Muss ich gucken... - Uwe Jott - E-Book

Muss ich gucken... E-Book

Uwe Jott

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Beschreibung

Bettina (46) aus Burghausen war glücklich verheiratet. Zumindest dachte sie das. Bis sie mit Ben (39) im Tennisclub offenbar einen Seelenverwandten kennenlernte und sich mit ihm anfreundete. Sie fühlte sich so sehr zu ihm sich hingezogen, dass sie sich schließlich auf eine Affäre mit ihm einließ. Eine Affäre, bei der es keine Gewinner zu geben scheint. Und die tragisch zu enden droht.

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Seitenzahl: 461

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Sonntag, 26. Juli 2020

Kapitel 2: Donnerstag, 6. August 2020

Kapitel 3: Sonntag, 16. August 2020

Kapitel 4: Montag, 17. August 2020

Kapitel 5: Dienstag, 18. August 2020

Kapitel 6: Donnerstag, 20. August 2020

Kapitel 7: Dienstag, 25. August 2020

Kapitel 8: Donnerstag, 3. September 2020

Kapitel 9: Mittwoch, 9. September 2020

Kapitel 10: Montag, 14. September 2020

Kapitel 11: Donnerstag, 17. September 2020

Kapitel 12: Dienstag, 29. September 2020

Kapitel 13: Donnerstag, 1. Oktober 2020

Kapitel 14: Mittwoch, 7. Oktober 2020

Kapitel 15: Donnerstag, 15. Oktober 2020

Kapitel 16: Dienstag, 20. Oktober 2020

Kapitel 17: Donnerstag, 29. Oktober 2020

Kapitel 18: Dienstag, 10. November 2020

Kapitel 19: Montag, 23. November 2020

Kapitel 20: Donnerstag, 31. Dezember 2020

Kapitel 21: Mittwoch, 20. Januar 2021

Kapitel 22: Montag, 3. Mai 2021

Kapitel 23: Samstag, 8. Mai 2021

Kapitel 24: Donnerstag, 27. Mai 2021

Kapitel 25: Freitag, 28. Mai 2021

Kapitel 26: Samstag, 29. Mai 2021

Kapitel 27: Mittwoch, 16. Juni 2021

Kapitel 28: Donnerstag, 25. Juni 2021

Kapitel 29: Sonntag, 4. Juli 2021

Kapitel 30: Dienstag, 6. Juli 2021

Kapitel 31: Mittwoch, 7. Juli 2021

Kapitel 32: Freitag, 9. Juli 2021

Kapitel 33: Dienstag, 13. Juli 2021

Kapitel 34: Sonntag, 18. Juli 2021

Kapitel 35: Mittwoch, 21. Juli 2021

Kapitel 36: Sonntag, 25. Juli 2021

Kapitel 37: Freitag, 30. Juli 2021

Kapitel 38: Freitag, 6. August 2021

Kapitel 39: Montag, 9. August 2021

Kapitel 40: Dienstag, 10. August 2021

Kapitel 41: Sonntag, 15. August 2021

Kapitel 42: Donnerstag, 19. August 2021

Kapitel 43: Samstag, 21. August 2021

Kapitel 44: Dienstag, 24. August 2021

Kapitel 45: Sonntag, 29. August 2021

Kapitel 46: Donnerstag, 2. September 2021

Kapitel 47: Dienstag, 7. September 2021

Kapitel 48: Freitag, 10. September 2021

Kapitel 49: Samstag, 11. September 2021

Kapitel 50: Montag, 13. September 2021

Kapitel 51: Donnerstag, 16. September 2021

Kapitel 52: Freitag, 17. September 2021

Kapitel 53: Dienstag, 21. September 2021

Kapitel 54: Samstag, 25. September 2021

Kapitel 55: Sonntag, 26. September 2021

Kapitel 56: Dienstag, 28. September 2021

Kapitel 57: Donnerstag, 30. September 2021

Kapitel 58: Freitag, 1. Oktober 2021

Kapitel 59: Freitag, 1. Oktober 2021

Kapitel 60: Freitag, 8. Oktober 2021

Kapitel 61: Samstag, 9. Oktober 2021

Kapitel 62: Mittwoch, 13. Oktober 2021

Kapitel 63: Freitag, 15. Oktober 2021

Kapitel 64: Montag, 18. Oktober 2021

Kapitel 65: Dienstag, 19. Oktober 2021

Kapitel 66: Mittwoch, 20. Oktober 2021

Kapitel 67: Donnerstag, 28. Oktober 2021

Kapitel 68: Samstag, 30. Oktober 2021

Kapitel 69: Samstag, 30. Oktober 2021

Kapitel 70: Montag, 1. November 2021

Kapitel 71: Mittwoch, 3. November 2021

Kapitel 72: Montag, 8. November 2021

Kapitel 73: Donnerstag, 11. November 2021

Kapitel 74: Samstag, 13. November 2021

Kapitel 75: Samstag, 20. November 2021

Kapitel 76: Sonntag, 21. November 2021

Kapitel 77: Samstag, 27. November 2021

Kapitel 78: Samstag, 04. Dezember 2021

Kapitel 79: Montag, 6. Dezember 2021

Kapitel 80: Dienstag, 7. Dezember 2021

Kapitel 81: Dienstag, 7. Dezember 2021

Kapitel 82: Freitag, 10. Dezember 2021

Kapitel 83: Dienstag, 14. Dezember 2021

Kapitel 84: Dienstag, 28. Dezember 2021

Kapitel 85: Montag, 3. Januar 2022

Kapitel 86: Mittwoch, 5. Januar 2022

Kapitel 87: Samstag, 8. Januar 2022

Kapitel 88: Montag, 10. Januar 2022

Kapitel 89: Dienstag, 11. Januar 2022

Kapitel 90: Mittwoch, 12. Januar 2022

Kapitel 91: Donnerstag, 13. Januar 2022

Kapitel 92: Sonntag, 16. Januar 2022

Kapitel 93: Dienstag, 18. Januar 2022

Kapitel 94: Freitag, 19. Januar 2022

Kapitel 95: Montag, 24. Januar 2022

Kapitel 96: Donnerstag, 27. Januar 2022

Kapitel 97: Montag, 31. Januar 2022

Kapitel 98: Mittwoch, 6. April 2022

Kapitel 99: Sonntag, 17. April 2022

Kapitel 100: Sonntag, 17. April 2022

Kapitel 101: Montag, 18. April 2022

Kapitel 1

Sonntag, 26. Juli 2020

„Bitte zusammenkommen!“, rief Mathias mit lauter Stimme, und meinte damit alle Vereinsmitglieder, die sich am heutigen Tage auf der Tennisanlage des SV Wacker eingefunden hatten, um am Schleifchenturnier teilzunehmen. Mathias war der Erste Vorsitzende des Tennisvereins und ließ es sich nicht nehmen, heute alle persönlich zu begrüßen und das Turnier auszurichten. Es hatte bereits eine jahrelange Tradition, und auch in diesem Jahr hatten sich vierundzwanzig Hobbyspieler zusammengefunden, um sich bei bestem Wetter auf dem Tennisplatz mit Gleichgesinnten zu messen. Mathias begann gerade seine Eröffnungsrede, während die Teilnehmer darauf warteten, auf den Tennisplatz zu dürfen.

„Ich begrüße euch zum diesjährigen Schleifchenturnier! Ich freue mich, dass sich heute wieder so viele Teilnehmer angemeldet haben.“

Bettina lauschte der Rede von Mathias und freute sich auf den Tag. Sie hatte morgens noch mit ihrer Mutter telefoniert, zu der sie seit zwölf Jahren ein schwieriges Verhältnis hatte. Das Telefongespräch hatte sie heruntergezogen. Wie so oft. Sie dachte an ihre Mutter und ihr Telefonat, während Mathias den Teilnehmern den heutigen Turniermodus erklärte.

Bettina war eine sportliche Frau Mitte vierzig mit weiblichen Rundungen an den richtigen Stellen. Wenn sie nicht gerade an ihre Mutter dachte, hatte sie stets ein Lächeln im Gesicht, das auf ihre Mitmenschen regelrecht ansteckend wirkte. Ihr braunes, leicht lockiges schulterlanges Haar, ihre leuchtenden grünen Augen und ihr strahlendes Lächeln ließen sie jünger wirken, als sie war. Sie hatte bereits diverse Male an dem Turnier teilgenommen und würde nächstes Jahr ihr dreißigjähriges Vereinsjubiläum feiern. Bis auf einen kannte sie alle der diesjährigen Teilnehmer. Sie war, wie in den vergangenen Jahren auch, mit ihrem Mann Arne gekommen, mit dem sie seit mittlerweile vierundzwanzig Jahren verheiratet war.

Der Turniermodus sah vor, dass immer ein Doppel gespielt wurde, wobei stets eine Dame mit einem Herrn zusammengelost wurde. Es wurde auf Zeit gespielt, immer dreißig Minuten. Der Beginn und das Ende des Spiels wurden mittels einer ohrenbetäubenden Tröte angekündigt, die Mathias in seinen Händen hielt. Die Sieger erhielten nach jedem Spiel ein kleines Schleifchen, das am Kragen befestigt wurde. Wer am Ende des Tages die meisten Schleifchen gesammelt hatte, wurde zum Sieger erkoren.

