Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die vorliegende Dissertationsschrift geht erstmals den Fragen nach, welche musikalische Formen und Liedtexte im deutschen Französischunterricht von den Anfängen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs eingesetzt worden sind und welche unterrichtlichen Zwecke damit verfolgt wurden. Dabei werden unter anderem bilinguale Zonen in Deutschland, adlige Damengesellschaften, Mädchenschulen und die Philanthropen, eine pädagogische Reformbewegung, einbezogen. Einen Höhepunkt erfuhr das Singen in der neusprachlichen Reformbewegung, die in eine umfangreiche fachdidaktische Auseinandersetzung mündete.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 850
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Andreas Rauch
Musikeinsatz im Französischunterricht
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-8233-8291-1 (Print)
ISBN 978-3-8233-0177-6 (ePub)
Les hommes chantent d’abord, ils écrivent ensuite.
François René de Chateaubriand
Die Liebe zur Musik und zu den Fremdsprachen hat mich schon seit meiner Kindheit geprägt, einerseits beim Musizieren als Violonist mit meiner Mutter, die mich am Klavier begleitete und als Klavierlehrerin für die Musik sensibilisierte, andererseits während meiner Tätigkeit als Assistant d’allemand des Pädagogischen Austauschdiensts in Maubeuge, im Orchester Arioso 1994 / 1995 oder dann in Laienorchestern in Paris während meiner Zeit als lecteur DAAD an der Université Paris X / Nanterre 2004-2011.
Auch während meines Studiums der Romanistik und Anglistik an der TU Chemnitz und im Referendariat habe ich dieses Thema weiterverfolgt – so widmeten sich bereits meine Erste und Zweite Staatsexamensarbeit dem Einsatz von Liedern im Englischunterricht. Neben meiner Tätigkeit als DAAD-Lektor in Frankreich habe ich dann pädagogisch-didaktische Studientage zum Thema Musique et Littérature sowie musikbezogene Weiterbildungsveranstaltungen für Fremdsprachenlehrer organisiert. Auch in meinen Lehrveranstaltungen an der Université Paris X konnte ich unter anderem ein interdisziplinäres Seminar La musique dans l’espace germanophone anbieten, das sich an der Schnittstelle zwischen Musikwissenschaft, Fremdsprachendidaktik, Kultur-, Literatur- und Sprachwissenschaften befand. Als Mitglied der Société Internationale pour l’Histoire du Français Langue Étrangère ou Seconde (SIHFLES) habe ich mich an Vorträgen und Artikeln über Musik im Französischunterricht beteiligt.
Nach meiner Rückkehr aus Frankreich nahm ich eine Stelle als Fachgruppenleiter Französisch am Zentrum für Fremdsprachen der Technischen Universität Chemnitz an. Parallel dazu suchte ich nach einem geeigneten Betreuer für die Anfertigung einer Dissertation zum Thema Musik im Fremdsprachenunterricht, zu dem ich schon so viele Vorarbeiten geleistet hatte. Herr Prof. Dr. Wolfgang Dahmen, mit dem ich seit Beginn meines Studiums in Kontakt stehe, machte mich an der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit Herrn Prof. Dr. Marcus Reinfried bekannt, der sich bereit erklärte, als Doktorvater diese Dissertation zu betreuen. Das vorliegende Buch stellt eine leicht überarbeitete und gekürzte Version meiner Dissertation dar, die im Sommer 2017 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena vorgelegt wurde.
Ich danke Herrn Prof. Dr. Reinfried an dieser Stelle ganz besonders. Als ausgewiesener Spezialist für die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts hat er mich ausführlich beraten, den Entstehungsprozess meiner Dissertation kontinuierlich begleitet und mir viele wertvolle inhaltliche Hinweise gegeben. Mein ganz herzlicher Dank gilt ebenfalls meinem zweiten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Dahmen, der bereits zu Beginn meines Studiums nicht nur meine Begeisterung für die Romanistik geweckt, sondern mich auch immer unterstützt sowie in fachlichen und beruflichen Fragen beraten hat.
Danken möchte ich außerdem Herrn Prof. Dr. Franz-Joseph Meißner und Frau Prof. Dr. Hélène Martinez, die als Herausgeber der Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik die Aufnahme in die Reihe befürwortet und mit konstruktiven Ratschlägen begleitet haben. Insbesondere danke ich Frau M.A. Kathrin Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag für die verlegerische Betreuung des Manuskripts.
Zu großem Dank bin ich auch der Geschäftsführerin des Zentrums für Fremdsprachen der Technischen Universität Chemnitz, Frau Dr. Angela Minogue, verpflichtet. Ohne ihre Unterstützung, sei es durch die Ermöglichung der Teilnahme an internationalen wissenschaftlichen Tagungen der SIHFLES, durch Stundenabminderungen oder einfach nur durch ihre motivierenden Worte wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen.
Auch weiteren Chemnitzer Kollegen bin ich zu Dank verpflichtet: Für die Hilfe beim Übersetzen lateinischer Texte betrifft das Herrn Dr. Burkhard Müller, für Hinweise zu älteren italienischen Quellen Frau Dott.ssa Daniela Giovanardi und Frau Dott.ssa Margherita Romano.
Mein Dank gilt ebenfalls Herrn Dr. Joachim Seifert, der mich bereits während meines Studiums als Betreuer meiner Ersten Staatsexamensarbeit sehr detailliert beraten und mir viele gute Anregungen gegeben hat.
Herzlich möchte ich der Direktorin der Universitätsbibliothek der TU Chemnitz, Frau Angela Malz, für ihre Unterstützung danken.
Ich danke der Leiterin des Archivs der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung Berlin, Frau Dr. Bettina Reimers, für ihre hilfreichen Ratschläge.
Meinen besonderen Dank drücke ich Helga und Jean-Pierre Malherbe aus, durch deren liebevolle und großzügige Unterstützung die Arbeit veröffentlicht werden konnte. Ich danke außerdem Herrn Dr. Yves Métivier für seine Hinweise.
Diese Arbeit widme ich in Liebe und dankbarer Erinnerung meinen Eltern Kristina Rauch und Dr. Manfred Rauch.
Chemnitz, im April 2019 Andreas Rauch
Bd.
Band
bes.
besonders
bzw.
beziehungsweise
ders.
derselbe (Autor)
dies.
dieselbe (Autorin) / dieselben (Autoren)
ebd.
ebenda
erw. Aufl.
erweiterte Auflage
vollst. überarb. u. erw. Aufl.
vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage
Hrsg.
Herausgeber
Jg.
Jahrgang
o. g.
oben genannt/e
o. J.
ohne Jahresangabe
o. O.
ohne Ortsangabe
o. S.
ohne Seitenangabe
u. a.
und andere / unter anderem
vgl.
vergleiche
Das Thema Musik im Fremdsprachenunterricht erfreut sich seit den 1950er Jahren und besonders seit der „kommunikativen Wende“1 der 1970er Jahre zunehmender Beliebtheit.2 Das gilt vor allem für den Anfangsunterricht in der Grundschule bzw. das 5. und 6. Schuljahr, bei dem „ältere ganzheitspsychologische und fachdidaktisch integrative […] Ansätze“3 angewendet werden.
Mit der mehrdimensionalen Erweiterung des Literaturbegriffs durch die Rezeptionsästhetik4 rückt der Einsatz von Liedern als „vertonter Lyrik“5 auch für die Mittel- und Oberstufe in den Mittelpunkt der fachdidaktischen Diskussion: Harald Weinrich untersucht in seinem bahnbrechenden Aufsatz Ein Chanson und seine Gattung6 „die erstaunliche literarisch-musikalische Gattung des Chansons“,7 „eine unverwechselbar französische“8Mischgattung, für die es keine normative Definition9 gibt. Weinrich betrachtet ein (prototypisches) Chanson,
als ob es ein lyrisches Gedicht wäre, […] ganz von der Melodie abgesehen. Das ist nicht nur aus methodischen Gründen geschehen, sondern findet seine Rechtfertigung auch darin, daß tatsächlich die Melodie in der Gattung Chanson gegenüber dem Text eine untergeordnete Rolle spielt.10
Der Romanist gesteht der musikalischen Komponente im Vergleich zum (Chanson-)Text lediglich eine dienende Rolle11 zu. Friedrich Klotz12 schließt sich Weinrichs Betrachtungen an und bezeichnet das Chanson als „Gattung Poesie“.13 Klotz legt vier verschiedene und von ihm selbst erprobte Methoden für die Chansonbehandlung im Unterricht vor, mit denen „man eine Unterrichtsreihe abwechslungsreich gestalten oder in Einzelstunden auf verschiedene Arten den Schülern diese kleinen Kunstwerke nahebringen kann.“14 Es handelt sich um 1. das Einhören, 2. das Eindenken, 3. Poésie-Chanson (die Interpretation des Chansons wie ein „echtes Gedicht“15) und 4. Chansons – übersetzt.16
Neben der Durchnahme einzelner Chansons schlägt Klotz vor, „Chansons in Reihen zu besprechen (nach welcher der genannten Methoden auch immer).“17 Klotz gibt folgende Themengruppen an: 1. Paris im Chanson, 2. Politik im Chanson, 3. Sozialkritik im Chanson, 4. Édith Piaf, 5. Weitere Themengruppen a) Das Chanson und sein Dichter im Chanson (Trénet / Bécaud), b) Jungsein – Qual und Glück (Neuville / Bécaud), c) Das religiöse Chanson (Chansons des Père Aimé Duval / der Sœur Sourire einerseits und von Brassens / Bécaud andererseits).
