Muskelkraft - Eine starke Medizin - Dr. med. Martin Weiß - E-Book

Muskelkraft - Eine starke Medizin E-Book

Dr. med. Martin Weiß

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Beschreibung

Zahllose Menschen leiden unter Störungen ihres Halte- und Bewegungsapparates. Dieses Buch zeigt die Problematik der vielfältigen Symptome von Haltungsschäden auf und erklärt, wie – neben einer im jeweiligen Fall angebrachten ärztlichen Maßnahme – ein gezieltes medizinisches Krafttraining die Muskulatur stärkt, das größte Organ unseres Körpers. Das hilft nicht nur unserem Rücken, sondern trägt zur allgemeinen Gesundheitsvorsorge bei, verhindert Krankheiten und steigert das Wohlbefinden.

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Dr. Martin Weiß

Mit einem Gastbeitrag von Dr. sc. ETH David Aguayo

MUSKELKRAFT

EINE STARKE MEDIZIN

Gesund und fit durchmedizinische Kräftigungstherapie

Hinweis: Die Informationen in diesem Buch sind sorgfältig und nach bestem Wissen recherchiert. Eine Garantie kann von Autor und Verlag dennoch nicht übernommen werden; eine Haftung für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen. In medizinischen Fragen ist der Rat Ihres Arztes oder Heilpraktikers maßgebend

Dr. Martin Weiß:

Muskelkraft – eine starke Medizin

© Lüchow in Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2008

© völlig überarbeitete und erweiterte Neuauflage 2019

Illustrationen: Geoffrey Cox

Weitere Illustrationen: Holger Vanselow

Fotos im Innenteil: Kieser Training AG

Umschlagbilder: shutterstock.com/ Khakimullin Aleksandr;

shutterstock.com/ Gyorgy Barna

Foto an Trainingsmaschine: Verena Maier

Umschlaggestaltung: Sabine Schiche

Satz: Carine Wiebe

eBook Gesamtherstellung: Boowkire GmbH, Frankfurt a. M.

1. Auflage 2019

ISBN print 978-3-95883-398-2

ISBN eBook 978-3-95883-399-9

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

INHALT

Danksagung

Vorwort

Anmerkungen des Autors

Einführung

TEIL I: DIE GRUNDLAGEN VERSTEHEN

1. Form und Funktion

Die Fachbegriffe verstehen

Eine kleine Entwicklungsgeschichte

Die Form folgt der Funktion

Die Architektur von Gelenken und Wirbelsäule

Muskeln, Faszien und Sehnen

2. Die gestörte Form

Mit Arthrose leben

Der Mensch ist keine Maschine – einige Anmerkungen zum »Verschleiß«

Bandscheiben sind nur begrenzt haltbar

3. Die gestörte Funktion

Muskelschwäche

Verspannung und Verkürzung der Muskulatur

Haltung als Ausdruck von Kraft und Balance

Der Beckenboden – wichtig für Kontinenz und Sexualität

Der »Tennis-Ellbogen« – ein anschauliches Beispiel

Blockierung – Krankheit oder Notbremse bei Überbelastung?

4. Die Muskulatur als Kraftwerk und Stoffwechselorgan

Myokine – eine Jahrhundertentdeckung

Der Energiestoffwechsel

Über Hormone spricht man erst in den Wechseljahren

Zuckerkrankheit – eine Volkskrankheit im Wandel

Knochen lebt!

5. Schaltstellen und Störfelder

Blockaden der Beckengelenke

Die Halswirbelsäule – ein Sinnesorgan

Mit Störfeldern gut leben

TEIL II: DIE GESUNDHEIT ERHALTEN

1. Leben ist Bewegung

Eine Studie an gesunden Studenten

Dystopes Fett macht krank

Krebszellen außer Kontrolle

2. Prävention: Vorbeugen ist besser als heilen

Lebenserwartung und Lebensqualität

Was wirkt in der Gesundheitsvorsorge?

Ein paar Worte zum Thema »gesunde Ernährung«

Gewichtskontrolle – nur eine Frage der Kalorienbilanz?

»Autophagie« – ein Selbstreinigungsprogramm des Körpers

Die fünf Grundfunktionen der Bewegung

Koordination

Ausdauernde Bewegung

Körperliche Aktivitäten im Alltag

Die Kraft hat Vorfahrt – ein Paradigmenwechsel

Kraft und Balance erhalten

3. Eine kurze Einführung in die Trainingsphysiologie (Gastbeitrag Dr. sc. ETH David Aguayo)

Die Rekrutierung motorischer Einheiten

Der Sinn der Muskelermüdung

Die Energiebereitstellung für die Produktion von Kraft

Die Bedeutung der Spannungsdauer

Muskeln brauchen auch Erholung

Muskeln produzieren nicht nur Kraft

4. Kieser Training

Weit mehr als nur Krafttraining!

Die Trainingsregeln

Hantel oder Maschine?

Sind Trainingsmaschinen »klüger« als Hanteln?

Die präventive Wirkung des Kieser Trainings

So lernen Sie »kiesern«

Der Arzt oder Physiotherapeut stellt für Sie die Weichen

Vom Training zur Therapie – ein fließender Übergang

5. Jugend und Alter

Den Lebensstil ändern

Dreißig Jahre fit im Ruhestand? – Alles ist möglich

Good-Aging statt Anti-Aging

6. Körper, Geist und Seele

Wie erkennt unser Gehirn, ob neue Nervenzellen gebraucht werden?

Was stimuliert den Aufbau von Nervenzellen und die Leistung unseres Gehirns?

Warum ist dann nicht jeder Top-Sportler auch ein großer Denker?

Sind Sportler glücklichere Menschen?

Haben bewegte Menschen weniger Schmerzen?

Sport um jeden Preis?

