3,99 €
Für Bernhard Biller, Vertreter der Boomer-Generation und als ehemaliger Versicherungs-Sachbearbeiter »Tier« seit Kurzem im Ruhestand, wandelt sich sein in Routine erstarrtes Dasein total, als an einem Dienstag im April um zehn Uhr fünfundzwanzig die Sache mit den Socken passiert.
Denn durch die Begegnung mit einer Unbekannten vor dem Kühlregal des heimischen Supermarktes beginnt für ihn eine Odyssee, in deren Verlauf er auf eine Reihe unterschiedlichster Menschen stößt – wodurch das bislang streng getaktete Leben des eingeschworenen »Muss ja«-Philosophen mehr und mehr aus den Fugen gerät …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ute Haese
Muss ja
oder
Quo vadis, Boomer?
Roman
Neuausgabe
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Claudia Westphal nach Motiven, 2025
Korrektorat: Bärenklau Exklusiv
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
www.baerenklauexklusiv.de / info.baerenklauexklusiv.de
Die Handlung dieser Geschichte ist frei erfunden sowie die Namen der Protagonisten und Firmen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.
Alle Rechte vorbehalten
Das Copyright auf den Text oder andere Medien und Illustrationen und Bilder erlaubt es KIs/AIs und allen damit in Verbindung stehenden Firmen und menschlichen Personen, welche KIs/AIs bereitstellen, trainieren oder damit weitere Texte oder Textteile in der Art, dem Ausdruck oder als Nachahmung erstellen, zeitlich und räumlich unbegrenzt nicht, diesen Text oder auch nur Teile davon als Vorlage zu nutzen, und damit auch nicht allen Firmen und menschlichen Personen, welche KIs/AIs nutzen, diesen Text oder Teile daraus für ihre Texte zu verwenden, um daraus neue, eigene Texte im Stil des ursprünglichen Autors oder ähnlich zu generieren. Es haften alle Firmen und menschlichen Personen, die mit dieser menschlichen Roman-Vorlage einen neuen Text über eine KI/AI in der Art des ursprünglichen Autors erzeugen, sowie alle Firmen, menschlichen Personen , welche KIs/AIs bereitstellen, trainieren um damit weitere Texte oder Textteile in der Art, dem Ausdruck oder als Nachahmung zu erstellen; das Copyright für diesen Impressumstext sowie artverwandte Abwandlungen davon liegt zeitlich und räumlich unbegrenzt bei Bärenklau Exklusiv. Hiermit untersagen wir ausdrücklich die Nutzung unserer Texte nach §44b Urheberrechtsgesetz Absatz 2 Satz 1 und behalten uns dieses Recht selbst vor. 13.07.2023
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Muss ja oder Quo vadis, Boomer?
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Kurz-Vita
Für Bernhard Biller, Vertreter der Boomer-Generation und als ehemaliger Versicherungs-Sachbearbeiter »Tier« seit Kurzem im Ruhestand, wandelt sich sein in Routine erstarrtes Dasein total, als an einem Dienstag im April um zehn Uhr fünfundzwanzig die Sache mit den Socken passiert.
Denn durch die Begegnung mit einer Unbekannten vor dem Kühlregal des heimischen Supermarktes beginnt für ihn eine Odyssee, in deren Verlauf er auf eine Reihe unterschiedlichster Menschen stößt – wodurch das bislang streng getaktete Leben des eingeschworenen »Muss ja«-Philosophen mehr und mehr aus den Fugen gerät …
***
Bernhard Biller war ein Mensch ohne Leidenschaften; ein Mensch, in dessen DNA die Vorsehung, der große Meister, die Schicksalsgöttin oder auch nur der Zufall ein unverwüstliches »Muss ja« einprogrammiert hatte. Klaglos hatte er all das getan, was man als funktionierendes Mitglied dieser Gesellschaft tun musste, um nicht unangenehm aufzufallen. Er hatte sich durch die Schule bis zum Abitur gequält, war anschließend durch ein Praktikum in die Versicherungsbranche hineingerutscht und hatte mit Ende zwanzig Hildegard Möller von schräg gegenüber geheiratet. Ihre Eltern kannten sich von gemeinsamen Rommé-Abenden, und Bernhard und Hildegard hatten bereits in der Sandkiste zusammen gespielt – sie war drei Monate älter als er und hatte ihm eines Tages aus heiterem Himmel mit voller Wucht die Plastikschaufel über den Schädel gezogen. Da waren sie fünf gewesen. Es hatte weh getan, aber eigentlich war er mehr über die Rohheit der Tat verstört gewesen als über den Schmerz, der schnell wieder abgeklungen war. Seitdem hatte er ein bisschen Angst vor ihr, auch wenn er das niemals, nicht einmal vor sich selbst, zugegeben hätte. Nach der Hochzeit zogen sie in sein Elternhaus, weil es einfach praktisch war und ihre Geldbeutel nicht allzu sehr belastete. Das junge Paar wohnte anfangs unten, die Alten oben. Als es mit der Treppe nicht mehr ging, tauschte man. Und als Bernhards Eltern rasch hintereinander starben, kam man ohne große Diskussion überein, dass Hildegards verwitwete Mutter ihr Haus aufgab und zu ihnen in die untere Etage zog.
Nachwuchs hatten sie keinen. Es hatte sich einfach nicht ergeben, und sie hatten auch nie darüber gesprochen. Was ihn betraf, betrachtete er Kinder als Quälgeister, die nichts von strukturierten Tagesabläufen hielten. Hildegard schien das ähnlich zu sehen, wofür er ihr dankbar war.
Vierzig Jahre lang stand Bernhard morgens um halb sieben auf, trank zwei Tassen Kaffee – schwarz und im Stehen –, aß dazu zwei Scheiben Brot – eine mit Honig, die andere mit roter Marmelade –, stieg anschließend zwei Straßen weiter in die S-Bahn, um pünktlich sechs Minuten vor acht das Foyer der SecSuperPlus(SSP), vormals Securitas 2000, zu betreten. Nachdem er im Winter seinen Mantel, im Sommer eine leichte Joppe und in der Übergangszeit eine gefütterte Jacke ausgezogen, das Kleidungsstück sorgfältig über den Bügel gehängt und im dafür vorgesehenen Schrank seines Büros verstaut hatte, versenkte er sich bis Punkt halb eins in seine tierischen Schadensfälle, die die Chefetage ihm vor elfeinhalb Jahren aufgedrückt hatte, nahm anschließend in der Kantine bis zehn vor eins eines der Hauptgerichte ohne Nachtisch zu sich, genehmigte sich um halb drei in seinem Büro eine Tasse Kaffee – weiß –, fuhr um halb fünf den Computer herunter, zog je nach Jahreszeit Mantel oder eine der Jacken über, eilte zur S-Bahn-Station und schloss um fünf Minuten nach fünf die Haustür auf, um seine auf der Diele wartende Frau mit einem Kuss auf die rechte Wange zu begrüßen. Hildegard arbeitete seit fünfunddreißig Jahren halbtags in der Bäckerei fünf Straßen weiter und war deshalb stets vor ihm zu Hause. Um achtzehn Uhr aß man gemeinsam zu Abend, tauschte sich dabei über den Tag aus und schaute in den dunklen Monaten fern. Hildegard liebte die Tierfilme der BBC und Roland Kaiser, Bernhards Herz schlug für Quizsendungen und Actionfilme, in denen es ordentlich krachte und etwas auf die Mütze gab. Im Sommer pusselte Hildegard abends oft im Garten, während Bernhard die Zeitung las und sowohl das Weltgeschehen als auch die Lokalpolitik mit Seufzern unterschiedlicher Couleur kommentierte. Am Samstagabend besuchten sie ihre zwei Häuser weiter wohnenden Nachbarn Edith und Heiner. Man spielte Rommé. Den Sonntagnachmittag verbrachte jeder für sich, denn ein gewisser Freiraum hatte einer Ehe noch nie geschadet. Da war man sich einig. Hildegard traf sich mit Freundinnen oder ging ins Kino, Bernhard unternahm bei gutem Wetter einen Spaziergang, bevor er sich mit gemäßigter Hingabe seiner Eisenbahn widmete. Bei Regen begann er den Nachmittag mit zehn Kniebeugen.