In seiner 1975 im Diesterweg-Verlag erschienenen Publikation Das französische Chanson bietet der Literaturwissenschaftler Karl Hölz18 erstmals Modelle für den Unterricht mit dem Chanson an, wobei nach einem historischen Abriss die Chansontexte mit einem Fragenkatalog und Diskussionsthemen versehen sind.19
Im gleichen Verlag wird von Hans Puls und Edmond Jung das Heft La Chanson française contemporaine20 herausgegeben. In ihrem Vorwort unterstreichen die Autoren die Rolle der chanson française als „nouveau genre littéraire“.21
Die 1980 erschienene Schrift des Soziolinguisten Louis-Jean Calvet La chanson dans la classe de français langue étrangère22 leitet einen Paradigmenwechsel im modernen Französischunterricht ein. So überträgt er Karl Bühlers Organon-Modell und Roman Jakobsons Kommunikations-Modell auf den Liedeinsatz im Fremdsprachenunterricht:
Pour qu’un message passe entre un émetteur (E) et un récepteur (R), il faut […] qu’ils aient en commun un code grâce auquel il pourra y avoir encodage et décodage. Ajoutons à cela que les rôles sont réversibles, l’émetteur pouvant devenir récepteur et vice-versa. Que se passe-t-il pour la chanson? Nous pouvons utiliser un schéma très semblable […].23
Neben Wortschatzschulung, Phonetik und Grammatik widmet Calvet ein Kapitel der landeskundlichen Komponente des Liedeinsatzes, das durch die beiden annexes Vingt thèmes de classe de civilisation und eine Mini-Bibliographie von Vingt chanteurs et chanteuses de la „Nouvelle Vague“, also zeitgenössischen auteurs-compositeurs-interprètes, komplettiert wird. In seiner im Folgejahr erschienenen Schrift Chanson et société24 fordert Calvet eine Aufwertung der musikalischen Komponente in Bezug zum Liedtext.25 Volkhard Heinrichs26 nimmt diese Position auf und schlägt insbesondere für die Arbeit mit fortgeschrittenen Lernern der Sekundarstufe II „zwei verschiedene, jedoch methodisch komplementäre Angänge nahe: den über die Musik und den über den vorgetragenen Text.“27
Die wachsende Bedeutung der musikalischen Seite in der Arbeit mit dem französischen Chanson spiegelt sich auch in Dietmar Frickes gleichnamigem Leitartikel28 des Sonderhefts Behandlung von Songs und Chansons wider. Nach Fricke führt die Vernachlässigung der musikalischen Seite des Chansons zu einem „Verlust an inhaltlicher und ästhetischer Information“.29 Fricke plädiert für die Analyse der musikalischen Dimension beim Einsatz von Chansons im Französischunterricht, „denn die Gründe, die trotz allem für die zusätzliche Mühe sprachlicher Bewältigung musikalischer Informationen sprechen“,30 liegen vor allem in der Gattung selbst beschlossen. Sie ist nur als Einheit von Text und Musik rezipierbar.“31 Als Illustration dieser Aussage führt Fricke ein Zitat des bekannten auteur-compositeur-interprète32 Guy Béart an: „La chanson, c’est l’union de l’aveugle – la musique – et du paralytique – les paroles. Sans la musique, les paroles restent paralysées, mais sans les paroles, la musique va n’importe où.“33 Anhand dreier Chansons von Guy Béart, Maxime Le Forestier und Henri Tachan zeigt Fricke die Anwendung der musikalischen Analyse34 bzw. musikalischer Ausdrucksmittel, wobei er als Hilfe ein „Minilexikon musikalischer Begriffe“ in deutsch, französisch, englisch, spanisch und italienisch beifügt.35
Eine methodisch-didaktische Pionierleistung zur inhaltlichen Analyse von Chansontexten gelingt Volkhard Heinrichs in seinem Basisartikel zum Chansoneinsatz in Praxis des neusprachlichen Unterrichts.36 So nutzt er wie Puls / Jung das Interpretationsmodell des commentaire de texte37 und bezieht sich auf den
aus der Informationstheorie abgeleiteten und dem Fremdsprachenunterricht angepaßten artikulatorischen Dreischritt von 1. Informationsentnahme (compréhension), 2. Informationsverarbeitung (analyse) und 3. Informationsbewertung (commentaire) […], dem als fertigkeitsbezogene Lernziele wichtige Kulturtechniken zugrunde liegen.38
Nach diesem Leitartikel veröffentlichte Volkhard Heinrichs von 1980 bis 1987 unter der Rubrik Chansons im Französischunterricht insgesamt 18 Modellvorschläge mit einem Aufgabenapparat und didaktischen Hinweisen in der Zeitschrift Praxis des neusprachlichen Unterrichts.39
Analog zur TriasCompréhension / Analyse / Commentaire wendet der Englischlehrer Wolfgang Biederstädt den DreischrittComprehension / Analysis / Discussion zur Inhaltsanalyse von Rocktexten an.40
1986 erscheint im Klett-Verlag die Sammlung Chansons d’aujourd’hui für den Einsatz in der Sekundarstufe II.41 Die Autoren Bernhard Wiehl, Eberhard Haar und Sylvie Schenk knüpfen an den didaktischen Dreischritt von Heinrichs an und erweitern diesen zu Compréhension / Analyse et interprétation / Commentaire et discussion.42 Die sechs Themenschwerpunkte lauten: I. Les jeunes et les vieux, II. Les visages de l’amour, III. La vie en ville et à la campagne, IV. L’individu et la société, V. Les marginaux, VI. La guerre et la paix.
Volkhard Heinrichs plädiert für einen verstärkten Einsatz von französischen Chansons in der Sekundarstufe II anhand einer multimedialen Konstruktion des Chansondossiers,43 als
Kombination aus Chansons als Leitmedium und komplementären Sach-, Hör- und Bildtexten sowie aus fiktionalen Texten zum Thema. Dieses Dossier soll Abstand halten sowohl von einer einseitigen Ausrichtung auf das Chanson oder von Zuliefererdiensten für eine andersartige Sachwissensvermittlung als auch von der reinen Auflockerung des Unterrichts durch gelegentlich eingestreute Chansons.44
Dieser multifunktionale Ansatz wird auch in Liedersammlungen aufgenommen wie beispielsweise derjenigen von Norbert Becker / Volkhard Heinrichs La chanson française: Paroles et musique.45 Die Autoren ergänzen die Arbeitsform des commentaire dirigé progressiv nach der methodischen Trias Compréhension / Analyse / Commentaire personnel mit komplementären Bildtexten (Karikaturen, Fotos) und Travaux pratiques mit Lückentexten, Zuordnungsübungen und Wortschatzarbeit (Vocabulaire thématique sur la chanson).
