Mutige Menschen - Christian Nürnberger - E-Book

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Christian Nürnberger

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Beschreibung

Christian Nürnberger erzählt von Frauen und Männern, die den Mut zum Widerstand hatten: Mut, Hitlers Pläne zu durchkreuzen, Mut, Hitlers Befehle zu verweigern, Mut, Menschenleben zu retten: Dietrich Bonhoeffer - Willy Brandt - Georg Elser - Mildred Harnack - Robert Havemann - Fritz Kolbe - Janusz Korczak - Helmuth James Graf von Moltke - Martin Niemöller - Sophie Scholl - Irena Sendler - Claus Schenk Graf von Stauffenberg "Mutige Menschen verbindet auf überzeugende Weise fundierte historische Information mit politischem Engagement auf sprachlich hohem Niveau." Aus der Jurybegründung Deutscher Jugendliteraturpreis

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Buchinfo

Christian Nürnberger erzählt von Frauen und Männern, die den Mut zum Widerstand hatten: Mut, Hitlers Pläne zu durchkreuzen, Mut, Hitlers Befehle zu verweigern, Mut, Menschenleben zu retten:

Dietrich Bonhoeffer – Willy Brandt – Georg Elser – Mildred Harnack – Robert Havemann – Fritz Kolbe – Janusz Korczak – Helmuth James Graf von Moltke – Martin Niemöller – Sophie Scholl – Irena Sendler – Claus Schenk Graf von Stauffenberg

Mit einem Nachwort von Petra Gerster

Wie wird man zum Widerstandskämpfer?

Mutig sind sie, die Menschen, die Widerstand gegen Hitler leisten. Sie riskieren alles, denn sie können nicht schweigen. Viele bezahlen dafür mit ihrem Leben.

Doch was muss passieren, dass einer zum Widerstandskämpfer wird? Niemand wird als solcher geboren. Es braucht ein ungeheures Selbstbewusstsein, Vertrauen in die eigene Urteilskraft und Stehvermögen, um als Einzelner gegen eine Mehrheit aufzubegehren.

Welche Voraussetzungen der Mensch mitbringen muss, welche Rolle die Familie dabei spielt, wie der Widerstand in den hier Porträtierten langsam wächst, zeigt der Autor in diesem Buch auf eindrückliche und spannende Weise.

»Mutige Menschen verbindet auf überzeugende Weise fundierte historische Information mit politischem Engagement auf sprachlich hohem Niveau.« Aus der Jurybegründung Deutscher Jugendliteraturpreis

Autorenvita

© privat

Christian Nürnberger (Jahrgang 1951) ist ein hochkarätiger Autor und Journalist. Er studierte Theologie, arbeitete als Reporter bei der Frankfurter Rundschau, als Redakteur bei Capital und als Textchef bei Hightech. Er veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung, im SZ-Magazin und der ZEIT und arbeitet seit 1990 als freier Autor. Für »Mutige Menschen – Widerstand im Dritten Reich« wurde er mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.

Das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare ist nicht das Böse, im Gegenteil: es ist das Gute.

Imre Kertész

Vorwort

Es waren nur zwölf Jahre. Eine kurze Spanne in der langen Geschichte der Menschheit. Und doch fallen diese wenigen Jahre zwischen 1933 und 1945 aus dem Strom der Zeit heraus wie kein anderer Abschnitt. Noch heute, sechs bis sieben Jahrzehnte danach, stellt sich dieser Augenblick der Weltgeschichte dem Zurückblickenden so groß und ungeheuer ins Sichtfeld, dass es ihm schwerfällt, die Zeit dahinter noch wahrzunehmen. So etwas wie das absolut Böse war in jenen zwölf Jahren zur Herrschaft gekommen, und wer, wie ich, sechs Jahre nach dem Ende dieser Herrschaft geboren wurde, darf sich als Davongekommener glücklich schätzen, denn keiner weiß, wie er sich damals verhalten hätte.

Meine erste Erinnerung an das Ungeheure ist eine kurze Filmszene in Schwarz-Weiß. Ich weiß nicht mehr, wann ich sie gesehen habe, ich weiß nicht mehr, wie der Film hieß, weiß nur, dass ich noch Kind war, und ich in dieser einzigen Szene eigentlich schon alles Wesentliche, was diese zwölf Jahre ausmachte, erfasst hatte. Die Szene zeigt, wie deutsche Uniformierte Hunderte von Juden – Männer, Frauen, Junge, Alte und Kinder – zu einem Bahnhof treiben und dort unter großem Geschrei die Menschen in fensterlose Vieh-Waggons stoßen, prügeln, schubsen und zusammenpferchen, bis jeder Waggon so voll ist, dass keine weitere Person mehr hineinpasst.

In so einem berstend vollen Waggon steht eine Mutter, die ihr Kind zu sich hereinziehen will, ein kleines Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Aber ein Uniformierter entreißt der Mutter das Kind, reicht es nach hinten weiter, die Mutter tobt, schreit, will aus dem Waggon springen, aber wird zurückgestoßen. Man sieht das Mädchen, das immer weiter nach hinten gedrängt wird, wie es zurückblickt auf die weinende, verzweifelte Mutter, die von mehreren kräftigen Männern am Absprung gehindert wird, bis andere die Klappe zumachen und den Wagen verriegeln. Dann stampft und zischt die schwarze Lok mit den todgeweihten Menschen in seinen Wagen unter Rauch- und Dampfschwaden aus dem Bahnhof. Das Kind verschwindet in der Menge. Es wird mit dem nächsten Zug in ein Vernichtungslager gebracht, aber in ein anderes als das, wohin seine Mutter unterwegs ist. Die beiden sehen sich nie wieder.

Ein Herrenmenschen-Volk hatte alle anderen zu Untermenschen erklärt und die Juden zu Ungeziefer. Mutter-Kind-Beziehungen gibt es bei Ungeziefer nicht. Daher konnten die Männer sachlich und ungerührt, ohne Beanspruchung ihres Gewissens, die Mutter und das Kind auseinanderreißen, beide ihrem grausamen Schicksal überlassen, und zugleich konnten sie daheim weiterhin liebende Ehemänner und zärtliche Familienväter bleiben, die selbst ihrem Hund oder ihrer Katze mehr Mitgefühl entgegenbrachten als dieser jüdischen Mutter und deren Kind.

Das Ungeheuerliche dieser Zeit hatte ich in dieser einzigen Filmszene erfasst. Verstanden, wie so etwas möglich war und wie es dazu hat kommen können, hatte ich nicht. Und schon gar nicht hätte ich es damals und auch noch Jahre später für möglich gehalten, dass ich vielleicht selbst dabei mitgemacht hätte. Dazu bedurfte es noch vieler weiterer Filme, Bücher, der Berichte von Zeitzeugen und vor allem einer wachsenden Selbsterkenntnis.

Es gibt noch ein zweites Bild, das sich tief in mein Gedächtnis gegraben hat, ebenfalls aus einem Film: Durch das Schaufenster eines jüdischen Geschäfts fliegen Steine. Die Ehefrau des Ladeninhabers schreit entsetzt auf. Der Ehemann beruhigt sie mit den Worten: »Du musst dich nicht aufregen, das sind dumme Jungen, draußen steht ein Polizist, den werde ich auf den Vorfall aufmerksam machen, und dann wird alles seinen geordneten Gang gehen. Diese dummen Jungen werden nie wieder einen Stein in unseren Laden werfen.«

Dann geht der Mann hinaus zu dem Schutzmann auf der Straße, beginnt ihm von dem Vorfall zu erzählen – und wird von dem Ordnungshüter barsch unterbrochen mit den Worten: »Schweig, Saujud.« Der Mann verstummt augenblicklich. Die Kamera zeigt sein Gesicht, seine Augen, und der Zuschauer sieht, wie in diesem Moment für den Mann eine Welt zusammenbricht. Dann erfolgt ein Schwenk auf die Steinewerfer, die an die Wand des Hauses schreiben: »Kauft nicht beim Juden.« Und der sogenannte Schutzmann schützt nicht, steht dabei und greift nicht ein. Der »Ordnungshüter« sieht beifällig nickend zu, wie sich die Ordnung in Deutschland auflöst und alles aus den Fugen gerät. Von jetzt an müssen Juden, Sinti, Roma, Sozialdemokraten und Kommunisten Angst haben, wenn jemand an die Haustür klopft. Es könnten Beamte der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) sein, mit einem Haftbefehl in der Tasche. Gefängnis, Zwangsarbeit, Folter, Tod können die Folgen sein.

