Mutter London - Michael Moorcock - E-Book

Mutter London E-Book

Michael Moorcock

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Beschreibung

Die junge Mary Gasalee erwacht aus einem Jahre währenden Schlaf und findet ein London vor, das sich grundlegend von der Stadt unterscheidet, an die sie sich aus Kriegszeiten erinnert. Zwei völlig unterschiedliche Männer helfen ihr, sich in dieser neuen Welt zurechtzufinden – der Schauspieler und Freigeist Josef Kiss und der Historiker und Einsiedler David Mummery. Doch nicht nur eine starke Zuneigung verbindet diese drei: Sie sind auf geheimnisvolle Weise in der Lage, den Bewusstseinsströmen der anderen Großstadtbewohner zu lauschen, eine Fähigkeit, die sie zwar zu besonderen Menschen macht, ihnen manchmal aber auch den Verstand zu rauben droht. In wechselnden Lebenskonstellationen erkunden sie die ausufernde Metropole London, fortwährend auf der Suche nach einem Miteinander, das ihnen gemäß ist. Michael Moorcock führt uns über Prachtstraßen und durch abgelegene Viertel, lässt uns am Dasein von Arbeitern und Künstlerinnen, Dieben und vornehmen Damen teilhaben und erzählt mit viel Humor vom Schicksal der Bewohner einer Stadt voller Mythen und Abenteuer.

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Seitenzahl: 1000

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Aus dem

Englischen übersetzt von

Hannes Riffel

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Titel der Originalausgabe: Mother London

Erstmals erschienen 1988 bei Secker & Warburg in London

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

© 1988 by Michael & Linda Moorcock // Revised version © Michael & Linda Moorcock 2016 // All characters, the distinctive likenesses thereof and all related indicia are ™ and © 2016 Michael & Linda Moorcock

© der Übersetzung 2025 by Hannes Riffel

© dieser Ausgabe 2025 by Carcosa Verlag, Wittenberge

Alle Rechte vorbehalten

Wir danken Heather Baror von der Agentur Baror International, Armonk, New York, für die freundliche Vermittlung // Die vorliegende Übersetzung folgt der 2016 bei Weidenfeld & Nicolson in London erschienenen, von John Davey redaktionell betreuten Ausgabe // Ganz großer Dank an Hans-Ulrich Möhring, der uns Passagen aus seiner im Entstehen begriffenen Übersetzung der Werke von William Blake überlassen hat // Im Anhang finden sich Anmerkungen sowie Prosaübersetzungen der Lieder und Balladen bzw. bei William Blake die Originaltexte sowie ein Verzeichnis der handelnden Figuren // Besonderer Dank gilt Alexander Pechmann, der die Übersetzung über Monate hinweg geduldig und fachkundig begleitet hat

Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von

Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12053 Berlin

www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung

[email protected]

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von §44b UrhG behalten wir uns ausdrücklich vor.

Lektorat: Alexander Pechmann

Korrektorat: Franz-Josef Knelangen & Udo Klotz

Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-910914-34-6 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-910914-35-3 (E-Book)

Für meine Kinder Sophie, Kate und Max

und ihre Kinder Alex, Tom und Bobby

Besonderer Dank gilt meinem alten Freund Christian von Baudissin für seine Hilfe bei den Vorbereitungen zu diesem Buch.

Dank an Clare Peake für die freundliche Erlaubnis, aus ›London, 1941‹ von Mervyn Peake zu zitieren.

Zitate aus Wheldrakes Penultimate Poems (1897) werden mit freundlicher Erlaubnis der Rechteinhaber publiziert.

Mehrere Flugblätter und volkstümliche Balladen wurden der Sammlung Curiosities of Street Literature entnommen, die Charles Hindley 1871 vorgelegt hat, nachgedruckt 1966 bei John Foreman the Broadsheet King, und aus The Minstrelsy of England, hrsg. von Edmonstoune Duncan (1905).