Bettina sah Mathias reden, nahm aber seine Worte gar nicht wahr. Sie verdrängte den Gedanken an ihre Mutter und kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Redete Mathias etwa immer noch?

Ben hatte den Eindruck, dass Mathias sich offenbar gern selbst zuhörte. Seine Begrüßungsrede schien kein Ende zu nehmen. Ben ließ sich nichts anmerken und ließ seinen Blick über die Turnierteilnehmer schweifen. Bis auf ein befreundetes Ehepaar kannte er niemanden. Er war neu im Club. Er war kürzlich gemeinsam mit ein paar Freunden von einem anderen Verein nach Burghausen gewechselt.

Ben war neununddreißig, eins achtzig groß, blond und einigermaßen fit. Er hatte bereits mit sechs Jahren mit Tennis begonnen und bis ins junge Erwachsenenalter gespielt. Als er während seines Studiums nur noch wenig Zeit hatte, legte er eine mehrjährige Tennispause ein, aber inzwischen spielte er schon wieder seit über zehn Jahren. Er lebte mit seiner langjährigen Freundin Doro und ihrer gemeinsamen achtjährigen Tochter Steffi in Emmerting, wenige Kilometer von Burghausen entfernt.

Mathias palaverte immer noch. Er erinnerte Ben an seinen Chef. Sein Chef war ein Arschloch. Ein Narzisst und Menschenschinder, der Ben bis in den Burnout getrieben hatte. Sogar eine Depression war ihm diagnostiziert worden. Ben war bereits seit einigen Monaten krankgeschrieben und sogar in therapeutischer Behandlung. Es gab zwischenzeitlich immer wieder Tage, an denen seine Krankheit dafür sorgte, dass er vollständig seinen Spaß am Tennisspielen verlor. Auch heute war wieder so ein Tag. Aber er hatte sich aufgerafft, denn er war der Meinung, dass das heutige Turnier eine geeignete Möglichkeit war, sich in den neuen Verein zu integrieren und neue Kontakte zu knüpfen. Vielleicht würde er für ein paar Stunden auf dem Tennisplatz seine gesundheitlichen und beruflichen Probleme vergessen können. Im Tennisverein wusste niemand davon, und so sollte es auch bleiben.

Die Rede von Mathias dauerte vielleicht fünf oder sechs Minuten, aber Ben hatte das Gefühl, es wäre eine halbe Stunde gewesen. Endlich wurde die erste Runde ausgelost, und die Spielerinnen und Spieler betraten den Platz.

Seine erste zugeloste Partnerin war Ben unbekannt, seine Gegner ebenso. Das war nicht anders zu erwarten. Ben merkte, dass er den meisten anderen Teilnehmern spielerisch überlegen war, aber das war ihm nicht wichtig. Bei dem Turnier stand nicht der sportliche Wettbewerb im Vordergrund, sondern es ging darum, gemeinsam mit Freunden und Vereinskameraden eine schöne Zeit auf und neben dem Tennisplatz zu erleben. Die Teilnehmer, die gerade Pause hatten, schauten den Spielen auf den Plätzen zu und verbrachten die Wartezeit damit, ein Stück Kuchen, einen Kaffee, ein Bier oder einen Prosecco zu sich zu nehmen.

Das erste Spiel gewannen Bens unbekannte Partnerin, die auf den Namen Agnes hörte, und er deutlich. Ihre ersten Schleifchen des heutigen Tages hatten die beiden schon mal eingefahren.

Auch Bettina gewann ihr erstes Spiel und verdiente sich ihr erstes Schleifchen. In der zweiten Runde wurde ihr Ben als Spielpartner zugelost. Sie wusste nicht so recht, was sie von dem Neuen halten sollte. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen. Er schien ganz nett zu sein, aber nicht sehr gesprächig. Aber sie hatte vorher schon gesehen, dass er offenbar ganz anständig Tennis spielen konnte.

Die Gegner waren Ben erneut unbekannt. Auch seine Partnerin kannte er nicht.

„Hi, ich bin Bettina“, stellte sie sich ihm vor.

„Freut mich, ich bin Ben.“

„Na, dann lass uns mal zusehen, dass wir uns das nächste Schleifchen verdienen“, lächelte Bettina.

Das zweite Spiel war schon etwas schwieriger, aber Bettina und Ben lagen gerade knapp in Führung, als Mathias nach Ablauf der dreißig Minuten wieder leidenschaftlich trötete. Die zweite Runde war beendet, und Bettina und Ben hatten beide ihren zweiten Sieg auf dem Konto.

„Danke, hat Spaß gemacht, Bettina!“

„Ja, finde ich auch!“

Sie holten sich ihre Schleifchen ab und steckten sie sich an ihre Kragen.

Sogleich wurde die dritte Runde ausgelost. Bettina hatte in dieser Runde spielfrei und genehmigte sich einen Prosecco. Sie setzte sich zu den anderen Clubmitgliedern, die ebenfalls darauf warteten, wieder auf den Platz zu dürfen.

Nach einigen weiteren Runden neigte sich das Turnier seinem Ende entgegen. Bettina hatte noch ein paar weitere Schleifchen gesammelt und ebenso viele Prosecco. Für den Turniersieg hatte es allerdings nicht gereicht, aber das war ihr völlig egal. Ben hingegen hatte alle seine Spiele gewonnen.

„Bitte zusammenkommen!“, rief Mathias schließlich erneut und bat alle Teilnehmer zur Siegerehrung. Einige Mitglieder hatten in der Zwischenzeit den Grill angefeuert, damit sich alle nach getaner Arbeit mit Würstchen und Steaks stärken konnten.

„So, liebe Freunde, darf ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten?“

Da einige Mitglieder munter weiterschwatzten, versuchte Mathias sich Gehör zu verschaffen, indem er lauthals in seine furchtbare Tröte blies. Ben fiel vor Schreck fast sein Bier aus der Hand. Immerhin hatte Mathias jetzt die Aufmerksamkeit der Teilnehmer. Und Ben einen Tinnitus.

„Wir kommen zur Siegerehrung. Aber zunächst einmal möchte ich mich bei euch allen bedanken, dass ihr heute zu diesem schönen Tag beigetragen habt. Das Wetter hatte auch ein Einsehen, der Grill ist heiß, was will man mehr?“

Nicht schon wieder, dachte Bettina sich, als Mathias wieder zu einer längeren Rede auszuholen schien.

Hätte Ben nicht ein fürchterliches Piepen im Ohr gehabt, hätte er vermutlich dasselbe gedacht.

Nach ein wenig Geschwurbel kam Mathias irgendwann auf den Punkt.

„Wir haben heute zwei Gewinner! Mit insgesamt vier Siegen ist die heutige Turniersiegerin bei den Damen… Agnes! Herzlichen Glückwunsch!“

Agnes stiefelte unter dem Applaus der anderen zu Mathias und ließ sich eine Flasche Sekt und eine Medaille überreichen.

„Und bei den Herren haben wir einen neuen Namen auf der Siegerliste. Mit insgesamt fünf Siegen… Ben! Herzlichen Glückwunsch!“

Auch Ben bekam höflichen Applaus der anderen Teilnehmer. Als Mathias ihm die Medaille und die Flasche Sekt überreichte, hatte Ben allerdings den Eindruck, dass ihn einige Mitglieder argwöhnisch anschauten, so als hätte es ihnen nicht gefallen, dass ein Fremder ihr Turnier gewonnen hatte.

Ben nahm die Preise trotzdem entgegen. Er war froh, an dem Turnier teilgenommen zu haben. Es ließ ihn seine beruflichen und gesundheitlichen Probleme für ein paar Stunden vergessen, und am Ende ist er auch noch Turniersieger geworden.

Der Geruch frischgegrillter Würstchen ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Nach noch ein bisschen Geblubber von Mathias setzten sich alle Teilnehmer gemeinsam auf die Clubterrasse und ließen den Tag bei Grillfleisch, Würstchen und ein paar kalten Getränken ausklingen.

Ben fand einen Sitzplatz zwischen Arne und Bettina auf der einen und Mathias auf der anderen Seite. Er setzte sich und genoss sein Würstchen und sein Bier.

„Und, wie hat es unserem neuen Clubmitglied gefallen?“, wollte Mathias von ihm wissen.

„Gut. Es hat wirklich Spaß gemacht. Und für mich als neues Mitglied ist so ein Tag eine super Gelegenheit, um andere Leute kennenzulernen.“ Einige der Teilnehmer kannte er inzwischen zumindest namentlich. Bettina zum Beispiel. Sie war gerade unterwegs in Richtung Clubhaus, um für sich und ihren Mann Getränkenachschub zu besorgen.