Juden hatten ein tiefes Zutrauen zum deutschen Staat und seiner Ordnung. Juden bewunderten diesen Staat und haben im Ersten Weltkrieg für ihn gekämpft, sind verwundet worden, gefallen, haben stolz das Eiserne Kreuz und andere Auszeichnungen getragen, die ihnen für ihren Kampf verliehen worden waren. Darum sind sie in Deutschland geblieben, als Adolf Hitler 1933 an die Macht kam, statt zu fliehen und sich zu retten, als dies noch gefahrlos möglich gewesen wäre.

Sie hatten gedacht, die Deutschen seien ein vernünftiges, zivilisiertes Volk, Hitlers Herrschaft werde eine kurze Episode bleiben. Ihr Vertrauen in die deutsche Kulturnation war zu groß, als dass sie sich hätten vorstellen können, dass diese Nation sie schon wenige Jahre später durch die ganze Welt hetzen, verhaften, deportieren, wie Ungeziefer behandeln und millionenfach ermorden würde.

Das Beklemmende für mich und meine ganze Generation der Nachkriegsgeborenen war und ist, dass unsere Eltern und Großeltern in dieser Zeit gelebt haben und auf irgendeine Weise in diese Geschichte verstrickt waren. Die Steinewerfer, der Polizist, die Leute, die plötzlich »Judensau« brüllten, die vielen, die geschwiegen und weggesehen haben, wenn Juden auf der Straße schikaniert, durch die Straßen gehetzt, geschlagen, getreten und gedemütigt wurden, die Bürger, die ihre jüdischen Nachbarn und Bekannten von heute auf morgen nicht mehr grüßten, die Beamten, die darüber wachten, dass sich Juden den Davidsstern auf die Kleider nähten, die Denunzianten, die andere anzeigten, wenn sie einen Juden versteckten, die Menschen, die sich an jüdischem Besitz und Vermögen bereicherten, all die vielen willigen Helfer und Wähler Hitlers samt der evangelisch und katholisch Getauften, die sechs Millionen ihrer jüdischen Brüder in ganz Europa zusammentrieben, in Viehwaggons pferchten, in die Konzentrationslager transportierten und sie dort in den Tod schickten – das war die Generation meiner Eltern, Großeltern und Lehrer.

Ein Volk, das deutsche, hatte versucht, ein anderes Volk, das jüdische, restlos auszurotten. Fast wäre es gelungen und die Täter hießen wie wir, die Kinder der Täter. Ob sie sich nun einfach nur passiv verhalten oder mehr oder weniger aktiv mitgewirkt haben. Sie waren verstrickt, haben ihre Verstrickung lange beschwiegen und nur durch beharrliches Nachfragen widerwillig Auskünfte erteilt, die meistens auf den Satz hinausliefen: »Ihr könnt da gar nicht mitreden, ihr könnt euch kein Urteil über uns anmaßen, denn ihr seid nicht dabei gewesen, im Übrigen haben wir dafür bezahlt, wir sind um unsere Jugend betrogen worden und möchten nun nicht mehr daran erinnert werden, sondern nach vorne schauen.«

Meine beiden Großväter, einfache Bauern, hatten Hitler von Anfang an durchschaut, mein Vater nicht. Er war dabei bei den Aufmärschen am Reichsparteitagsgelände in Nürnberg und hatte die Aufgabe, als Wachmann mit geladenem Gewehr für Hitlers Sicherheit zu sorgen. »Ich stand zwölf Meter von Hitler entfernt«, erzählte mein Vater, »es wäre mir ein Leichtes gewesen, ihn mit einem einzigen Schuss niederzustrecken.«

Kann sein, dass das nutzlos gewesen wäre. Vielleicht hätten Göring, Himmler, Goebbels damals, 1936, einfach fortgesetzt, was Hitler begonnen hatte. Vielleicht hätten sie sich aber auch im Kampf um Hitlers Nachfolge gegenseitig umgebracht, das nationalsozialistische Wahnsystem wäre zusammengebrochen und Deutschland wäre zur Demokratie zurückgekehrt. Auch das wäre möglich gewesen.

Mein Vater hatte nicht geschossen, Hitler konnte sein katastrophales Werk fortsetzen. Am Ende dieser zwölf Jahre war die Erde getränkt mit dem Blut von einer unvorstellbaren Zahl an toten Soldaten und Zivilisten. Nach Schätzungen, die stark voneinander abweichen, lag die Zahl der Toten und Vermissten des Zweiten Weltkriegs bei rund 55, vielleicht auch 60 Millionen. Dazu kommen Millionen Flüchtlinge, Vertriebene, Verletzte und Enteignete. Pommern, Schlesien, Ostpreußen und das Sudetenland gingen den Deutschen verloren und der Rest wurde geteilt, sodass es vierzig Jahre lang zwei deutsche Staaten gab, die Bundesrepublik und die DDR.

Vor diesen zwölf Jahren war Deutschland eine weltweit geachtete Wirtschafts-, Wissenschafts-, Technologie- und Militärmacht und eine bewunderte Kulturnation, deren Kunst, Musik und Literatur in der ganzen Welt geschätzt wurden. Danach wurde es eine relativ unbedeutende Mittelmacht, die nur im Verbund mit den anderen europäischen Mittelmächten noch etwas in der Welt erreichen kann. Während der zwölf Jahre dazwischen hat dieses Land seine größten Geister und kreativsten Menschen im Krieg verheizt, ins Ausland getrieben oder in Gefängnissen und Konzentrationslagern ermordet. Was es in den tausend Jahren zuvor aufgebaut hatte, hat es innerhalb von zwölf Jahren selbst zerstört. Andere Völker haben dafür ganze Epochen gebraucht.

Zu welchen Verbrechen der Mensch fähig ist, hat man schon immer gewusst, aber dass er auch zu dem fähig ist, was in jenen zwölf Jahren in Deutschland geschah, das wusste man noch nicht. Das war neu, das überschattet auch bis heute und vermutlich noch lange in der Zukunft die Verbrechen der anderen, wie etwa das Morden und Foltern unter Josef Stalin in Russland oder Mao Tse Tung in China. Auch die etwas weiter zurückliegenden Verbrechen der europäischen Kolonialherren – Engländer, Spanier, Portugiesen, Franzosen, Belgier, Holländer – in den Kolonien in Afrika, Asien und Amerika, die Versklavung der Schwarzen oder die Ausrottung der Indianer reichen nicht an den deutschen Versuch heran, alle Angehörigen eines Volkes systematisch überall auf der Welt aufzuspüren, sie in extra dafür gebaute Vernichtungsfabriken zu transportieren und dort industriell auszulöschen, bürokratisch, rational, kalt, leidenschaftslos, logistisch und technisch perfekt, wahnsinnig.

Ein tausendjähriges Reich unter der Herrschaft der Deutschen wollten Adolf Hitler, dessen zahlreiche Helfer und Millionen Zujubler errichten. Gelungen ist ihnen, dass man sich ihrer auch noch in tausend Jahren mit Schrecken erinnern wird. Ihre Taten werden für immer als historisch einmaliges und unvergleichliches Ereignis aus den vielen »normalen« Katastrophen der Menschheitsgeschichte herausragen.

Die sechs Millionen Juden, die Hitler hat umbringen lassen, hätten vielleicht überleben können, wenn mein Vater geschossen hätte. Ein einziger Schuss aus dem Gewehr meines Vaters hätte vielleicht verhindern können, dass 55 Millionen Menschen sterben mussten. Mich gäbe es dann nicht, denn diesen Schuss auf Hitler hätte mein damals 25-jähriger Vater nicht überlebt. Keinem der vielen Millionen Menschen, die dann überlebt hätten, hätte ich gefehlt, niemand hätte mich vermisst, die Weltgeschichte wäre wahrscheinlich glücklicher verlaufen.

Warum hat mein Vater nicht geschossen? Warum haben die vielen anderen, die Hitler so nahe gekommen waren wie er, nicht geschossen? Natürlich, weil sie um ihr eigenes Leben fürchteten, aber vor allem, weil sie keine Notwendigkeit dafür sahen. Mein Vater war, wie Millionen andere auch, von Hitler fasziniert. Die Aufmärsche von rund 500 000 Teilnehmern aus Hitlers Partei, der SA1, der Wehrmacht und des Staates auf dem Nürnberger Parteitagsgelände, die Fahnen, die Musik, Hitlers Reden, die gesamte Inszenierung solch eines noch nie gesehenen Massenspektakels, das hat meinen Vater und Millionen anderen Deutschen die Gänsehaut auf den Rücken getrieben. Sie dachten, etwas Großes geschehe, und sie wollten daran mitwirken, um sich selber groß vorzukommen.