Auch Henning Düwell und Hannelore Rüttgens46 nutzen die multimediale Konstruktion des Chansondossiers, wobei sie wie Fricke eine Aufwertung der musikalischen Komponente fordern:
Chansons erfordern eine Rezeption von Musik und Text, die in ihrer jeweiligen Komposition und ihrem Zusammenhang Anlaß für verschiedene Formen der Wahrnehmung, Analyse und Verarbeitung bieten. Daher müssen für den mehrdimensionalen Prozeß der Aufnahme und der Auseinandersetzung mit einem Chanson Aufgaben eingesetzt werden, die dieser Vielschichtigkeit gerecht werden. Dies gilt insbesondere für eine adäquate Berücksichtigung der Musikkomponente, die allerdings bei der Behandlung von Chansons im Unterricht nicht voll bewältigt werden kann, weil hierzu bei den Adressaten die erforderlichen Vorkenntnisse häufig nicht vorausgesetzt werden können.47
Bei Düwell / Rüttgens erfolgt der Zugang zu den Chansons in einer an Sievritts angelehnten Stufenfolge: 1. Rezeption (A: Première impression sur la musique et les paroles de la chanson, B: Compréhension globale, C: Compréhension détaillée, D: Compréhension sélective; 2. Reproduktion (A: Reproduction, B: Reproduction – Production); 3. Textproduktion (A: Production, B: Textes supplémentaires, Caricatures, bandes dessinées).48
In den 1990er Jahren ist der Einsatz von Chansons und die musikalische Komponente ein fester Bestandteil im Französischunterricht, wobei sich der Fokus auf Moderne Chansons49 der Nouvelle génération française50 bezieht. In seinem Basisartikel Chansons in der Schule – von Brassens und Brel zu Rap und Bruel im o. g. Themenheft Der fremdsprachliche Unterricht Französisch versucht Ralf Böckmann eine Standortbestimmung zur Rolle des französischen Chansons im Französischunterricht mit dem Fazit, dass der Platz des französischen Chansons im Unterricht zwar schon seit langem gesichert ist, wobei er allerdings für den Einsatz aktueller Chansons plädiert, für „Beispiele der 90er Jahre […], Interpreten dieser Tage, die in der frankophonen Welt und darüber hinaus bekannt und beliebt sind, auch solche, die es vielleicht erst bei uns zu entdecken gibt.” So sollte die „didaktische Diskussion über das Was und das Wie […] heute innerhalb des Spannungsfeldes von klassischem französischem Chanson, von Pop, Rap und kommerzieller Medienkultur verlaufen.”51 In seinem Artikel Chansons im Französischunterricht (Schwerpunkt: Sekundarstufe II) im Themenheft Musik und Fremdsprachenunterricht52 zeigt Werner Weilhard methodisch-didakische Möglichkeiten im Bereich des Hörverstehens53 auf:
Hinsichtlich der Methoden des Chansoneinsatzes sollte […] das Prinzip „Vario delectat” [sic] gelten. In jedem Fall unverzichtbar ist im Vorfeld der Planung eine möglichst präzise Klärung der Schwierigkeitsfaktoren und -grade im Lernbereich Hörverstehen.54
Für die Sekundarstufe I gibt Wolfgang Froese Ende der 1980er und bis Ende der 1990er Jahre das beliebte Liederheft En chantant55 heraus, das neben 15 kindgemäßen Chansons traditionnelles56 auch 12 Chansons didactiques57 enthält. Das 1994 im Institut für Didaktik populärer Musik von Karl Rohrbach und Matthias Ganz herausgegebene Werk Chansons pour toi58 besteht aus drei Heften mit 5 CDs, wobei Band 1 einfache Lieder, Kanons, Chansons für die ersten zwei bis drei Jahre Französischunterricht vorstellt. Es dominieren die Chansons traditionnelles. Band 2 enthält Lieder der Nouvelle génération française wie Jean-Jacques Goldman, Michel Fugain, Stephan Eicher und Patricia Kaas. Dazu geben die Autoren handlungsorientierte Aufgabenstellungen vor: (Wir schreiben ein eigenes Chanson).59 Band 3 ist als Lehrerband60 konzipiert und bietet zahlreiche didaktische Hinweise sowie die kompletten Notenarrangements. So beginnt der Lehrerband mit dem Titel Das Lied im Französischunterricht und dem Zitat „Guter Unterricht ist ganzheitlicher Unterricht“.61 Die Autoren beschreiben die gegenseitige Wechselwirkung der linken und rechten Hemisphäre des Gehirns, wobei nach Forschungen der Neurobiologie bei der linken Hirnhälfte die rational-analytische, bei der rechten Hirnhälfte die intuitiv-imaginative Funktion im Mittelpunkt steht:
Das Chanson bietet die Möglichkeit, wieder beide Seiten unseres Bewußtseins anzusprechen: es beinhaltet Musik und Sprache, es weckt Emotionen, entspringt der Realität oder der Phantasie … – kurz: es berührt den ganzen Menschen, nicht bloß den Kopf.62
Der Liedeinsatz im Französischunterricht ermöglicht ein ganzheitliches Lernen – im Pestalozzischen Sinne mit Kopf, Herz und Hand. 2002 erscheint ein Themenheft der Zeitschrift Der fremdsprachliche Unterricht Französisch zu „Sprache und Musik“63 mit einer Auswahlbibliographie, die zeigt, dass Ende der 1990er Jahre diese Interdependenz von Sprache und Musik in mehreren fremdsprachendidaktischen Publikationen thematisiert wird.64
Eine weitere Tendenz der 1990er Jahre ist durch die Interdisziplinarität geprägt: Ursula Mathis organisierte 1993 an der Universität Innsbruck das interdisziplinäre Symposium La chanson française contemporaine. Politique, société, médias, an dem neben den Romanisten namhafte Historiker, Journalisten, Kultur-, Sprach-, Literatur- sowie Musikwissenschaftler und Soziologen beteiligt waren.65
Dieser fachübergreifende, interdisziplinäre Ansatz dominiert auch im 1997 von Norbert Becker herausgegebenen Themenheft zum Chanson.66 Becker prophezeit im Vorwort die Medienrevolution der 2000er Jahre, die durch den Triumph und die Ausbreitung des Internets charakterisiert werden kann, sowie neue Kommunikationsplattformen, die mit Videoclips, mp3, mp4, deezer u. a. ein neues Medienzeitalter einläuten.67
Zum visuellen Medieneinsatz aus einer interdisziplinären Perspektive erscheint auch 1992 Marcus Reinfrieds Dissertationschrift Das Bild im Fremdsprachenunterricht68 als erste lückenlose Darstellung der historischen Entwicklung der visuellen Medien im Französischunterricht. 1996 gibt Gabriele Blell mit Karlheinz Hellwig den interdisziplinären Band Bildende Kunst und Musik im Fremdsprachenunterricht69 heraus und charakterisiert den fremdsprachendidaktischen Zusammenhang wie folgt:
Motivierender Fremdsprachenunterricht beginnt beim Lernenden und seinen Interessen. Der Einsatz von Bildern im Fremdsprachenunterricht ist […] zu einer beliebten und sprachlich produktiven Selbstverständlichkeit geworden. Das gilt insbesondere für Formen mediuminterner Verbindung mit der Fremdsprache: wie z. B. für Bildergeschichten, Cartoons, Comics, Buchillustrationen zu literarischen Texten, Filmen und Videos. Ähnlich verhält es sich mit Musik. Durch elektronische Apparate ist Musik überall. Es gibt auch kaum einen Lernenden, der sich nicht in irgendeiner Form von Musik für das Fremdsprachenlernen motivieren ließe. […]. Die mediumexterne Kombination von Bild und Fremdsprache sowie von Musik und Fremdsprache, d. h. das Sprechen über Bildkunstwerke: Malereien, Graphiken und Collagen – oder über Tonkunstwerke ohne Wort: Programm-Musik und Charakterstücke – war jedoch lange Zeit ein auffällig vernachlässigter Bereich der Fremdsprachendidaktik im neusprachlichen Unterricht.70
Zwei Jahrzehnte nach der kommunikativen Wende kommt Frank G. Königs in Anlehnung an Hans-Eberhard Piephos proklamierter „postkommunikativer Phase”71 nach einer Bestandsaufnahme der Forschungen in der Fremdsprachendidaktik zum Ergebnis, dass diese Neuentwicklungen als Belege für eine „Veränderung des Verständnisses von fremdsprachenunterrichtlicher Kommunikation und natürlich auch von fremdsprachenunterrichtlich bezogener kommunikativer Kompetenz” interpretiert werden können.72 Königs prägt den Begriff „neokommunikativ”, der diese Neuentwicklungen treffender darstelle als „postkommunikativ”.73 Parallel zu Frank G. Königs, dessen Aufsatz in der wenig verbreiteten chilenischen Zeitschrift Taller de letras erschien und deutschlandweit nur in der UB Frankfurt konsultierbar ist, bezeichnete auch Marcus Reinfried diese unterrichtsmethodischen Strömungen in seiner Vorlesung über Methodenkonzeptionen an der damaligen PH Erfurt als „neokommunikativ“.74 Dieser Paradigmenwechsel hin zum neokommunikativen Fremdsprachenunterricht wurde von Reinfried nach einer empirischen Auswertung der Sachregister der Bibliographie Moderner Fremdsprachenunterricht aus drei Jahrzehnten analysiert75, wobei er daraus folgende fünf unterrichtsmethodische Leitprinzipien abgeleitet hat:76
(1) Handlungsorientierung (mit den Unterrichtsformen kooperatives Lernen, kreative Arbeitsformen und Lernen durch Lehren); (2) fächerübergreifender Unterricht (dem der Projektunterricht, die Mehrsprachigkeitsdidaktik und der bilinguale Unterricht zugeordnet werden); (3) ganzheitliches Lernen77 (mit Inhaltsorientierung sowie authentischem und inzidentellem, d. h. beiläufigem Lernen); (4) Lerner- und (5) Prozessorientierung (mit der Individualisierung des Lernens, dem autonomen Lernen und dem reflektierten Einsatz von Lerntechniken).78
Zur Mehrsprachigkeitsdidaktik erschien 1998 ein von Franz-Joseph Meißner und Marcus Reinfried herausgegebener umfangreicher Sammelband.79 Ein Jahrzehnt später verfasste Franz-Joseph Meißner darüber hinaus einen grundlegenden historischen Aufsatz, der sich erstmals der diachronen Perspektive der Mehrsprachigkeitsdidaktik widmete und deren historischen Vorläufern unter semasiologischen und onomasiologischen Aspekten nachging.80
In mehreren Bänden der von Gabriele Blell und Rita Kupetz herausgegebenen Reihe Fremdsprachendidaktik inhalts- und lernerorientiert werden intermediale Korrelationen, d. h. Formen mediuminterner Verbindung mit der Fremdsprache und mediumexterner Kombination von Musik und Fremdsprachethematisiert.81 Die kommunikativen, sprachlichen und kulturellen Interaktionsmöglichkeiten der Neuen Medien zeigt Laurenz Volkmann82 auf in seinem Artikel Überlegungen zum Lernziel Medienkompetenz83am Beispiel Musikvideoclips. Neben der fremdsprachlich kommunikativen und der interkulturellen Kompetenz plädiert Volkmann für eine semiotische und kulturkritische Kompetenz.84 Die zentrale Rolle von Musikvideoclips im Französischunterricht zeigt sich auch daran, dass Andreas Nieweler 2011 seine Reihe Französisch Innovativ mit dem Band Musik und Videoclips eröffnet.85 In diesem Zusammenhang verweist Nieweler auf das didaktische Potential der Neuen Medien, insbesondere des Internets:86