Darüber war er Mitte sechzig geworden. Bernhard Biller befand sich seit drei Wochen und vier Tagen im Ruhestand, als im Supermarkt an einem Dienstag im April um zehn Uhr fünfundzwanzig die Sache mit den Socken passierte.
»Hundert Wasser?«, sagte die Frau fragend und schenkte ihm dabei einen Blick, der nicht nur die veganen Burger im Kühlregal hinter ihm ausschloss, sondern auch die Früchtejoghurt einsortierende Fachkraft schräg unten an seinem Knie. Sie hatte grüne Augen wie die aus dem letzten Frühling stammende Katze der Schmidkes von schräg links gegenüber.
»Wie bitte?«, fragte er verdutzt zurück.
Die Frau kam ihm keineswegs verrückt vor. Etwas überkandidelt vielleicht unter ihrem Leoparden-Hut samt dem dazugehörigen Leo-Schal, aber die Pupillen waren trotz des leichten Silberblicks klar und wirkten tatsächlich so, als wisse sie, was sie da von sich gab. Er wusste es nicht. Wovon zum Teufel sprach diese Person? Bernhard hatte sich seit seiner Verrentung erst zweimal allein zum Einkaufen gewagt, und da war alles höchst normal verlaufen. Niemand hatte ihn angesprochen; nur ein junges Mädchen hatte ihm letzte Woche – es war am Donnerstag-Vormittag so gegen elf gewesen – ihren Einkaufswagen in die Hacken gerammt, weil sie so starr und konzentriert auf ihr Smartphone schaute, als spräche der Messias höchstpersönlich zu ihr aus dem Gerät. Nicht einmal entschuldigt hatte sie sich, als er mit einem leisen Wehlaut und einem Ausfallschritt eilends seine Hacken vor weiteren Attacken in Sicherheit gebracht hatte. Na ja, er hatte auch nichts anderes erwartet. In der Raucherecke der Securitas – für ihn blieb sie das, obwohl der alte Name mittlerweile seit über zwanzig Jahre nicht mehr galt – starrten Alt und Jung auch immer auf ihre Handys: in der Linken die Zigarette, in der Rechten das Smartphone. Niemand sprach, wenn er aus seinem Bürofenster auf die gebeugten Köpfe unter sich hinabsah. Oh ja, Bernhard wusste genau, wessen Haar sich lichtete, wer färbte und wer nicht. Und wer diesbezüglich flunkerte und wer nicht. Nur einmal hätte er der Versuchung fast nachgegeben, sein Wissen als Waffe zu benutzen. Als das schreckliche Füllgraf-Weib aus der Haftpflicht ihn beschuldigte –
»Hundert Wasser!«, wiederholte die Frau vor ihm nun ungeduldig angesichts Bernhards offensichtlicher Begriffsstutzigkeit und ließ ihren Silberblick dabei bedeutungsvoll zu seinen Füßen wandern, die wie stets ab dem 1. April jeden Jahres in Socken und Sandalen steckten. Sie war wohl doch nicht ganz bei Trost, entschied er und gab sich einen Ruck.
»Nein, nein, Käse soll es sein«, raunte er mit samtweicher Stimme, um sie nicht weiter aufzuregen, während er unwillkürlich ihrem Blick folgte.
Und da sah er es.
Hildegard hatte ihm wie jeden Dienstag- und Freitagmorgen frische Socken auf das Rattanregal neben der Dusche gelegt. Und während er dem ungewohnten Gedanken nachhing, was es für ihn heute in Haus und Garten zu tun gäbe, hatte er das Knäuel automatisch auseinandergepult, sodann wie jeden Morgen die Zehenzwischenräume mit erhöhter Sorgfalt – »Fußpilz, Bernhard, wie oft soll ich dir das noch sagen!«, hörte er seine Mutter immer noch durch die Badezimmertür keifen – ein zweites Mal mit dem Handtuch trocken getupft, um anschließend die Socken, ohne ihnen weiter Beachtung zu schenken, überzuziehen. Das war ein Fehler gewesen. Denn sein linker Fuß steckte in einer schwarzen Socke, während seinen rechten Fuß ein blau-weiß geringeltes Exemplar schmückte.
Du lieber Himmel! Bernhard ächzte vor Entsetzten laut auf und ruderte mit der Hand Halt suchend Richtung Kühlregalgriff. Das war noch nie passiert! Hildegard war ein genauso zuverlässiger Mensch wie er selbst. Aber im letzten Winter hatte seine Frau das Stricken angefangen, und seitdem waren weder Hals noch Fuß, ja eigentlich keines aller nur denkbaren Körperteile mehr vor ihren Nadelkünsten sicher. Das blau-weiß geringelte Paar hatte sie ihm zum letzten Weihnachtsfest mit den Worten überreicht: »Etwas mehr Farbe steht dir gut, Bernhard«. Er hatte es in der sandalenlastigen Sommerzeit lediglich einmal im Dienst getragen und vor Scham die Zehen gekrümmt, als die junge Frau Biebensack aus der Rechtsschutz unerwartet sein Büro betreten hatte und ihr Blick an seinen Füßen hängengeblieben war. Ihren ebenso fassungslosen wie amüsierten Gesichtsausdruck würde er nie vergessen. Am Abend hatte er die Ringelsocken ganz hinten in der Schublade verstaut. Und jetzt waren sie wieder da. Zumindest eine von ihnen.
»Geht’s denn?« Die Leo-Frau musterte ihn besorgt, während eine sonore Männerstimme aus dem Lautsprecher plärrte. Er verstand kein Wort.
Bernhard nickte verkrampft, obwohl es eigentlich nicht ging.
»Friedensreich Hundertwasser«, bemerkte sein Gegenüber jetzt überdeutlich mit energischer Stimme. »Der Mann war ein begnadeter Maler, ach was rede ich denn da, er war ein begnadeter Künstler.«
»Ah.«
Bei ihr war wohl doch eine Schraube locker.
»Sie sind anderer Meinung?« Es war ein rhetorischer Einwurf, denn ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Hundertwasser konfrontierte die Welt nämlich mit der Frage, ob ein Mensch stets und ständig zwei gleiche Socken tragen müsse. Genial, nicht? Denn wo steht das geschrieben? In der Bibel? Auf dem Stein von Rosetta? Im Koran? Nein, nirgends. Man nimmt es einfach an, und alle halten sich daran wie Schafe. Das ist doch verrückt.«
»War der nicht selbst auch ein bisschen verrückt?«, entfuhr es Bernhard, während ihm der Schweiß ausbrach. Es war das Einzige, was er an Informationen mit dem Künstler verband. Und das entsprang auch nur der vagen Erinnerung an einen Kurzbericht aus den Lokalmeldungen im Dritten Programm.