Ursprünglich war mein Vater Sozialdemokrat, aber dann, als er sah, dass es plötzlich wieder Arbeit gab für alle, dass es den kleinen Leuten zunehmend besser ging, sie sogar in Urlaub fahren durften, und erst recht später, als Hitler durch seine Blitzsiege in Polen und in der Tschechoslowakei einen nationalen Siegestaumel auslöste, da zog auch er seine SA-Stiefelchen an und wollte mit den Siegern sein. Er war ein Mitläufer. Die Persönlichkeit, die er hätte sein müssen, um das Gewehr auf Hitler zu richten und abzudrücken, war er nicht.

Wenigstens war er kein Judenmörder und kein Kriegsverbrecher. Ein günstiges Schicksal hatte ihn davor bewahrt, zum Täter zu werden. In den Krieg musste er nicht ziehen, weil er wegen eines Schädelbasisbruchs, den er bei einem Motorradunfall erlitten hatte, kriegsuntauglich war. Juden gab es nicht in dem kleinen Dorf, in dem er seinen Hof bewirtschaftete. Er konnte sich also auch nicht an ihnen vergreifen und sich nicht auf ihre Kosten bereichern. Ich durfte in einem Haus aufwachsen, in dem es nichts gab, was aus geraubtem jüdischen Besitz, sogenanntem arisierten Vermögen, stammte.

Nach dem Krieg hatte er das Unrecht eingesehen, das durch ihn und seine Generation über die Welt gekommen war, hat sein Versagen nicht beschwiegen, sondern es bereut, ist wieder ein braver Sozialdemokrat geworden und geblieben bis zuletzt. Und ich, sein Sohn, kann ihn nicht anklagen, dass er kein Held gewesen ist, weil ich nicht weiß, ob ich einer gewesen wäre.

Mein Vater war ein einfacher ungebildeter Mann. Warum sollte er an Hitler zweifeln, wenn Gebildetere als er Hitler zugejubelt haben? Pfarrer haben von der Kanzel herab Hitler verehrt und die Juden verdammt. Die »Deutschen Christen« haben zum Christentum konvertierte Juden aus ihrer Kirche hinausgeworfen. Die Zeitungen, das Radio waren voll des Lobes über Hitler. Einer der größten Philosophen Europas, Martin Heidegger, hat Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass er einem Verbrecher auf den Leim gegangen war, und so mancher Absolvent eines humanistischen Gymnasiums oder eines christlichen Internats hat auch nach dem Krieg noch nicht einsehen wollen, dass die Deutschen eine katastrophale Schuld auf sich geladen haben, die abzutragen noch viele Generationen beschäftigen wird. Vor diesem Hintergrund erscheint es eher als erstaunlich, dass meine ungebildeten Großväter über Hitler klüger urteilten als viele Gebildete. Geschwiegen hatten aber auch meine beiden Großväter, die Großmütter ebenfalls, die Mutter auch.

Als ich jung war, hatte ich lange nicht verstanden, warum es so wenige waren, die das offensichtliche Unrecht erkannt hatten. Noch weniger waren es, die es öffentlich benannt haben. Und ganz wenige haben dagegen mit Worten und Taten gekämpft. Heute, da ich älter bin und ich mich und die anderen Menschen näher kennengelernt habe, wundere ich mich eher, dass es überhaupt Menschen gab, die einsam und unter Lebensgefahr gegen den Strom geschwommen sind.

Ich muss in diesem Zusammenhang immer an die Geschichte des Autofahrers denken, der nachts auf der Autobahn aus dem Radio die Meldung hört, dass genau auf seinem Streckenabschnitt ein Geisterfahrer unterwegs sei. Er blickt aus dem Fenster und murmelt vor sich hin: Einer? Hunderte!

Es gibt manchmal im Leben und in der Geschichte Situationen, in denen der Geisterfahrer recht hat und tatsächlich nicht er auf der falschen Spur in die falsche Richtung fährt, sondern die vielen anderen. Es gehört viel Verstand dazu, um die Ausnahme von der Regel zu unterscheiden. Vor allem aber braucht es ein ungeheures Selbstbewusstsein, Vertrauen in die eigene Urteilskraft und Standvermögen, um als Einzelner gegen die übergroße Mehrheit mit sicherer Stimme zu behaupten: Ihr alle irrt, nur ich allein bewege mich in die richtige Richtung.

Inmitten einer Menge zu stehen, die zu Hunderttausenden »Sieg Heil« brüllt, und zu denken oder zu sagen, ihr seid alle verrückt, ist offenbar nur sehr starken Ausnahme-Persönlichkeiten möglich. Etlichen zehntausend Personen, Christen wie Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftlern, Liberalen und Nationalkonservativen war das möglich. Sosehr sie sich auch voneinander unterschieden, so verschieden ihre Herkunft war, so sehr einte sie die Überzeugung, dass so etwas wie ein göttliches oder moralisches Gesetz existiert, das unbedingt gelten muss, koste es auch das eigene Leben. Viele kostete es dann auch tatsächlich das Leben.

Eigentlich sind diese Menschen noch schwerer zu begreifen als die gewöhnlichen Täter und Mitläufer. Vor allem sind sie viel interessanter. Von solchen interessanten, außergewöhnlichen Persönlichkeiten, die einsam und unter Einsatz ihres Lebens gegen den übermächtigen Strom geschwommen sind, handelt dieses Buch. Es wird keine leichte Lektüre, denn die meisten der hier enthaltenen Geschichten enden mit einem Mord. Das ist schwer erträglich. Aber noch unerträglicher wäre es, wenn es diese wenigen nicht gegeben hätte. Seien wir dankbar und froh, dass es sie gab.

Das Welt-Schicksalsjahr 1933

Am 30. Januar 1933 legte sich ein dunkler Schatten über die Welt. Es wurde kalt in Europa und das Zentrum, von dem die Kälte ausging, gehörte zu Deutschland und hieß Berlin. Dort wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt.

In jenen Tagen lebte in Dresden ein Literaturwissenschaftler, Professor für Romanistik an der Technischen Hochschule, der damit begann, seine alltäglichen Erlebnisse und Gedanken aus dieser Zeit in ein Tagebuch zu schreiben – Victor Klemperer. Den zum Protestantismus konvertierten Juden plagen zunächst ganz normale Alltagssorgen, wie sie viele andere auch hatten: Geldnöte, Schulden, berufliche Probleme, Kälte und Frost im schlecht geheizten Haus, ein Prozess gegen einen Betrüger. Aber je länger Hitlers Herrschaft dauert, desto stärker treten die politischen Probleme in den Vordergrund, werden Klemperers private Alltagssorgen zunehmend von der Judenfeindlichkeit der Regierung dominiert, die sich auch gegen konvertierte Juden richtet.

Kurz nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler schreibt Klemperer: »Es ist eine Schmach, die jeden Tag schlimmer wird. Und alles ist still und duckt sich, am tiefsten die Judenheit und ihre demokratische Presse.«

Wenige Wochen später, im März, heißt es: »Vollkommene Revolution und Parteidiktatur. Und alle Gegenkräfte wie vom Erdboden verschwunden.« Bang fragt er: »Wie lange werde ich noch im Amt sein?« Wenig später fügt er hinzu: »Noch zittert man nicht um sein Leben – aber um Brot und Freiheit.« Und immer wieder das Gefühl: »Niemand atmet mehr frei, kein freies Wort, weder gedruckt noch gesprochen. (…) Und niemand rührt sich, alles zittert, verkriecht sich.«

Er hat recht. Wenn auch nicht ganz.

Rund 200 Kilometer nördlich von Klemperers Wohnung spricht schon zwei Tage nach Hitlers Ernennung zum Kanzler ein junger Theologe Klartext. Dietrich Bonhoeffer markiert in Berlin in einem Rundfunkbeitrag die Grenzen, die dem Amt des »Führers« gesetzt sind. Zweieinhalb Monate später, Hitler hatte sich soeben mithilfe des »Arierparagrafen« die Möglichkeit verschafft, jüdische Beamte aus dem Staatsdienst zu entlassen, schreibt Bonhoeffer in einem Aufsatz, wo jetzt der Platz der Kirche zu sein habe: an der Seite der Juden. Und diesem Standpunkt bleibt Bonhoeffer treu, mit allen Konsequenzen, bis zu seiner Ermordung kurz vor Kriegsende.

Dort, in Berlin, kreuzt sich Bonhoeffers Weg mit dem eines anderen Theologen mit einer ganz anderen Herkunft, mit Martin Niemöller. Er gehört zu jenen, die als Nationalsozialisten begonnen, den Führerstaat begrüßt, Juden zur Zurückhaltung ermahnt haben – und dann doch Widerstandskämpfer geworden sind. Niemöller war ein deutsch-nationaler U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg, danach Kommandeur eines Freikorps, das die Weimarer Demokratie bekämpfte, wurde schließlich Landwirt, später Pfarrer und geriet als solcher zunächst nur deshalb in Widerspruch zu den Nazis, weil er die Vermischung von politischen Aussagen mit dem christlichen Glaubensbekenntnis ablehnte.