7. Ein starker Rücken kennt keine Schmerzen!

8. Gelenke mit Halt und Führung

9. Muskeln für den Sport

Schadet Sport den Bandscheiben?

Bandscheiben leben von Bewegung!

Schutz für die Wirbelsäule

10. Empfehlungen für Training und Sport

TEIL III: ZURÜCKFINDEN ZUR GESUNDHEIT

1. Rücken und Gelenke

Rücken und Gelenke in der Arztpraxis

Schmerztherapie ist mehr als Chemie

Zum Thema »Physiotherapie«

Physiotherapeuten sind exzellente Diagnostiker

Noch ein Wort zur »Reha-Medizin«

2. Vom Befund zur Diagnose – Chaos und Ordnung

3. Meine Werkzeuge

Mit den Händen heilen

Manuelle oder Chirotherapie

In der Therapie der Blockaden vollzieht sich ein Wandel

Medizinische Kräftigungstherapie

Anforderungen an Therapiemaschinen

Die Ziele der Kräftigungstherapie

4. Häufige Krankheiten und ihre Behandlung

»Unspezifische« Rückenleiden

Der »Ischias«

Muskelschmerzen und Sehnenansatzschmerzen

Chronische Spannungskopfschmerzen

Chronische Nackenschmerzen

Der Handy-Nacken

Fibromyalgiesyndrom

Funktionelle Störungen der Wirbelsäule

Blockierung der Kreuz-Darmbein-Gelenke

Kräftigungstherapie bei Kreuzbeinstörungen

Blockaden der Lendenwirbelgelenke

Blockaden der Rippen- und Brustwirbelgelenke

Blockaden der Halswirbelsäule und Muskeldysbalance

Morphologische Störungen der Wirbelsäule

Chondrose, Spondylose und Spondylarthrose

Radikuläre Schmerzsyndrome

Pseudoradikuläre Schmerzsyndrome

Frischer Bandscheibenvorfall an der Halswirbelsäule

Frischer Bandscheibenvorfall an der Lendenwirbelsäule

Chronische Bandscheiben-Leiden

Arthrose der Wirbelgelenke

Stenosen des Wirbelkanals und Stenosen der Nervenaustrittslöcher

Wirbelgleiten

Schleudertrauma

Instabilität nach Verletzungen der Wirbelsäule

Skoliose

Scheuermann-Krankheit

Entzündliche Erkrankungen der Gelenke und der Wirbelsäule

Rheumatoide Arthritis (Chronische Polyarthritis)

Bechterew-Krankheit

Andere rheumatische Erkrankungen

Krankheiten der großen Gelenke und ihrer Umgebung

Schulterkrankheiten

Muskelansatzentzündungen

Krankheiten der Rotatorenmanschette

Schulterenge

Luxationsneigung

Blockierung des Schultereckgelenks

Fortgeleitete Schulterschmerzen

Der »Tennisarm« – Prototyp eines Leidens

Hüftschmerzen

Hüftgelenksarthrose

Knieschmerzen

Achillesferse

Krankheiten der inneren Organe

Das Metabolische Syndrom

Diabetes mellitus Typ2

Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Bluthochdruck

Chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen

Übergewicht und Adipositas

TEIL IV: DIE BEWEGLICHKEIT ERHALTEN

Eigenübungen

Gute Reise – ein Schlusswort

ANHANG

Literaturverzeichnis

Quellennachweis

Buchempfehlungen

DANKSAGUNG

Bedanken möchte ich mich vor allem bei meiner Frau. Sie hat noch mehr als sonst auf mich verzichtet und mir jede Freiheit eingeräumt, mein Muskelbuch gründlich zu überarbeiten. Danken möchte ich zudem Dr. sc. ETH David Aguayo, dem Forschungsleiter der Kieser Training AG. Mit seinem kritischen Blick hat er mich unterstützt, den aktuellen Stand der Muskelforschung zu berücksichtigen. Mein besonderer Dank gilt meinen medizinischen Lehrern, die hier in der Reihenfolge genannt sind, in der sie Einfluss genommen haben auf meinen beruflichen Werdegang: Alfons Macke, Gerhard Marx, Richard Gmelin, Hans-Rainer Hannemann und Anton Hack. Bei Anton Hack habe ich erfahren, dass man an einem Tag mehr lernen kann als in Jahren zuvor. Auch dem Verlag danke ich für die geduldige und verständnisvolle Begleitung des Projekts.

Martin Weiß

VORWORT

Jeder Berufstätige hat ein Bild von seinem Beruf – sein »Berufsbild« eben –, so auch der Arzt. Als meine Gattin und ich befreundeten Arztkollegen meiner Frau vor dreißig Jahren die Rückentherapie mit Kräftigungsübungen vorstellten, wurden die damit erzielten spektakulären Erfolge von der fachlichen Seite her kaum diskutiert. Vielmehr interessierte offenbar die Frage, ob es sich hier um Medizin oder um etwas anderes handle. Es gab Argumente wie: »Das ist doch keine Medizin, eine Rumpfmedizin vielleicht oder eine Art technische Gymnastik.« Dass mit dem Verfahren medizinische Probleme größten Ausmaßes gelöst werden könnten, wurde allerdings nicht angezweifelt.

Es braucht Ärzte, die den Mut haben, die Grenzen ihres Berufsbildes zu überschreiten und sich auf den eigentlichen Zweck ihrer Tätigkeit zu besinnen: dass es eigentlich darum geht, die Menschen von körperlichen Übeln zu befreien, ihre Leiden zu lindern, ungeachtet dessen, ob die dazu verwendeten Verfahren nun »anerkannt«, »standesgerecht« oder wie auch immer legitimiert sind oder eben (noch) nicht. Dem Grundsatz »Wer heilt, hat Recht« muss Priorität eingeräumt und Aufmerksamkeit geschenkt werden, ohne Rücksicht auf etablierte Lehrmeinungen oder »Autoritäten«.