Prompt merkelten ihre Mundwinkel. Ihr war das »auch« offenbar nicht entgangen.
»Verrückt, wie Sie es nennen, war er vielleicht ein bisschen, ja«, meinte sie spitz, »aber in erster Linie würde ich es philosophisch nennen. Sie malen nicht?«
Bernhards Hand umklammerte den Griff des Kühlregals unwillkürlich noch etwas fester. An seinem Knie stieß die Früchtejoghurt-Fachfrau einen erstickten Laut aus, den man für Husten, aber auch für ein erheitertes Prusten halten konnte. Ihre massigen Schultern bebten, sodass der Schriftzug der Lebensmittelkette auf ihrem Rücken ein wellenartiges Eigenleben entwickelte.
»Nein«, sagte er. Dann stotterte er weiter, völlig überfordert von dieser abstrusen Situation: »Ich will … äh … eigentlich nur Käse kaufen. Fürs Abendbrot. Scheiblettenkäse, um genau zu sein. Meine Frau mag den.« Bernhard spürte deutlich, dass er an seine Grenzen kam. Er war einfach mehr der Zahlen- und Faktentyp. War er schon in der Schule gewesen. Handfest und eindeutig musste es sein. Gedichte und mehr noch ihre Interpretationen waren ihm stets ein Graus gewesen. Wenn er da mal auf eine Dreiminus kam, war das schon gut. Und den Kunstunterricht hatte er – tatsächlich wie ein Schaf – lediglich über sich ergehen lassen.
Sein Gegenüber nickte wissend. Dabei wippte der Leo-Hut so heftig, dass sich eine Locke löste. War sie grau-blond? Oder blond-grau? Bernhard hätte es nicht sagen können; ihm fehlte die Perspektive aus seinem Bürofenster.
»Und Sie als braver Ehemann tun natürlich immer, was Ihre Frau Ihnen aufträgt.« Ihr Tonfall war dermaßen neutral, dass selbst er den Spott heraushörte.
»Oh, oh«, erklang es leise an seinem Knie. Es konnte aber auch Einbildung sein.
»Nein«, entgegnete Bernhard nach ein bis fünf Schrecksekunden mit erhobener Stimme. »Natürlich nicht. Also manchmal selbstverständlich schon. Das lässt sich ja nicht vermeiden. In einer Ehe muss man Kompromisse eingehen«, setzte er geschwollen hinzu. Du liebe Güte, was redete er denn da! Und das auch noch mit einer völlig Fremden. Der Zustand seiner Ehe ging nun wirklich niemanden etwas an. Zustand? Was denn überhaupt für ein »Zustand«? Das klang ja nach einem Halskatarrh. Hildegard und er befanden sich in keinem wie auch immer gearteten »Zustand«! Sie waren seit fünf-, nein, Moment, seit sechsunddreißig Jahren verheiratet. Und ihr Hochzeitstag war am … herrjeh, am … Sein Herz pochte. Den hatte er doch noch nie vergessen. Selbstverständlich nicht aus romantischen Gründen, sie waren schließlich erwachsene Menschen, sondern weil Zahlen sein Ding waren. Ha, zweiundzwanzig zwölf! Jedes Jahr am 22. Dezember, genau, weil es dann mit Weihnachten ein Aufwasch war, hatten Hildegards und seine Mutter damals in schönster Eintracht gemeint. Er musste wirklich ziemlich von der Rolle sein, um das zu vergessen.
In diesem Moment hüstelte die Joghurt-Fachfrau dezent. Dann entwich ihr erneut ein Geräusch, das einem Heiterkeitsausbruch sehr nahe kam. Bernhard strafte sie mit Nicht-Beachtung.
»Ja, da haben Sie wohl recht«, stimmte die Leo-Dame ihm zu seiner Überraschung zu. »Mögen Sie dieses geschmacklose Zeug denn, das den Namen Käse nicht verdient?«
Bernhard zuckte hilflos mit den Schultern. Da stand er hier an einem ganz gewöhnlichen Dienstagvormittag im Supermarkt vor dem Kühlregal und besprach mit einer Fremden Sachen, die erstens bekloppt waren und sie zweitens überhaupt nichts angingen. Das war doch entschieden nicht normal.
»Nein, eigentlich nicht«, gab er trotzdem ebenso ehrlich wie erstaunt zu. »Also, nicht so sehr.« Seit wann war das denn so? Damals als Kind hatte er ihn auf Toast Hawaii jedenfalls immer ganz gern gegessen. Seine Mutter hatte das Gericht geliebt und den Toast für den Inbegriff des Exotischen gehalten, während sein Vater … Nein, das war nichts für den Oberamtmann Friedemann Biller. Aus heiterem Himmel erinnerten die allabendlichen Scheibletten auf Graubrot seinen Sohn plötzlich eher an Kitt: Zweifellos bestens geeignet zum Abdichten zugiger Fenster, aber keinesfalls etwas für den menschlichen Magen; allein schon wegen des unverwechselbaren Geruchs der feuchten Klebmasse. Fast hätte Bernhard gelacht über seinen verwegenen Gedanken.
»Haben Sie denn anderen Käse schon einmal probiert?«, bohrte diese penetrante Frau unerbittlich weiter. »Einen Roquefort mit einer saftigen Birne vielleicht?«
Sie schloss die Augen und schmeckte sichtbar in sich hinein, denn plötzlich nahm Bernhard auf ihren Zügen eine Sinnlichkeit wahr, die ihn zusammenzucken und automatisch einen halben Schritt zurücktreten ließ, wobei er prompt die Supermarktbedienstete anrempelte.
»Verzeihung«, entschuldigte er sich in Richtung Boden. Seine Eltern hatten ihm schließlich noch Manieren beigebracht.
»Keine Ursache. Und Roquefort schmeckt wirklich lecker«, behauptete die Joghurtfachfrau zu seinen Knien. »Da stimme ich der Kundin gern zu. Das ist ein Schimmelkäse aus Frankreich. Wussten Sie das?«
»Nein«, musste Bernhard zugeben.
Die Leo-Dame öffnete die Augen.
»Mit der saftigen frischen Birne wird das natürlich nichts zu dieser Jahreszeit. Es ist bekanntlich April, und ich weigere mich, diese beinharten Kugeln aus Neuseeland oder Südafrika zu kaufen, die zwar den Namen Obst tragen, ihn aber keineswegs verdienen. Denn das taugt zwar dazu, Scheiben einzuschmeißen, aber auf meinen Teller kommt mir so etwas nicht.« Sie überlegte, während Bernhard sie anstarrte wie eine Erscheinung aus den unendlichen Weiten des Alls. »Aber gefroren? Oder aus der Dose?«
»Aus der Dose«, mischte sich die andere Roquefortliebhaberin eifrig von unten ein.
»Gut«, stimmte die Leo-Dame ihr zu. »Da soll man nicht päpstlicher sein als der Papst, finde ich. Wir können ja nicht bis zum Herbst warten. Bis dahin ist die Erde vielleicht schon untergegangen – mitsamt sämtlichen Birnen dieser Welt, egal ob hart oder weich. Also Dose? Was meinen Sie?«, wandte sie sich an Bernhard.
Er zuckte erneut hilflos mit den Schultern. So ähnlich musste es sich anfühlen, wenn eine Flutwelle über einen hereinbrach und man nur noch mit Armen und Beinen rudern und nach Luft japsen konnte.