›Love’s Calendar‹ ist mit freundlicher Genehmigung der Lorcenius Music Co. Ltd, 1887, abgedruckt.

›Madcap Mary and Gentleman Joe‹ ist entnommen aus The London Rakehell; or, Harlequin Upon the Town von M. C. O’Crook (1798).

Besonderen Dank schulde ich meiner Ehefrau Linda Steele, die mit ihren Recherchen und ihrer redaktionellen Arbeit maßgeblich zu diesem Buch beigetragen hat.

London, 1941

Halb Mauerwerk, halb Schmerz; ihr Kopf,

Von dem sich der Verputz schon löst

Wie Fleisch von spröden Knochen, dreht sich

Auf einem Hals aus Steinen; ihre Augen

Sind lidlose Fenster aus zerschlagenem Glas,

Hinter jeder sternenförmigen Pupille

Ein Gewölbe so gewaltig …

Wie kann der Kopf das fassen?

Der nasskalte Rauch

Verflicht sich mit den Bruchkanten

Der himmelsgeborstenen Scheiben, und gespiegelte

Flammen tanzen wie Wahnsinnige auf den Splittern.

Alles andere ist Stille, außer den tanzenden Splittern

Und dem sich langsam verflechtenden Rauch.

Ihre Brüste sind zerbröselnder Backstein, wo schwarzer Efeu

Einst sich wie ein traumverlorenes Kind festklammerte,

Und jetzt hängt er mit schmutzigen Tapetenbahnen herab,

Hitzegetrocknete, verblasste Sonnensegel aus welkem Papier,

Auf denen sich gespenstisch Laub und Lilie wiederholen.

Grashaar auf ihrer kalten Haut, das Gras der Städte,

Verwelkt an ihrer Mörtelstirn und schwankend

Im Wind, der durch die Straßen der Städte weht:

Über einer Welt aus Furcht und Feuerschein

Erhebt sie sich, die schweren Steine an ihrem Hals,

Ihre verrosteten Rippen wie eine Reling um ihr Herz;

Eine Gestalt aus trockenen Wunden – aus Winterwunden –

O Mutter aller Wunden; halb Mauerwerk, halb Schmerz.

Mervyn Peake

aus Shapes and Sounds (1941)

Inhalt

Impressum

Inhalt

Teil I: EINGANG IN DIE STADT

Die Patienten

David Mummery

Mary Gasalee

Josef Kiss

Teil II:FESTTAGE

Königin Boudicca 1957

Thomas à Becket 1963

Captain Jack Cade 1968

Nell Gwynn 1972

Sherlock Holmes 1980

Prinzessin Diana 1985

Teil III: DIE UNGEHÖRTE STIMME

Wartezimmer 1956

Gypsy Gardens 1954

Verschollene Bahnhöfe 1951

Lavendelmauern 1949

Stellungswechsel 1945

Späte Blüte 1940

Teil IV: FASTTAGE

Frühe Fluchten 1940

Vorzeitige Bestattungen 1946

Abstrakte Beziehungen 1950

Wechselnde Verbindungen 1956

Fortlaufende Bewegungen 1964

Unterschiedliche Strömungen 1970

Teil V: DER ERZÜRNTE GEIST

Das World’s End 1985

Das Yours Truly 1981

Das Merry Monarch 1977

Das Axe and Block 1969

Das Pilgrim’s Gate 1965

Das Old Bran’s Head 1959

Teil VI:AUFBRUCH DER STÄDTER

Josef Kiss

Mrs. Gasalee

David Mummery

Die Feiernden

Die handelnden Figuren

CARCOSA

Teil I: EINGANG IN DIE STADT

Ich weiß nicht, wie viele Tonnen von Sprengstoff über dem riesengroßen Ziel, das London darstellt, abgeworfen wurden, seit die Schlacht um London am 24. August 1940 begann. Die Folge davon ist eine trostlose Stadt, eine heruntergekommene Stadt, mit Ausnahme der Gegend um das Guildhall, wo mehrere berühmte Straßen in Schutt und Asche gelegt wurden.