Neues entsteht aus der Verbindung von bereits Bestehendem. »Medizin« und »Körperkultur« sind zwei Welten mit unterschiedlichem Menschenbild, einer unterschiedlichen Berufsauffassung und einer ebensolchen Bedeutung. Diese beiden Welten zu verbinden ist nicht einfach – eine Verbindung wird aber etwas Neues hervorbringen, das sich gewinnbringend auf beide Fachgebiete auswirkt. Diese neue Disziplin sieht ihren Auftrag nicht allein darin, den Menschen wieder arbeitsfähig zu machen, sondern ihm darüber hinaus auch mehr Lebensqualität zu ermöglichen. Sie will den gesunden Menschen nicht nur für spezifische Leistungen ausbilden – wie die Disziplinen der Körperkultur, also Sport- und Trainingswissenschaft –, das körperliche Training soll vielmehr als vorbeugende und therapeutische, als heilende Maßnahme dienen.

Dr. Martin Weiß hat als erfahrener Arzt schon früh das therapeutische Potenzial des Krafttrainings erkannt und in die Praxis umgesetzt. Seine Beobachtungen an Patienten und seine umfangreiche Erfahrung als Therapeut liegen nun in Form dieses Buches vor. Ich wünsche dem mutigen Werk eine große Verbreitung.

Werner Kieser

ANMERKUNGEN DES AUTORS

Wissenschaftler und Autoren sind gut beraten, ihre Leserinnen und Leser auf mögliche Interessenkonflikte hinzuweisen. Das will ich tun, nur geht es dabei nicht um einen Konflikt: Einen großen Teil meiner Erfahrung und meines Wissens verdanke ich der langjährigen intensiven Zusammenarbeit mit Kieser Training®. Dieses von Werner Kieser vor über 50 Jahren gegründete System für gesundheitsorientiertes Krafttraining ist seit 1997, also seit über 20 Jahren, mein Experimentierfeld für das Zusammenspiel von Manueller Medizin und Krafttraining. Ich verberge nicht, dass ich Sie »verführen« will, mit diesem Training zu beginnen. Am besten gleich morgen. Doch auch in guten Fitnessstudios können Sie die Informationen nutzen, die Sie in diesem Buch bekommen. Selbst in einem mittelmäßigen Fitnessstudio werden Sie profitieren, wenn Sie die dort verfügbaren Übungen korrekt durchführen. Wie das geht, erfahren Sie in Teil II, Kapitel 4. Nicht zu trainieren ist das größte Risiko. Überzeugung treibt mich dabei stets an. Ganz ohne Konflikte.

EINFÜHRUNG

Stellen Sie sich Folgendes vor: An Ihrem 40. Geburtstag wachen Sie mit 11 kg mehr auf den Rippen auf als jetzt. Seit Sie 18 waren, haben Sie kaum Muskelmasse verloren, aber bis zu Ihrem 40. Lebens jahr 5,2 kg Fett zugenommen. Das ist ein Plus von 43 % und Sie sind erst 40. Ab 40 verlieren Sie dann auch noch mit zunehmendem Tempo Ihre Muskelmasse und lagern weiter Fett ein. Laut dem 13. Bericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung vom Februar 2017 ist das die Realität für den durchschnittlichen deutschen Mann. Nur passiert es eben nicht auf einen Schlag, sondern ist ein schleichender Prozess.

Es liegt vor allem an Ihnen, ob Sie gesund und leistungsfähig sind, denn Ihr persönlicher Lebensstil entscheidet über Ihr Wohlbefinden. Zu viele Menschen aller Altersgruppen leiden an schmerzhaften Störungen des Bewegungsapparats und geringer körperlicher Belastbarkeit. In Muskelkraft – eine starke Medizin erfahren Sie, was Sie selbst für die Gesundheit Ihres Rückens, Ihrer Knochen und Gelenke, für Ihren Stoffwechsel … und auch für Ihr seelisches Wohlergehen tun können.

Sollten Sie allerdings krank sein, nutzt Ihnen der Ruf nach wirksamer Vorbeugung nichts. Dann brauchen Sie Ärzte und Therapeuten, die zur rechten Zeit das Nötige tun und Überflüssiges oder Schädliches unterlassen. Hier gibt es kein »richtig und falsch«. Jeder Arzt schaut durch seine Brille, ist geformt durch die »medizinische Schule«, aus der er kommt, und geprägt durch seine persönlichen Erfahrungen. Und so werde ich Sie in diesem Buch einmal durch meine Brille schauen lassen, wenn es darum geht, Rücken- und Gelenkleiden zu verstehen und daraus Schlüsse zu ziehen, wie Sie diesen quälenden und oft unnötigen Leiden vorbeugen und sie behandeln können.

In Muskelkraft – eine starke Medizin geht es darum, wie Sie gesund bleiben und gesund werden können. Dabei richte ich meinen Blick auf Rücken, Knochen und Gelenke und auf die Muskulatur als Stoffwechselorgan. Rückenkranke sind oft unzufrieden mit dem Erfolg der ärztlichen Behandlung; diese Unzufriedenheit der Betroffenen teilen viele Ärzte, Arbeitgeber und Krankenkassen. Wir alle investieren viel Geld – rund 25 Milliarden Euro jährlich – für chronische Rücken- und Gelenkleiden. Durch wirtschaftliche und sozialpolitische Entwicklung, fehlende Vorbeugung und ineffektive medizinische Maßnahmen werden die Kosten in Zukunft noch weiter ansteigen.