»Gut«, sagte sie erneut, als habe er tatsächlich etwas von sich gegeben, hob ihre Rechte und pikste mit dem Zeigefinger in seine Richtung. Drei Zentimeter vor dem Kontakt mit seiner Brust verharrte er. »Hören Sie, damit das klar ist: Ich leiste zwar gern kulinarische Entwicklungshilfe, aber damit hört der Spaß auch auf, verstanden. Also keine Fisimatenten, wenn ich bitten darf.«
»Nur Käse«, entgegnete Bernhard schlagfertig und war über sich selbst überrascht. »Und natürlich Birne. Verstanden.«
Sie beäugte ihn misstrauisch.
»Genau. Und Sie können Ihre Frau gern mitbringen, wenn Sie möchten.«
»Nein«, lehnte Bernhard schnell ab. »Danke. Das … äh … ist nichts für sie. Glaube ich. Nein, eigentlich bin ich mir da ganz sicher«, setzte er eilig hinzu.
Über das Gesicht der Leo-Frau huschte ein wissendes Lächeln. Sie hatte mittig eine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen. »Na, wie Sie meinen. Das dachte ich mir. Scheiblettenkäsefans sind schon seltsame Leute. Oder sollte ich eher ›spezielle‹ sagen? Ich halte mich ja für grundsätzlich offen und tolerant, aber irgendwo hört der Spaß auf.« Und das war aus ihrer Sicht noch höflich formuliert, da war Bernhard sich sehr sicher. Er hatte gar nicht gewusst, dass die simple Frage nach dem angemessenen und richtigen Käse offenbar in den letzten Jahren zu einem weltanschaulichen Streitpunkt mutiert war. Also hatte dieser launige Kochsendungsmoderator von letzter Woche doch den Nagel auf den Kopf getroffen, als er mit markiger Stimme verkündete: »Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist.« Hildegard und er hatten sich über den Mann lustig gemacht. Fast hätte er angesichts seiner Überlegungen die nächste Bemerkung der Leo-Dame verpasst.
»Die Ringelsocken stehen Ihnen«, bemerkte sie ohne jeden spöttischen Beiklang. »Wirklich, oder?« Das galt der Früchetjoghurtfachkraft zu seinen Knien.
»Und wie!«, meinte die, ohne hochzublicken.
»Die mischen das Ganze ein bisschen auf. Und ich wohne gleich um die Ecke. Von-der-Tann-Straße 25. Dritte Etage. Heute Nachmittag um sechzehn Uhr?«
Er brummelte etwas Unverständliches.
Fragend schaute sie ihn an. Doch sein Mund war mittlerweile so trocken, dass er nur noch krächzen konnte:
»Ihr Name? Äh … bitte.«
»Oh natürlich, Entschuldigung. Ich bin Hanne Wiedmann.«
*
Selbstverständlich würde er nicht hingehen. Das kam überhaupt nicht infrage. Weil es erstens lächerlich war und sich zweitens nicht gehörte. Er war ein Mensch, der sein Ehegelöbnis ernst nahm, das war er stets gewesen. Denn auch wenn es in diesem Fall lediglich um die Erweiterung seines kulinarischen Horizonts ging, war sie doch eine Frau und er ein Mann. Punkt. Da brauchte man nicht stundenlang Roland Kaiser zu hören, um zu wissen, was sich daraus ergeben könnte. Nein, ergab, Bernhard, ergab, musste es selbstverständlich heißen, korrigierte er sich, während er raschen Schrittes den Supermarktparkplatz und die Bundesstraße querte, die ihn ins Dellenheimer Zentrum führte, um sodann rechter Hand in das Gartenviertel und damit nach Hause und in die Sicherheit seines Eigenheims zu eilen. Im billerschen Kosmos existierten keine platonischen Freundschaften zwischen Männern und Frauen. Da ging es über kurz oder lang »zur Sache«, wie seine Schwiegermutter eine Liebschaft zu nennen pflegte. Und an noch so eine Lebensweisheit von Hildegards Mutter erinnerte Bernhard sich plötzlich wieder in aller Deutlichkeit: »Ja, ja, Gelegenheit macht Diebe«, hatte die alte Frau stets mit erhobenem Zeigefinger geweisheitet, wenn er etwa vergessen hatte, die Gartentür abzuschließen. Oder wenn Hildegard sich über Jugendliche beklagte, die im Bäckerladen klauten. Und ganz genau so war es. Nein, Bernhard hatte weder vor, sein Leben als Einbrecher noch als Ehebrecher zu beschließen. Da konnte die Dame mit einer ganzen Käseplatte locken, er würde widerstehen!
Hildegard erwartete ihn bereits, als er mit seiner Einkaufstasche an den wie Zinnsoldaten ausgerichteten Häusern des Storchenwegs – die Siedlung war Anfang der fünfziger Jahre gebaut worden, als es um schieren Wohnraum ging und das Wort Komfort ein Fremdwort war – entlanghastete und in die Auffahrt einbog. Seine Frau hatte am Küchenfenster gestanden und ihm mit ihrem Nörgel-Gesicht entgegengeschaut; jetzt öffnete sie ihm die Tür.
»Himmelherrgott, wo bleibst du denn?«, begrüßte sie ihn ungeduldig. »Du solltest doch nur fünf Teile einkaufen. Das kann nun wirklich nicht so lange dauern.«
Sie hatte schon heute Morgen schlechte Laune gehabt.
»Ich musste die Sachen erst einmal suchen. Ich kenne mich im Supermarkt ja noch nicht so aus wie du«, erinnerte er sie milde, weil höchst zufrieden mit seinem unumstößlichen Entschluss.
Als Antwort schmetterte sie hinter ihm die Haustür ins Schloss, dass die Zarge zitterte. Sie trug ihren alten Rock, den sie nur noch zum Kochen anzog. Er hatte vorn über dem linken Knie ein Loch, und der Bund war ausgeleiert. Merkwürdig, das war ihm noch nie aufgefallen.
»Kann der nicht mal weg?«, entfuhr es ihm wider besseres Wissen.
Hildegard starrte ihn so entgeistert an, als habe er sich gewünscht, sie solle in Zukunft nackt um den Herd tanzen.
»Nein«, beschied sie ihn barsch, als sich ihre Wangen-, Kinn- und Stirnmuskeln wieder entkrampft und in ihre Alltagsgesicht-Stellung gerutscht waren. »Kann er nicht.«
»Aha.« Bernhard marschierte in die Küche und packte die Tüte aus. Aus langjähriger Eheerfahrung wusste er genau, wann es besser war, den Mund zu halten. Dies war so ein Fall. Beim Scheiblettenkäse verharrte er jedoch und linste unter gesenkten Lidern verstohlen zu seiner Frau hinüber.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«
»Magst du den eigentlich?« Sein Tonfall war bedächtig und keinesfalls aggressiv. Darauf achtete er.
»Den Käse?« Jetzt war sie sichtlich irritiert.
»Ja, diesen Käse.«
»Doch, ich glaube schon. Den essen wir schließlich immer.«
»Ich würde gern mal einen anderen probieren.«
Eine Weile war es vollkommen still in der Küche; fast so, als sei die Welt erstarrt und die Zeit stehengeblieben. Denn nicht einmal die Uhr tickte, weil Bernhard vergessen hatte, die Batterie zu wechseln. Es war keine einträchtige Stille zwischen zwei Menschen, die sich verstanden, nein, es lag eine leichte Spannung in der Luft. Bernhard atmete tief ein.
»Was denn für einen?«, erkundigte sich Hildegard, die soeben erworbene Mehltüte wurfbereit in der Hand wie einen Ziegelstein, so vorsichtig, als beträte sie damit ein Minenfeld. Bernhard atmete zischend aus, was sich wie eine kaputte Hydrauliktür anhörte.