Die Bevölkerung von London hat Methoden entwickelt, die es ihr ermöglichen, im Angesicht fortwährender Gefahr zu leben, und nimmt das Groteske ihrer Lage als gegeben hin. Was bis vor Kurzem noch unfassbar war, ist jetzt das gewohnte Hintergrundrauschen ihres Daseins. Ich glaube wirklich, dass die Fähigkeit, das Groteske und das Unfassbare in den Alltag zu integrieren, eine Fähigkeit ist, über die nur die Engländer verfügen.

H. V. Mortons London,

Februar 1941

Die Patienten

»Dank bestimmter Mythen, die nicht so leicht angefochten oder herabgewürdigt werden können, gelingt es den meisten von uns zu überleben. Alle großen alten Städte verfügen über solche eigentümlichen Mythen. Zu den Mythen von London gehören in der jüngsten Zeit die Berichte von den Luftangriffen, von unserem Durchhaltevermögen.«

David Mummery legt den altmodischen Füllfederhalter beiseite und hält inne, um ein Bild der Temple Church, das er aus der Zeitung ausgeschnitten hat, neben den Artikel zu kleben, an dem er arbeitet und der abermals wohlwollend von den Freimaurern der Stadt erzählt, was ihm endlich den Zugang zu der Bruderschaft garantieren soll; dann werden sich auch ihm die unterirdischen Geheimnisse Londons enthüllen. Mummery befeuchtet sich mit einem blauen Flanelltuch die Lippen. In letzter Zeit hat er immer einen trocken Mund.

Mummery, der sich als urbaner Anthropologe bezeichnet und eine beeindruckende Bilanz psychischer Erkrankungen vorweisen kann, verdient sich seinen Lebensunterhalt damit, historische Abrisse über das legendäre London zu verfassen. Er pellt sich getrockneten Leim von den geschwollenen Fingern und blickt hoch zu der Mahagoniuhr mit den Messingbeschlägen und dem Quecksilberpendel, die sich nahtlos in die Wand mit den verschiedenartigen, zumeist patriotischen Bildern einfügt. Dann hebt er den Deckel seines Büroschreibtischs aus dem neunzehnten Jahrhundert an und legt das Notizbuch wieder neben ein altes Hörrohr, das ihm als Behältnis für seine Federhalter dient. Als er aufsteht, singt er etwas, das für ihn beinahe ein Wiegenlied geworden ist. Blake hat, meistens jedenfalls, eine beruhigende Wirkung auf ihn.

»Bringt meinen Bogen lohen Golds …«[1]

Sein Zimmer ist ein mit Ephemera vollgestopftes Museum – spätviktorianische Werbebotschaften, mit Wappen verziertes edwardianisches Porzellan, Zeitschriften aus den 20er und 30er Jahren, Erinnerungsstücke aus dem Krieg, Spielzeugsoldaten, Dinky-Modelle von Lieferwagen, Bleiflugzeuge. Sämtliche Oberflächen sind mit unterschiedlichen, durcheinandergeratenen Schichten bedeckt, nichts davon ist katalogisiert, manches in Vergessenheit geraten. Mummery weiß zu erklären, dass das seine Informationsquellen sind, aufschlussreiche Symbole, seine Inspiration.