Wir wissen aber, dass ein wichtiger Schlüssel für erfolgreiche Vorbeugung und Therapie die Wertschätzung der Muskulatur ist: Sie ist weit mehr als Stell- und Bewegungsmotor des Skeletts, nämlich das größte Stoffwechselorgan des menschlichen Körpers. Funktionierende Muskeln sind durch nichts zu ersetzen. Ich werde ihren Aufbau und ihre Funktionsweise hier anschaulich darstellen und Sie auf diese Weise, das hoffe ich, zum Handeln bringen.

Muskelkraft – eine starke Medizin sucht den Dialog. Meine dreißig Jahre Erfahrung in der Behandlung von Rücken- und Gelenkleiden lässt mich an der Wirksamkeit häufig durchgeführter Maßnahmen in Allgemeinmedizin, Orthopädie und Rehabilitation zweifeln. Nicht zuletzt kritisiere ich den voreiligen Einsatz aufwändiger Untersuchungsverfahren, Operationsindikationen und die oft schlechte Vorbereitung auf die Operationen an Rücken und Gelenken. Was am Halte- und Bewegungsapparat als »gesund« und was als »krank« zu bezeichnen ist, darüber klaffen die Ansichten weit auseinander. Doch für den Erfolg einer Behandlung ist es entscheidend, ob die »richtige« Diagnose gestellt und ein vernünftiger therapeutischer Weg gewählt wird.

Unsere Medizin ist wissenschaftlich ausgerichtet – und das ist gut so. Medizin ist aber immer auch »Erfahrungsheilkunde«. Und hier liegt der Knackpunkt: In den orthopädischen Kliniken werden schwere Störungen des Halte- und Bewegungsapparats behandelt. Operative Verfahren stehen dabei im Vordergrund. Doch in der Praxis des niedergelassenen Orthopäden spielen andere Leiden die Hauptrolle, wobei sich bei einem Großteil der Patienten keine wesentlichen Veränderungen an Knochen und Gelenken nachweisen lässt. Wo aber kommen die Beschwerden her, wenn »die (technischen) Befunde« zeigen, dass alles in Ordnung ist? Hier zeigt die Erfahrung in der Praxis, dass die Schmerzen oft durch verklemmte Wirbelgelenke, gereizte Sehnenansätze und verspannte Muskeln verursacht werden. Und viele dieser Befunde werden übersehen, da man sie in der klinischen Medizin nicht ausreichend beachtet. Das gilt vor allem für verklemmte Wirbelgelenke, die nur mit geübten Fingern und wenn der Arzt sich genügend Zeit für die körperliche Untersuchung nimmt aufgespürt werden.

Ob eine Arthrose des Kniegelenks vorliegt, ein Meniskus verletzt, die Wirbelsäule krumm ist oder die Bandscheiben degeneriert sind, das interessiert Ihren Arzt. Viel weniger Aufmerksamkeit schenkt er der Funktion von Muskeln und Gelenken. Und hierin liegt eine Ursache für schlechte Behandlungserfolge. In der Architektur ist die Form der Funktion untergeordnet. Form follows function, sagt man. In der Medizin hingegen lässt der Streit über gestörte oder intakte Funktion, und welche Bedeutung die Funktion überhaupt hat, die verschiedenen Denkrichtungen aufeinanderprallen. Es ist ein ungleicher Kampf. Und die Vertreter jener Medizin, die sich hauptsächlich an der gestörten Form, der Pathomorphologie, orientieren (und operieren), sitzen in den Universitäten und in den Kliniken, in denen Fachärzte ihre Weiterbildung erhalten.

Die Gründe für die Polarisierung der Meinungen liegen im Wesen der Wissenschaft. Sie verlangt nach objektiven Daten. Was wir messen, wiegen, berechnen und in Bildern darstellen zählt. Es ist wiederholbar und überprüfbar. Die Bewertung, ob Muskeln und Gelenke »regelrecht« oder »gestört« sind in ihrer Funktion, ist technisch (noch) nicht möglich. Ob sich ein Rippen- oder Wirbelgelenk normal bewegt oder ob es »blockiert« ist, das kann kein Apparat feststellen. Und so bleibt es ärztliche und therapeutische Aufgabe, einer gestörten Funktion auf die Spur zu kommen. Für das »Röntgenauge« ist Muskulatur ebenso unsichtbar wie die verminderte oder aufgehobene Beweglichkeit der Beckengelenke. Unglücklicherweise ersetzt das »technische Auge« des Arztes zunehmend das klassische ärztliche Handeln, das auch heute noch in gründlicher Anamnese, exakter körperlicher Untersuchung, sinnvoll ausgewählten technischen Untersuchungen und einer abschließenden Analyse besteht, in der alle Befunde in ihrer Bedeutung gewürdigt und in sinnvolles ärztliches Handeln umgesetzt werden.

Diese Zusammenhänge erklären, dass etwa 90% aller Rückenschmerzen als »unspezifisch« eingestuft werden, also ohne präzise Diagnose. Würden aber Funktion und Form, wie oben beschrieben, gleichwertig analysiert, gelänge eine exakte Diagnose bei wenigstens acht von zehn Rückenpatienten. In der Medizin ist das Zusammenspiel von Forschung und Praxis unentbehrlich. Medizinische Wissenschaft ohne Praxisbezug geht an den Problemen der Menschen vorbei. Praxismedizin ohne Begründung und Überprüfung durch die Forschung verliert den sicheren Boden. Sie wird zu einer medizinischen Ideologie, von der es unzählige gibt. Praktische Erfahrung und wissenschaftliche Forschung sind unersetzliche Quellen ärztlichen Handelns.