»Ich weiß nicht. Einfach mal einen anderen eben. Jetzt, wo ich im Ruhestand bin und du doch auch nur noch ein paar Stunden an manchen Tagen arbeitest, könnten wir uns durch das Angebot der Käsetheke essen und jeden Tag etwas Neues probieren. Roquefort zum Beispiel.« Der Name des Käses war ihm ohne sein Zutun herausgerutscht.
Hildegard bedachte ihn mit einem Blick, als sei ihm ganz plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen.
»Wie kommst du denn ausgerechnet auf Roquefort?«
Das war der Moment, in dem er hätte beichten müssen. Mit einem ebenso entspannten wie souveränen Lachen hätte er ihr von seiner Begegnung mit Hanne Wiedmann und deren Einladung erzählen sollen. Hildegard hätte mitgelacht, und damit wäre das Thema vom Tisch gewesen. Stattdessen deutete er auf seine Füße.
»Guck mal. Da ist wohl heute Morgen etwas gründlichst schiefgelaufen.« Sein Tonfall war angemessen vorwurfsvoll, doch zu seinem Erstaunen fing Hildegard nach einem Blick auf seine Socken schallend und erleichtert an loszuprusten.
»Mein armer Bernhard«, gluckste sie. »Das ist also der Grund.«
»Grund? Für was?«
Hildegard lachte noch immer, was ihn ungemein irritierte. Nichts war offenbar im Ruhestand, wie es stets gewesen war, denn normalerweise hätte sich seine Frau über ihre Nachlässigkeit geärgert und es keinesfalls erheiternd gefunden, wenn sie in ihrer Funktion als Hausfrau und Ehegattin versagte!
»Du bist so anders heute«, behauptete sie jetzt auch noch. »Aber die Sache mit den Socken erklärt das natürlich. Das bringt dich ganz durcheinander, nicht? Es tut mir leid, ich war da wohl abgelenkt. Ich suche dir rasch die zweite schwarze heraus.«
»Ich will aber lieber die Ringelsocken anhaben«, hörte er sich so bockig wie ein Fünfjähriger protestieren, dem eine böse Tante droht, das Eis wegzunehmen, weil er nicht artig »Dankeschön« gesagt hat.
Jetzt war sie ehrlich schockiert. Er sah es an dem kaum wahrnehmbaren Zucken ihres rechten Augenlids.
»Geht es dir auch gut, Bernhard?« Sie klang so besorgt wie die Leo-Dame vor dem Kühlregal. Hanne Wiedmann. So hatte sie geheißen.
»Danke. Es geht mir ausgezeichnet. Deshalb ist mir ja heute auch nach Ringelsocken«, setzte er eilig hinzu. Dass ihm ebenfalls nach Roquefort mit Birne war, verschwieg er.
*
Nach dem Mittagessen teilte er Hildegard mit, dass er beabsichtigte, bei diesem schönen Wetter einen ausgedehnten Spaziergang zu unternehmen. Er wisse nicht, wann er zurückkäme, erklärte er ihr wie nebenbei, dabei mit gesenkten Augen die Serviette zusammenfaltend, um sie anschließend sorgfältig neben dem Teller zu deponieren. Das hänge nicht vom Wetter ab, er werde sicherheitshalber einen Schirm mitnehmen, denn er wolle einfach draufloslaufen und die neue Freiheit genießen. Das sei schließlich nicht ungewöhnlich für einen frischgebackenen Rentner, oder? Das machten ja viele so; mehr oder weniger ziellos in der Gegend herumzuspazieren und dabei dieses ungewohnte Gefühl der Zwanglosigkeit zu genießen. Und der Gesundheit zuträglich sei es ohne Zweifel ebenfalls. Hildegard stimmte ihm zu. Aber zum Abendbrot sei er doch wohl wieder zurück, meinte sie dann. Das wisse er noch nicht, erwiderte Bernhard wahrheitsgemäß, während ihn das unangenehme Gefühl beschlich, dass seine Frau – entgegen seinen Befürchtungen – über seine Ankündigung gar nicht so schockiert war, wie er es eigentlich erwartet hatte.
»Ist gut«, sagte sie nur gleichmütig, in Gedanken sicht- und hörbar bereits im Garten. Bernhard fühlte sich durch ihr kaum verbrämtes Desinteresse an seinem neuen Leben unerwartet tief getroffen. Kopfschüttelnd schaute er ihr hinterher, als sie mit den beiden leeren Tellern in der Küche verschwand. Sie würde die Spülmaschine einräumen und sich dann, ohne noch einmal zurückzukommen, umziehen und in den Garten eilen. Das machte sie immer so, seit sie nur noch stundenweise und spaßeshalber, wie sie es nannte, in der Bäckerei arbeitete. Heute störte es ihn. Und zwar gewaltig.
Als er Hildegard daher kniend vor dem Rhododendronbusch erblickte, nahmen seine Füße ohne sein Zutun Kurs auf die Treppe, die hinauf ins obere Stockwerk zum Schlafzimmer führte, und trugen seinen Körper hinauf. Er musste frische Wäsche anziehen, denn man wusste ja nie, ob man nicht bei so einem Spaziergang unter die Räder kam und im Krankenhaus landete. Und dass zu allem Unglück auch noch mit einer Unterhose, die nicht blütenrein war. So hatte seine Mutter stets argumentiert, wenn er als Kind und Jugendlicher aus seinen Klamotten geschält werden musste. Mutti hatte natürlich, wie so oft, völlig recht gehabt. Das hatte er noch nie so klar gesehen wie jetzt in diesem Moment.
Kaum im Schlafzimmer angekommen, zog Bernhard sich komplett aus und stopfte seine Sachen nach kurzer Überlegung unters Bett, denn es war ihm klar, dass er hier, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein, bei null beginnen musste. Mit den Ringelsocken – er fand die zweite ganz hinten eingeklemmt in der Schublade – fing er an, denn in der Tat verliehen sie seinem Aussehen so etwas Frisches und ja, geradezu frühlingshaft Lässiges. Dann zögerte er jedoch und trat unschlüssig vor den mannshohen, an der Frontseite des Kleiderschranks angebrachten Spiegel, um den nackten Mann, der ihm da ernst entgegenblickte, einer eingehenden und schonungslosen Musterung zu unterziehen.