In der Mitte der gewaltigen Collage hängt, auch sie aus einer Zeitung ausgeschnitten, die gerahmte Fotografie einer V2, die über London hinwegfliegt. Das ist Mummerys ganz persönliches Memento mori. Vielleicht, so glaubt er, handelt es sich dabei sogar um eine der beiden, die ihn als Kind beinahe getötet hätten. Sein Blick wendet sich, an Bücherstapeln und uralten Brettspielen auf seinen Fenstersimsen vorbei, dem sich lichtenden Nebel draußen zu. Verschwommen spiegelt sich die beinahe unsichtbare Dezembersonne im kalten Schiefer der Reihenhausdächer. Kurz hält er die Hände über die glühende Asche eines kleinen Feuers, das er im Morgengrauen auf dem schwarzen gusseisernen Gitterrost angezündet hat, öffnet dann die Türen eines alten Schrankes von Heal’s und zieht sich, eine nach der anderen, vier oder fünf Kleiderschichten über; als Letztes setzt er sich eine große schwarze Bärenfellmütze auf, sodass nur noch ein Streifen rosarote Haut und seine ungewöhnlich hell leuchtenden Augen sichtbar sind. Dann tritt er auf den schäbigen Treppenabsatz hinaus und läuft nach unten, um das Haus zu verlassen, in dem er wohnt und das dort steht, wo Malda Vale an Kilburn grenzt. Wie jeden Mittwoch wird er den Bus nehmen. In letzter Zeit setzt ihm die Kälte schmerzlich zu.

Die V2 bewegt sich, den stürmischen Ostwind im Rücken, mit gleichförmiger Anmut. Sie überquert den Kanal und erreicht Brighton, fliegt so tief darüber hinweg, dass die Menschen in den Pavilion Gardens ihr nachblicken und sehen, wie sich das gelbe Feuer aus ihrem Heck vor der durchbrochenen Wolkendecke abzeichnet; in wenigen Minuten wird sie Croydon erreichen und ein Minute darauf Südlondon, wo sie, nachdem der Treibstoff verbraucht ist, auf den Vorort hinabfallen wird, wo David Mummery, beinahe fünf Jahre alt, mit seinen Zinnsoldaten spielt. Die Rakete ist vierzehn Meter lang und hat 738 Kilogramm Sprengstoff an Bord – eine hochkomplexe Maschine, das Ergebnis der Zusammenarbeit von Genie und Arbeitskraft, von amoralischen Wissenschaftlern, unfreien Technikern und Sklaven. Gleich wird sie mich ein Wunder erleben lassen.

David Mummery schreibt außerdem seine Memoiren. Manches davon muss erst noch in einen Zusammenhang gebracht werden; manches trägt er noch im Kopf mit sich herum. Manches, so überlegt er, wird er sich wohl noch ausdenken.

Klein und dick eingepackt stapft er, das formlose Profil der Welt zugewandt, mit raschen Schritten unter dunklen, kahlen Platanen hindurch zu seiner Haltestelle, wobei er sich beglückwünscht, dass er dem Berufsverkehr ein paar Minuten voraus ist. Bald wird sich auf der Hauptstraße, wo bereits zahlreiche Autos aus den Randbezirken dahinrasen, eine Blechlawine entlangwälzen. Wie so oft freut er sich, dass er nur der Dritte in der Schlange ist, als der scharlachrote Doppeldecker mit tuckerndem Motor anhält, damit die Fahrgäste einsteigen können. Er sucht sich im unteren Bereich, zwei Reihen hinter der Fahrerkabine, einen Sitzplatz, reibt ein Stück des beschlagenen Fensters frei und blickt, eines seiner schrulligen Vergnügen, dem grauen, harmlosen Paddington entgegen.