„Prima. Neue Mitglieder sind bei uns immer herzlich willkommen. Schön, dass du mitgespielt hast. Und dann auch gleich Turniersieger! Das wird hier eigentlich nicht so gern gesehen.“ Sein Gesichtsausdruck verriet, dass dies eine ironische Bemerkung gewesen war.

Ben musste lächeln. „Oh, das habe ich nicht gewusst. Sorry!“

Mathias lächelte zurück. „War nur Spaß! Schön, dass es dir gefallen hat. Prost!“

So verkehrt schien Mathias doch gar nicht zu sein.

Bettina kam mit den Getränken zurück und stellte fest, dass ihr Sitzplatz besetzt war. Sie suchte nach einer anderen Sitzgelegenheit, aber alle Bänke und Stühle waren belegt.

„Komm, du kannst dich hier hinsetzen“, sagte Ben zu ihr und deutete auf seinen Schoß. Sie hielt es für einen Witz, aber Ben nahm ihre Hand und zog sie zu sich auf seinen Stuhl. Bettina war überrascht und auch ein wenig irritiert, denn sie kannte Ben kaum. Sie hatte ihn vor gerade einmal zwei Stunden kennengelernt. Außerdem saß ihr Mann genau daneben. Sie wollte direkt wieder aufstehen.

„Aber nur, weil du das Turnier gewonnen hast“, lachte Mathias, als ob er darüber zu entscheiden gehabt hätte, auf wessen Schoß Bettina sitzen durfte.

Ben warf einen fragenden Blick in die Richtung ihres Mannes Arne und bat ihn um seine Zustimmung:

„Ist das in Ordnung, wenn sich deine Frau mal kurz auf den Schoß des Turniersiegers setzt?“

Es schien ihn nicht zu stören, so dass er mit einem Grinsen erwiderte: „Klar, nur zu.“

Die anderen Mitglieder, die Bettina und Arne schon seit Ewigkeiten kannten, schauten etwas ungläubig.

Nach der Zustimmung ihres Ehemannes leistete Bettina keinen weiteren Widerstand. Außerdem war sie froh, einen Sitzplatz gefunden zu haben. Wenn auch nicht den, den sie erwartet hatte.

Kapitel 2

Donnerstag, 6. August 2020

„Wie waren Ihre letzten vierzehn Tage?“, wollte seine Therapeutin von Ben wissen.

Er hatte diese Frage erwartet. Sie stellte sie jedes Mal zu Beginn ihrer zweiwöchentlichen Sitzungen.

„Es geht so. Ganz okay, glaube ich.“

„Wie waren die Nächte? Konnten Sie schlafen?“

„Einigermaßen.“ Ben hatte heute keine Lust auf die Therapiesitzung. Er war nicht gut drauf. Er wollte die Dreiviertelstunde einfach nur hinter sich bringen und sich zuhause unter der Bettdecke verkriechen.

Seine Therapeutin bemerkte, dass er heute ziemlich mundfaul war und nur sehr einsilbig antwortete. Sie kannte das. Sie war ein solches Verhalten von ihren Patienten gewohnt. Und sie war im Umgang damit geschult. Sie blieb ruhig und gelassen.

„Haben Sie Ihr Alkoholprotokoll geführt?“

„Ja, habe ich.“ Ben öffnete den Schnellhefter, der vor ihm auf dem Tisch lag, und überreichte ihr einen Zettel. In den letzten Wochen wurde ihm von seiner Therapeutin ein ‚schädlicher Alkoholgebrauch‘ attestiert. Sie hatte ihm daraufhin aufgetragen, über seinen Alkoholkonsum Protokoll zu führen.

Sie warf einen Blick auf den Zettel. Er hatte für jeden einzelnen Tag der vergangenen zwei Wochen aufgeschrieben, was er getrunken hatte. Am Montag vier große Bier und zwei Bacardi-Cola. Am Dienstag sechs große Bier. Am Mittwoch drei kleine Bier und zwei Schnäpse. So ging es weiter bis zum Ende der nächsten Woche.

Ben beobachtete seine Therapeutin. Sie schien nicht zufrieden zu sein mit dem, was sie sah. Dabei hatte Ben die Liste schon geschönt und einiges weggelassen.

„Das ist mehr als in den letzten Wochen“, sagte sie mit ruhiger Stimme.

„Ja, kann sein.“

„Versuchen Sie, den Alkoholkonsum zu senken. Alkohol kann die Wirkung Ihrer Medikamente negativ beeinflussen. Und er trägt dazu bei, dass die Symptome einer Depression noch verstärkt werden können.“

Ben wusste das bereits. Sie hatte es ihm schon ein paar Mal gesagt. Er war es inzwischen gewohnt, regelmäßig Alkohol zu trinken. Er konnte mittlerweile einiges vertragen, ohne betrunken zu werden. Zuerst hatte er nur in Gesellschaft mit seinen Freunden getrunken, aber in den letzten Wochen war er dazu übergegangen, auch zuhause allein zu trinken. Der Alkohol half ihm, abends herunterzukommen. Zumindest glaubte er das.

Es war heute seine sechste Therapiesitzung. Der Auslöser für die Therapie war sein angespanntes Verhältnis zu seinem Chef. Was heißt angespannt? Das Verhältnis war katastrophal! Nie war sein Chef zufrieden mit ihm gewesen. Er hatte Ben für sein eigenes Versagen verantwortlich gemacht. Anerkennung und Wertschätzung waren für ihn Fremdworte. Ben hatte nie erwartet, dass ein anderer Mensch ihn einmal dahin bringen könnte, wo er jetzt war. Niemals hätte er das für möglich gehalten.

Es war an einem Mittwoch gewesen, als die Situation mit seinem Chef eskalierte. Ben erinnerte sich genau. Er hatte seiner Therapeutin die Geschichte schon mindestens dreimal erzählt. Sein Chef hatte ihn vor versammelter Mannschaft zur Schnecke gemacht. Und das, obwohl Ben sich gar nichts hatte zu Schulden kommen lassen. Aber er hatte in diesem Moment als Sündenbock herhalten müssen. Herhalten für die Inkompetenz seines narzisstischen Chefs. In der Nacht darauf hatte Ben nicht schlafen können. Ständig hatte er vor seinem geistigen Auge seinen Chef gesehen und wie er ihn gedemütigt hatte. Ben hatte Schweißausbrüche bekommen und beschlossen, am nächsten Morgen zum Arzt zu gehen. Er hatte gehofft, sein Hausarzt würde ihn krankschreiben, aber er war sich unsicher gewesen, ob dieser ihm seine Geschichte überhaupt abkaufen oder ob er ihn als Simulanten abtun würde. Ben hatte gehofft, ein Attest für den Rest des Donnerstags und den Freitag zu bekommen. Mit dem darauffolgenden Wochenende hätte er dann vier Tage Zeit gehabt, wieder Kraft und Energie zu tanken für die nächste Auseinandersetzung mit seinem Chef.

Aus den vier Tagen waren mehrere Monate geworden. Als der Arzt Bens Geschichte gehört hatte, zog er ihn sofort aus dem Verkehr. Das war jetzt fünf Monate her. Und weitere zwei Monate lagen noch vor ihm.

Sein Arzt hatte Ben zu einer Therapie geraten. Er hatte ihn sogar zum Psychiater geschickt, um sich eine professionelle Zweitmeinung einzuholen. Als Ben im Wartezimmer der psychiatrischen Praxis gesessen hatte, war er sich wie ein Bekloppter vorgekommen. Wie tief war er gesunken?

Der Psychiater war im persönlichen Gespräch mit Ben schnell zu dem Schluss gekommen, dass sein Hausarzt mit seiner Einschätzung richtig gelegen hatte. Auch er empfahl Ben eine Psychotherapie, um die Situation mit seinem Chef aufzuarbeiten und um Handlungsoptionen im Umgang mit seinem Chef zu erlernen. Er hatte Ben eine Liste mit potenziellen therapeutischen Kliniken und Praxen in der Umgebung mitgegeben. Ben war überrascht gewesen, wie viele Psychotherapeuten in seinem Wohnort und in den umliegenden Orten ansässig waren. Es war ihm nie aufgefallen. Es waren mindestens fünfzig. Offenbar war er mit seinen Problemen nicht allein auf der Welt.

Er hatte die ganze Liste abtelefoniert, erhielt aber entweder Absagen oder landete auf der Warteliste mit der Option auf einen Platz in einem Vierteljahr. Er hatte seinen Suchradius schließlich ausgeweitet und sich im Internet auf die Suche nach weiteren Optionen gemacht. Aber auch dort hatte es zunächst nur Absagen gehagelt. Die psychotherapeutischen Praxen waren voll von Menschen wie ihm. Auf der einen Seite hatte es ihn beruhigt, dass es anderen Leuten offenbar genauso erging wie ihm, auf der anderen Seite entsetzte es ihn. Was für ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, dachte er sich.