Seine blau-weißen Füße überging er, weil ein nackter älterer Herr in Ringelsocken … nun ja, eben nichts weiter war als ein nackter älterer Herr in Ringelsocken. Bernhard war Realist: Auf Außenstehende würde seine momentane Erscheinung zweifellos lächerlich wirken. Da machte er sich nichts vor. Doch es sah ihn ja niemand, und seine Beine fand er durchaus passabel. Sehnig wie bei einem Zwanzigjährigen waren sie selbstverständlich nicht mehr, aber die Knie knubbelten nicht, und O-Beine wie Heiner, die jeden Elfmeter glatt durchlassen würden, hatte er auch nicht. Gut, dafür war sein Manko ein veritabler Busen. Seine Brüste hatten sich im Laufe der Jahre vergrößert und gehorchten deutlich sichtbar dem Gesetz der Schwerkraft, stellte er fest. Bereits als junger Mann hatte er oben herum nicht wie der frühe Arnold Schwarzenegger ausgesehen, doch mittlerweile hätte er einen BH gebrauchen können. Vierzig Jahre hatte ihn das nicht weiter gestört, ja, er hatte es nicht einmal zur Kenntnis genommen; jetzt aber fand er es niederziehend, zumal die spärlichen Haare zwischen den beiden hängenden Hügeln allesamt eisgrau waren. Mit siebzehn, achtzehn hätte er gern einen dichten Bewuchs gehabt: vom vollen Haupthaar über einen kräftigen Bart zur Sean-Connery-mäßigen Brustbehaarung, die sich über seinen Bauch hinunter zur Scham zog. Er hatte das äußerst maskulin gefunden; einem Löwenmännchen gleich, das mit seiner Mähne nicht nur Löwendamen, sondern auch Menschen beiderlei Geschlechts beeindruckte. Bernhard seufzte. Er war fast Mitte sechzig. Da war das eindeutig Schnee von gestern. Dafür sprang ihn das kraftvolle Braun seiner Schamhaare geradezu an, und auch sein Schwanz glich keineswegs einem verschrumpelten Wurm, sondern konnte sich sehen lassen, wie er – jawoll – mit einem Gefühl des Stolzes fand. Hildegard hatte sich zumindest noch nie beschwert, wenn sie mit ihm schlief, was in den letzten Jahren allerdings nicht mehr allzu häufig vorkam. Aber das war schließlich normal nach über dreißig Jahren Ehe.
Er fixierte seinen Bauch. Tja, er besaß zweifellos ein Bäuchlein, doch fett war er keineswegs. Darauf achtete Hildegard schon. Freitags gab es deshalb nur Obst zum Abendbrot seit er sechzig und damit »in die Jahre gekommen« war, wie sie es ausdrückte. Erst hatte er gemurrt, aber dann hatte er sich daran gewöhnt. Bernhard zog den Bauch ein und drehte sich zur Seite, um sein Ganzkörper-Profil ebenfalls einer Musterung zu unterziehen. Doch, ja, es war noch ganz passabel. Manchmal hatte Hildegard eben auch recht. In diesem Moment empfand er eine tiefe Dankbarkeit für ihre manchmal über das Ziel hinausschießende Rigorosität und sog voller Erleichterung die Luft ein, als er sich zurückdrehte, um seine ursprüngliche Stellung wieder einzunehmen.
Sein Gesicht. Mhm. Es war vielleicht ein bisschen voll, aber dafür unbedingt interessant. Intelligenz sprach zweifellos aus seinen wachen Augen ebenso wie ein untrüglicher Sinn für Humor. Ob Hanne Wiedmann ihn vielleicht auch deshalb angesprochen hatte? Unsinn, Bernhard Biller, ermahnte er sich augenblicklich streng. Das Käsegespräch war mit Sicherheit keine originelle Form der Anmache gewesen. Ihre Miene hatte doch Bände gesprochen, als sie ihm von Roquefort mit einer saftigen Birne vorgeschwärmt hatte. Darum ging es, nicht um ihn, gestand er sich schonungslos ein. Ohnehin war das für sich genommen ein vermessener Gedanke, der ihn zum Lachen reizte. Es musste an der Frühlingsluft liegen. Seidig hatte sie einmal ein Dichter genannt. Oder war es lieblich? Bernhard wusste es nicht mehr. Aber beides stimmte. Selbstverständlich würde ein Besuch bei Hanne Wiedmann am heutigen Nachmittag völlig harmlos sein. Man probierte Käse zusammen, machte dabei höflich Konversation und ging anschließend seiner Wege. Was war denn dabei? Sie lebten schließlich nicht mehr im 19. Jahrhundert und waren zudem beide erwachsene verantwortungsbewusste Menschen.
Ob er sich möglicherweise einen Vollbart oder Schnauzer stehen lassen sollte? So eine richtige Rotzbremse, an der er jeden Morgen sorgsam herumschnippelte, damit sie gepflegt aussah? Nein, entschied Bernhard. Eisgraue Oberlippenbärte waren etwas für vertrottelte britische Colonels aus alten Filmen wie »Emma Peel«. Er würde damit nur albern aussehen, und zumindest Hildegard würde ihn garantiert auslachen. Doch alles in allem war er zufrieden mit sich. Sicher, er hatte leichte Hamster-Hängebacken und auch keinen dichten Haarschopf mehr, aber der olle Cicero, von dem die Welt selbst nach zweitausend Jahren immer noch sprach, als sei der Mann erst gestern in den Götter-Olymp aufgestiegen, hatte auch nicht mehr Locken auf dem Kopf gehabt als er. Bernhard sah das Bild des Marmorkopfes mit den toten Augen in seinem Schulbuch immer noch vor sich und griente sein Spiegelbild an, das aufmunternd zurückgriente, und ohne sein Zutun plötzlich »Auf in den Kampf, Toreheheherooo« zu pfeifen begann.
Er entschied sich für die neue graue Stoffhose und das marineblaue Hemd, das Hildegard ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Grau und blau, das passte zusammen. Plötzlich schoss ihm ein beunruhigender Gedanke durch den Kopf. Sollte er vielleicht besser noch einmal duschen? Und sich rasieren? Damit quasi alles tipptopp war für den Fall der Fälle. Also, einmal natürlich für das Krankenhaus, aber auch möglicherweise … Nein, entschied er, nicht unbedingt überrascht von der Richtung, die seine Gedanken nahmen. Einmal würde Hildegard das höchst sonderbar vorkommen, und außerdem hatte Hanne Wiedmann ihn lediglich zum Käsekosten eingeladen, nicht zum Geschlechtsverkehr. Das hatte sie mehr als deutlich gemacht. Und Käse aß man bekleidet. Allerdings konnte ein dezenter Hauch von Rasierwasser gewiss nicht schaden, um das Ganze sozusagen abzurunden.
»Ich bin dann mal weg«, rief er wenig später übermütig und ohne den Hauch eines schlechten Gewissens in den Garten hinaus, sorgfältig darauf achtend, dass sein blau-grau gewandeter Körper durch den Vorhang verdeckt wurde. Ihm würde schon eine Erklärung für sein neues Aussehen einfallen, wenn er zurückkehrte. Jetzt kam es erst einmal darauf an, in diesen verheißungsvollen Nachmittag zu starten.
Hildegard kniete inzwischen neben einem anderen Busch, beide Hände bis zu den Handgelenken in der Erde. Sie drehte lediglich kurz den Kopf in seine Richtung und bedachte ihn mit einem ausdruckslosen Blick, ohne jegliches Gespür dafür, was für ein bahnbrechendes Ereignis ihrem Mann an diesem Nachmittag möglicherweise bevorstehen könnte.
»Übernimm dich nicht.«
Einen Moment hatte er nicht den Schimmer einer Ahnung, wovon sie sprach, und Hitze wallte in ihm auf. Ob sie ahnte … Dann fiel es ihm wieder ein: Offiziell wollte er ja endlos spazieren gehen.
»Nein, nein. Bis heute Abend dann.«
*
»Und? Was macht das mit Ihnen?«
Bernhard hatte diese Phrase schon immer ausgesprochen dämlich gefunden, genau wie das eine Zeit lang durch die Republik und jede Politikerrede geisternde »Ross und Reiter nennen«; aus Hanne Wiedmanns Mund klang sie jedoch seltsamerweise echt und überhaupt nicht nach Therapiestunde. Gespannt schaute sie ihn an. Auch sie hatte sich umgezogen. Den Leo-Look hatte sie in den Schrank gehängt, jetzt trug sie eine feuerrote Bluse und dazu einen langen schwarzen Rock; beides harmonierte mit dem Grün ihrer Augen sowie seltsamerweise mit ihrer Zahnlücke vorzüglich. Bernhard fand sie ziemlich attraktiv.