Mit dem vorliegenden Band werden gezielt Kompetenzen gelehrt und erworben. Die Schüler lernen, Chansons, Lieder und Musikvideoclips87 zu analysieren und produktiv zu nutzen. Sie tauchen dabei ein in eine landeskundlich relevante Vielfalt an Texten und Medien aus dem frankophonen Sprachraum und erweitern ihre Kenntnisse. Das Internet ist eine reichhaltige Informationsquelle für Musik und Künstler. Entsprechende Hinweise für Recherchen werden in den Beiträgen gegeben.88
Die Auswahl der Beiträge zeigt die methodische Vielfalt der thematischen Aspekte,89 die sich mit den Themenheften der 2010er Jahre der Zeitschrift Der fremdsprachliche Unterricht – Französisch90 größtenteils decken.91
Der wachsenden Bedeutung nicht nur von Chansons bzw. Liedern, sondern von Musik im Fremdsprachenunterricht wird dadurch Rechnung getragen, dass die Herausgeberin Carola Surkamp mit Gabriele Blells Beitrag einen separaten Lexikoneintrag diesem Stichwort im Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik widmet.92 Blell fasst folgende didaktische Grundlagen und Prinzipien für den Einsatz von Musik im Fremdsprachenunterricht zusammen:
(1) Prozessorientierung als Konzept konstruktivistischen Lernens zur Anregung von Sprach- und Sinnbildung sowie zum ästhetischen Lernen; (2) ganzheitlich-handelndes, schülerzentriertes Lernen (Lernerorientierung), bei dem die Lehrperson Monitor, Beraterin sowie aktiv Beteiligte ist. Handlungsorientierung ist dabei das zentrale verbindende konzeptionell-didaktische Prinzip der Fremdsprachendidaktik und der angrenzenden Musikpädagogik; (3) Öffnung des Lernortes Schule: Projektorientiertes Lernen (z. B. Musikwerkstatt) oder Hörspaziergänge (Lehr- und Lernort, Projektarbeit); (4) interkulturelles Lernen zur Entdeckung fremder akustischer Kulturen.93
Michaela Sambanis untersucht in ihrem 2013 bei Narr erschienenen Buch Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften94 u. a. die Interaktionen zwischen Musik, Sprache und Bewegung, wobei sie nach einem kurzen historischen Abriss des „bewegten Lernens” auch auf Bewegungslieder eingeht:
Lehrkräfte, die in der Grundschule Englisch oder Französisch unterrichten, verfügen in der Regel über ein Repertoire an bewegungsbasierten Aktivitäten. Sie singen mit ihrer Klasse Bewegungslieder (z. B. Head and shoulders, knees and toes / Tête, épaules et jambes et pieds) oder verbinden Lieder mit Tanzbewegungen.95
Im Basisheft Praxis Fremdsprachenunterricht 3 / 2015 mit dem Titel Musik widmet sich Sambanis unter dem Abschnitt Grundsätzliches der Wirkung von Musik auf das Fremdsprachenlernen.96 Engelbert Thaler untersucht die Ziele eines musikbasierten Fremdsprachenunterrichts (MBF) und orientiert sich in seinem Artikel Musikbasierter Fremdsprachenunterricht97 auf die Bildungsstandards, d. h. die fünf Bereiche der Abiturstandards:
Funktionale kommunikative Kompetenz (Hör- / Hörsehverstehen, z. B. Dekodierung eines Popsongs […]; Leseverstehen, z. B. kursorisches Lesen einer Star-Biographie; Sprechen, z. B. kritische Diskussion des Musikbetriebs; Schreiben, z. B. Verfassen einer E-Mail an Band-Mitglieder; Sprachmitteln, z. B. kontrastive Analyse von Originaltext und deutscher Übersetzung; Verfügen über sprachliche Mittel, z. B. Ausspracheschulung und Förderung des Sprachflusses durch Singen oder Einführung einer grammatischen Struktur.
Interkulturelle kommunikative Kompetenz (z. B. Perspektivenwechsel durch Rollenspiel mit einem amerikanischen Hip-Hop-Star).
Text- und Medienkompetenz (z. B. Analyse typischer Merkmale eines Rap-Musikvideos […].
Sprachbewusstheit (z. B. Sensibilisierung für kolloquiale Varianten von Songtexten […].
Sprachlernkompetenz (Reflexion und Vertiefung der Sprachlernprozesse durch autonome Nutzung von Online-Musikvideo-Portalen).98
Ludovic Gourvennec bettet den Liedeinsatz in den Kontext des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens ein:
Dans le CECRL, la compétence pragmatique „recouvre l’utilisation fonctionnelle des ressources de la langue (réalisation de fonctions langagières, d’actes de paroles) en s’appuyant sur des scénarios ou des scripts d’échange interactionnels. Elle renvoie également à la maîtrise du discours, à sa cohésion et à sa cohérence, au repérage des types et genres textuels, des effets d’ironie, de parodie.” Elle aborde donc l’au-delà du texte, son inscription dans le contexte, et elle s’avère primordiale dans l’appréhension d’une chanson […]. Et le CECRL apporte une précision importante pour notre étude : „Plus encore pour cette composante que pour la composante linguistique, il n’est guère besoin d’insister sur les incidences fortes des interactions et des environnements culturels dans lesquels s’inscrit la construction de telles capacités.”99 (2001:18).100
Eine weitere wichtige Entwicklungslinie zum Musikeinsatz im Fremdsprachenunterricht der letzten Jahre zeigt sich durch die Europäisierung der bilingualen Sachfachdidaktik und die Entwicklung des europäischen Konzepts des CLIL (Content and Language Integrated Learning) bzw. des EMILE (Enseignement d'une Matière par l’Intégration d'une Langue Étrangère).101 Im Rahmen des bilingualen Unterrichts wird das Schulfach Musik verstärkt in sogenannten CLIL- bzw. EMILE-Musikmodulen als Sachfach eingesetzt.102
Der hier beschriebene Forschungsstand zum Thema Musik im Französischunterricht zeigt, dass vor 1945, ja vor der neusprachlichen Reformbewegung das Thema bisher kaum beachtet und untersucht wurde. Gabriele Blell beginnt zwar ihren o. g. Beitrag zu Musik mit der Feststellung:
Die Idee von Musik im Fremdsprachenunterricht ist seit Wilhelm Viëtor in der neusprachlichen Didaktik gängig und zunehmend auch unterrichtliche Praxis geworden, zuerst im Anfangsunterricht des 5. und 6. Schuljahres (seit ca. 1882), später auch im fortgeschrittenen Fremdsprachenunterricht […].103
Es werden jedoch keine Beispiele angegeben oder Querverweise angeführt. Selbst Herbert Christ als ausgewiesener Experte für den historischen Bereich des Fremdsprachenunterrichts konstatierte im Jahre 2002:
Chansons erhielten erst spät jenes dauerhafte Hausrecht im Französischunterricht, das sie inzwischen zu haben scheinen. […] Ein Blick in die Inhaltsverzeichnisse der neusprachendidaktischen Zeitschriften von den 80er Jahren des 19. bis zu den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ist aufschlussreich: das Thema Lied wird nur ganz selten angesprochen. In der Zeitschrift Die Neueren Sprachen findet man beispielsweise zwischen 1893 und 1944 zwei (!) Aufsätze zum Thema Chanson.104
Eine Ausnahme bildet nach Christ lediglich der Anfangsunterricht, bei dem er eine Quelle von 1915 zitiert:
In älteren Lehrplänen findet man gelegentlich empfehlende Hinweise zu einer anderen Weise der Beschäftigung mit Liedern im Unterricht. So liest man in einem Lehrplan von 1915, es sollten in der Unterstufe „einzelne Lieder, deren Singweise in der Gesangsstunde eingeübt werden, auch gesungen” werden. Doch dürfte es sich in der Regel um Volks- und Kinderlieder gehandelt haben.105
Diese spärlichen, ja parzellierten Hinweise zum Einsatz von musikalischen Elementen, sowohl in der Primär- als auch in der Sekundärliteratur,106 zeigen, dass eine möglichst lückenlose Aufarbeitung und Darstellung des Musikeinsatzes am Beispiel des Französischunterrichts im deutschsprachigen Raum ein dringliches Desiderat darstellt. Das Thema dieser Arbeit situiert sich an der Schnittstelle mehrerer Forschungsrichtungen, zwischen der Didaktik des Französischen, Literatur- und Sprachwissenschaft, Sprachgeschichte, Sprachphilosophie, politischer Ideengeschichte sowie Kulturwissenschaften. Sie kann damit als Bindeglied zwischen der Geschichte des Methoden- und Medieneinsatzes betrachtet werden.107
Analog zu Marcus Reinfrieds Monographie Das Bild im Fremdsprachenunterricht, die eine Geschichte der visuellen Medien am Beispiel des Französischunterrichts aufzeigt, ist auch die vorliegende Arbeit der historisch-genetischen Methode verpflichtet. Der zeitliche Rahmen der Arbeit umfasst die frühen Formen des Musikeinsatzes im Unterricht der Antike und endet mit dem Ausklingen der neusprachlichen Reformbewegung und dem Sieg der vermittelnden Methode am Vorabend des Ersten Weltkriegs 1914.108
Die Primärquellen sind Liedersammlungen für den Französischunterricht und vor allem Lehrbücher, in denen Liedtexte und gelegentlich auch die dazugehörigen Noten abgedruckt wurden. Die Sekundärquellen umfassen Publikationen zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, Produkte eines Forschungsgebiets, in der die Zahl der fremdsprachendidaktischen Arbeiten in den vergangenen Jahrzehnten zwar erheblich zugenommen hat: Der Nachweis von Beispielen des Musikeinsatzes vor der neusprachlichen Reformbewegung hat sich jedoch angesichts der mageren Auswahl von (oft verschollenen) Primärquellen und auch Sekundärquellen als äußerst komplex und schwierig erwiesen. In verschiedenen Archiven und Nachlässen konnte ich allerdings wichtige handschriftliche Dokumente sichten, die dazu beigetragen haben, bisher vorhandene thematische Lücken in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts unter besonderer Berücksichtigung des Fachs Französisch zu schließen.109
Die Arbeit bezieht sich vorwiegend auf den deutschsprachigen Raum: zunächst auf Deutschland, da von hier wichtige methodisch-didaktische Neuerungen ausgingen. Weiterhin werden Österreich und die germanophone Schweiz einbezogen. Weitere wichtige Impulse gingen besonders von Frankreich und Italien aus. So werden in der vorliegenden diachronen Evolution auch intermediale und -personale Parallelen, Interdependenzen und Querverbindungen aufgezeigt.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Teile, wobei die neusprachliche Reformbewegung (etwa 1880-1905) im Zentrum der Darstellung steht: Zunächst werden frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht vor der neusprachlichen Reformbewegung untersucht (Kapitel I). Im Mittelpunkt der Arbeit steht der Musikeinsatz im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung (Kapitel II). Die umfangreiche Auseinandersetzung über den Einsatz französischer Lieder – sei es in Form von französischen Kontrafakturen bekannter deutscher Melodien oder original französischer Melodien – bildet den Abschluss dieser Arbeit (Kapitel III).
Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist ein dreifaches:110Zunächst soll untersucht werden, wann, wo, zu welchen Anlässen sowie in welchen Unterrichtssituationen Musik eingesetzt worden ist. Zum zweiten beschäftigt sich die vorliegende Monographie mit der Art des Musikeinsatzes im Französischunterricht, d. h. den methodischen Funktionen: Welche Lieder wurden ausgewählt und warum? Wurden diese neu geschaffen oder adaptiert? Welche spezifische musikalische Formen wurden angewendet? Schließlich widmet sich die Arbeit der Frage, wie verschiedene Musikformen eingesetzt wurden, als Lückenfüller am Ende der Stunde oder als tragendes didaktisches Konzept? Welche personale Faktoren (Ausprägung der Lehrer- und Schülerschaft) sowie sachbezogene Faktoren (Lernziele, Inhalte, Unterrichtsmethoden und Medien) haben den Musikeinsatz gefördert und geformt? Welche Sozialformen und methodische Funktionen wurden durch Musik übernommen? Neben diesen internen Determinanten stellt sich auch die Frage nach externen Einflussfaktoren, die oft stärker sozialgeschichtlich geprägt sind (wie das Selbstbild schulischer Institutionen oder soziale Funktionen des Sprachenlernens): In welchem Bezug stand dabei der Musikeinsatz zu den Schülern und deren Alter? Wie sah der institutionelle Kontext aus: Wurden Lieder schulisch und außerschulisch eingesetzt? In welchen Schulstufen und -formen? Von welchen Lehrenden für welche Lernenden wurden welche Lieder verwendet? Gab es geschlechtsspezifische Unterschiede beim Liedeinsatz und wie spiegelt sich das in den Lehrwerken für Mädchen- bzw. Knabenschulen (z. B. Mittlere Mädchen- bzw. Knabenschulen) oder am Schultyp (Realschule, Oberrealschule, Realgymnasium, Gymnasium) wider? Sollte der Lehrende selbst musikalisch sein, singen können und ein Instrument spielen, um Lieder im Unterricht einzusetzen? Wie manifestieren sich kulturgeschichtliche Einflüsse (d. h. dem historischen Wandel unterworfene Erziehungs-, Lern-, Sprach- und Kulturkonzepte)?
Nach einem Aphorismus des deutschen Philosophen Odo Marquart „Zukunft braucht Herkunft”111 speist sich ein tiefgründiges Verständnis der Gegenwart, also des modernen Französischunterrichts, aus einer profunden Kenntnis und Analyse der historischen Zusammenhänge in ihrer diachronen Evolution. Deshalb soll abschließend mit der vorliegenden Arbeit auch gezeigt werden, dass heute gängige, verbreitete Konzepte und Unterrichtsformen beim Einsatz von Musik im Französischunterricht keinesfalls Produkte des 21. Jahrhunderts sind, sondern sich bereits in Ansätzen in der über 500-jährigen Geschichte des Fremdsprachenunterrichts manifestieren.112
Der Musikeinsatz im Unterricht steht in einer sehr langen Tradition weit vor Beginn eines Fremdsprachenunterrichts. In der griechischen Frühzeit gab es eine bewusste Erziehung vorrangig für den Adel und für Knaben. Platon unterscheidet zwei Bereiche: die Gymnastik für den Körper und die Musik für die Seele.1 An erster Stelle stand die „Zucht“ des Körpers und der Seele zum gewandten Kämpfer, wobei der Körper auch durch Wettkämpfe, Spiele und Tanz2 trainiert wurde. Diesem „gymnastischen“ Element war das „musische“ Element nachgeordnet, „die Bildung des ritterlichen Knaben durch Musik und Volkspoesie, durch die Weisheit der überlieferten Sagen […].“3 Musik, vor allem der Gesang, spielte auch eine Rolle in der Erziehung der Mädchen im Rahmen des Ideals der höfischen Gesellschaft, in der „der Frau als der hochgeachteten Hüterin aller edlen Sitten“4 eine spezielle Bedeutung zukam.
Als Leitfigur der antiken Erziehung gilt Homer, den Marrou auch als „Erzieher Griechenlands“ bezeichnet.5 Wie bei der homerischen Erziehung spielten Formen der Musik in der spartanischen Kultur eine entscheidende Rolle. Musik steht im Mittelpunkt der Kultur und sichert die Verbindung zwischen ihren verschiedenen Formen: „im Tanz reicht sie der Gymnastik die Hand, durch den Gesang trägt sie die Dichtung, die einzige archaische Form der Literatur.“6Sparta war im 7. und zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. sogar die musikalische Hauptstadt Griechenlands. Dort entstanden auch die beiden ersten Schulen der Musikgeschichte.7 In Sparta fanden musikalische Wettkämpfe aller Art statt, die von jeweils zwei Chören, einem von Knaben und dem anderen von verheirateten Männern ausgestaltet wurden.8 Außer dem Chorgesang spielte die Militärmusik in der Antike die Rolle unserer heutigen Trompeten und Trommeln und gab den Rhythmus für die gemeinsame Bewegung an. Marrou kommt zu dem Fazit, dass die gesamte antike Kultur und ihre Erziehung „mehr künstlerisch als wissenschaftlich [waren], und ihre Kunst war musikalisch, bevor sie literarisch und plastisch wurde. […] Derjenige, der (als Sänger und Tänzer zugleich) nicht in einem Chor seinen Platz ausfüllen kann, ist nicht wahrhaft erzogen.9“
Damit wird der Chor als gemeinstiftendes Element und dessen erzieherische Dimension hervorgehoben. Die musikalische Schulung hatte so eine moralische und disziplinierende Komponente, die dazu beitrugen, „die Jugendlichen zur ‚Selbstbeherrschung‘ zu erziehen, sie gesitteter zu machen, indem er [der Unterricht, A. R.] mit Eurhythmie und Harmonie ihre Seele erfüllte.“10Chorgesang und Tanz gehörten auch zwingend zur Teilnahme von Schülern an Feierlichkeiten sowie Zeremonien; diese nahmen einen wichtigen Rang im Schulkalender ein, sie wurden amtlich festgelegt und ihr Besuch galt als „heilige Pflicht“.11Gesang, Tanz und Poesie bildeten damit die Grundpfeiler von Lehre und Unterricht. Die jungen Athener lernten zwei Instrumente: Lyra und Oboe. Oft gab es neben dem eigentlichen Schulmeister, der das Schreiben und Lesen vermittelte, einen speziell bestellten Lehrer für das Lyraspiel und Musiktheorie.