Eines Tages hatte sein Handy geklingelt. Es war ein Rückruf. Er hatte bei einer therapeutischen Praxis in Braunau angerufen und auf den Anrufbeantworter gequatscht. Jetzt hatte er endlich die überraschende Nachricht erhalten, dass in Kürze ein Therapieplatz freiwerden würde. Es hatte acht Wochen gedauert, bis er endlich einen Platz gefunden hatte. Das lag nun zwölf Wochen zurück. Die Therapeutin, die ihn damals zurückgerufen hatte, saß ihm nun gegenüber und legte ihm dringend nahe, weniger Alkohol zu trinken.

Anfangs hatte er seine Therapeutin nicht gemocht. Es war ihm ohnehin zuwider, seine Geschichte einer wildfremden Person zu erzählen, aber genau das war der Sinn und Zweck einer Psychotherapie. Er hatte zunächst den Eindruck, dass seine Therapeutin auch nicht viel mit ihm anfangen konnte. Sie schien keinen richtigen Zugang zu ihm zu finden. Aber nach einigen Wochen hatten die beiden sich arrangiert und ein gewisses Vertrauensverhältnis zueinander aufgebaut.

„Wir sehen uns dann übernächste Woche wieder“, sagte sie zu Ben.

Er verabschiedete sich für heute und fuhr nach Hause, um sich in sein Bett zu legen und sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Er wollte für den Rest des Tages nichts mehr sehen und hören.

Kapitel 3

Sonntag, 16. August 2020

Bettina überlegte, wie sie die Feier ausrichten sollte. Der Geburtstag ihrer Tochter Jessica stand bevor. Jessica war achtzehn und wohnte noch im Haus ihrer Eltern in Burghausen. Bettina dachte an ihre Mutter. Sie hatte sie noch nicht darüber informiert, wie der Geburtstag ablaufen sollte. Sie wusste nur zu gut, dass ihre Mutter mit der Planung sowieso nicht einverstanden sein würde. Sie hatte immer etwas zu mäkeln. Entweder fand sie die Geschenke unangemessen oder die Tischdekoration unpassend. Selbst die Blumen auf dem Tisch waren grundsätzlich die falschen. „So einen Blumenstrauß kannst du für eine Beerdigung besorgen, aber doch nicht zum Geburtstag von Jessica!“, hatte sie das letzte Mal gesagt, direkt nachdem sie das Haus betreten und noch bevor sie Jessica zum Geburtstag gratuliert hatte. Alle hatten es gehört, und die Feierstimmung war bereits im Keller gewesen, noch bevor Bettinas Mutter ihren Mantel ausgezogen hatte. Wut stieg in Bettina auf, als sie daran dachte. Diesmal sollte es anders sein. Bettina überlegte, wie sie ihrer Mutter erklären sollte, dass sie eine solche Respektlosigkeit dieses Mal nicht dulden würde. Aber sie war heute nicht in der Stimmung, ihre Mutter anzurufen. Sie wusste, wie es enden würde. So wie es immer endete, wenn beide miteinander sprachen. Sie ging in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Sie beschloss, sich jetzt nicht mit ihrer Mutter zu befassen und sie stattdessen später anzurufen.

Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal ein normales Gespräch mit ihrer Mutter geführt hatte. Wann sie das letzte Mal einfach einen schönen gemeinsamen Mutter-Tochter-Tag erlebt hatten. Einen Tag, an dem sie Spaß hatten und gemeinsam gelacht hatten. Einen Tag, an dem sie nicht gestritten hatten. Das musste Jahre zurückliegen. War es vor fünf Jahren? Oder gar vor zehn? Bettina kramte in ihrer Erinnerung, aber sie konnte sich an einen solchen Tag tatsächlich nicht erinnern. Ihr Verhältnis war nun schon seit zwölf Jahren angespannt. Es gab schlimme und auch weniger schlimme Phasen, aber ein normales Verhältnis hatten sie seitdem nie gehabt.

Gerade als Bettina sich einen Kaffee einschenke, klingelte ihr Handy, und auf dem Display sah sie, dass es ihre Mutter war. Sie stieß einen kurzen Seufzer aus und überlegte für ein paar Sekunden, ob sie rangehen sollte oder nicht. Ihr Handy nahm ihr die Entscheidung ab, denn als sie schließlich danach griff, verstummte es. Sie war froh darüber, wandte sich erneut ihrem Kaffee zu und machte es sich auf dem Sofa bequem. Sie ging den Geburtstag noch einmal in Gedanken durch. Hatte sie an alles gedacht? Sie wollte morgen noch einen Schokoladenkuchen backen. Jessica liebte Schokoladenkuchen. Bettina überlegte, ob sie am Vormittag noch Tennis spielen könnte. Die Zeit dafür hätte sie, denn die sonstigen Vorbereitungen waren so weit abgeschlossen. Sie entschied sich dafür und griff nach ihrem Handy, um sich zu verabreden. Gerade als sie ihr Handy in die Hand nahm, klingelte es erneut. Vor Schreck verschüttete sie den halben Kaffee auf dem Sofa und stieß einen lauten Fluch aus. Es war erneut ihre Mutter. Wütend über den Kaffeefleck auf dem Sofa nahm sie das Gespräch entgegen.

„Mama, was ist?“, begegnete sie ihrer Mutter mit etwas zu harscher Stimme.

Als hätte ihre Mutter nur auf diese Begrüßung gewartet, polterte sie direkt los, ohne vorher auch nur hallo zu sagen: „Übermorgen ist doch Jessicas Geburtstag. Willst du mir nicht langsam mal sagen, wie wir den Tag verbringen?“

Bettina atmete tief durch. Sie war sich bis zuletzt noch nicht einmal sicher gewesen, ob sie ihre Mutter überhaupt dabeihaben wollte, aber sie wusste, dass sie es ihr nicht verwehren konnte. „Mama, ich wollte dich später anru…“.

„Und warum gehst du nicht ans Telefon, wenn ich dich anrufe?“, unterbrach ihre Mutter sie mit einem deutlich hörbaren bösen Unterton.

Bettina atmete durch und setzte erneut an: „Mama, ich wollte dich später anrufen. Wir wollen…“.

„Was für einen Kuchen soll ich backen? Findest du nicht, dass du mir das mal langsam sagen solltest? Ich muss schließlich die Zutaten noch einkaufen!“, unterbrach ihre Mutter sie erneut.

Bettinas Blutdruck stieg merklich an. „Du sollst überhaupt keinen Kuchen backen. Ich backe selbst einen.“

„Lass mich das machen!“, entgegnete ihre Mutter. „Ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass du viel zu viel Zucker nimmst.“

Bettina biss sich auf die Lippen und gab sich geschlagen. „Also gut, Mama, wenn du unbedingt willst, dann bring doch einen Schokoladenkuchen mit, den isst Jessica am liebsten. Aber bring dieses Mal keine Blumen mit, darum kümmere ich mich.“

„Ich mache lieber einen Zitronenkuchen“ antwortete ihre Mutter schnippisch und beendete das Gespräch ohne ein weiteres Wort.

Bettina starrte mit leerem Blick auf ihr Handy und kämpfte gegen ihre Wut an. Sie atmete tief durch und schaffte es, sich zu beherrschen – bis sie den Kaffeefleck auf dem Sofa wiederentdeckte. Sie war selbst überrascht, dass sie es schaffte, nicht loszuheulen.

In dem Moment surrte ihr Handy erneut. Ihre Mutter hatte ihr eine Kurznachricht geschickt: „Du gehst doch sowieso noch einkaufen, dann kannst du mir die Zutaten für den Kuchen ja nachher vorbeibringen.“

Kapitel 4

Montag, 17. August 2020

Ben schaute auf die Uhr. Er war spät dran. In fünfzehn Minuten musste er auf dem Tennisplatz stehen. Eigentlich hatte er keine besondere Lust. Aber er hatte heute spontan zugesagt, bei einem Doppel mit drei Freunden und Mannschaftskollegen einzuspringen, da ihnen der vierte Mann ausgefallen war. Also setzte er sich auf sein Fahrrad und machte sich auf den Weg.

Die drei anderen waren bereits auf dem Platz und spielten sich ein, als er eintraf. Er winkte ihnen kurz zur Begrüßung zu und verschwand in der Umkleidekabine. Drei Minuten später stand er ebenfalls auf dem Platz.

Heute war einiges los im Tennisclub. Bis auf einen waren alle Plätze belegt. Viele Mitglieder saßen auf der Terrasse und gönnten sich nach dem Spiel ein Bier, ein Glas Wein oder eine Limo. Ben hatte zwei oder drei bekannte Gesichter entdeckt, aber die meisten anderen Anwesenden waren für ihn noch immer unbekannt.

Das Schleifchenturnier lag mittlerweile drei Wochen zurück. Er hatte seitdem kaum gespielt. Er hatte in den letzten Tagen wenig Motivation gehabt, Tennis zu spielen.

Wider Erwarten hatte er heute aber nach kurzen Anlaufschwierigkeiten doch Spaß am Tennis. Die beiden Doppelpaarungen stellten sich als etwa gleichstark heraus, so dass sich ein spannendes Match entwickelte, welches Ben und sein Partner Cedric in drei Sätzen gewinnen konnten.