Mummery stellt sich die Straßen der Stadt häufig als ausgetrocknete Flussbetten vor, in die sich aus unterirdischen Quellen jeden Moment Wasser ergießen kann. Hinter der Scheibe hervor beobachtet er seine Londoner. Dieses sagenhafte Strandgut. Sie kommen aus den U-Bahnen (ihre Gräben und ihre Höhlen), ergießen sich über das Pflaster, wo unzählige Verkehrsmittel darauf warten, sie zu eintausend nahegelegenen Zielen zu bringen. Der Nebel hat sich aufgelöst. Eine kalte Sonne scheint jetzt auf diese Eruption von Seelen herab. Durch die Straßen fließen, von ihrem eigenen Lärm belebt, kleine Menschenmengen: durch Gassen und Gässchen und schmale Alleen. Auf diese Entfernung mag Mummery sie sehr. Allzu gern würde er seine Wollhandschuhe ausziehen und durch seinen Übermantel, seinen dicken Schal, seine Jacke, seinen Pullover hindurch nach seinem Notizbuch greifen und festhalten, wie das Sonnenlicht auf dem ausgetretenen Pflaster, dem neuen Beton und dem schmutzigroten Backstein funkelt. Aber er zwingt sich, die Hände im Schoß liegenzulassen; im Moment benötigt er keine Beschreibungen der Stadtkulisse, er muss sich den Freimaurern widmen. Letzten Montag hat er seinem Verleger sein neustes Manuskript (Fünf berühmte Phantome in Whitehall) übergeben, weshalb er im Moment nicht ans Geld denken muss. Er verspürt das beinahe schmerzliche Verlangen, zu seinem Kanal und seinen alten Frauen zurückzukehren, sich ganz seiner persönlichen Nostalgie hinzugeben. Während der Bus eine bogenförmige Eisenbahnbrücke aus Metall passiert und unter einer weißen Überführung hindurchrattert, denkt er an die Millionen von Individuen, denen es bestimmt ist, in Millionen von Richtungen zu fahren oder gefahren zu werden; ihr Atem, ihr Rauch, ihre Abgase lindern die durchdringende Kälte der Morgenluft.

Für einen Moment hat Mummery das Gefühl, Londons Bevölkerung wäre in Musik verwandelt worden, so ehrfurchtgebietend ist seine Vision; die Einwohner der Stadt bringen eine ausnehmend komplexe Geometrie hervor, eine Geographie, die das Natürliche übersteigt und zum Metaphysischen wird, das sich nur mit den Begriffen der Musik oder der abstrakten Physik beschreiben lässt: Nichts anderes bietet eine Erklärung für die wechselseitigen Beziehungen zwischen Straßen, Gleisen, Flussläufen, U-Bahnstrecken, Abwasserkanälen, Tunnel, Brücken, Viadukten, Aquädukten und Kabeln, zwischen allen nur denkbaren Schnittpunkten. Mummery summt eine Melodie, die er sich selbst ausgedacht hat, und noch immer strömen sie empor, seine Londoner, wie verfrühte Gänseblümchen, manchmal singend oder knurrend oder pfeifend oder plaudernd; alle fügen dieser wundersamen Spontanität einen weiteren Akkord, ein weiteres Motiv hinzu – hinauf in die wahre Welt. Oh, wie sind sie herrlich, hier und heute.

»… but she is only a beautiful picture, in a beautiful golden frame!«[2] Wie immer ein altes Lied auf den köstlichen Lippen, steigt Josef Kiss auf das Trittbrett des Busses, ganz so wie sich ein Pirat in die Takelage des geenterten Schiffes schwingen mag. Exzentrische Kleidung umspielt seine korpulente Gestalt. Als er durch das Fahrzeug schreitet, scheint er sich so weit auszudehnen wie nur irgend möglich. Mit spitzen Fingern zieht er die Lederhandschuhe aus, knöpft seinen Crombie auf und lockert seinen langen Schal. Mummery, der ihn teils in der Scheibe gespiegelt, teils aus dem Augenwinkel beobachtet, rechnet halb damit, dass er seine Kleidungsstücke dem Schaffner reicht, zusammen mit einem großzügigen Trinkgeld. Mr. Kiss lässt sich auf die vordere linke Sitzbank sinken und seufzt. Rein aus Prinzip macht er aus allem, was er tut, ein Vergnügen.