Ein systematischer Fremdsprachenunterricht spielte während der Antike eine eher untergeordnete Rolle, da in vielen wohlhabenden Familien die Erziehung ihrer Kinder durch Ammen und Sklavinnen erfolgte. Es handelt sich hierbei um einen Erstspracherwerb und einen begleitenden Muttersprachunterricht in der griechischen Sprache. Marrou verweist auf die sorgfältige Auswahl der Kinderfrauen, „die Reinheit ihres sprachlichen Ausdrucks und ihrer Aussprache sollten dem Kind das Annehmen fehlerhafter Gewohnheiten ersparen, die man ihm später austreiben müßte.“12
Der (Erst-)Spracherwerb wurde beim griechischen Kind musikalisch vor allem durch Wiegenlieder, aber auch Ammengeschichten gefördert (Äsops Tierfabeln, Geschichten von Zauberinnen und Mythen). Obwohl die Ammen eine wichtige Erziehungs- und Lehrfunktion erfüllten, finden wir jedoch „kein Bemühen, all dies in einem regelrechten Unterricht zusammenzufassen.“13 Auch der folgende private Unterricht ist mit der Anwendung der Muttersprache verbunden, in der Elementarschule war hierbei ein einfacher Sklave beauftragt, der das Kind bei seinen täglichen Gängen zur Schule und nach Hause begleitete.14 Der Elementarunterricht bediente sich auch musischer Elemente. So nennt das griechische Kind zunächst die 24 Buchstaben beim Namen (Alpha, Beta, Gamma etc.), ohne die Zeichen vor Augen zu haben. Danach zeigt man den Kindern ein Alphabet aus Großbuchstaben, die in mehreren Spalten geordnet sind. Die Kinder sagen diese Liste her, nach Marrou in einem singenden Ton.15 Hierbei wird Musik als ein mnemotechnisches Hilfsmittel angewendet. Seit dem 5. Jahrhundert hatte man zu diesem Zweck ein Alphabet in vier Trimetern komponiert. Es handelt sich um den Vorläufer der Alphabetlieder bzw. der heute gebräuchlichen grammar songs / chansons grammaticales. Außerdem wurden aus den Buchstaben des Alphabets Entsprechungen mit „kosmischen Elementen“ erstellt: Die sieben Vokale ordnete man den sieben Noten der Tonleiter und den sieben Engeln zu, die den sieben Planeten vorstehen.16 Mit der Lektüre eng verbunden war die Rezitation. Die Stücke wurden nicht nur gelesen, sondern auswendig gelernt.17 Marrou berichtet darüber, dass „wenigstens die Anfänger die Gewohnheit gehabt haben zu psalmodieren, indem sie Silbe für Silbe vor sich hersangen.“18
Die römische Erziehung steht nicht nur in der Tradition der hellenistischen Erziehung, sie ist deren Fortsetzung, da Rom und Italien im Bereich der griechischen Kultur aufgingen. „Es gibt nicht hier eine hellenistische, dort eine lateinische Kultur, sondern […] nur eine ‚hellenistisch-römische‘ Kultur.“19 Der römische Adel ermöglichte seinen Söhnen eine allumfassende Bildung und das war für die Römer die griechische Ausbildung und Erziehung, die durch griechische Sklaven als Hauslehrer erfolgte. Es handelt sich hierbei um eine Art kommunikativen Unterricht mit dem griechischen Hauslehrer, um nicht nur die Aussprache, sondern die Kultur zu vertiefen. In den ersten Jahren lernte das römische Kind vom griechischen Hauslehrer oder der griechischen Amme griechisch zu sprechen, es handelt sich um eine Art direkte Methode. Latein wurde als weitere Erstsprache oder bisweilen auch erst als Zweitsprache vermittelt. Im Schulalter herrschte dann eine Diglossie-Situation. Das spiegelt sich in den zweisprachigen Schulbüchern zu Beginn des 3. Jahrhunderts, den Hermeneumata Pseudositheana20 wider. Hierbei handelt es sich um ein praktisches Handbuch zum Erlernen von Vokabeln mit einer Art Interlinearversion, die sowohl von Griechen als auch von Lateinern benutzt werden konnte. Die Texte in Dialogform sind in zwei Spalten aufgeteilt, wobei der griechische (Original-) Text links stand und die lateinische Übersetzung auf der gegenüber liegenden Seite. Die Anwendung von Musik im Unterricht wurde zurückgedrängt. Scipio Aemilianus spricht von Musik- und Tanzschulen nur in einer Kritik der Jugend für die „unanständige und schamlose Kunst,[…], die sich höchstens für Komödianten, aber nicht für Kinder von freier Geburt und erst recht nicht von senatorischem Rang schicke.“21 Somit kam es zu einer Abwertung des Einsatzes von Musik im Unterricht an römischen Schulen, das Studium von Musik wurde nur noch bei den jungen Mädchen als unterhaltende Kunst akzeptiert.22 Die musikalischen Künste gehörten zwar als notwendiger Bestandteil des Luxus und des eleganten Lebens zur Bildung, Musik und Tanz wurden jedoch reduziert oder zumindest vernachlässigt.
In der Antike und im Mittelalter war der Musikunterricht noch in den Schulfächer-Kanon der sieben freien Künste (septem artes liberales) eingebettet. Hierbei bedeutet der Begriff „ars“ nicht „Kunst“ im heutigen Sinne, sondern „Technik, Fähigkeit, Wissenschaft“. Diese Bezeichnung „freie Künste“ geht vermutlich auf Seneca zurück, der diese gegenüber den „praktischen Künsten“ (artes mechanicae) in seinem 88. Brief aufwertet: „Quare liberalia studia dicta sunt vides: quia homine libero digna sunt.“ („Du siehst, warum die freien Künste23 so genannt werden: weil sie eines freien Menschen würdig sind“).24
Martianus Capella bildet eine Brücke zum Mittelalter25 mit seinem um 400 erschienenen Werk De nuptiis Philologiae et Mercurii („Die Hochzeit der Philologie mit Merkur“). Die als Lehrbuch konzipierte Enzyklopädie hatte einen entscheidenden Einfluss auf das abendländische Bildungswesen. Die siebenbändige Enzyklopädie stellte den Kanon der sieben freien Künste dar.26
In der Tradition von Capella wurden die freien Künste oft als weibliche Allegorien mit spezifischen Attributen präsentiert. Die Abbildung Sieben freie Künste27 zeigt einen Auszug aus der Handschrift Tübinger Hausbuch (um 1450). Von links nach rechts erkennt man Geometrie, Logik, Arithmetik, Grammatik (in der Mitte), Musik, Physik (anstatt der Astronomie), Rhetorik (Abb. 1). Die den Allegorien zugeschriebenen Attribute und deren Positionierung sagen etwas über die Wertigkeit und Bedeutung der Künste aus. An der Spitze steht die Gramatica, die als Majestät mit Krone, gewissermaßen als Krönung der scholastischen Künste, dargestellt wird. Anstelle des majestätischen Königsinsigniums Zepter hält sie eine Art Peitsche in der rechten und einen Reichsapfel in der linken Hand.
Auf den spätantiken römischen Schriftsteller, Gelehrten und Staatsmann Cassiodor geht nicht nur der erste christliche mittelalterliche Lehrplan und die administrative Studienordnung (Institutiones28) zurück.29 Er gilt als Schöpfer der Einteilung der septem artes in ein Trivium und Quadrivium. Das Trivium („dreifacher Weg“) umfasste die drei Fächer, die sich auf Sprache und Logikbeziehen. Diese bildeten die Grundlage für die lateinische Wissenschaftssprache und wurden selbst auch in der lateinischen Unterrichtssprache vermittelt.
Das Trivium umfasste
Grammatik, vor allem die lateinische Sprachlehre und Beispiele lateinischer Autoren und die Analyse bedeutender literarischer Werke;
Rhetorik als Redekunst, die Stillehre und Sprachunterricht beinhaltete, ebenfalls mit Beispielen bekannter antiker Autoren;
Dialektik als Lehre vom logischen Denken.
Zum Quadrivium(„vierfacher Weg“) gehörten als Fortsetzung der sprachlichen Fächer des Triviums folgende Bereiche, die Teile der Mathematik umfassten und die harmonische Ordnung der göttlichen Schöpfung repräsentierten:
Arithmetik als Zahlentheorie und praktisches Rechnen;
Geometrie, die auch Geographie und Naturgeschichte umfasste;
Musik, vor allem Musiktheorie als mathematisches Phänomen und Studium der Kirchentonarten;
Astronomie als Lehre der Himmelssphären und ihre Auswirkungen auf den Menschen (Astrologie).30
Cassiodor steht hier in der Tradition von Anicius Manlius Severinus Boethius, einem der ersten Scholastiker. Boethius verfasste mehrere Traktate, Lehrschriften, Übersetzungen und Lehrbücher aller vier Fächer des Quadriviums.
In seinem Werk De institutione arithmetica (um 507) findet man erstmals den Begriff des Quadriviums zur Bezeichnung der oben genannten vier mathematischen Fächer.31 Diese Einteilung wurde für die mittelalterliche Schul- und Universitätsausbildung maßgebend. Hauptgewicht lag in der Schulbildung auf dem Trivium, oft blieb es beim Studium der Gramatica.32 Eine stärkere Einbeziehung der Rhetorik und Dialektik erfolgte dann erst in den Universitäten.33
Sieben freie Künste. In: Tübinger Hausbuch (um 1450). Bildnachweis: Tübinger Hausbuch. Handschrift. Universitätsbibliothek Tübingen, Md 2, fol. 320v. www.uni-tuebingen.de/uni/ndm/materialien/index.htmhttp://www.uni-tuebingen.de/uni/ndm/materialien/320v_Freie_Kunste.JPG
Der berühmte praxisorientierte Musikpädagoge Guido von Arezzo (um 992-1050) weist darauf hin, dass Boethius’ Werk „nicht für Sänger, sondern allein für Philosophen nützlich ist“.1
Guido von Arezzo war Benediktinermönch im Kloster Pomposa bei Ravenna und prägte als musikpädagogische Autorität, als Lehrer und Praktiker wie kaum ein anderer den zeitgenössischen Unterricht. Er schuf die Grundlagen für den heutigen Umgang mit musischen Elementen im Unterricht: Die Einheit von Schule und Kirche war zentral für das mittelalterliche Schulleben. Als Mönch entwickelte Guido von Arezzo mehrere unterrichtsmethodische und musikpädagogische Prinzipien. Dabei folgte er dem Bildungsideal des Mittelalters, Gott singend zu loben. Auch der sprachliche Lehrstoff wurde in Versen dargeboten, danach von den Schülern singend vorgetragen und eingeprägt.2
Die feststehende Gottesdiensttradition folgte dem Gesangsrepertoire der Gregorianik und des Gregorianischen Chorals.3 Die Aufzeichnung von „Musik“ erfolgte durch Neumen, die aus waagerechten Strichen, Häkchen und Punkten bestehenden frühmittelalterlichen Notenzeichen. Dabei wurden die Handbewegungen des dirigierenden Chorleiters nachempfunden, mit denen man die einstimmigen Gesänge aufzeichnete. Hierbei wird der Melodieverlauf, also das Steigen oder Fallen, angezeigt, ohne jedoch die exakte Tonhöhe und Zeitdauer anzugeben.4 Die Neumen könnten somit auch als ein mnemotechnisches Hilfsmittel für den Kantor bei seinem Sprechgesang im Gottesdienst betrachtet werden.5 Als Teil der mündlichen Überlieferung stellten die Neumen kein eigenständiges Notensystem dar. Guido von Arezzo legte hiermit den Grundstein für die heutigen Notenlinien, bei denen die Tonhöhe angezeigt wird. Er schafft damit die Grundlage für die europäische Tonbenennung mit dem Verfahren der Solmisation, ein auf die Tonsilben des Hexachords (Ut, re, mi, fa, sol) aufbauendes System relativer Tonverhältnisse. Guido von Arezzo schlägt vor, für jeden Ton einen bekannten Gesang auszuwählen, der mit diesem Ton beginnt und dies als musikalische Gedächtnisstütze zu nutzen. Dabei verwendet er die bekannte und erfolgreiche Melodie des Johanneshymnus.6 Das Erlernen der Tonsilben, die den Anfang des Hymnus bilden, diente als Übung für das Singen vom Blatt:
Ut7 queant laxis
Auf dass mit lockeren Stimmbändern
Resonare fibris
singen (zum Klingen bringen) mögen
Mira gestorum
von den Wundern Deines Tuns
Famuli tuorum
Deine Schüler
Solve polluti
löse der sündhaften
Labii reatum
Lippe Schuld
Sancte Iohannes.