Deshalb folge ich der »Einladung« von Professor Grönemeyer, der das lesenswerte Werk Mein Rückenbuch geschrieben hat. Er fordert auf, an festgemauerten Dogmen der Schulmedizin und der Naturheilkunde zu rütteln. Er wirbt für die Anerkennung der Erfolge der jeweils »anderen« Seite. Zuhören, lernen und Neues ausprobieren – das sind die Meilensteine auf dem Weg zu einer besseren Medizin. Und wenn wir Ärzte und Therapeuten uns darauf besinnen, dass nicht Wissenschaftler, Ärzte und Therapeuten im Mittelpunkt stehen, sondern die Patientinnen und Patienten, sollte es leicht fallen, dieser Aufforderung nachzukommen. In diesem Sinn suche ich den Dialog.

Meine tägliche Erfahrung mit einer funktionell ausgerichteten Medizin am Halte- und Bewegungsapparat zeigt mir, dass es Alternativen zum üblichen Vorgehen in Praxis, Klinik und Reha gibt. Und das hat sich für mich durch die Begegnung mit Kieser Training verdichtet. Im Streben, die mit ärztlichen Mitteln wohl meist erzielbaren, aber oft bedauerlicherweise nur kurzfristigen Erfolge auf Dauer zu festigen, habe ich präventives und therapeutisches Krafttraining in meine Praxisarbeit aufgenommen. »Kräftigungsmedizin« ist so nicht nur bei chronischen Schmerzen zu meinem wichtigsten Werkzeug geworden. Bei vielen (Zivilisations-) Krankheiten und Funktionseinbußen ist Kräftigungstherapie ein überzeugendes Heilmittel. Im Zusammenwirken von engagierter, funktionell ausgerichteter ärztlicher Arbeit und Kräftigungsmedizin entsteht etwas ganz Neues: Wir erleben die Entwicklung einer differenzierten Trainingsmedizin, die bei häufig auftretenden und sonst schlecht therapierbaren Leiden zuverlässig wirkt. In der Prävention vieler Krankheiten des Halte- und Bewegungsapparats und wichtiger Stoffwechselleiden ist die Wirksamkeit von Kieser Training allen mir bekannten Vorbeugemaßnahmen weit überlegen.

Es gibt jedoch heute noch keinen wissenschaftlichen Konsens über den Stellenwert von gesundheitsorientiertem und therapeutischem Krafttraining. Aber es gibt gewichtige Stimmen für eine Neuorientierung in Prävention (vorbeugende Maßnahmen) und Therapie: Prof. Dr. med. Dr. h. c. Wildor Hollmann, der Ehrenpräsident des Weltverbandes für Sportmedizin (FIMS) und der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP), stellte in einem Vortrag über die »Perspektiven einer zukunftsorientierten Medizin«1 die Bahn brechenden Arbeiten von Maria Fiatarone2 heraus. Sie hatte als erste Forscherin in den 1980er-Jahren die unerwartet positiven Wirkungen von Krafttraining an Hochbetagten belegt. Muskelschwund im Alter kann durch effektives Training also nicht nur vermieden werden. Mit Krafttraining können sich Menschen jeden Alters ihre Kraft zurückerobern. Von allen Forschern, die sich ernsthaft mit Krafttraining befassen, wird neben der Effektivität die sehr gute Verträglichkeit in allen Altersgruppen bestätigt. Prof. Dr. med. Dieter Jeschke vom Lehrstuhl für Präventive und Rehabilitative Sportmedizin der TU München schreibt im Deutschen Ärzteblatt3:

Für Erwachsene im mittleren Lebensalter und rüstige Ältere haben […] auf eine Verbesserung der Ausdauer abzielende Ratschläge durchaus ihre Berechtigung. Sie übersehen aber, dass bei jahrzehntelanger körperlicher Inaktivität die eingeschränkte neuromuskuläre Funktion zur vordergründigen Problematik der motorischen Leistungsfähigkeit wird. Sie bedarf primär der Verbesserung durch fachkompetent angeleitete Trainingsprogramme mit den Schwerpunkten Ganzkörpergymnastik und Kraftaufbau der gesamten Skelettmuskulatur. Den besonderen Stellenwert des Krafttrainings selbst für chronisch Herzkranke hat unlängst die Sektion »Rehabilitation und Behindertensport« der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention hervorgehoben. Erst bei suffizienter neuromuskulärer Funktion sind ausdauernde Belastungen moderater Art und über längere Dauer und ohne Risiko durchführbar.

Damit stellt Professor Jeschke fest, dass Muskelkraft die notwendige Basis für Sport und andere Ausdauerbelastungen ist, und diese nur einem ausreichend kräftigen Körper zumutbar sind. Kraft ist eine Grundfunktion. Sie bildet das Fundament für jede Art körperlicher Aktivität. Kraft ermöglicht Bewegung und reduziert die mit Bewegung verknüpften Risiken – nicht nur im Sport. Das gilt in der Jugend, im Erwachsenenalter und im Alter, wobei alte Menschen besonders hart davon betroffen sind: Sie haben durch körperliche Schonung den größten Teil ihrer Muskeln eingebüßt, die sie aber wegen anderer Handicaps jetzt noch dringender brauchen als in jungen Jahren.

Auch Sie können die Last des Alltags (er)tragen. Wie es Ihnen geht, haben Sie dabei weitgehend selbst in der Hand, denn unabhängig von Ihrem Alter steht und fällt Ihre Leistungsfähigkeit, Ihre Beweglichkeit, die Festigkeit Ihrer Knochen, Ihre Haltung, Ihre Figur und Ihr Aussehen mit der Qualität Ihrer Muskeln. Ob Ihr Rücken schmerzt oder sich gut anfühlt, hängt stark von seiner Stabilität ab. Und diese Stabilität schenken ihm funktionstüchtige Muskeln.