Einmal zum Widerspruch und eigenem Nachdenken herausgefordert, entwickelte sich der Nationalkonservative zum Kirchenkämpfer, Oppositionellen und Widerstandskämpfer, den die Nazis ins Konzentrationslager steckten. Er überlebte die Haft und den Krieg und wurde danach zu einem streitbaren, politisch weit links stehenden Kirchenmann, der sich bis zu seinem Lebensende immer wieder in die Tagespolitik einmischte und konservative Kreise gegen sich aufbrachte.

Auch Arvid Harnack war Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und hatte in Berlin einen bedeutenden Posten im Reichswirtschaftsministerium – den er und seine amerikanische Frau Mildred nutzten, um mit den Russen gegen das Hitler-Regime zu arbeiten. Schon 1933 hatte Mildred einen Diskussionszirkel aufgebaut, aus dem 1939 das Widerstandsnetz Rote Kapelle entstand. Mildred und Arvid Harnack überlebten ihren Kampf gegen Hitler nicht.

Einer, der damals regelmäßig Kontakt hatte zu Mildred Harnack und der Roten Kapelle, war Robert Havemann, der selbst eine Widerstandsgruppe namens Europäische Union gegründet hatte. Auch er flog auf, wurde verhaftet, hat aber überlebt, nach dem Krieg am Aufbau der DDR mitgearbeitet in der Hoffnung, hier das bessere, freiere und friedlichere Deutschland entstehen zu lassen – und wurde, ähnlich wie Victor Klemperer, bitter enttäuscht. Auch er versprach sich viel vom ersten deutschen »Arbeiter- und Bauernstaat«.

Ungefähr zur selben Zeit, als Bonhoeffer seinen ersten öffentlichen Protest gegen Hitler artikuliert und Klemperer in Dresden verzweifelt auf Signale des Widerstands wartet, verlässt 310 Kilometer nordwestlich ein junger Sozialist seine Heimatstadt Lübeck, um nach Norwegen zu fliehen und von dort aus den Kampf gegen Hitler aufzunehmen, Willy Brandt heißt er. Er wird überleben und Kanzler eines anderen Deutschlands werden.

450 Kilometer südwestlich von Klemperer kämpft ein einfacher Handwerksgeselle, der Schreiner Georg Elser, mit den Widrigkeiten des Alltags. Sein Vater ist Alkoholiker, die Familie verschuldet. Georg Elser arbeitet still und unauffällig, so viel er kann, um die familiäre Not zu lindern. Den Hitlergruß verweigert er. Sonst fällt er nicht weiter auf, aber sechs Jahre später wird er ganz allein ein Bombenattentat auf Hitler verüben. Das misslingt.

Ebenfalls still und unauffällig bewältigt 2350 Kilometer südwestlich an der deutschen Botschaft in Madrid Fritz Kolbe, ein tüchtiger Konsulatssekretär, seinen Alltag. Er wird zum Oberinspektor befördert, nach Kapstadt versetzt und während des Krieges zum Oberkommando der Wehrmacht beordert. Dort erhält er Einblick in wichtige politische und militärische Geheimnisse. Die verrät er an die Amerikaner. Nicht für Geld, sondern weil er will, dass Hitler nicht das letzte Wort behält in Europa.

Im 470 Kilometer entfernten München wächst ein Mädchen heran, das erst zwölf Jahre alt ist, als Hitler an die Macht kommt. Es hat nur noch zehn Jahre zu leben, denn ab ungefähr 1942 schließt es sich der Widerstandsgruppe Weiße Rose an, verteilt Flugblätter gegen Hitler, ruft zum Sturz des NS-Regimes auf, wird verhaftet und 1943 ermordet, gemeinsam mit dem Bruder Hans und anderen Mitgliedern der Widerstandsgruppe.

Auch außerhalb Deutschlands gab es den Aufstand des Gewissens und der Menschlichkeit gegen Hitler. Dafür werden in diesem Buch zwei Beispiele erzählt, das von Janusz Korczak und Irena Sendler, beide aus Polen. Als deutsche Truppen Polen überfielen und besetzten, wurde systematisch Jagd auf Juden gemacht. In Warschau wurden sie aus ihren Wohnungen vertrieben und ins Getto gepfercht. Auch ein Waisenhaus mit jüdischen Kindern musste ins Getto. Als dort 200 Kinder von der SS zum Abtransport in das Vernichtungslager Treblinka abgeholt wurden, konnte der Leiter des Waisenhauses, der Arzt und Pädagoge Janusz Korczak, seine Kinder nicht im Stich lassen und bestand darauf, mitzufahren. Gemeinsam mit seinen Kindern starb er in der Gaskammer. Eine andere Polin, die Krankenschwester Irena Sendler, verschaffte sich unter dem Vorwand der Epidemiekontrolle Zugang zum Warschauer Getto und schmuggelte zusammen mit Helfern 2500 jüdische Kinder heraus, brachte sie in polnischen Familien, Klöstern und Waisenhäusern unter, verschaffte ihnen falsche Papiere und rettete ihnen dadurch das Leben.

Die größte, am weitesten verzweigte und für das Hitler-Regime gefährlichste Widerstandsgruppe aber hatte ihr Zentrum rund 200 Kilometer östlich von Berlin in einem kleinen Nest, das heute aber weltberühmt ist eben wegen des Widerstandes. Der Ort heißt Kreisau, liegt in Schlesien, heißt heute Krzyżowa und gehört zu Polen. Dort wohnte die Familie von Moltke. Dort traf sich von 1933 an fast alles, was Rang und Namen hatte und gegen Hitler war. Dieser Kreisauer Kreis wurde mit den Jahren immer größer und soziologisch immer bunter. Konservative Adlige, Sozialisten, Protestanten, Katholiken fanden sich auf dem Schloss von Helmuth James Graf von Moltke zusammen und berieten, wie man Hitler stürzen könne und wie es danach weitergehen sollte. Diese Menschen hätten sich zur Keimzelle eines neuen Deutschland entwickeln können, wenn nicht auch sie vorzeitig entdeckt und Hitlers Schlächtern ausgeliefert worden wären. Einige Mitglieder dieses Kreises hatten auch das Attentat des Grafen Claus Schenk von Stauffenberg mitgeplant. Auch dieser Anschlag auf Hitler scheiterte, aber er wurde zum Symbol des Widerstandes und zum Beweis, dass sich nicht alle verkrochen hatten damals, wie es Victor Klemperer in seiner Einsamkeit erschien.

Klemperer konnte das natürlich nicht wissen, denn jede Opposition gegen Hitler war lebensgefährlich. Wer sich daran beteiligte, musste es heimlich tun, im Untergrund, vom Ausland aus, verdeckt, konspirativ. Zu Klemperer konnte daher von den geheimen Plänen und Aktionen nichts durchdringen.

Auch deshalb nicht, weil der ganze Widerstand letztlich erfolglos blieb. Viele derer, die es gewagt hatten, gegen die Barbarei zu kämpfen, haben mit ihrem Leben dafür bezahlt. Erreicht haben sie so wenig wie jene, die davongekommen sind. Es brauchte die geballte Kraft der Armeen Russlands, Amerikas, Englands und Frankreichs, um Hitler niederzuringen.

Daher kann man die Widerständler als Gescheiterte betrachten. Einzeln, immer nur für sich betrachtet, waren sie das auch, denn keiner hat sein Ziel – Hitlers Herrschaft zu beenden – erreicht. In ihrer Summe aber beweisen sie und all jene, die Juden versteckt, zur Flucht verholfen oder Oppositionelle beschützt, abgeschirmt oder vor der Gestapo bewahrt haben: Es hat auch ein anderes Deutschland gegeben. Das zu beweisen, war ebenfalls ein Ziel vieler Widerständler und dieses Ziel haben sie erreicht.

Dank ihrer weiß die Welt: Nicht alle Deutschen waren Mörder. Nicht alle waren Mitläufer. Nicht alle haben geschwiegen. Gewiss, es waren wenige. Das lag aber nicht nur an einem allgemeinen Mangel an Mut, das lag auch daran, dass Hitler vom ersten Tag seiner Kanzlerschaft an seine Gegner systematisch verhaften, verschleppen und ermorden ließ, in die Flucht trieb oder im Krieg verheizte. Sie waren gar nicht mehr in der Lage, wirksam Widerstand zu leisten. So blieben nur noch wenige, die trotz aller Widrigkeiten und unter Lebensgefahr von der Existenz eines anderen Deutschlands künden konnten, aber es waren doch so viele, dass sie als Ganzes sichtbar hervortreten und man heute über sie sagen kann: Ihr Einsatz hat sich gelohnt. Ihre Handlungen waren nicht sinnlos. Sie haben uns Deutschen nach dem Krieg die Rückkehr in die Welt ermöglicht. Ihr Opfer war nicht umsonst.