Hinter Mr. Kiss redet sich eine Frau mit orangenem Haar, spröder Haut und einer von rauen Papiertaschentüchern ganz rot geriebenen Nase selbst Mut zu. An ihre Freundin gewandt sagt sie: »Ich dachte, da suche ich doch lieber einen Priester auf. Kann ja nicht schaden. Nun, das hab ich dann auch getan. Er sagte, das sei alles Unsinn, ich solle mir keine Gedanken darüber machen und Mrs. Craddock möglichst aus dem Weg gehen. Das passte mir natürlich gut in den Kram.«

Wirklich wunderschöne Augen und Haare, aber wenn sie so weitermacht, bringt sie sich um.

»Alles einsteigen, bitte. Na, geht doch alles, sehen Sie? Bitte passen Sie mit der Tasche auf, Sir, seien Sie so nett. Dankeschön, Ma’am. Vielen, vielen Dank.« Mit grenzenloser Geduld trippelt der Schaffner, dem das Gesicht unter dem grauen Haar in regelrechten Falten herabhängt, sodass er einem freundlich dreinblickenden Bluthund gleicht, den Gang und die Treppe rauf und runter. »Kopf hoch, meine Liebe! An Weihnachten ist alles vorbei. Wenn ich in Rente gehe, führen die Kollegen eine Sammlung durch. Immer weiterreden, Mr. Kiss, das ist das ganze Geheimnis. Was Sie genauso gut wissen wie ich.« Das sagt er in einem ruhigen Moment zwischen Westbourne Grove und Notting Hill. Hinter Bäumen schweben auf beiden Seiten wuchtige graue Häuser vorbei, Monumente des Optimismus der spätviktorianischen Bourgeoisie, der Hintergrund für einen Skandal, der Leben und Karrieren ruiniert und eine Regierung erschüttert hat. Früher wohnten in diesen Häusern jeweils mehrere Parteien, meist ausgebeutete Immigranten; inzwischen werden sie allerdings nach und nach von den Neureichen zurückerobert. »Aber das ist noch gar nichts. Die Touristenrouten im Sommer sind mörderisch. Die wissen nie, wohin sie wollen. Kann man ihnen auch nicht verübeln, oder? Stellen Sie sich vor, wir wären in New York. Oder in Bagdad. Und wie geht es Ihrer Schwester?«

»Kerngesund wie eh und je, Tom. Alles bestens.«

»Dachte mir schon, dass Sie von dort kommen. Richten Sie den beiden bitte beim nächsten Mal herzliche Grüße aus. Und dass ich sie vermisse. Und demnächst in den Ruhestand gehe. Allerdings werde ich in Putney sein. Nicht allzu weit weg.« Tom hält sich mit einem Zwinkern an einer verchromten Stange fest, bevor der Bus rumpelnd abbiegt und das umbenannte Kino und das Bhelpuri House hinter sich lässt. Beide werden nächstes Jahr irgendeinem nichtssagenden Bebauungsplan weichen.

»Sie behaupten, London Transport ließe sich nicht mehr finanzieren, Tom.« Josef Kiss betrachtet seine Umgebung mit dem heißen Verlangen eines Menschen, der allzu vielen Verlusten nachtrauert. Sein leises Lächeln deutet an, dass er den Kampf aufgegeben hat.

Der Schaffner schiebt seine Geldtasche auf die andere Seite und setzt sich Josef Kiss gegenüber, der mit einem Kichern reagiert. Dieses Kichern hilft ihm, sein inneres Gleichgewicht zu wahren. »Die könnten doch den Herzog von Westminster kaufen und verkaufen.«

Mr. Kiss lächelt zustimmend. Er schaut sich beiläufig um, erkennt Mummery jedoch nicht.