Heiliger Johannes.
Georg Lange behandelt das Thema in seiner Dissertation Zur Geschichte der Solmisation und schlägt folgende Übersetzung vor: „Damit die Diener die Wunder Deiner Thaten mit beruhigtem Herzen singen können, so löse die Schuld des sündigen Mundes, heiliger Johannes.“8
Die romanischen Sprachen haben bis heute das Guidonische System beibehalten.9 Das deutsche Notensystem orientiert sich an der mittelalterlichen, alphabetischen Tradition. Durch seine praktischen Erfahrungen als Chorleiter kreierte Guido von Arezzo ein mnemotechnisches System mit dem erkennenden Auge als visuellem Mittel, der bezeichnenden Sprache als Merkvers bzw. -melodie, begleitet von der zeigenden Hand.10 Das Zeichensystem der Guidonischen Hand11 zur Unterstützung des Gedächtnisses folgte der Idee, dass jeder spezifische Teil der Hand, also Fingerspitzen und -gelenke, den sechs Stufen der Tonleiter ut-re-mi entspricht.
In der folgenden Abbildung12 ist nicht nur die Guidonische Hand aus dem 13. Jahrhundert abgebildet, sondern auch die Lehrperson, die eines Klerikers, vermutlich Guido von Arezzo (Abb. 2).13 Seine linke Hand ist überdimensional vergrößert und die rechte Hand zeigt darauf. So konnte im zeitgenössischen Unterricht der Lehrer mit dem Zeigefinger14 der rechten Hand exakt die Position der Tonfolge auf der linken Handfläche angeben. Im Außenkreis sind im Uhrzeigersinn die Solmisationssilben in Leserichtung von unten nach oben erkennbar. Im über der Hand stehenden Text des Caput VI seines Musiktraktats beschreibt der Autor die Überlegenheit der guidonischen Musiklehre15 und verkörpert somit einen Metatext, da die Figur nicht nur theoretische musica vermittelt, sondern auch aktiv zum richtigen Singen anleitet.
Die Guidonische Hand verbindet akustisch-artikulatorische Komponenten (das Singen), visuelle Komponenten (das Sehen) und haptische Komponenten (das Greifen und Zeigen der Hand) zu einem multisensoriellen Akt. Das Greifen der Töne ermöglicht das Begreifen der Musik. Diese Verknüpfung der Reize kann lernpsychologisch als Hauptelement des unbewussten Lernens durch Konditionierung betrachtet werden. Rhythmus und musische Elemente waren im Mittelalter damit integraler Bestandteil des Sprachunterrichts.
Den meisten Schülern wurde die lateinische Sprache im Mittelalter in „Singschulen“ vermittelt.16 Durch einfaches Singen wurde zunächst der Rhythmus und Sprachfluss eingeübt. „After the rhythm and flow of the language had been drilled by plain chant, which was based solidly on speech rhythms, the pupil began the formal study of Latin.”17
Der Lateinunterricht folgt hier also primär der mündlichen Tradition des Fremdsprachenunterrichts. Der Chorgesang (plain chant) knüpft an die antike Tradition der rhetorischen Memoria-Lehre an und ermöglicht das natürliche Lernen.18 Die Funktion des Lernens im Chor, das bis heute als gemeinsames Singen praktiziert wird, übernahm seit der Antike ein Sprechchor. Müller beschreibt die Entwicklung des Per-chorum-Lernens.19 Es handelt sich um
gleichzeitiges, rhythmisch gegliedertes ‚Aufsagen‘ von Sätzen und Texten […]. Der Chor der Antike war ein Sprechchor, der wohl auch durch Rhythmen einfacher Instrumente gegliedert und synchronisiert werden sowie in regelrechten Chorgesang übergehen konnte.20
Dieses rhythmische Lernen wurde dann auch auf den Fremdsprachenunterricht übertragen, als die Römer begannen, Griechisch zu lernen. Dabei wurden Ausspracheweise und Intonation im Unterricht metrisch vermittelt21 sowie der auswendig gelernte Stoff dann mündlich geprüft. Kelly beschreibt, dass Vergil-Rezitationen mit dieser Methode zum bevorzugten Unterrichtsstoff wurden.22
Kleriker mit Guidonischer Hand. Elias Salomo: Scienta artis musicae (1274) Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cod. D75 inf., fol. 6 r. Nach J. SMITS VAN WAESBERGHE, Musikgeschichte in Bildern, Bd. III/3. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1969, Abb. 72, S. 137.
Auszug aus Walter RIPMAN, A handbook of the Latin language. London: Temple Press 1930, S. 800.
Diese Memorisierungs- und Rezitationsfunktion wird von Walter Ripman23 wieder aufgenommen und im Rahmen der direkten Methode24 angewendet (Abb. 3). Man erkennt eine an die mündliche Aussprache angepasste phonetische Transkription mit diakritischen Zeichen und suprasegmentalen Elementen wie der Tilde für Nasalierung, Liaison und Assimilierung (im Sinne der narrow vs. broad transcription).25
Die bis hierher dargestellte Entwicklung bezog sich mit den kirchlich-liturgischen Lateinlehranstalten vor allem auf den klerikalen Bereich. Vereinzelt gab es aber auch weltliche Unterrichtsformen. Ein Beispiel dafür ist Egbert von Lüttichs Fecunda ratis26 („Das vollbeladene Schiff“). Das in Hexametern geschriebene Buch präsentiert sich als Schiff, eine Parabel auf eine Fahrt durchs Leben. So ist das Buch gegliedert in ein prora (Vorderdeck) mit 1768 hexametrischen Versen und ein puppis (Heck).27
Bereits in der Widmung (dedicatio) werden pädagogische Prinzipien erläutert und explizit auf die neniae (hier: Kinderlieder), das rhythmisierte Vorlesen und den Gesang von Versen eingegangen, der durch häufige Satzwiederholungen eine mnemotechnische Funktion erfüllte.
Nam non his, qui sunt assidua lectione ad uirile exculti, sed formidolosis adhuc sub disciplina pueris operam dedi, ut, dum absentibus interdum preceptoribus illa manus inpuberum quasdam inter se (nullas tamen in re) nenias aggarriret uti in his exercendis et crebro cantandis uersiculis ingeniolum quodammodo acueret, tum istis potius uteretur.32
Ähnliche Lernformen lassen sich heute noch in Koranschulen und auch beim Einprägen von Tonsprachen, wie dem Chinesischen, beobachten. Auch hier spielt rhythmisiertes Nachsprechen, das gelegentlich auch in einen Sprechgesang einmünden kann, eine wichtige Rolle.
Das Werk spiegelte die Erkenntnis- und Lebenswelt der Jugendlichen in der Knabenschule wider, indem es die Alltagserfahrung des zeitgenössischen Lebensumfeldes einbezog, die Region um Lüttich mit ihren Bauernhöfen und Dörfern, die den Schülern aus ihrem Alltag bekannt waren. So baut Egbert auf ein vertrautes inhaltliches Vorwissen auf und vermittelt damit Neues, das heißt die lateinische Sprache und Kultur.33 Vor allem die mündliche Tradition der Volksmärchen war den Schülern vertraut und für das Verstehen der lateinischen Übersetzung hilfreich. Parallel dazu war der Unterrichtsgegenstand motivierend. Die Moral der Fabeln fungiert hier als Lehrstück für die Schüler. Das Werk ist damit ein interessanter Beleg für die mittelalterliche Unterrichtspraxis. Die sakrale Musik spielte eine bedeutende Rolle im mittelalterlichen Lateinunterricht und wird von Petrus Abaelardus (1079-1142) erwähnt.34
Viele zeitgenössische Traktate enthielten breite Darstellungen über Aussprachephänomene wie Vokalqualität, Silbenlänge und Intonationsmuster. Louis G. Kelly verweist auf spezifische phonetische Probleme:
As it was taken for granted that spelling governed pronunciation, medieval scholars were faced with the problem of „silent letters“.