Dietrich Bonhoeffer

Dem Rad in die Speichen fallen

* 1906 in Breslau — 1912 Umzug der Familie nach Berlin — 1923 Theologiestudium in Tübingen, Rom und Berlin — 1927 Promotion — 1928 Erstes theologisches Examen, Vikariat in Barcelona — 1930 Zweites theologisches Examen und Habilitation, Studienaufenthalt am Union Theological Seminary in New York — 1933–35 Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in London-Sydenham — 1935 Leitung des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Zingst und Finkenwalde, nach der Schließung 1937 Fortsetzung im Untergrund — 1936 Entziehung der Lehrerlaubnis für Hochschulen — 1942 Begegnung mit dem Bischof von Chichester, George Bell — 1943 Verlobung mit Maria von Wedemeyer — 5. April Verhaftung durch die Gestapo unter Beschuldigung der Wehrkraftzersetzung — 8. April 1945 Verurteilung zum Tod, Hinrichtung am 9. April

Maria hieß sie, war zwanzig Jahre alt und hatte sich gerade in einen 18 Jahre älteren Mann verliebt. Im Februar 1943 schrieb sie ihm: »Wenn Du mich hier so sehen würdest. Ich glaube, Du würdest mich manchmal gar nicht mögen. – Wenn ich so wild reite und mich mit Stallknechten auf Platt unterhalte. – (…). Wenn ich Grammophon spiele, dazu auf einem Bein durch die Stube hüpfe und auf das andere einen Strumpf mit einem riesengroßen Loch ziehe, (…) Ich mache noch viel schlimmere Sachen. Ich rauche eine Zigarre, weil ich solch ein Ding noch nie geraucht habe und doch wissen muß, wie das ist, und dann ist mir so sauhundeschlecht, daß ich weder zum Mittag noch zum Abendbrot etwas essen kann. – Oder ich stehe in der Nacht auf, ziehe ein langes Kleid an, tanze wie wild im Saal – gehe mit Harro spazieren und schlafe dafür am ganzen Vormittag durch.«

Im Mai 1944 schrieb sie, nachdem sie bei herrlichem Frühlingswetter im Garten gearbeitet hat: »Und vor allem freue ich mich drauf, das einmal in einem eigenen Gärtchen tun zu dürfen. Hilfst Du mir dann? Stellst Du Dir das nicht wahnsinnig lustig vor, wenn wir beide zusammen unseren Garten hübsch machen. In die Mitte kommt ein großer Rasenplatz, auf dem im Frühjahr Krokusse und dann Schlüsselblumen und Vergißmeinnicht wachsen. (…) In unserm Garten steht ein weißer Tisch mit Bank und Stühlen und im Sommer frühstücken wir draußen. Einen Hund haben wir vielleicht auch. – Es wird traumhaft schön werden. Und ich freue mich drauf!«

Der Traum wird sich nie erfüllen.

Der Mann, dem diese Briefe gelten, sitzt im Gefängnis und geht ein Jahr später aufs Schafott. Dietrich Bonhoeffer heißt er, Pfarrer ist er und gehört zu den wenigen in Deutschland und in der Evangelischen Kirche, die Hitler von Anfang an durchschauen und darum konsequent und kompromisslos bekämpfen.

Im Januar 1943 hat er sich mit Maria von Wedemeyer verlobt. Kaum drei Monate später wird er verhaftet. Aus dem Gefängnis schreibt er an den Freund Eberhard Bethge über seine Beziehung zu Maria: »Nun sind wir fast ein Jahr verlobt und haben uns noch nie eine Stunde allein gesehen. Ist das nicht Wahnsinn?«

Bei diesem Wahnsinn bleibt es.

Dietrich und Maria leben ihre kurze Liebe über Briefe aus. Zuletzt gibt es nicht einmal mehr Briefe. Der Kontakt zwischen den beiden reißt ab, als die Nazis ihn aus seinem Berliner Gefängnis holen, um ihn über mehrere Stationen quer durch Deutschland ins Lager Flossenbürg zu bringen. Als er dort am 9. April gehängt wird, wissen weder Maria noch seine Angehörigen, wo er ist, ob er noch lebt oder schon tot ist. Erst nach Kriegsende können sie mühsam in Erfahrung bringen, wie die letzten Monate in Dietrich Bonhoeffers Leben endeten.

Aus welchem Holz muss einer geschnitzt sein, der solch einen Leidensweg auf sich nimmt? Bonhoeffer hätte nach seiner Verlobung noch rechtzeitig aussteigen, sich aus der Gefahr begeben, mit seiner Maria ins Ausland fliehen können. Jeder normal verliebte Mensch hätte das getan, hätte sich gesagt: Pfeif auf Hitler, pfeif auf den Widerstand, die Liebe meines Lebens ist mir jetzt wichtiger, ich muss an unsere gemeinsame Zukunft denken. Er hat es nicht getan.

Und sie, Maria? Sie trug es mit. Nie hat sie ihn gebeten, um ihrer gemeinsamen Zukunft willen von seinem gefährlichen Tun abzulassen. Sie hat gebangt, gezittert um ihn, aber sich nie beklagt, nie daran gezweifelt, dass er tun muss, was er tut. Beide stimmten darin überein, dass es etwas gibt, was das Menschsein übersteigt und wichtiger ist als alles andere, wichtiger auch als ihre Liebe.

Wie wird man so? Wie entwickelt sich aus einem Kind ein junger Erwachsener, der lieber ins Gefängnis geht und seinen Tod in Kauf nimmt, als seine Verliebtheit auszuleben? Woher weiß einer, wann er ruhig mit dem Strom schwimmen kann und wann unter gar keinen Umständen? Woher nimmt er die Kraft, gegen den Strom zu schwimmen, woher den Mut, die Sicherheit des eigenen Urteils? Und woher die Gelassenheit gegenüber der Gefahr des Todes?

Bei den Menschen, die wir heute als Widerstandskämpfer bezeichnen, handelte es sich um sehr unterschiedliche Charaktere. Die einen waren zu Beginn für Hitler oder zumindest nicht gegen ihn und haben längere Zeit gebraucht, um gegen ihn zu sein, und noch länger, um ihn aktiv zu bekämpfen. Viele Offiziere der Wehrmacht gehörten zu dieser Gruppe. Andere, meist eher unpolitische Menschen, verhielten sich anfangs neutral, gleichgültig, abwartend, bis sie aktiv wurden. Eine dritte Gruppe wusste von Anfang an: Diesen Hitler, seine Helfer, deren Weltanschauung und deren Politik muss man bekämpfen, kompromisslos. Das waren in der Regel Kommunisten, die aber zuvor leider auch die Demokratie bekämpft und deshalb mit dazu beigetragen haben, Hitler zu ermöglichen. Und: Sie waren gegen Hitler, weil sie für Stalin waren, den anderen Diktator und Massenmörder.

Und dann gab es noch einige wenige wie Bonhoeffer, die von Anbeginn gegen diese ganze Diktatur kämpften, aber nicht, weil sie Kommunisten waren, sondern Christen. Und von jenen war Bonhoeffer der Entschiedenste, der schon ganz früh öffentlich opponierte und wusste: Da gibt es nicht viel zu diskutieren, da hat man keinen Entscheidungs- und Interpretationsspielraum. Entweder ist man Christ, dann kann man kein Nazi sein. Oder man ist Nazi, dann kann man kein Christ sein. Und dann gab es plötzlich massenhaft beides, christliche Nazis, nationalsozialistische Christen. Etwas, was Bonhoeffer zwar erschütterte, aber nicht verunsicherte, sondern nur sein theologisches Denken tief greifend veränderte.

Schon als junger Mann hatte er, wo andere schwankten, ein entschiedenes Urteil, kein vorschnelles, sondern eines, das Bestand hatte über den Tag hinaus. Als der 16-jährige Schüler Bonhoeffer im Jahr 1922 hörte, der Reichsaußenminister Walther Rathenau sei von Rechtsextremisten erschossen worden, habe Bonhoeffer mit großer Entrüstung reagiert, berichtet einer seiner Mitschüler. Rathenau war ein auf Ausgleich bedachter Friedenspolitiker, der Deutschland zu einem verlässlichen Partner in Europa entwickeln wollte. Seine Position war jedoch damals in konservativen Kreisen, im Adel, im Militär höchst umstritten. Nur wenige teilten sie, zu den wenigen gehörte Bonhoeffer.