Es ist nicht unehrenhaft zu fliehen. Niemand macht sich schuldig, der sich nicht ins Feuer begibt. Ich habe ihr nichts zuleide getan. Aber er konnte nicht wissen, dass er mein Rivale war. Einigermaßen verzweifelt erhebt sich Mummery, steigt aus und rennt, ein täppisches Plüschtier mit seinen zahlreichen Schichten, zum U-Bahnhof Notting Hill. Dort nimmt er zwei Stufen auf einmal, galoppiert durch die Sperre, schwenkt seine Wochenkarte und fliegt die Rolltreppe hinunter. Gerade noch rechtzeitig erreicht er einen Zug der Circle Line und zwängt sich hinein. In High Street Kensington steigt er in die District Line Richtung Wimbledon um und sitzt seufzend in einem leeren Wagen, mit dem er bis Putney Bridge poltert, wo er hinausspringt und durch den Ausgang in die Ranelagh Gardens spurtet. Zwischen den merkwürdig angeordneten Terrakotta-Häusern bekommt er vorübergehend Platzangst, eilt dann weiter zu den Bäumen und Türmen und schmucklosen Steinplatten, dem Getöse der Brücke, wo sich der Verkehr staut, um die Themse zu überqueren, und entdeckt einen 30er Bus, der nach Süden fährt. Gerade als sich der Bus wieder in Bewegung setzt, springt er auf die Plattform, und jetzt enthüllt sich ihm der Fluss und dahinter das Star and Garter und die ganzen Wohngebäude aus rosarotem Backstein, die am anderen Ufer hinter hohen, kahlen Bäumen stehen. Für einen Moment verwandelt das Licht das Wasser in Quecksilber. Möwen umflattern die Brücke. Mary Gasalee sitzt im selben Bus, auf einer Bank hinter ihm, neben Doreen Templeton. Sie sind Patienten in derselben Klinik. Keine der beiden Frauen grüßt Mummery. Vielleicht tarnt ihn seine kolossale Mütze. Mummery gibt sich ganz seiner tröstlichen Verzweiflung hin. Er malt sich aus, wie er vor ihren Augen ins Wasser fällt, wobei er einen außergewöhnlich schönen Bogen beschreibt, ein glückseliges Lächeln auf den Lippen; er strahlt Vergebung aus, eine raffinierte Form des Selbstmitleids.

»Mary Gasalee, der Junge dort hat starke Schmerzen.«

Im Feuer gibt es keinen Schmerz, denkt sie, schaut sich aber um. Der Junge steht auf der Plattform – offenbar will er aussteigen. Das Wasser scheint sich in seiner bleichen Gesichtsfarbe zu spiegeln. Er klammert sich mit ganzer Kraft an den Handlauf. Sein Gesicht ist ausgemergelt, die Flecken unter seinen glasigen Augen stammen möglicherweise von Fieber. Trotzig erwidert er ihren Blick. Das ist nicht meiner, denkt sie und betrachtet die vorbeiziehenden Ladengeschäfte, McDonald’s, Mothercare, W. H. Smith und Our Price. Während der Bus die Putney High Street hinauffährt, springt der Junge ab. Sein senffarbener Dufflecoat flattert wie nutzlose Flügel. Er ist nicht meine gelbe Puppe.

Doreen Templeton steht zuerst auf. Sie haben ihre Haltestelle erreicht. Mary folgt ihr hinunter auf den Gehsteig. »Konntest du seine Schmerzen nicht spüren, Mary?« Doreen Templeton knöpft ihren Mantel zu und schlingt sich die Arme um die Brust. Langsam schreiten sie den Hügel hoch. Auf einer Grünfläche wachsen ein paar Sträucher, einige ungepflegte Bäume. »Ich schon. Aber du weißt ja, ich bin übersensibel. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet.«