Sag was, Junge, befahl er sich, während er das Roquefort-Birnen-Gemisch im Mund hin- und herschob. Irgendetwas, aber sitz nicht stumm da wie ein abgestorbener Baum.
»Es ist … wirklich interessant«, quetschte er hervor, im selben Moment wissend, dass es die falsche Antwort war, ganz so wie »nett«. Das Wort hatte seine Mutter ebenso bis zum Erbrechen strapaziert wie den Spruch »Wie gut, dass die Geschmäcker verschieden sind.« Der passte scheinbar immer und besagte dennoch oder gerade deshalb – nichts.
»Sie mögen es nicht.« Sie klang enttäuscht.
»Doch, doch«, versicherte er hastig. »Der Geschmack ist nur etwas ungewohnt.«
Sie saßen im Wohnzimmer. Sie auf einem hellgrauen 3er-Sofa, auf dem ein Riesenbär im Matrosenanzug thronte und mit unbewegter Miene den Raum musterte; er auf einem Sessel, der mit seinem zerschlissenen grünlichen Bezug und dem dunklen Holz offenbar ein Erbstück war. Oder vom Flohmarkt stammte. Sie hatten an einem schlichten grau-braunen Couchtisch Platz genommen und saßen sich über Eck gegenüber; der Käse lag auf einem Holzbrett zwischen ihnen, der Teller mit den Birnenhälften stand unter den Tulpen, die er mitgebracht hatte. Es waren sieben Stück. Sie waren gelb. Hanne Wiedmann hatte keine Miene verzogen, als er ihr im Flur den Strauß in die Hand gedrückt hatte. Jetzt hätte er ihn jedoch am liebsten aus dem Fenster gepfeffert. Ging es überhaupt noch langweiliger, ja stieseliger als mit Tulpen aus dem Supermarkt? Bernhard hatte sich beim Kauf keine Gedanken gemacht. Wenn man eingeladen war, brachte man Blumen mit. So hatte er es von den beiden Frauen in seinem Leben gelernt. An Konfekt hatte er zwar auch kurz gedacht, doch er kannte Hanne Wiedmanns Geschmack nicht. Deshalb konnte man mit einem Blumenstrauß nichts falsch machen, hatte er sich eingeredet. Konnte man wohl, war ihm allerdings in dem Augenblick klar geworden, als sie die Tulpen samt Vase auf den Tisch gestellt hatte. Ein Kopf hing bereits schlaff herab und berührte fast die Platte, und die Farbe der Blüten changierte zwischen kanarien- und kotzgelb. Seltsam, im Supermarkt hatte er das nicht bemerkt. Da hatte ein Strauß wie der andere ausgesehen, sodass er nach dem erstbesten gegriffen hatte.
»Sind Sie schon lange verheiratet, Bernhard?«
Sie waren noch im Flur übereingekommen, sich zwar mit den Vornamen anzusprechen, aber beim »Sie« zu bleiben. Trotzdem hatte sich das Gespräch bislang nur mühsam entwickelt, was sicher auch daran lag, dass er kein Konversationsheld war und keinerlei Übung darin besaß, sich mit einer völlig Fremden – zumal in einer derartigen Situation – locker zu unterhalten.
»Sechsunddreißig Jahre.«
»Das ist eine lange Zeit.«
»Ja.«
Er stach in ein Stück Roquefort und führte es zum Mund. »Und Sie?«
Hanne Wiedmann lachte und entblößte dabei ihre Zahnlücke. Er zwang sich, nicht allzu intensiv hinzuschauen. Denn die unbestreitbare Erotik dieses Spalts drohte ihn noch mehr zu verwirren.
»Die Birne«, musste sie ihn da auch schon erinnern. »Dreimal geschieden.«
Er starrte sie verblüfft an. Es gab solche Leute, das war ihm selbstverständlich klar. Scherbfeld vom Marketing war so einer gewesen. Der Mann gelte seine Haare, sodass er obenherum meist aussah wie ein abwehrbereiter Igel, und war auf dem linken Arm bis zum Handgelenk tätowiert. Bernhard hatte ihn in der Raucherecke beobachtet, wie er so mir nichts, dir nichts sein Hemd auszog und den offenbar neu gestochenen Bullen der Schwendke aus der Unfall zeigte. Dieser Mensch hatte es seines Wissens sogar auf vier gescheiterte Ehen gebracht. Bernhard hatte den Flurfunk damals nicht weiter verfolgt; derartige Begebenheiten gehörten nicht zu seinem Leben. Er verurteilte da nichts, na ja, nicht über die Maßen wie ihre langjährigen Nachbarn und Freunde Heiner oder Edith es taten, nein, es interessierte ihn schlichtweg nicht. Bis jetzt.
»Woran lag’s denn?«, hörte er sich fragen, während seine Mutter irgendwo in einer seiner hinteren Hirnwindung missbilligend die Stirn runzelte.
»Wollen Sie das wirklich wissen?«
»Ja.« Zu seiner Überraschung entsprach das tatsächlich der Wahrheit.
Hanne Wiedmann legte die Gabel beiseite, verschränkte die Finger ineinander und ließ die Hände in ihren Schoß sinken. Es war eine anmutige Geste.
»Tja, der erste erklärte mir unaufgefordert stets und ständig die Welt.« Sie verdrehte die Augen. »Am Anfang fand ich das toll und sexy, dann nur noch ermüdend.« Sie zuckte mit den Achseln. »Heute verstehe ich ihn besser. Er war zwölf Jahre älter als ich und hielt mich mit meinen zwanzig Jahren für ein Gänschen, dem man auf die Sprünge helfen musste, während er von sich meinte, er sei der legitime Nachfolger von Einstein.« Sie maß Bernhard mit einem langen Blick, aus dem Genugtuung und Erheiterung gleichermaßen sprachen. »Er ist Lehrer an einer Gesamtschule im Rheinland geworden. Für Erdkunde und Sport. Am Nobelpreis ist er bislang haarscharf vorbeigeschrammt, soweit ich weiß.«
»Und der zweite?«, stupste er sie an, als sie versonnen schwieg.
Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander, was sehr fraulich aussah, wie er widerwillig feststellte.
»Oh, Fabian.« Auf ihrer Stirn erschien eine steile senkrechte Falte, die ihr Gesicht in der Verlängerung der Nase in zwei Hälften teilte. Bernhard bereute fast, sie gefragt zu haben. Aber nur fast. »Der hielt sich für ein Gottesgeschenk an die Damenwelt.« Sie zuckte erneut mit den Schultern. »Er sah zweifellos außergewöhnlich gut aus und besaß oberflächlich gesehen Charakter und jede Menge Charme. Kein Kleiderständer mit Sixpack und definierten Muskeln also, sondern ein Mensch, der einen erst einmal für sich einnahm.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über Hanne Wiedmanns Gesicht. »Es ist ein Klischee, aber Fabian gab einem das Gefühl, ausgesprochen richtig für jedermann und vor allem für jede Frau zu sein. Er tat so, als höre er intensiv zu, nahm den Gesprächsfaden immer wieder auf und sah einem dabei tief in die Augen. ›Du bist the one and only‹. Das war die Botschaft und sein Geheimnis. Denn sonst war da, schaute man hinter die Kulissen beziehungsweise die Stirn, nicht allzu viel.« Sie tippte sich an die Schläfe. »Weder in der Birne noch an seinem Charakter. Ich habe fünf Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass Fabian ein Arschloch war. Fünf Jahre, in denen er mich nach Strich und Faden betrogen hat. Haben Sie Ihre Frau schon einmal betrogen, Bernhard?«
Er zuckte zusammen. Er würde sich an diese abrupten Themenwechsel nie gewöhnen, einmal ganz abgesehen von ihrer Art, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Hildegard ging die Sachen ja auch direkter an als er, aber sie blieb beim einmal gewählten Thema, wie ein Terrier, wenn der den Geruch eines Dachses in der Nase hat und entschlossen die Verfolgung aufnimmt.