Über dessen Reaktion auf den Rathenau-Mord sagte der genannte Mitschüler: »Ich erinnere mich, dass er fragte, wo denn Deutschland hinkommen solle, wenn man ihm seine besten Führer ermorde. Ich erinnere mich daran, weil ich es bewunderte, dass man so genau wissen konnte, wo man stand.«

Zu wissen, wo man steht, war nicht leicht in der jungen, von vielen Seiten angefeindeten Weimarer Demokratie. Bonhoeffer jedoch wusste es stets mit fast traumwandlerischer Sicherheit. Hitler war noch gar nicht an der Macht, aber schon gab Bonhoeffer wie ein Seher merkwürdige Sätze von sich. Verstanden haben sie wohl nur wenige, viele hielten sie für übertrieben, aber schon wenige Jahre später wurden sie traurige Realität: »Wir müssen uns nicht wundern, wenn auch für unsere Kirche wieder Zeiten kommen werden, wo Märtyrerblut gefordert werden wird«, sagte er in einer Predigt im Juni 1932.

Und als Hitler dann am 30. Januar 1933 zum Kanzler ernannt wurde, trug Bonhoeffer nur zwei Tage später im Rundfunk seine gegen Hitler gerichteten Gedanken über die Figur des Führers vor, der in der Gefahr steht, zum Verführer zu werden. Obwohl er da noch fast ganz im Sinne des konservativen Bürgertums argumentierte, gegen die Führerschaft einzelner Menschen nichts einzuwenden hatte und über Hitler selbst kein Wort verlor, brach die Sendeleitung Bonhoeffers Radio-Essay vorzeitig ab – zu brisant waren seine Gedanken, zu deutlich erkennbar war die indirekte, in seinen allgemeinen Erwägungen enthaltene Kritik an jenem Verführer, der sich mit »mein Führer« anreden ließ.

Während also die Masse des Volkes Hitlers Ernennung zum Reichskanzler feierte, andere sich noch abwartend verhielten und nicht wenige, selbst viele Juden, sich der irrigen Annahme hingaben, bei Hitler handle es sich um einen kurzen Spuk, gehörte Bonhoeffer schon zu jener sehr kleinen Minderheit, die mit untrüglichem Instinkt spürte, dass nun alles auf eine Katastrophe zusteuern würde, wenn den Nationalsozialisten kein Einhalt geboten werde. Tief sitzende antijüdische Vorurteile in gebildeten konservativen, kirchlichen und sogar liberalen Kreisen waren weit verbreitet. Kaum jemand ergriff Partei für die jüdischen Mitbürger, die nun von Tag zu Tag mehr unter Schikanen und Gewalt zu leiden hatten. Nur Bonhoeffer hatte lediglich zwei Monate gebraucht, um unerschrocken und deutlich wie immer seiner Kirche öffentlich ihren Platz an der Seite der Juden zuzuweisen.

Mit derselben Unerschrockenheit formuliert er zu dieser Zeit auch schon klar und hellsichtig wie kaum ein anderer ein Programm des Widerstands, das er dann später tatsächlich ganz konsequent durchziehen wird bis zu seinem Tod: Wenn der Staat gegen seine elementaren Pflichten verstößt und die Fundamente des Rechts aushöhlt, dann stehen der Kirche drei abgestufte Verhaltensmuster zur Verfügung. Erstens muss sie öffentlich Stellung beziehen gegen solch einen Staat, zweitens muss sie sich um die Opfer staatlichen Handelns – also beispielsweise um die Juden – kümmern und drittens besteht die Pflicht der Kirche darin, »nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen«, womit gemeint ist: handfest einzugreifen, den Wagen zum Stehen zu bringen, durch aktiven Widerstand.

Nur ganz wenige hatten damals Ohren für diese Botschaft. Früh schon wurde es einsam um Bonhoeffer und es stellt sich die Frage: Warum haben nicht alle so klarsichtig und entschieden gehandelt wie er? Wie konnte die Masse der Deutschen sich dieser einzig richtigen und wahrhaft vernünftigen Position Bonhoeffers widersetzen? Und woher nahm Bonhoeffer die Kraft und die Sicherheit, der Masse zu widerstehen?

Letztgültig lassen sich solche Fragen nicht beantworten, aber vermutlich gilt für Widerstandskämpfer auch nur, was für alle Menschen gilt: Was aus einem wird, hängt am wenigsten von ihm selber ab, sondern von den Zufällen, in die einer hineingeboren wird und die ihm im Lauf seiner Entwicklung widerfahren. Auch Widerstandskämpfer wird man vermutlich nur zu einem geringen Teil aus eigener Kraft und zu einem großen aus geschenkter.

Der Tank, aus dem in der Regel die meiste Kraft kommt, die Kraft fürs Leben, ist etwas sehr Altes und sehr Einfaches: die Familie. Zu welchen Überzeugungen einer gelangt, welcher Charakter in ihm heranreift, wofür er sich interessiert und wofür nicht, ob er für seine Überzeugungen kämpft oder sie verleugnet oder nie welche entwickelt, wird stark vorbestimmt von der Familie, in der er aufwächst.

Natürlich spielen auch die Gene, körperliche Robustheit, Gesundheit und die geistig-seelischen Anlagen, mit denen einer geboren wird, eine Rolle. Aber auch das kommt von Mutter und Vater und deren Vorfahren. Im Verlauf der Entwicklung eines Kindes üben mit fortschreitender Zeit die Geschwister einen wachsenden Einfluss aus, dazu Verwandte, Lehrer, Pfarrer, und nicht zu vergessen die Lektüre und die religiös-weltanschaulichen Überzeugungen, mit denen ein Kind in Berührung kommt, was aber ebenfalls zum großen Teil ein Ergebnis des Familienlebens und eine Folge unvorhergesehener Ereignisse, Erlebnisse und Zufälle ist.

Was an dem Ort, an dem man aufwächst, gedacht wird, als Wahrheit gilt, für gut befunden wird und was nicht, das dringt unaufhaltsam in Leib, Seele und Geist eines heranwachsenden Menschen ein und gewinnt Macht über ihn. Wenn einer in eine Welt hineingeboren wird, in der er von lauter Mitläufern umgeben ist, wird er sehr wahrscheinlich ebenfalls ein Mitläufer. Denkt seine Welt antisemitisch, entwickelt er sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Antisemiten.

Bevor also einer überhaupt erst damit beginnen kann, sich selbst zu formen, ist er schon vorgeformt worden von den Zusammenhängen und Strukturen, die nun einmal da sind, wenn man geboren wird, von einer Gesamtkonstellation, die sich aus dem Zusammenspiel von Familie, Politik, Wirtschaft, Technik, Religion, Geschichte, Landschaft, Schuldzusammenhängen und Verstrickungen seiner Zeit ergibt. So wird jeder zu einem Kind seiner Zeit und meistens gelingt es immer nur wenigen, sich von diesen zufälligen, aber prägenden Konstellationen zu emanzipieren und sich seine eigene Form zu geben. Es müssen viele günstige Umstände zusammenkommen, wenn einer es schafft, sich über die Zufälle seiner Existenz zu erheben, sich mit den Bedingtheiten seines Lebens auseinanderzusetzen, und sie in freier Entscheidung zu überwinden.

Man kann das gut zeigen am Beispiel des Pfarrers und Theologen Dietrich Bonhoeffer. Bei ihm ist es ein großbürgerlicher Professorenhaushalt in Breslau, in den er im Februar 1906 als sechstes von acht Geschwistern hineingeboren und in dem er geprägt wird. Die Familie bewohnt eines jener großen Bürgerhäuser, die man heute als »Herrenhaus« bezeichnen würde, und seine Bewohner fühlen sich auch so. Man weiß, wer man ist. Man hat Personal, Gesinde, das zu solch einem Haus gehört: die Köchin, das Stubenmädchen, der Chauffeur, die Erzieherin und weitere Dienstboten. Geldsorgen kennt die Familie nicht. Die Kinder haben genug Spielzeug, Bücher, Platz für Freunde, ein eigenes Zimmer, einen Garten und ein Ferienhaus im Harz.

Aber man versteht sich als Herr im guten Sinn. Im Hause Bonhoeffer beruft man sich nicht auf seine Herkunft, sondern auf seine Leistung. Man fühlt sich nicht geboren, um zu herrschen, sondern um zu dienen: Zwar mit Autorität und dem Anspruch auf Gehorsam, aber in Verantwortung für die, die einem anvertraut sind. Die Welt ist klar geordnet, die Rollen sind ebenso klar definiert und eindeutig zugewiesen. Wie in der Familie der Vater als Patriarch in der Mitte stand und alles dominierte, so stand in der Nation der Kaiser an der Spitze, und ihm war alles andere untergeordnet. Der Staat, die Nation, das Militär, das waren zu jener Zeit drei Faktoren, die sich selbstverständlicher und zugleich höchster Wertschätzung erfreuten im Bürgertum, im Großen und Ganzen auch im Hause Bonhoeffer.