Man beschloss, sich im Anschluss noch auf die Terrasse zu setzen. Cedric besorgte den Männern vier Flaschen Bier aus dem Clubhaus. Sie schauten den Spielen auf den anderen Plätzen zu, nuckelten an ihren Bierflaschen und unterhielten sich dabei. Ben war froh, dass er heute eingesprungen war, obwohl er sich anfangs durchaus geziert hatte. Aber es war die richtige Entscheidung gewesen. Und auch die Zeit auf der Terrasse im Anschluss an das Match tat ihm gut. Es lenkte ihn von seinen Alltagsnöten ab. Seine Freunde und er waren mittlerweile beim dritten Bier angekommen. Er versuchte, sich zu behalten, was er heute trank, denn in ein paar Tagen würde seine Therapeutin wieder das obligatorische Alkoholprotokoll von ihm verlangen.

Als Ben die letzte Runde Bier für den heutigen Tag organisierte, traf er im Clubhaus auf Bettina. Er erinnerte sich an sie. Sie hatte nach dem Schleifchenturnier auf seinem Schoß gesessen. Er begrüßte sie mit einem freundlichen Nicken. Während er die vier Bierflaschen in Empfang nahm, erwiderte sie seine Begrüßung mit einem Lächeln: „Hey Ben! Wie geht’s?“

Gute Frage. Im Moment gut, aber sonst schlecht, dachte er sich. Aber das ging sie nichts an, daher antwortete er: „Gut, danke. Und dir?“

„Ach jo. Auch gut. Sag mal, wollen wir beide vielleicht mal zusammen Tennis spielen? Nächste Woche oder so? Natürlich nur wenn du willst!“

„Klar. Gerne. Gib mir mal deine Nummer, dann melde ich mich bei dir, sobald ich meinen Kalender gecheckt habe.“

Sie tauschten ihre Handynummern aus.

„Okay, cool. Ich freu mich.“

„Ja, ich freu mich auch.“

Am nächsten Tag prüfte Ben seinen Terminkalender und schickte Bettina eine Nachricht auf ihr Handy:

„Hi Bettina, nächste Woche würden Dienstag- oder Donnerstagabend bei mir gehen. Passt das für dich? Gruß, Ben“

Es war seine allererste Nachricht an sie. Die erste von mehreren Tausend, die noch folgen sollten.

Acht Tage später waren sie das erste Mal zum Tennisspielen verabredet.

Kapitel 5

Dienstag, 18. August 2020

Bettina war gerade dabei, den Tisch für den Geburtstag zu decken, als es an der Tür klingelte. Natürlich war ihre Mutter eine Dreiviertelstunde zu früh. Bettina schluckte ihren Ärger herunter, öffnete die Tür und bat sie herein. Ihr Ärger wuchs noch weiter an, als sie sah, dass ihre Mutter auch einen Strauß Blumen besorgt hatte. Bettina hatte sie extra gebeten, es zu unterlassen.

„Mama! Wir hatten doch vereinbart, dass du einen Kuchen mitbringst. Von Blumen war nicht die Rede. Ich habe schon selbst welche besorgt.“

„Davon hast du mir nichts gesagt!“, log ihre Mutter und legte die Blumen auf den halb fertig gedeckten Tisch. Sie zeigte auf die Blumen, die bereits in der Vase standen und sagte spöttisch: „Die sollen doch nicht da stehen bleiben, oder? Die passen doch farblich gar nicht zur Tischdecke.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm sie die Vase vom Tisch und brachte sie in die Küche. Kurz darauf kam sie mit einer anderen Vase zurück. Sie richtete ihren mitgebrachten Strauß an und stellte die Vase auf den Geburtstagstisch.

„So sieht es schon besser aus“, murmelte sie. Bettinas Blutdruck stieg merklich an. Erneut hatte ihre Mutter sie aus der Fassung gebracht, noch bevor sie ihren Mantel ausgezogen hatte.

„Was ist denn das da für ein schrecklicher Kaffeefleck auf dem Sofa?“, wollte ihre Mutter wissen, als sie sich setzten wollte. „Da setze ich mich nicht hin.“

Ihre Mutter war noch keine drei Minuten im Haus, aber es reichte schon, um Bettina zur Weißglut zu treiben. Jessica und Arne fiel es beim gemeinsamen Kaffeetrinken sofort auf, dass zwischen Bettina und ihrer Mutter mal wieder dicke Luft herrschte, aber sie ließen sich nichts anmerken. Bettina und ihre Mutter sprachen für den Rest des Tages kein einziges Wort mehr miteinander, bis ihre Mutter sich schließlich wieder verabschiedete.

Als ihre Mutter endlich weg war, begann Bettina, die Küche aufzuräumen. Jessica kam hinzu und ging ihr zur Hand.

„Danke für den schönen Geburtstag, Mama“, sagte Jessica, während sie ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange drückte. „Aber warum habt ihr denn einen Zitronenkochen gemacht? Wolltest du nicht einen Schokoladenkuchen backen?“

Bettina widerstand dem Verlangen, die Teller, die sie gerade in der Hand hielt, direkt an die Wand zu werfen. Sie legte die Teller stattdessen beiseite und nahm ihre Tochter in den Arm, ohne ein einziges Wort zu sagen. Sie drückte Jessica fest an sich, damit diese die Tränen in den Augen ihrer Mutter nicht bemerkte.

Kapitel 6

Donnerstag, 20. August 2020

Die Therapeutin eröffnete die Sitzung so, wie sie es immer tat: „Wie ist es Ihnen ergangen in den letzten zwei Wochen?“

„Die letzten Wochen waren okay. Ich habe viel Zeit mit meiner Tochter verbracht. Mich mit Freunden getroffen. Und ein paar Mal Tennis gespielt.“

„Hatten Sie Spaß am Tennis?“ Sie fragte es, weil Ben ihr schon mehrfach erzählt hatte, dass er den Spaß am Tennis verloren hätte. Dass er sich jedes Mal mühsam dazu aufraffen musste.

„Ich weiß nicht. Ich denke ja. Ja, ich glaub schon. Erst hatte ich keine Lust, aber als ich dann erstmal auf dem Platz stand, hat es doch Spaß gemacht.“

„Das ist gut. Wie sieht es mit dem Alkoholtrinken aus?“

Er überreichte ihr das Alkoholprotokoll der letzten zwei Wochen. Er hatte erneut die Hälfte weggelassen.

„Das ist schon deutlich weniger als zuletzt. Sie sind auf einem guten Weg.“ Sie schien zufrieden mit ihm.

„Wie läuft es zuhause?“

Im Zuge der bisherigen Sitzungen hatte seine Therapeutin mittlerweile jeden Stein in Bens Leben umgedreht. Der Auslöser für seine Therapie war sein Chef gewesen, aber sie hatte inzwischen erfahren, dass auch in Bens Beziehung einiges im Argen lag. Es wurde Ben selbst erst im Rahmen seiner Therapie bewusst. Nach und nach hatten seine Therapeutin und er seine private Situation aufgearbeitet. Es stellte sich heraus, dass es in seiner Beziehung mit Doro schon eine ganze Zeit kriselte. Ben war oftmals frustriert von der Arbeit nach Hause gekommen. Er hätte zuhause einen Ruhepol gebraucht. Eine Schulter, an die er sich hätte anlehnen können. Eine Partnerin, die ihm wieder Kraft geben würde. Aber diese Rolle hatte Doro nicht ausfüllen können. Im Gegenteil, er war irgendwann von ihrer bloßen Anwesenheit genervt gewesen. Hätte er zuhause Ruhe und Geborgenheit erfahren, hätte er den Bürostress besser abbauen und verarbeiten können. In einer kriselnden Beziehung hätte er sich wiederum in die Arbeit stürzen können, wenn, ja wenn die Arbeit ihm zumindest ansatzweise Freude bereitet hätte. Aber er hatte sich weder bei der Arbeit noch zuhause wohlgefühlt. Er war in einen Teufelskreis geraten. Es bedurfte mehrerer Therapiesitzungen, bis ihm das überhaupt klar geworden war.

„Nicht so gut. Ich überlege, mir eine eigene Wohnung zu suchen.“

„Wenn Ihnen das in Ihrer aktuellen Situation hilft, dann kann das eine gute Lösung sein.“

Ben war von der Reaktion seiner Therapeutin überrascht. Er hatte erwartet, dass sie ihm empfehlen würde, in seiner jetzigen schweren Lebensphase nichts zu überstürzen und keine unüberlegten Entscheidungen zu treffen. Aber sie hatte recht. Er musste den Teufelskreis durchbrechen, und wenn ein Auszug aus der gemeinsamen Wohnung ein geeignetes Mittel sein würde, dann sollte er es tun.

Die Therapeutin richtete den Fokus auf ein anderes Thema: „Haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht?“

„Ja, habe ich.“ Er öffnete seine Mappe und zog einen Zettel heraus. Seine Therapeutin hatte das letzte Mal angekündigt, dass sie heute über das Thema Emotionen sprechen würden. Ben hatte als Hausaufgabe, alle Emotionen, die ihm in den Sinn kamen, aufzuschreiben.

