzlich merkt man, dass alles viel komplizierter ist, als man dachte. … Wenn man sich in einen inneren Raum begibt, dann nimmt man tatsächlich alles wahr, was im Raum um einen herum geschieht. Das passiert dann, wenn man ein sehr stark emotionales Erlebnis hat. Man sieht, wie das Licht funktioniert, wie Staub in der Luft liegt, weil sich alles verlangsamt und der Raum hör- und sichtbar wird und sich selbst ins Leben ruft.«8

Es ist unklar, ob sich Czernowin hier auf die Perspektive der Bühnendarsteller oder jene des Publikums bezieht – das »man« in ihrer Metapher könnte beide meinen. Das »emotionale Erlebnis« bezieht sich vermutlich auf die Darsteller, aber der Eintritt in einen »inneren Raum«, wo man wahr[15|16]nehmen kann, »wie Staub in der Luft liegt«, weil »sich alles verlangsamt«, scheint auf das Erlebnis des Publikums Bezug zu nehmen. Wie wir sehen werden, ist die durch den Gegensatz zwischen diesen beiden Blickpunkten gegebene Zweideutigkeit entscheidend für den musikalisch-dramaturgischen Effekt des Werkes.

Die musikalische Manifestation dieser Metaphern kann zunächst anhand der oben beschriebenen Großform analysiert werden. Durch das mit jedem Akt weiter fortschreitende »Heranzoomen« verwischen die Grenzen zwischen den beiden Geschichten, gleichzeitig rücken aber neu freigelegte Elemente derselben vom Hinter- in den Vordergrund. Die Metaphern finden auch in den musikalischen Prozessen des Stückes ihre Entsprechung. Ein Vergleich der Metalltorklänge, die jeden Akt eröffnen, illustriert dies bündig: mit jeder Wiederholung erscheinen die Klänge deutlich räumlicher und abgetrennter. Im fünften Akt werden sie durch weitere Klänge ergänzt, und im sechsten Akt ordnen sie sich beinahe gänzlich den Klängen von Wind, Zügen und Elektrostatik unter, die den ersten Teil dieses Aktes prägen. Zum Zweck einer detaillierteren Analyse werde ich mich nun auf jenen von mir so bezeichneten Intensivierungsmoment konzentrieren, der ungefähr nach drei Vierteln jedes Aktes vor dessen abschließender Auflösung erfolgt (wobei sich die genaue Platzierung mit jedem Akt ändert).