Und so steht denn auch im Zentrum der Familie der Vater, Karl Bonhoeffer, Professor für Psychiatrie und Neurologie. Er ist nicht nur Vater, sondern eine Institution, zu der man als Kind Distanz hält und der man sich nur mit Respekt nähern kann. Er spricht leise und nicht viel. Umso größer ist die Aufmerksamkeit, wenn er etwas sagt, und umso gewichtiger ist das wenige, das er sagt. Entsprechend verlangt er auch von seinen Kindern, sich knapp, klar und sachlich auszudrücken – womit er diese einerseits einschüchtert, ihnen manche Hemmung auferlegt, sie andererseits zwingt, vor dem Reden zu denken.

Über die dadurch erzeugten Hemmungen dachte Bonhoeffer später, als Erwachsener, nach und kam zu dem Schluss, dass sie für ihn am Ende ein Vorteil waren: »Manche verderben sich selbst dadurch, dass sie sich mit Mittlerem abfinden und so vielleicht schneller zu Leistungen kommen, sie haben eben weniger Hemmungen zu überwinden. Ich habe es als einen der stärksten Erziehungsfaktoren in unserer Familie empfunden, dass man uns so viele Hemmungen zu überwinden gegeben hat (in Bezug auf Sachlichkeit, Klarheit, Natürlichkeit, Takt, Einfachheit etc.), bevor wir zu eigenen Äußerungen gelangen konnten. (…) Und manchmal dauert es lange, ehe man eine solche Hürde genommen hat, und man denkt wohl auch gelegentlich, man hätte auf sehr viel billigere, leichtere Weise zu Erfolgen kommen können, wenn man diese Hindernisse einfach umgangen hätte.«

Meistens sahen die Kinder ihren Vater nur bei Tisch, immer mittags um zwei, und dort ging es – nach heutigen Maßstäben – etwas steif zu. Die Kinder durften nur etwas sagen, wenn sie gefragt wurden. Hielt der Vater im Haus nachmittags Sprechstunde für seine Patienten, wurde von den Kindern absolute Rücksichtnahme verlangt. Das Arbeitszimmer des Vaters war tabu und durfte nur in ganz seltenen Ausnahmefällen mit besonderer Erlaubnis der Mutter betreten werden.

In den meisten bürgerlichen und großbürgerlichen Haushalten war das damals so. Das Leben, das Verhalten wie die Überzeugungen waren in ihren Grundmustern genormt. Selbstverständlich war man national gesinnt, selbstverständlich akzeptierte man die Monarchie. Und dass alle führenden Köpfe der Nation aus dem Adel und dem Großbürgertum stammten, hielt man für so selbstverständlich wie ein Naturgesetz. Auch der junge Dietrich Bonhoeffer dachte so, hielt nichts von der Sozialdemokratie, den Arbeiterparteien und schon gar nichts von den Kommunisten. Diese Kräfte bedeuten für ihn damals Unordnung, Chaos, die Macht der Straße, Anarchie, Bolschewismus.

Er hatte bis dahin allerdings auch nie seine großbürgerlichen Kreise verlassen, hatte nie einen Anlass, in jene Armutsviertel zu gehen, in denen die Arbeiter, die Arbeitslosen und sein Dienstpersonal lebten. Später, als Pfarrer, wird er in diese Viertel gehen. Und seine Meinung ändern.

Dass er es tut und sich damit aus seiner Familie entfernt, wurzelt dennoch im Leben seiner Familie. Innerhalb der ganzen Uniformität des Großbürgertums blieb noch ein großer Spielraum für beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Häusern, und diese Unterschiede brachten unterschiedliche Biografien hervor. So wissen sich die Bonhoeffer-Kinder bei aller Distanz zum Vater und dessen damals üblicher Strenge auf eine verborgene Weise dennoch von ihm geliebt, was damals noch weniger selbstverständlich war als heute. Sie bemerken die Liebe ihres Vaters nicht an seinen Worten, schon gar nicht an zärtlichen Gesten, Umarmungen, Gefühlsäußerungen, sondern an den Nuancen menschlichen Verhaltens, der sparsamen, von angestrengter Selbstbeherrschung reduzierten Mimik, Gestik und Sprache ihres Vaters.

Als im Jahr 1918 Dietrichs Bruder Walter im Ersten Weltkrieg getötet wird, zeigt der Vater äußerlich kaum eine Regung. Wie tief sein Schmerz tatsächlich war, wird erst sehr viel später deutlich, als die Familie herausfand, dass er von jenem Tag an zehn Jahre lang das Familientagebuch nicht weiterschreiben konnte.

Mindestens so wichtig wie der Vater war die Mutter Paula. Mütter durften Gefühle zeigen und Paula strömte über von Gefühl, machte aber auch deutlich, dass Gefühl und Verstand zusammengehören. Und: Sie hielt nichts von der preußischen Erziehung, dem Drill, der Unterwerfung, der Erziehung zu Ruhe und Ordnung als erster Bürgerpflicht. Kritisch äußerte sie immer wieder, den Deutschen würde im Leben gleich zweimal das Rückgrat gebrochen, zuerst in der Schule, dann im Militär – eine durchaus zutreffende Beschreibung der Erziehung im Reich des Kaisers Wilhelm. Wohl auch eine der Ursachen dafür, dass später ein Hitler möglich werden konnte und so viele zum Gehorsam erzogene Offiziere und Beamte sich bis zuletzt so schwergetan hatten, gegen Hitler aufzustehen.

Im Haus Bonhoeffer dagegen atmete ein Geist der Freiheit und der kritischen Prüfung. Sowohl der Vater wie die Mutter haben diesen Geist gefördert und der Vater als Mann der Wissenschaft impfte seine Kinder mit nüchternem Realitätssinn und Misstrauen gegen große Worte, große Gefühle, Phrasen, Geschwätz, Schlagwörter, Gemeinplätze und Wortschwalle. So erzogene Kinder mussten fast zwangsläufig immun werden gegen den Pomp des Nationalsozialismus, die Beschwörung falscher Gefühle, die Lüge und die Heuchelei. Wo andere der Faszination der Massenaufmärsche, dem Führerkult, dem bloßen Schein, dem falschen Pathos und dem Glamour der nationalsozialistischen Inszenierungen erlagen, durchschauten die Bonhoeffers von Anfang an, welche Dämonen hinter der glänzenden Fassade ihr Unwesen trieben. Sie hörten aus der Sprache der NS-Redner deren barbarische Gesinnung und deren Mangel an Geist, Kultur und Bildung heraus. Wo andere vor Ehrfurcht schauderten, erkannten sie die Jämmerlichkeit der Figuren, die sich da zu Übermenschen aufgeblasen hatten.

Insofern hatten die Bonhoeffer-Kinder einfach Glück mit ihrem Elternhaus. Glück hatten sie auch noch auf andere Weise. Sie lernten schon am Familientisch, dass man sich politisch streiten kann, ja soll, dass man unterschiedliche Meinungen über die Monarchie und das kaiserliche Deutschland haben kann, und dass es diese unterschiedlichen Meinungen auch in der eigenen Familie und ihrer sehr bunten Verwandtschaft gibt, und zwar schon länger. Die Familie des Vaters bestand durchaus nicht nur aus treuen Untertanen des Kaisers, sondern es gab auch schon liberale Demokraten, und unter den adligen Vorfahren der Mutter gab es auch manchen Aussteiger und auch einen, der im Gefängnis war, weil er 1848 für die Republik gekämpft hatte.

Im großen Haus der Eltern lebten zeitweise ledige oder verwitwete Tanten, ältere Vettern und die Großmutter. Onkel und Cousinen kamen zu Besuch, aber auch Kollegen und Studenten des Vaters, Freunde und Freundinnen aus der Nachbarschaft, Bräute und Verlobte der älteren Geschwister – was ebenfalls ein großes Glück ist für ein Kind. Wie viel Anregungen für die Fantasie, wie viel Anlässe zum selbstständigen Weiterdenken ein Kind allein aus den vielfältig aufgeschnappten Erzählungen, Meinungsäußerungen, Streitigkeiten, Gesprächsfetzen und den persönlichen Beziehungen in solch einem von den unterschiedlichsten Menschen bevölkerten sozialen Kosmos erhält, kann man kaum ermessen.