Er präsentierte seine Liste. Er hatte eine Handvoll Emotionen aufgeschrieben: Wut, Ärger, Freude, Liebe, Angst, Trauer, Enttäuschung. Seine Therapeutin bat ihn, darüber nachzudenken, wann er welche der Emotionen zuletzt verspürt hatte. Über die eigenen Emotionen zu sprechen, war Bestandteil des therapeutischen Prozesses.

„Hinter jeder Emotion steckt immer ein Bedürfnis“, erklärte sie. Sie überreichte ihm eine Liste.

„Schreiben Sie mal bis zum nächsten Mal für diese Emotionen hier auf, welches Bedürfnis Sie dahinter vermuten. Sie haben zum Beispiel Wut auf Ihre Liste geschrieben. Sie haben ja schon häufiger erzählt, dass Sie Ihrem Chef gegenüber Wut empfunden haben.“

Wut war tatsächlich das Gefühl, das in Ben aufkam, wenn er an seinen Chef dachte. Es hatte vor einigen Monaten eine Situation im Büro seines Chefs gegeben, da wäre Ben um ein Haar aufgestanden und hätte seinem Chef eins in die Fresse gehauen. Aber er hatte sich gerade noch beherrschen können.

Seine Therapeutin fuhr fort: „Was glauben Sie, welches Bedürfnis dahintersteckt, wenn Sie Wut verspüren?“

Ben dachte kurz nach und zuckte dann mit den Schultern.

Sie schob die Antwort hinterher: „Wut tritt immer auf im Fall einer Grenzverletzung. Wenn jemand die Grenzen überschreitet, innerhalb derer wir uns wohlfühlen, dann werden wir wütend. Wann immer Sie eine bestimmte Emotion verspüren, ganz gleich, ob es eine positive oder negative Emotion ist, dann fragen Sie sich, welches Bedürfnis dahintersteckt. Lassen Sie die Emotionen zu. Versuchen Sie nicht, sie zu ignorieren oder zu leugnen. Wenn Sie erst einmal wissen, welches Bedürfnis diese Emotion hervorruft, dann haben Sie auch ganz andere Handlungsoptionen. Es geht darum, die Achtsamkeit für Ihre eigenen Bedürfnisse zu erhöhen.“

Ben warf einen Blick auf die Liste, die sie ihm überreicht hatte. Er war überrascht, wie viele Emotionen es gab: Abneigung, Abscheu, Ärger, Aggression, Angst, Anteilnahme, Bedauern, Bedrückung, Begehren, Begeisterung, Beschwingtheit, Besorgnis, Betrübtheit, Beunruhigung, Bewunderung. Und er war erst beim Buchstaben B angelangt. Die Liste schien schier endlos zu sein. Ihm selbst waren lediglich sieben Emotionen eingefallen.

Kapitel 7

Dienstag, 25. August 2020

Ben freute sich auf seine Verabredung mit Bettina. Auch wenn er immer wieder Phasen hatte, in denen ihm sein Sport wenig Freude bereitete. Aber heute war es anders. Er war froh, dass Bettina ihn gefragt hatte. Er saß auf der Clubterrasse und wartete auf sie.

Der Club war gut besucht. Ben hatte einige Gesichter wiedererkannt, aber die meisten der Anwesenden waren ihm nach wie vor fremd. Namentlich kannte er keinen Einzigen von ihnen. Das würde sich vermutlich bald ändern, dachte er sich. In dem Moment sah er sie.

„Hi, na, alles klar?“, begrüßte Bettina ihn freundlich.

„Ja, bei dir auch?“

„Klar.“ Bettina sah, dass alle Tennisplätze belegt waren. „Haben wir einen Platz?“

„Ja, in fünfzehn Minuten.“

Bettina winkte kurz den anderen Clubmitgliedern zu, die es sich auf der Terrasse gemütlich gemacht hatten. Einige winkten zurück. „Okay, cool. Dann geh ich mich mal umziehen.“

„Ja, ich auch. Bis gleich.“

Bettina war ein kleines bisschen aufgeregt, als sie gemeinsam den Platz betraten, denn sie war sich nicht sicher, ob ihre Spielstärke für Ben ausreichen würde.

Ben öffnete eine neue Dose Bälle und überreichte ihr zwei davon. Die anderen beiden steckte er in seine Hosentasche. „So, dann wollen wir mal!“

Sie schlugen eine Stunde lang nur Bälle. Es war für Bettina eine gute Trainingseinheit, denn die schnellen und harten Schläge von Ben war sie von ihren eigenen Mannschaftskolleginnen nicht gewohnt. Auch Ben war zufrieden. Bettina spielte besser, als er es erwartet hatte, und sie konnte sein Tempo ganz gut mitgehen.

Nach einer Stunde mussten sie den Platz wieder verlassen, weil die nächsten Mitglieder schon darauf warteten, die beiden abzulösen. Die Zeit war wie im Flug vergangen.

„Danke, hat echt Spaß gemacht!“, sagte Bettina in Bens Richtung, während sie ihren Schläger in ihrer Tennistasche verstaute.

„Ja, stimmt“, gab Ben zurück und tat es ihr gleich. „Wollen wir noch was zusammen trinken?“

„Klar.“

„Was darf ich dir bringen?“, fragte Ben, als sie den Platz verließen.

„Eine Apfelsaftschorle, bitte.“

„Okay, ich besorg uns was.“

Kurz darauf kehrte Ben mit zwei Apfelsaftschorlen zurück. „Prost! Du hast gut gespielt.“

Bettina freute sich über das Lob. „Danke, ich musste mich erst an das Tempo gewöhnen, aber am Ende hat’s richtig Spaß gemacht. Prost!“

„Wie lange spielst du schon Tennis?“, wollte Ben wissen.

„Nächstes Jahr dreißig Jahre.“

„Dreißig Jahre? Wahnsinn!“

„Ja, ganz schön lang. Und du?“

Ben musste kurz überlegen. „Ich habe mit sechs angefangen. Als ich begonnen habe zu studieren, habe ich aber eine längere Pause gemacht. Jetzt spiel ich aber auch seit über zehn Jahren schon wieder.“

„Was hast du studiert?“

„Ich habe Wirtschaftswissenschaft in Hannover studiert. Nach meinem Studium hat es mich dann beruflich hierhergezogen. Das ist aber auch schon wieder elf Jahre her.“

„Was machst du denn?“

„Ich arbeite im Business Development, vor allem im Bereich digitale Geschäftsmodelle für eine große Firma in München. Aber ich bin fast ausschließlich im Home Office.“

„Okay, cool. Und, macht es Spaß?“

„Ja, im Prinzip schon.“ Ben überlegte, ob er Bettina von seinem angespannten Verhältnis zu seinem Chef erzählen sollte. Da sie ihm sympathisch war, entschied er sich dafür.

„Ich bin allerdings momentan krankgeschrieben.“ Er überließ es Bettina, ob sie seine Aussage hinnehmen oder weiter hinterfragen würde.

Sie tat letzteres: „Und wieso?“

„Wegen einer Burnout-Erkrankung. Ich habe ein ziemlich schlechtes Verhältnis zu meinem Chef. Letztlich ist er der Auslöser gewesen. Er ist ein ziemliches Arschloch. Inzwischen bin ich schon seit Monaten zuhause. Immerhin habe ich jetzt viel Zeit zum Tennis spielen.“

Bettina beschloss, bei diesem Thema erst einmal nicht weiter zu bohren. Dafür kannten sie sich noch nicht gut genug. Vielleicht würde sich in den nächsten Wochen die Gelegenheit dazu ergeben.

Stattdessen sagte sie zu ihm: „Das hat ja auch seine Vorteile. Nimmst du noch eine Apfelschorle?“

„Gerne.“

Diesmal stand Bettina auf und kehrte kurz darauf mit zwei neuen Flaschen zurück. Ben nahm ihr eine davon ab. „Merci. Prost!“

„Prost! Dann müsstest du jetzt Anfang vierzig sein, oder?“

„Fast, ich bin neununddreißig.“

„Wow, dann liegen ja sieben Jahre zwischen uns. Dafür habe ich aber ganz gut mitgehalten vorhin“, lachte Bettina.

„Wie, du bist zweiunddreißig?“, grinste Ben sie an.

„Nee, nee. Schön wär’s! Ich bin sechsundvierzig.”

„Okay. Was machst du denn beruflich, Bettina?“

„Ich bin an der Rezeption in einem Hotel in Burghausen. Und ich kann gut nachempfinden, was du vorhin über deinen Chef gesagt hast. Meiner ist auch nicht einfach.“

Ben wartete noch ein paar Sekunden, ob Bettina noch mehr preisgeben würde, aber sie machte keine Anstalten. Also beließ er es dabei und wechselte das Thema. „Kennst du die Leute alle hier?“ Er deutete mit seiner Flasche in Richtung der anderen Clubmitglieder.