»Nein.«
Wie Hildegard ihn wohl gegenüber einem Dritten beschreiben würde. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. So wie Hanne Wiedmann selbstverständlich auf keinen Fall. Weil er mit deren Männern überhaupt nichts gemein hatte. Er war anders. Trotzdem beschlich ihn der Verdacht, dass er mit Hildegards Charakterisierung nicht einverstanden sein würde. Der Gedanke peinigte ihn. Hielt sie ihn für … pingelig? Engstirnig? Langweilig? Unflexibel? Oder eher für einen Ausbund an Zuverlässlichkeit? Vielleicht. Darüber hatte er sich noch nie Gedanken gemacht. Aber sie höchstwahrscheinlich ebenfalls nicht, versuchte er sich zu beruhigen. So war sie nicht. Allerdings war sie eine Frau. Und die tickten anders, wie Heiner stets behauptete. Als solche schnatterten sie ständig über alles und jedes um die Wette, und wenn er unvermutet in der Teeküche der Securitas aufgetaucht war, hatte er das Gespräch so manches Mal schlagartig zum Verstummen gebracht.
»Und sie?« Nur mühsam drangen die beiden Worte in sein Bewusstsein.
»Wer? Hildegard?«, fragte er zurück, obwohl es keinen Zweifel daran gab, wen Hanne Wiedmann meinte. »Nein, ich glaube nicht.« Du meine Güte, auch auf diese Idee war er in seiner Unschuld – oder war es Einfalt gepaart mit Fantasielosigkeit? – noch nie gekommen. Dass seine Frau fremdgehen oder etwas Gravierendes in ihrer Ehe vermissen könnte – nein, das war unvorstellbar. Er war sich bewusst, dass Hanne Wiedmann sein Mienenspiel genau beobachtete.
»Aber Sie wissen es nicht«, stellte sie in aller Seelenruhe fest, während sie sich ein Stück Birne in den Mund schob.
»Nein.« Sein rechtes Augenlid fing an, unkontrolliert zu zucken. »Nein, ich weiß es nicht.«
Hanne Wiedmann räusperte sich, bevor sie leise meinte:
»Wollen wir vielleicht ein Glas Wein zum Käse trinken? Es ist zwar eigentlich noch ein bisschen früh für Alkohol, aber Sie sehen mir so aus, als ob Sie einen Schluck vertragen könnten.«
Bernhard senkte stumm den Kopf, und sie stand auf, um wenig später mit einer geöffneten Flasche Rotwein und zwei Gläsern zurückzukehren.
»Es ist kein besonders edler«, entschuldigte sie sich, als sie sich wieder setzte. »Aber ich mag ihn.«
»Gut.«
Sie schenkte ein, und sie prosteten sich verhalten zu. Der Wein war Bernhard ein bisschen zu herb. Aber er hatte auch nicht viel Ahnung davon. Hildegard und er gönnten sich allenfalls zu Festtagen einen Schluck. Und der war dann immer halbtrocken, also nicht so sauer und deshalb bekömmlicher, wie seine Schwiegermutter Zeit ihres Lebens behauptet hatte. Soweit er sich jedoch erinnerte, hatte sie lediglich in Maßen Sherry getrunken. Der gehe nicht so auf die Schleimhäute, weil er keine oder nur wenig Säure habe, während Wein unweigerlich die Magenwände angreife, lautete ihr unumstößliches Urteil.
»Und wie war das mit Ehemann Nummer drei?«, tastete Bernhard sich vor, mutig geworden nach dem ersten Glas, und bemüht, das Thema Hildegard und deren eheliche Treue eilends zu verlassen.
»Thomas. Ja.« Hanne Wiedmann wandte kurz das Gesicht ab. »Er hat mich verlassen. Seine Vorgänger habe ich in die Wüste geschickt, aber Thomas … ist von sich aus gegangen.«
»Weshalb denn?«
Es musste am Alkohol liegen; der normale, nein, der nüchterne Bernhard hätte eine derartige Frage niemals gestellt.
»Ich hätte ihn nicht verstanden, meinte er. Thomas war … ist Maler, Künstler und eine schwierige Persönlichkeit.«
»Was malt er denn so?« Ohne zu fragen, schenkte Bernhard ihnen beiden großzügig nach.
»Oh, er malt in erster Linie abstrakt. Er hasst gegenständliche Malerei und hält sie seiner nicht für würdig.« Hanne Wiedmann seufzte, während sie gleichzeitig versuchte, eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr zu klemmen. Sie war zu kurz. Es klappte nicht. »Was hat dieser Mensch über die Sonnenuntergangs-Fraktion geschimpft, wie er sie nannte. Jeder frischgebackene Rentner, jede brandneue Seniorin mit Uniabschluss und einem Konzert- oder Theaterabo in der Tasche greife irgendwann zum Pinsel, hat er immer gemeint. Es sei nur eine Frage der Zeit und so vorhersehbar wie das Amen in der Kirche. Entsprechend langweilig und uninspiriert sei dann das Ergebnis: Meer mit Leuchtturm, Hirsch vor Berg, Schiff auf Welle, die Weiten des Ozeans ohne alles.«
Bernhard räusperte sich vorsichtig.
»Das ist ja eher nicht so meins.« Hildegard hatte das tatsächlich einmal im Scherz an einem ihrer Rommé-Abende bei Edith und Heiner vorgeschlagen, damit er nicht in das berüchtigte Rentenloch falle. Doch sie hatte sogleich selbst eingesehen, dass er mit einem anderen Steckenpferd wie etwa das der Ahnenforschung sehr wahrscheinlich weitaus besser bedient wäre.
»Nein«, stimmte Hanne Wiedmann ihm zu. »Sicher nicht.«
Sie erklärte das mit einer Bestimmtheit, die ihr nicht zustand, wie Bernhard fand. Sie kannte ihn doch gar nicht, und vielleicht besaß er ja mehr verborgene Talente und Tiefen, als sie sich vorzustellen vermochte.
»Und wovon lebte Thomas? Von Ihnen? Denn von abstrakter Malerei doch sicher nicht, mhm?« Er ließ es bewusst abschätzig klingen.
Wieder seufzte Hanne Wiedmann nur.
»Genau das war der Punkt zwischen uns«, gestand sie dann. Es schien ihr nicht leicht zu fallen. »Ich würde ihn, den Künstler, die reine Seele, zu schnöder Brotarbeit drängen, hat er mir immer wieder vorgeworfen. Dabei habe ich ihn nur gebeten, doch auch einmal etwas zu versuchen, das zumindest etwas Geld einbrachte.«
»Sonnenuntergänge und Rehe im Wald«, deklamierte Bernhard mit sonorer Stimme, um zu demonstrieren, dass er das Problem vollkommen verstand.
»Nein!«, entgegnete sie zu seiner Überraschung scharf. »Das hätte ich nie von ihm verlangt. Es gibt doch schließlich auch noch etwas dazwischen.«
»Aha.