Und schließlich: Als Dietrich Bonhoeffer sechs Jahre alt ist, zieht die Familie aus Breslau nach Berlin. Der Vater übernimmt dort den führenden Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie und die Leitung der Berliner Charité. Damit ist er nun weit oben angekommen in der gesellschaftlichen Hierarchie des Kaiserreichs aber auch in der internationalen Hierarchie der Wissenschaftler. Er wohnt standesgemäß in einer Villa im Professorenviertel im noblen Stadtteil Grunewald und hat als Nachbarn den Physiker Max Planck, den Theologen Adolf von Harnack, den Historiker Hans Delbrück. Die besucht man auch und die kommen selbst zu Besuch ins Haus. Im Schlepptau haben sie oft auch noch Gäste aus dem Ausland, berühmte Gäste meistens, und wenn nicht berühmt, so zumindest bedeutend. Menschen, die andere Leute nur aus der Zeitung oder dem Lexikon kennen, gehen im Hause Bonhoeffer ein und aus und hinterlassen ihre Eindrücke in Dietrichs Kopf.

Ein weiterer für die Entwicklung Dietrich Bonhoeffers wichtiger Punkt, in dem er sich von seinen Durchschnitts-Zeitgenossen unterschied, war sein früh erworbener Kosmopolitismus. 1934, also ein Jahr nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, hatte der damals 28-jährige Bonhoeffer schon einen Studienaufenthalt in Rom, ein Vikariat in Barcelona, ein Studiensemester in New York und ein Jahr als Pfarrer in London hinter sich. Noch vor Vollendung seines 30. Lebensjahres war Bonhoeffer international vernetzt und hatte gelernt, dass auch andere Völker und Nationen ihre Dichter und Denker hatten und über eine den Deutschen in jeder Hinsicht ebenbürtige Kultur und Wissenschaft verfügten.

Aus diesen Glückstreffern aber machte Bonhoeffer dann sein Eigenes. Begonnen hatte er damit schon in frühester Jugend, als er sich im Alter von 15 Jahren entschied, an seinem Gymnasium Hebräisch als Wahlfach zu nehmen. Das war praktisch schon die Vorentscheidung für die Theologie, die er dann später tatsächlich studierte.

Warum ausgerechnet Theologie? Warum nichts Handfestes wie seine Geschwister, die Naturwissenschaftler, Juristen oder wenigstens Sozialpädagogen wurden? Sein Vater, das spürte er, sah es ungern, obwohl er kein Wort darüber verlor und sich nie erlaubt hätte, seine Kinder daran zu hindern, ihre eigenen Wege zu gehen. Die Gründe konnte der junge Bonhoeffer anscheinend selbst nicht so richtig nennen. Vielleicht war es ja einfach nur der Wunsch, etwas ganz anderes machen zu wollen als seine Geschwister und der Vater, um sich auf einem der Familie fremden Feld selbstständig zu bewähren.

Aber dass die Entscheidung richtig war, daran gab es, je älter er wurde, umso weniger Zweifel. Und später, als Bonhoeffer mitten im Getümmel des gefährlichen Widerstands gegen Hitler steckte, sah auch der Vater ein, dass er sich mit seiner unausgesprochenen Geringschätzung des Theologen und Pfarrers wohl geirrt hatte. In einem Brief gestand der Vater dem Sohn: »Als Du Dich seinerzeit für die Theologie entschlossen hast, dachte ich manchmal im Stillen, dass ein stilles, unbewegtes Pastorendasein, wie ich es von meinen schwäbischen Onkeln kannte und wie es Mörike schildert, eigentlich doch fast zu schade für Dich wäre. Darin habe ich ja, was das Unbewegliche anlangt, mich gröblich getäuscht. Daß eine solche Krise auch auf dem Gebiete des Kirchlichen noch möglich wäre, schien mir aus meiner naturwissenschaftlichen Erziehung heraus eigentlich ausgeschlossen.«

Wie der Vater, so hatten auch Bonhoeffers Lehrer an der Universität und seine Kollegen und Vorgesetzten in der Kirche nicht mit etwas gerechnet, womit man in der Kirche eigentlich immer rechnen sollte, auch wenn es viel zu selten geschieht: Bonhoeffer nahm die Bibel beim Wort. Nicht wörtlich im Sinne von Buchstabenglaube nahm er das Wort Gottes, sondern ernst nahm er es, tödlich ernst.

Für Bonhoeffer hat nie ein Zweifel daran bestanden, dass Leben und Glauben zusammengehören. Fast instinktiv hat er die in seiner Kirche allgegenwärtige Tendenz bekämpft, scheinbar sauber zu trennen zwischen relevanter »Welt« und irrelevantem »Evangelium«. Was einer im Hören auf das Wort Gottes als wahr erkannt hat, muss er öffentlich aussprechen. Und was er öffentlich ausgesprochen hat, muss er tun. Was sonntags gepredigt wird, muss werktags gemacht werden, auch wenn es unbequem ist. Der christliche Glaube ist nicht dazu da, wohlhabenden Bürgern eine erbauliche Stunde im Sonntagsgottesdienst zu bereiten, ihrer Bürgerlichkeit die religiösen Weihen zu verleihen und das Sahnehäubchen für ihr sorgenfreies Leben abzugeben.

Bonhoeffer las daher die Bibel nicht zu seiner Erbauung oder zur Befriedigung religiöser Gefühle, sondern weil er tatsächlich erwartete, dass durch den alten Text über den Graben der Geschichte hinweg Gottes Stimme selbst zu hören ist. Wohl wissend, dass diese alten, schwer verständlichen Texte der Bibel zu ganz anderen Zeiten von uns völlig fremden Menschen für ganz andere Menschen als uns geschrieben wurden, las er in der Erwartung, aus diesen Buchstaben das lebendige Wort Gottes herauszuhören. Wer sich ganz ehrlich diesem toten Buchstabenhaufen öffnet und wirklich aufmerksam und unvoreingenommen hinhört, der wird auch etwas hören, und zwar das aktuell, jetzt für die jeweilige Gegenwart gültige Wort Gottes – das hat Bonhoeffer geglaubt.

In diesem Glauben hat er dann auch tatsächlich etwas gehört. Das passiert selten in der Kirchengeschichte, aber zuverlässig immer wieder, und wenn es passiert, ist in der Kirche meistens der Teufel los. Genau das geschah auch, als Bonhoeffer einfach Ernst machte mit dem Evangelium und sich von diesen alten Texten durch seine Gegenwart führen ließ wie ein Blinder von seinem Blindenhund. So, nicht anders, wurde er herausgeführt aus seiner bürgerlichen Herkunft, immer weiter weg von seinem staatsgläubig protestantischen Traditions-Christentum.

Daran erkennt man im Übrigen mit hoher Verlässlichkeit, dass einer wirklich Gott gehört hat und nicht sich selbst, dass es einen wegführt vom Gewohnten, meistens mit Unannehmlichkeiten verbunden ist für einen selbst und die anderen und in der Regel großen Ärger einbringt. Was aber hat Bonhoeffer »gehört«? Natürlich nicht einen Ruf wie Donnerhall nach dem Muster: Werdet Widerstandskämpfer! Auch nicht: Stürzt Hitler! Oder: Mischt kräftig in der Politik mit!

Nein, was er hörte, waren einfach nur Gedanken, die sich ganz leise in seinem Kopf zusammensetzten und sachliche, unspektakuläre, aber eindeutige Sachverhalte ausdrückten: Was bei euch mit den Juden geschieht, ist nicht Gottes Wille. Oder: Was dieser Hitler tut, steht ihm nicht zu. Er überschreitet seine Grenzen.

Mehr war es nicht. Aber wenn einer so etwas hört und ernst nimmt, ergibt sich der Rest von selbst.

Hitler begann mit der Zerstörung der Demokratie vom ersten Tag seiner Kanzlerschaft an. Versammlungsverbote, Gleichschaltungsgesetze, der geduldete, teilweise staatlich geförderte Terror der Straße, angeführt von SA-Trupps, Einschüchterung der Gegner, Verhaftung der Kritiker, das nahm nun kein Ende mehr. Am 7. April 1933 eröffnete die Regierung die offizielle, staatlich betriebene Hetze gegen die Juden mit dem »Arierparagrafen«. Sein Inhalt: »Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen.« Das hieß: Die Juden waren aus dem Staatsdienst zu entlassen. Wovon sie künftig leben sollten, war dem Staat egal.

Die Kirchen waren von dem Paragrafen nicht betroffen. Noch nicht. Aber Bonhoeffer ahnte schon, was kommen würde, schrieb deshalb vorsorglich einen Vortrag über Die Kirche vor der Judenfrage, und noch im selben Monat, also im April, trug er ihn in einem Kreis von Pfarrern vor. Es ist jener bereits erwähnte Vortrag, in dem er davon spricht, dass es zur Pflicht der Kirche werden könnte, »dem Rad in die Speichen zu fallen«.