„Ja, die kenne ich alle. Einige davon seit zwanzig Jahren. Die beiden Mädels da drüben spielen mit mir zusammen in der Mannschaft. Kennst du schon jemanden davon?“

„Nee, niemanden. Aber das wird sich sicherlich bald ändern.“

„Bestimmt. Die sind alle nett. Die würden bestimmt alle mit dir spielen, wenn du sie fragst.“

„Wir werden sehen“, antwortete Ben. Er stellte seine leere Flasche geräuschvoll auf dem Tisch ab. „Ich springe mal unter die Dusche. Hat mich gefreut, Bettina. Vielleicht können wir ja demnächst nochmal spielen. Deine Nummer habe ich ja jetzt.“

„Ja, gerne. Hat echt Spaß gemacht! Dann bis bald irgendwann!“

Nach dem Duschen fuhr Bettina zufrieden nach Hause. Sie war dankbar, dass sie den Ärger mit ihrer Mutter mal für eine Zeitlang vergessen hatte. Und Ben schien auch ganz nett zu sein.

Kapitel 8

Donnerstag, 3. September 2020

Ben wartete die Frage seiner Therapeutin gar nicht erst ab und erzählte direkt, wie seine letzten zwei Wochen verlaufen waren. Er überreichte ihr das wie immer getürkte Alkoholprotokoll und seine Hausaufgaben. Sie redeten noch eine Zeitlang über das Thema Emotionen, bevor seine Therapeutin den Fokus auf ein neues Thema lenkte.

„Für den Rest der heutigen Sitzung möchte ich mit Ihnen gern über das Thema Kommunikation sprechen.“

Ben hörte aufmerksam zu.

„Kommunikation kann auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Haben Sie eine Idee, welche das sein könnten?“

Ben wusste mit der Frage nichts anzufangen. „Nee, nicht so richtig. Was genau meinen Sie mit verschiedenen Ebenen?“

Sie begann zu erklären: „Bei jeder Kommunikation gibt es immer einen Sender und einen Empfänger. Und in der Regel bestimmt nicht der Sender die Botschaft, sondern der Empfänger. Weil jede Botschaft auf verschiedene Arten interpretiert werden kann.“

Ben nickte ihr kurz zu.

„Denken Sie mal an Ihren Chef“, fuhr sie fort. „Denken Sie an den letzten Disput mit ihm zurück. Versuchen Sie sich zu erinnern, was er Ihnen gesagt hat. Und wie er es Ihnen gesagt hat.“

Ben hasste es, wenn sie immer wieder in der Wunde herumbohrte. Aber genau das war ihr Job. Und den beherrschte sie gut.

Er erinnerte sich an seine letzte Auseinandersetzung mit seinem Chef und schilderte es seiner Therapeutin. Sie kannte seine Geschichte bereits, denn sie hatten vor einigen Wochen schon darüber gesprochen.

„Sie sind in diesem Fall der Empfänger der Botschaft Ihres Chefs gewesen. Ihr Chef war der Sender. Aber nicht immer ist die Botschafteindeutig. Der Empfänger hat immer einen gewissen Interpretationsspielraum. Oftmals erfolgt diese Interpretation unbewusst. In solchen Situationen ist es ratsam, sich bewusst zu machen, dass eine Botschaft auch anders interpretiert werden kann. Man kann eine Botschaft rein sachlich übermitteln. Es werden dann nur reine Fakten genannt. Man sagt, die Kommunikation findet auf der Sachebene statt. Dies ist in der Regel leicht zu erkennen. Oftmals werden Botschaften aber auch auf der Beziehungsebene übermittelt. In diesem Fall sind immer Emotionen mit im Spiel. Derartige Botschaften werden unterschwellig übermittelt, quasi zwischen den Zeilen. Dies ist schon weitaus schwieriger zu erkennen und häufig die Ursache für kommunikative Missverständnisse. Eine weitere Möglichkeit ist das Überbringen einer Botschaft auf der sogenannten Appellebene. Der Sender wünscht sich in diesem Fall eine bestimmte Handlung von seinem Gegenüber, ohne diese Aufforderung direkt auszusprechen. Wenn Ihr Chef Ihnen beispielsweise sagt, dass es sehr schade ist, dass Sie irgendeine Aufgabe nicht fristgerecht erledigt haben, dann fordert er von Ihnen zwischen den Zeilen, dass Sie es das nächste Mal besser machen sollen. Er richtet einen Appell an Sie. Aber eben indirekt. Und die letzte Möglichkeit, eine Nachricht zu übermitteln, ist über die sogenannte Selbstoffenbarungsebene. In diesem Fall sagt die Botschaft etwas über den Sender aus. Er offenbart damit etwas über sich selbst. Das kann Hilflosigkeit sein oder auch Arroganz.“

Während seine Therapeutin die verschiedenen Kommunikationsformen erklärte, visualisierte sie das Ganze auf einem Zettel, den sie Ben am Ende aushändigte. Sie reichte ihm einen weiteren Zettel, auf dem verschiedene Aussagen standen. Er bekam an diesem Tag die Hausaufgabe, diese Aussagen auf den unterschiedlichen Kommunikationsebenen zu interpretieren.

Ben hatte seiner Therapeutin in den letzten fünfzehn Minuten aufmerksam zugehört. Das Thema erschien ihm sehr interessant zu sein. Er freute sich sogar auf seine Hausaufgaben. Das war beileibe nicht immer so.

Kapitel 9

Mittwoch, 9. September 2020

Bettina trank einen Schluck aus ihrer Limo. Ihre Mannschaftskolleginnen taten es ihr gleich. Sie hatten ihr heutiges Training gerade hinter sich gebracht. So wie jeden Mittwoch. Heute waren sie zu sechst, und inzwischen saßen sie nach getaner Arbeit auf der Clubterrasse und schwatzten. Hin und wieder warfen sie einen Blick auf die anderen Mitglieder, die sich noch auf den Tennisplätzen verausgabten.

Alle Tennisplätze bis auf einen waren belegt. Auch Ben war da. Er hatte soeben sein Einzel mit seinem Freund Theo beendet. Sie waren gerade dabei, den Platz abzuziehen.

„Trinken wir noch einen?“, fragte Ben.

„Logisch, deshalb sind wir doch hier“, antwortete Theo mit einem leichten Augenzwinkern. Ganz sicher war Ben sich nicht, ob das wirklich ein Witz war. Er organisierte zwei Bier aus dem Clubhaus und reichte Theo seine Flasche.

„Also denn, prost!“

„Prost! Auf das, was wir lieben.“

Sie setzten sich an einen freien Tisch auf der Terrasse und genossen ihr kaltes Bier. Ben entdeckte Bettina am anderen Ende der Terrasse und winkte zu ihr rüber. Sie lächelte und winkte kurz zurück. Sie überlegte, ob sie aufstehen sollte, um ihn zu fragen, ob sie nochmal zusammen Tennis spielen wollten. Aber sie hatte ihn schon beim letzten Mal gefragt. Und er hatte zwar gesagt, dass es ihm Spaß gemacht hätte, aber Bettina war sich nicht sicher, ob das wirklich stimmte. Daher beschloss sie, ihn lieber nicht zu fragen, und wandte sich wieder ihren Freundinnen am Damen-Tisch zu. Die ersten waren schon dabei zu bezahlen und bereiteten sich langsam auf den Heimweg vor. Also bezahlte auch Bettina ihre zwei Limos und packte ihre Sachen zusammen.

Die Damen verabschiedeten sich für heute voneinander und gingen in unterschiedliche Richtungen davon. Bettina kam auf dem Weg zu ihrem Fahrrad an Theos und Bens Tisch vorbei. Sie blieb kurz stehen, um ein paar Worte mit ihnen zu wechseln.

„Hi, ihr beiden!“

„Hallo Bettina!“, antworteten Theo und Ben nahezu synchron und mussten beide darüber lachen.

„Du bist wohl auch jeden Tag hier, oder?“, sagte Theo zu Bettina.

„Jo, fast“, gab sie lächelnd zurück. Sie war tatsächlich fast jeden Tag hier, um Tennis zu spielen.

„Wenn du sowieso jeden Tag hier bist, dann kannst du ja auch nochmal mit mir spielen, oder?“, zwinkerte Ben ihr zu.

Bettina freute sich sichtlich über Bens Anfrage. „Klar, gerne. Nächste Woche irgendwann?“

„Ja, an welchen Tagen kannst du?“

„Muss ich gucken. Ich melde mich bei dir.“

„Okay, tu das. Bis dann.“

„Ja, bis dann. Ciao, ihr beiden. Schönen Abend noch für euch!“

„Ciao“, sagten die beiden Männer fast wieder synchron.

Theo leerte sein Bier und besorgte kommentarlos Nachschub, obwohl Bens Flasche noch halbvoll war.

„Wie läuft’s bei dir?“, fragte Theo schließlich, als er sich wieder hingesetzt hatte. Er kannte Bens Situation. Ben hatte ihn von Anfang an eingeweiht.