Knochen, Gelenke, Sehnen und Muskeln tragen Sie durchs Leben. Funktionsfähigkeit und Belastbarkeit sind keine Geschenke der Natur. Sie entstehen durch ausgelebten Bewegungsdrang in Kindheit und Jugend und bleiben nur in einem körperlich aktiven Leben erhalten. Ein belastbarer Stütz- und Bewegungsapparat war früher beinahe selbstverständlich. Er entwickelte sich in Kindheit und Jugend durch tägliche Beanspruchung und blieb ein Leben lang kräftig genug. Das hat sich geändert. Die Entwicklung belastbarer Strukturen in Kindheit und Jugend ist durch passive Lebensgewohnheiten in dieser Lebensphase gefährdet und noch mehr der Erhalt über eine länger werdende Lebensspanne. Ich werde Ihnen die überraschend einfache Lösung für viele Probleme aufzeigen, die aus einem Mangel an stabilisierender und bewegender Kraft resultieren.

Bei der Kraftmedizin geht es aber auch um die Zukunft: Der körperliche Verfall eines großen Teils unserer Jugend schreitet voran. Nicht nur der messbare Leistungsverlust bei körperlichen Anforderungen und die zunehmende Haltungsschwäche beunruhigen. Die Muskulatur ist, wie bereits erwähnt, das größte Stoffwechselorgan des Menschen. Wird sie schon in der Kindheit wenig genutzt, bleibt das nicht ohne Folgen. »Alterszucker« trat früher nur selten vor dem vierzigsten Lebensjahr auf. Heute wird diese Erkrankung in der zivilisierten Welt immer öfter auch schon bei Kindern erkannt. Mit seltener Einigkeit warnen Wissenschaftler, Ärzte und Pädagogen seit Jahren vor den Folgen für eine Generation, die ihren Körper zu vergessen droht. An Appellen fehlt es nicht, doch wirksame Maßnahmen – etwa die tägliche Stunde Schulsport – fehlen, weil sie zu teuer erscheinen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob unsere Gesellschaft sich eine schwache Jugend überhaupt leisten kann. Mit Sicherheit aber kann sie sich die Osteoporose-Kranken nicht leisten, wenn die Prognosen der Experten auch nur halbwegs zutreffen: Knochenbrüche bei Osteoporose werden sich in den nächsten dreißig Jahren verdoppeln. Das ist tragisch für die Betroffenen und teuer für die Gemeinschaft der Versicherten. Und tragisch ist es vor allem deshalb, weil Osteoporose heute vermeidbar und bei rechtzeitiger Diagnose auch heilbar ist.

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich Freude, Gesundheit und Leistungskraft von der Jugend bis ins Alter. Gestalten Sie Ihre persönliche Gesundheitsreform!

Dr. Martin Weiß

1Vortrag in der Klinik St. Irmingard in Prien im Jahr 2000

2Fiatarone, M. A., und Evans, W. J.: »Exercise in the oldest old«, in: Topics in Geriatric Rehabilitation 5. 1990, Seite 63–77

3Deutsches Ärzteblatt Nr. 12, 19. März 2004, Seite 789–798

TEIL I

DIE GRUNDLAGEN VERSTEHEN

1. FORM UND FUNKTION

DIE FACHBEGRIFFE VERSTEHEN

Um das Zusammenwirken von »Form« und »Funktion« verstehen zu können, brauchen wir Klarheit über wichtige Begriffe. Medizinische Fachausdrücke werden im Text allenfalls neben den deutschen Bezeichnungen verwendet. An dieser Stelle möchte ich Ihnen deutlich machen, was ich unter einer Störung der »Form« und der »Funktion« bei Rücken- und Gelenkleiden verstehe.

Ein Beispiel

Wenn an Ihrem Fahrrad die Kette von jahrelangem Gebrauch und mangelnder Pflege abgenutzt und rostig ist, kann das Rad trotzdem noch problemlos funktionieren. Der sichtbare und mit Spezialwerkzeug messbare Verschleiß gibt wenig Auskunft darüber, wie das Fahrrad läuft. Umgekehrt wird trotz bester Ausstattung jede Tour zur Qual, wenn die Schaltung verstellt ist. Rost und Verschleiß stehen für Arthrose und andere mit technischen Mitteln darstellbare krankhafte Befunde. Die falsch eingestellte Schaltung entspricht der gestörten Funktion, zum Beispiel einer Gelenkblockade.

Unübersichtlicher wird es, wenn Form und Funktion »Beschwerden« verursachen. Aber auch dann findet der Arzt – oder Fahrradmechaniker – Mittel und Wege, wie das Problem zu lösen ist, sofern er über genügend Kenntnisse, Erfahrung und Fingerspitzengefühl verfügt. Vom Mechaniker erwarten Sie, dass er Ihr Rad nicht nur anschaut, dass er Ihr Gefährt »untersucht« und herausfindet, welches Teil defekt ist (Arthrose) oder nicht funktioniert (Blockade).

In der Medizin hat ein anderes Vorgehen Einzug gehalten: Hier wird mit immer aufwändiger werdenden Mitteln »geschaut«. Computertomografie und Kernspintomografie liefern ein immer genaueres Abbild der Form mit ihren krankhaften Abweichungen (Pathomorphologie) . Die körperliche Untersuchung, mit der allein das »regelrechte« Funktionieren vor allem der kleinen Gelenke zu ergründen ist, wird zu oft für entbehrlich gehalten. Doch solange uns Apparate nur über die Form unterrichten, nicht aber über die Funktion, ist die körperliche Untersuchung durch den Arzt ebenso unersetzbar wie die Untersuchung des Fahrrads durch den Mechaniker.