Music, it seems, was pressed into service to ensure that these letters were taken care of. Letters whose phonetic existence was threatened by the pronunciation habits of the new Romance languages were strengthened by being sung on a „liquiscient“ note, i. e, separatedly from the vowel preceding them in a syllable, and in later centuries, this spread to all threatened consonants.35
Bereits im Mittelalter gab es also im Unterricht das Phänomen der Hyperkorrektheit als Form eines spezifischen Sprachlernbewusstseins. Darauf hat Kelly am Beispiel der note liquiscente im Gregorianischen Choral hingewiesen.36
Besonders erfolgreich hat der belgische Theologe und Humanist Nicolaus Clenardus (1493-1542) Sprachlehrlieder (language teaching songs)37 aus Braga angewendet. Clenardus entwickelte eine Lehrmethode für den Spracherwerb des Lateinischen. Diese hatte eine Art Konversationsmethode als Grundlage und kann als Vorstufe zur Assimil-Methode38 betrachtet werden. Clenardus berichtet von einem Dialog, der mit den Worten Heus puer („Na, Junge“) beginnt.39 Aus dem ständigen Wiederholen dieser typischen Anredeformel im Dialogrhythmus auf singende Weise („in singsong fashion“40) entstand spontan ein Singsang, eine Melodie. Darüber hinaus berichtet Clenardus mit gewissem Humor, dass sogar die Maultiertreiber dieses Lied gesungen haben sollen.41 Das Lied wird schließlich zur idiomatisierten expression courante als Begrüßungsformel aller sozialer Schichten. Müller stellt fest, dass die Lateinschule des Mittelalters dem natürlichen Zweitspracherwerb entspricht:
Die erfolgreiche Lateinschule des Mittelalters verfuhr also im Grunde genommen genauso, wie sich […] das erfolgreiche, ‚natürliche‘ Erlernen einer zweiten Sprache vollzieht: Nicht von kleinen Einheiten, die aszendent zu immer größeren aufgebaut werden, sondern eher deszendent über den Rhythmus größerer und in sich abgeschlossenerer Sinneinheiten, die nach ihrer Haftung im Gedächtnis in weiteren Übungen ‚aufgebrochen‘ und analysiert werden.42
Diese Elemente des „singenden Lernens“ werden in den 1920er Jahren von Georg Lapper in Bayern aufgenommen und bilden die Grundlage seiner gleichnamigen Methode.43
Fazit: In der Antike44 und im Mittelalter überwiegt die mündliche Tradition. Kelly verweist mit der Formel „Ear before Eye“ darauf, dass „the introduction to language through oral skill [is] much older than many modern educators would care to admit, being found at least as early as the beginning of the Middle Ages.”45 Dies spiegelt sich auch in der formalen gregorianischen Bildungstradition der Schola cantorum46 wider, die eng mit der liturgischen mittelalterlichen Praxis verbunden war und bei der die Ausspracheschulung durch das Singen einen wichtigen Platz einnahm. Die mündlichen Fähigkeiten des Hörverstehens und Sprechens spielen damit auch historisch-genetisch eine bedeutende Rolle. Das Hörverstehen schaffte die Grundlage für die weiteren Fertigkeiten und konnte damit, wenn man das in heutigen Worten ausdrücken will, als basic skill bezeichnet werden, obwohl es damals die didaktische Konzeption der vier Grundfertigkeiten in expliziter und systematischer Form noch nicht gab.47 Daraus wurden dann als im Mittelalter gültige didaktische Maximen:
Nichts kann gesprochen werden, das nicht zuvor gehört und verstanden wurde.
Nichts kann gelesen werden, das nicht zuvor gehört, verstanden und gesprochen wurde. Nichts kann geschrieben werden, das nicht zuvor gehört, verstanden, gesprochen und gelesen wurde.48
Diese Tradition setzt sich fort bei der Entwicklung des Kirchenlieds im Rahmen der Reformation.
Martin Luther (1483-1546) verkörpert den Wendepunkt zwischen Mittelalter und Neuzeit. Er kann nicht nur als theologischer Kopf der Reformation gesehen werden: Es handelt sich um eine durchaus komplexe Persönlichkeit, dessen Bedeutung für die Kultur- und Musikgeschichte unbestritten ist. Seine Bibelübersetzung ermöglichte eine Normierung der deutschen Sprache und damit auch eine weitgehende Verbreitung und Demokratisierung der heiligen Schrift, denn von nun an konnte der einfache (lateinunkundige) Bürger die Bibel in seiner Muttersprache lesen. Luther zielte auf die Volkssprache, wie er 1530 im Sendbrief vom Dolmetschen formuliert:
Man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die Mutter im hause, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen, so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit jn redet.1
Bei der Verbreitung der Bibelübersetzung Luthers wirkte der Buchdruck als entscheidender Katalysator in der Verbreitung der neuen Religion. Im Folgenden sollen vor allem die Bedeutung Luthers einerseits als Musiker und Komponist, andererseits als Erzieher und Pädagoge sowie die Anwendung seiner Prinzipien für den Sprachunterricht dargestellt werden.
Die Musik und vor allem das Lied nehmen im Bildungswesen der Zeit des Humanismus eine Sonderstellung ein, da sie „[…] in einzigartiger Weise verschiedenartigen Aspekten der Pädagogik, der Religion, der Wissenschaft und der Musikpflege [unterliegen].“2 Wolfgang Niemöller verweist auf das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Fachdisziplin innerhalb der septem artes liberales und künstlerischer, „poetischer“ Ausdrucksform.3 Bis zum 16. Jahrhundert war die Musikausbildung innerhalb des Quadriviums4 eine Art Mischung aus Arithmetik und Musik.5 Luther stellt dieser musica theoretica eine realitätsnahe musica practica6 entgegen. So spielt der Musikeinsatz7 im Unterricht in Luthers Bildungskonzeption eine zentrale Rolle:
Musicam habe ich allzeit lieb gehabt. Wer dies Kunst kann, der ist guter Art, zu allem geschickt. Man muß Musicam von Noth wegen in Schulen behalten.8 Ein Schulmeister muß singen können, sonst sehe ich ihn nicht an. Man soll auch junge Gesellen zum Predigtamt nicht verordnen, sie haben sich denn in der Schule in der musica wohl versucht und geübet.9
Die Verbindung der mittelalterlichen Lateinschule mit der Kirchenmusik wies der musica neben dem Latein auch als Lehrfach eine wichtige Stellung zu. Niemöller10 hat nachgewiesen, dass der rector scholae im Normalfall auch gleichzeitig, gewissermaßen in Personalunion, der rector chori als cantor war. Dies geschah aus soziologischen, berufsrechtlichen und häufig auch finanziellen Gründen. Oft wurden Neugründungen von Schulen unter der offiziellen Begründung vorangetrieben, dass dadurch der feierliche liturgische Gesang in der Kirche erhalten werden konnte. Der Schulmeister sollte zuerst dem Chor und dann erst der Schule vorstehen.11
Das Singen der Schulchöre diente dem Lob Gottes, und dazu sollten alle Gläubigen angehalten werden, in ihrer Muttersprache mitzusingen.12 Die Kirchgemeinde wurde im Gottesdienst aktiv einbezogen. Anstelle des Gregorianischen Gesangs stellte Luther ein Repertoire von Chorälen zusammen.13
Die Formel des Singens und Sagens taucht wiederholt bei Martin Luther auf. Johannes Block verweist auf die Botschaft des Evangeliums, die singend und sagend zum Menschen kommt.14 Es handelt sich um eine Verstehensmethode: „Theologie wird unter Gesang getrieben und kommt unter Gesang zum Verstehen.“15 Block untersucht diese Beziehung von verbum und vox16 bei Luther:
Die Propheten haben keine Kunst derart gebraucht wie die Musik, weil sie ihre Theologie […] in Musik gesetzt haben, so daß sie Theologie und Musik engstens verbunden haben, wenn sie die Wahrheit in Psalmen und Liedern verkündigten.17 […] Den nächsten Platz nach der Theologie gebe ich der Musik. Das ist durch das Beispiel Davids und aller Propheten offenbar, die all das ihr in Versmaßen und Gesängen überliefert haben.18
Luthers Bedeutung für das Kirchenlied mündet in die Rolle der Reformation als Singbewegung.19 Er dichtete 36 Kirchenlieder, bei mindestens 20 dieser Lieder stammen die Melodien sicher von ihm selbst:20 „Erst die Noten machen den Text lebendig.“21 Viele Kirchenlieder von Luther greifen nach dem Prinzip der Kontrafaktur22 vorreformatorische deutsche Lieder, aber auch lateinische Gesänge der katholischen Kirche, wie Hymnen sowie Volks- und Gesellschaftslieder auf. Hierbei wird das oben dargestellte didaktische Konzept Vom Eigenen zum Fremden23 angewendet. Da viele (vormals katholische) Choräle und Volkslieder bekannt waren und zum Allgemeingut gehörten, konnte Luther diese erfolgreich verbreiten und für den protestantischen Kirchenchoral nutzen.24
Ein bekanntes Beispiel ist das Kirchenlied Ein feste Burg ist unser Gott, dessen Text von Martin Luther zwischen 1527 und 1529 geschrieben wurde und bis heute zum Reformationstag in den evangelischen Gemeinden gesungen wird.25Der Text bezieht sich auf Psalm 46: Gott ist unsre Zuversicht und Stärke.26 Luther stellt in diesem Choral in der ersten Strophe die Macht Gottes und seinen Schutz vor Anfeindungen und Versuchungen des „alt böse[n] feind[es]“ dar. Hierbei wird die Tradition des Mittelalters deutlich, in der dritten Strophe wird der Teufel als „Fürst dieser Welt“ bezeichnet. Die darauf folgende vierte Strophe zeigt den kämpferischen Charakter „[…] jenes siegesgewissen Chorals, der die Marseillaise des 16. Jahrhunderts wurde.“27
Die Rezeption und musikalische Fortentwicklung des Lutherschen Reformationschorals ist für den