„Ganz okay. Ich plane bald wieder anzufangen zu arbeiten.“

„Okay. Ist dein Chef immer noch da?“

„Ja, der wird auch weiterhin mein Chef bleiben. Aber ich kann ja schlecht warten, bis der Idiot irgendwann mal unsere Firma verlässt. Irgendwann muss ich ja mal wieder anfangen. Mein Arzt hätte mich auch weiterhin krankgeschrieben, aber es war mein Wunsch, wieder anzufangen. Mir fällt zuhause wirklich langsam die Decke auf den Kopf.“

„Das hört sich doch gut an, dass du wieder Lust verspürst zu arbeiten. Das war vor ein paar Monaten noch ganz anders. Und es hilft auch, um wieder ein bisschen Struktur in den Tag zu bekommen. Damit du dich nicht jeden Tag nur besäufst.“

Theo grinste bei seinem letzten Satz. Er hatte es als Witz gemeint. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie richtig er damit lag.

„Es freut mich auf jeden Fall, dass es für dich bergauf geht. Hier im Club scheint es für dich ja auch zu laufen. Die Damen scheinen ja ganz verrückt nach dir zu sein.“ Wieder grinste er über das ganze Gesicht.

Ben nickte ihm nur lächelnd zu und leerte sein zweites Bier.

Keines von beiden tauchte am nächsten Tag in seinem Alkohol-Protokoll auf.

Kapitel 10

Montag, 14. September 2020

Als Ben die Anlage betrat, wartete Bettina bereits fertig umgezogen auf ihn.

„Da bist du ja. Hi!“

„Hallo Bettina! Du stehst ja schon in den Startlöchern.“

„Klar. Ich habe uns auf Platz 4 gehängt.“

„Alles klar, ich zieh mich schnell um.“

Sie betraten den Platz und schlugen sich erst langsam ein. Dann erhöhte Ben das Tempo und scheuchte Bettina ganz schön über den Platz. Sie gab im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles, um mit Ben mitzuhalten.

Als sie vor drei Wochen das erste Mal miteinander gespielt hatten, war Ben an Bettinas Technik einiges aufgefallen, das man verbessern könnte. Er gab ihr einen Tipp:

„Bettina, versuch mal, etwas früher auszuholen. Vor allem auf der Rückhand. Du bist immer einen Tick zu spät am Ball, und das geht zu Lasten der Kontrolle. Versuch auch, direkt vor dem Schlag einen Schritt nach vorn zu machen. Du machst eher einen Schritt nach hinten.“

„Nach vorne? Ich bin froh, dass ich deine schnellen Bälle überhaupt einigermaßen zurückbekomme.“

„Aber deine Rückhandbälle kommen kaum übers Netz. Die bekommst du, wenn es um Punkte geht, sofort um die Ohren gehauen. Versuch’s mal. Früher ausholen und einen Schritt in den Ball hinein.“

Bettina versuchte nach Kräften, Bens Tipps zu beherzigen, aber nie landete der Ball da, wo sie ihn hinhaben wollte. Nach wenigen Minuten fiel sie wieder zurück in ihr altes Muster. Ihre Rückhand mochte nicht technisch perfekt sein, aber immerhin bekam sie so den Ball übers Netz.

Nach Ablauf ihrer Stunde merkte Ben, dass Bettina ganz schön pumpte.

„Was ist los? Kannst du etwa nicht mehr?“, grinste er sie an.

„Nee. Aber das war super! Es hat wieder Riesenspaß gemacht! Danke.“

„Stimmt. Komm, wir ziehen den Platz ab und trinken noch was.“

Ben besorgte für Bettina eine Apfelsaftschorle und für sich ein Bier.

„Prost! Du hast wieder gut gespielt heute.“

„Danke, du auch. Prost!“

Ben kam nochmal auf Bettinas Rückhand zu sprechen. „Hast du einen Unterschied gemerkt, wenn du früher ausgeholt hast?“

„Ja“, log Bettina.

„Das ist gut. Versuch das ruhig mal beizubehalten, wenn du mit deinen Damen spielst. Die spielen ja auch nicht ganz so schnell. Da hast du denn einen Tick mehr Zeit.“

„Ja, ich werd’s mir merken.“

„Gut“. Ben zwinkerte ihr zu. „Ich gucke beim nächsten Mal ganz genau hin.“

Bettina lächelte und nahm einen Schluck aus ihrer Apfelschorle.

„Wie geht’s dir denn eigentlich?“, fragte sie.

„Na ja, es geht.“

Er hatte Bettina beim letzten Mal verraten, dass er wegen eines Burnouts derzeit nicht arbeiten konnte. Dass er zusätzlich unter Depressionen litt, in therapeutischer Behandlung war und ziemlich heftige Medikamente nahm, hatte er allerdings nicht erzählt. Und er tat es auch heute nicht. Auch nicht, dass es in seiner Beziehung kriselte und er gerade aktiv auf Wohnungssuche war. Er kannte Bettina noch nicht gut genug, um vor ihr einen kompletten Seelen-Striptease hinzulegen.

„Du hast mir beim letzten Mal erzählt, dass du krankgeschrieben bist.“

„Ja, wegen meines Chefs. Dieser Wichser!“

„Ja, ich weiß. Du hast gesagt, dass du einen Burnout hast. Was genau ist denn zwischen euch vorgefallen?“

„Es gab nicht dieses eine Ereignis. Wir kamen noch nie miteinander aus. Und irgendwann hat eine weitere Eskalation letztlich das Fass zum Überlaufen gebracht.“

„Was ist passiert?“

„Er hat mich in großer Runde rundgemacht. Obwohl ich gar nichts gemacht hatte. Eigentlich kann ich mit Kritik gut umgehen, und wenn ich Scheiße gebaut habe, stehe ich auch dazu. Aber in diesem Fall hat er mir die Schuld für etwas gegeben, das eigentlich in seinem Verantwortungsbereich lag. Aber wie gesagt, dieses eine Ereignis allein wäre wahrscheinlich kein großer Akt gewesen. Es war die Summe von zahlreichen solchen Begegnungen. Mir ging es zwischenzeitlich so schlecht, dass ich schon vor der Arbeit zwei Bier getrunken habe, um dieses Arschloch zu ertragen. Morgens um acht!“

„Hast du mal darüber nachgedacht, den Arbeitgeber zu wechseln? Vielleicht ist es woanders besser.“

„Ja, habe ich. Ich hatte auch zwei oder drei Bewerbungen geschrieben, aber daraus ist nichts geworden. Ich will aber auch nicht schon wieder umziehen müssen, zumal meine Tochter hier in die Grundschule geht.“

„Okay, das versteh ich.“

„Und demnächst will ich auch wieder anfangen zu arbeiten. Ich habe jetzt lange genug zuhause rumgesessen.“

Das überraschte Bettina. „Okay, wird der Typ denn weiterhin dein Chef bleiben? Kannst du dich nicht in eine andere Abteilung versetzen lassen oder so?“

„Schwierig. Das, was ich mache, ist schon ziemlich speziell.“

„Und dein Chef? Zieht es den vielleicht nochmal woanders hin?“

„Wenn es so wäre, wäre das wie ein Sechser im Lotto. Aber das glaub ich nicht. Der ist jetzt um die sechzig, da ist nicht zu erwarten, dass der sich nochmal irgendwohin entwickelt. Den werde ich jetzt bis zum Ende aushalten müssen.“

„Mmmh. Soll ich uns noch was zu trinken holen?“

„Ja, ich nehme noch ein Bier.“

„Okay, ich hol uns mal was.“

Kurz darauf kam Bettina mit den Getränken zurück.

„Hier, bitte. Ich kann mich übrigens gut in deine Lage versetzen. Ich habe auch so meine Herausforderungen.“

Ben nahm sein Bier entgegen. „Ja, ich kann mich erinnern. Du hast mir letztes Mal gesagt, dass dein Chef auch nicht einfach ist.“

Bettina schüttelte den Kopf. „Nee, einfach ist der sicher nicht. Aber das meinte ich gar nicht. Ich meinte meine Mutter.“

„Was ist mit deiner Mutter? Versteht ihr euch nicht?“

„Nicht besonders. Unser Verhältnis ist schwierig. Schon seit Jahren. Und vor Kurzem hatte ich mal wieder so ein Erlebnis der dritten Art mit ihr. Ihr kann man es auch nicht recht machen. Immer hat sie irgendwas zu meckern. An einem Tag gefällt ihr die Tischdecke nicht, am anderen Tag die Blumen auf dem Tisch, dann wieder schmeckt ihr mein Kuchen nicht, dann steht sie plötzlich unangemeldet vor der Tür und macht eine Riesenszene, wenn ich ihr dann sage, dass ich gerade keine Zeit habe…“

„Lebt sie allein?“

„Ja, schon seit Jahren. Mein Papa ist schon vor langer Zeit gestorben.“

Ben wusste nicht, was er in diesem Moment darauf antworten sollte. Daher sagte er einfach nur „okay“ und kam sich dabei ziemlich blöd vor.