Ein weiteres für das Verständnis wichtiges Begriffspaar sind »Bewegung« und »Belastung«. »Sie sollten sich mehr bewegen!«, reicht als Empfehlung nicht, wenn vorbeugende oder therapeutische Ziele verfolgt werden. Bewegung hat erst durch die mit ihr verknüpfte Belastung eine Wirkung auf Muskeln, Sehnen, Knochen, Knorpel und auf das Herz-Kreislauf-System. Die Art der Belastung und ihr Ausmaß – die »Dosierung« – bestimmen über die Effektivität der Bewegung.

Auch hier hilft ein Beispiel, diese Unterscheidung zu verstehen: Gehen Sie flotten Schrittes bergab und bergauf, so unterscheidet sich die Bewegung nur geringfügig. Die Unterschiede in der Gelenkbelastung und in der Trainingswirksamkeit sind dagegen enorm: Bergauf werden einzelne Muskeln, Herz und Kreislauf stark beansprucht und effektiv trainiert. Die Gelenkbelastung ist gering. Bergab leisten die Muskeln bei geringem Trainingseffekt überwiegend Bremsarbeit, die Gelenke werden stark belastet, Herz und Kreislauf profitieren kaum. Um Bewegung nutzbar zu machen, braucht sie eine definierte Qualität. Diese abzustimmen auf individuelle Ziele in Vorbeugung und Therapie ist Aufgabe von Therapeuten und Ärzten.

EINE KLEINE ENTWICKLUNGSGESCHICHTE

Wie bei Herz, Leber und Nieren werden die Bauteile des Stütz- und Bewegungsapparats nach dem genetischen Plan angelegt. Während der Entwicklung im Mutterleib wird jedes Gewebe großzügig mit Blut versorgt, es sind also reichlich Nährstoffe vorhanden, und für den Abtransport von Schadstoffen ist gesorgt. Das gilt auch für Bandscheiben und Gelenkknorpel. Vor der Geburt sind diese Gewebe also noch nicht auf den ständigen Wechsel von Be- und Entlastung angewiesen, der später für ihre Ernährung sorgt. Der himmlische Zustand der Schwerelosigkeit im Fruchtwasser stört den Aufbau später tragender Struktur aber nicht. Muskeln folgen dem gleichen Baumuster und werden sogar vor der Geburt schon trainiert. Wie beim Schwimmen setzt das Fruchtwasser der Bewegung Widerstand entgegen, das heißt, die Muskulatur ist einem Trainingsreiz ausgesetzt.

Nach der Geburt beginnt für das Neugeborene harte Arbeit: Es muss bei seinen Bewegungen Reibung und Schwerkraft überwinden und es wird nicht mehr einfach über die Nabelschnur mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Das Kind muss selbst atmen, kauen, schlucken und, was es zu sich nimmt, auch verdauen. Besonders heikel wird die Ernährung der Gewebe, die nach der Geburt ihre Blutversorgung verlieren: Im Kindergartenalter verkümmern die Blutgefäße der Bandscheiben. Ihre Ver- und Entsorgung geschieht dann nur noch über den unentwegten Wechsel von Be- und Entlastung – viel Bewegung und ausreichende Ruhephasen sind also wichtig. Das Knorpelgewebe saugt in Ruhe Wasser und Nährstoffe wie ein Schwamm auf und scheidet unter Belastung Wasser und die Abfallstoffe des Stoffwechsels aus.

DIE FORM FOLGT DER FUNKTION

Die frühe Form der Knochen, Knorpel, Gelenke und Muskulatur ist wenig ausgeprägt. Sie sind ein zartes Gerüst, das über Jahre geformt wird. Die Erbanlagen stellen das Potenzial für diese Entwicklung bereit, äußere Reize gestalten die Form, wobei der gleiche äußere Reiz – je nach Geschlecht und Veranlagung – eine andere Wirkung zeitigt und der »geborene Athlet« ohne äußere Reize genauso verkümmert wie der schlanke Schwächling.

Muskeln setzen an den Knochenhöckern an. Intensive und häufige Zugbelastung sind die Reize zum Aufbau belastbarer Substanz. Der Muskelzug wirkt nicht nur lokal am Ansatz der Sehne, sondern über die Biegebelastung auf den ganzen Knochen. Architekten und Statiker müssen alle denkbaren Belastungen, die auf ein Bauwerk einwirken, voraussehen und in die Konstruktion einfließen lassen. Die Natur ist dabei oft ihr Lehrmeister, denn im lebendigen Knochen passen sich die tragenden Strukturen ein Leben lang immer wieder neu an die auf sie einwirkenden Kräfte an. Die Statik des Knochens – sein Tragwerk – befindet sich in ununterbrochenem Wandel: Wenig beanspruchte Knochenbälkchen4 werden von Fresszellen (Osteoklasten) abgebaut, belastete Bälkchen werden durch Aufbauzellen (Osteoblasten) verstärkt.

Eine veränderte Belastung, etwa das Tragen von Schuhen mit hohen Absätzen, führt schon innerhalb weniger Wochen zu einer Neuausrichtung der Knochenbälkchen; die innere Form passt sich an die aktuelle Beanspruchung an. Architekten und Statiker können nur davon träumen, Form und Funktion auf eine so vollkommene Weise in Einklang zu bringen. Die ununterbrochene Anpassung tragender, haltender und bewegender Substanz findet bei unseren Lebensbedingungen allerdings auch in umgekehrter Richtung statt: Reduzierte körperliche Beanspruchung führt zu einer immer geringeren Belastbarkeit in Beruf, Freizeit und beim Sport.

Verlauf der Traglinien im belasteten Knochen – links bei einem jungen, rechts bei einem älteren Menschen

Mit jahrelangem Training vergrößern sich die Tragflächen der Wirbelkörper, die Knochenschale wird dicker, das Gerüst der Knochenbälkchen im Inneren kräftiger. Die Geometrie belasteter Gelenke verändert sich positiv. Das dem Einzelnen innewohnende Potenzial wird im Zeitalter automatisierter Fortbewegung und der Bevorzugung bewegungs- und belastungsarmer Hobbys jedoch leider sträflich vernachlässigt.

DIE ARCHITEKTUR VON GELENKEN UND WIRBELSÄULE

An Gelenken treffen mindestens zwei Knochen in einer beweglichen Verbindung aufeinander. Die Knochenenden sind mit Knorpel überzogen, damit die Gelenke reibungslos funktionieren können. Knorpel ist glatt, elastisch und feucht und vermindert so die Reibung und dämpft Stöße. Gesichert wird das Gelenk durch eine Gelenkkapsel. Bänder dienen ihrer Verstärkung. Die innerste Schicht der Gelenkkapsel ist eine Schleimhaut, die die Gelenkschmiere bildet. Ohne Gelenkschmiere wird der Knorpel in kurzer Frist zerstört.

Die Wirbelsäule ist eine flexible Verbindung von insgesamt 24 freien Wirbeln, fünf fest zum Kreuzbein verwachsenen Wirbeln und dem Steißbein. Zwischen den freien Wirbelkörpern sitzen 23 Bandscheiben. Zwei benachbarte Wirbel bilden mit der zugehörigen Bandscheibe und den beiden Wirbelgelenken ein Bewegungssegment der Wirbelsäule.

Ein Bewegungssegment der Wirbelsäule

Bandscheiben und Wirbelgelenke arbeiten eng zusammen. Die gesunde Bandscheibe regelt den Abstand der Wirbelkörper, sodass die Gelenkflächen benachbarter Wirbel gut zusammenpassen. So werden die Gelenke nicht überlastet und funktionieren in der Regel gut.

Die Bandscheiben bestehen aus einem äußeren, straffen Faserring und einem elastischen Gallertkern und wirken wie Stoßdämpfer. Solange der Gallertkern intakt ist, zeichnet ihn eine sehr große Wasserbindungsfähigkeit aus: Im Liegen saugt der Kern Wasser auf. Die Bandscheibe quillt und drückt die angrenzenden Wirbelkörper auseinander. Der Bandapparat strafft sich.

Hydraulische Streckung der Wirbelsäule

Durch diese Reaktionskette entsteht zwischen Bandscheibe und angrenzenden Wirbelkörpern eine hohe Stabilität. Die »hydraulische« Streckung durch Einlagerung von Wasser entlastet die kleinen Wirbelgelenke. Die Bandscheiben fungieren in diesem Gefüge als Distanz- und Pufferscheiben, sie erhöhen die Gelenkigkeit. Sie ernähren sich von der sie umgebenden »Gelenkflüssigkeit«; der ununterbrochene Wechsel von Be- und Entlastung ist der Motor für ihre Versorgung mit Nährstoffen und die Entsorgung der Abfallstoffe des Stoffwechsels. Bandscheiben brauchen Bewegung, Belastung und Phasen der Ruhe. In unserer Zeit leiden sie nur selten an Überlastung. Einseitige Belastungen und eine schlechte Versorgung mit Nährstoffen durch einen Mangel an Bewegung und Belastung gefährden die Bandscheiben.

In unserer Jugend sind Bandscheiben sogar belastbarer als die knöchernen Wirbelkörper. Ihr Gallertkern gehört zu den stoffwechselaktivsten Geweben unseres Körpers, doch mit zunehmendem Alter nehmen Elastizität und Festigkeit ab, der Faserring kann einreißen und den gallertigen Kern austreten lassen. Entscheidend für Art und Umfang der Degeneration der Bandscheiben ist nicht das tatsächliche Alter. Das biologische Alter ist zwar Ausdruck einer inneren Uhr, die den Verlauf degenerativer Prozesse bestimmen kann, doch die Degeneration wird beschleunigt durch starke Fehlbelastung und ständige Unterforderung. Mit technischen Untersuchungen lassen sich degenerative Veränderungen der Bandscheiben eindrucksvoll nachweisen. Die Störungen der Funktion der Wirbelgelenke, die dem Verlust innerer Stabilität folgen, können allerdings nur durch eine exakte körperliche Untersuchung nachgewiesen werden.

MUSKELN, FASZIEN UND SEHNEN

Rund 650 Muskeln sind für die Stabilisierung und Bewegung unseres Körpers zuständig. Sie machen bis zu 44 % unserer Körpermasse aus. Bei 70 Kilogramm sind das ganze 30 Kilogramm. Wir leben heute auf eine Weise, bei der man davon ausgehen kann, dass bis zum 80. Geburtstag 40 % unserer Muskelmasse verloren gegangen sein werden – das sind bis zu 12 Kilogramm.

Jeder Skelettmuskel besteht aus zahlreichen Muskelfaserbündeln. Die Muskelfasern selbst enthalten die eigentlichen Motoren der Muskulatur, die Sarkomere. Unter hohem Energieverbrauch gleiten die Aktin- und Myosinfilamente5 ineinander. Sie können sich die Kontraktion der kleinsten Einheit einer Muskelfaser folgendermaßen vorstellen: Halten Sie Ihre Zeigefinger mit den Kuppen aneinander. Wenn Sie dann die beiden Fingerendglieder beugen, greifen diese ineinander, und es kommt zu einer »Verkürzung«. Die Finger bzw. Hände nähern sich – das entspricht einer Muskelkontraktion. Die Kontaktaufnahme der Aktion- und Myosinfilamente wird als Querbrückenbildung bezeichnet. Dabei wird reichlich Energie verbraucht und, als Abfallprodukt der Muskelarbeit, Wärme gebildet. Hört der Nerv auf zu »feuern«, lassen elastische Kräfte das System in die Ausgangsstellung zurückgleiten (Entspannung).