Mrs. Gasalee geht darauf gar nicht erst ein. Sie glaubt, dass Doreen Templetons Anteilnahme bloßes Theater ist. Ihre Empfindsamkeit ist bestenfalls aufgesetzt, nichts als eine sentimentale Übung, schließlich lässt sie ihren Äußerungen nie Taten folgen. Doreen mag nicht dumm sein (manchmal gibt sie zu, dass sie sich selbst etwas vormacht), aber sie ist grenzenlos egoistisch. Mrs. Gasalee hegt seit fünf Monaten eine Abneigung gegen sie. Doreen hat das noch nicht bemerkt; in herablassendem Tonfall beschreibt sie weiter ihren Geisteszustand und dessen Auswirkung auf diejenigen, die damit nicht gesegnet sind, darunter ihre Familie und ihr Ex-Mann. Mrs. Gasalees Antworten folgen aus alter Gewohnheit einem ganz bestimmten Ritual, sie wirken lediglich zugewandt. Doreen genügt diese Form von Bestätigung vollauf, sie stellt nichts infrage.

Die beiden Frauen erreichen das grüne Tor des umgebauten Pfarrhauses, eine Spezialklinik der NHS. Mrs. Gasalee fängt aus verschiedenen Gründen an zu zittern. Doreen seufzt. »Na schön, da wären wir wieder.«

Aus den Trümmern kommt der Schwarze Kapitän geflogen, die Hände nach dem kleinen David Mummery ausgestreckt, der reglos zwischen Backsteinen und Mörtel liegt, einer der wenigen Überlebenden der V2.

David Mummery ist hinter ihnen stehengeblieben und wartet, bis sie durch das Tor treten. Dann blickt er hügelabwärts, wo Josef Kiss gerade um die Ecke kommt; heute hat er die langsamere Route gewählt. Mr. Kiss kommt immer mit dem gleichen Bus, während Mummery meist die Verkehrsmittel wechselt, um nicht, aus bloßem Sicherheitsbedürfnis, in allzu langweilige Gewohnheiten zu verfallen, unter denen er zwar leidet, die aber jeglicher Unwägbarkeit vorzuziehen sind. Mummery verlangt es nach Vertrautem, wie es einen Trinker nach Schnaps verlangt, aber er verleiht diesem Verlangen eine gewisse Würde, indem er es als Beispiel für seinen Edelmut begreift, für seine fortdauernde Liebe. Noch immer hegt er eine Leidenschaft für Mrs. Gasalee, wobei er es vorzieht, sich nach ihr zu verzehren, anstatt eine neue Liebesbeziehung zu riskieren; er klammert sich an schlichte, vertraute Wahrheiten aus seiner Kindheit, ergeht sich in Erinnerungen an eine möglichst goldene Vergangenheit, die nur von den Bedürfnissen und Bestrebungen anderer Menschen getrübt wird. Er sehnt sich nach der emotionalen Vertrautheit, wie er sie mit Mary Gasalee gekannt hat, und ist fest entschlossen, nie etwas Vergleichbares mit einer anderen Frau zu erleben, auch wenn Mary nicht mehr zu ihm zurückkehrt: Seine fortwährende Liebe, seine Selbstgefälligkeit – das alles ist ein Trugschluss, der gerne allgemeingültig wäre.

»Mr. Kiss.« Mummery lüftet den Hut. »Können Sie Feuer schlucken?«

Josef Kiss wirft den Kopf in den Nacken und brüllt vor Lachen.

»Mein lieber Junge!«

Mit den üblichen gemischten Gefühlen – Beklommenheit und Vorfreude – wartet David Mummery darauf, dass sein Rivale den mächtigen Arm um ihn legt, sodass sie Seite an Seite durch die Türen der Klinik treten können. Sein Kummer lässt erwartungsgemäß nach, denn jetzt befindet er sich in Gesellschaft eines Gleichgesinnten.

An den dunkelgrün und beige gestrichenen Wänden – die Farben verdanken sich wohl dem Nachkriegskatzenjammer – hängen Gemälde von R. Wintz, auf denen Cornwall zu sehen ist, vor allem Pastellfarben und Gouachebilder, die St. Ives zeigen, bevor dort alles mit Resopalschildern zugestellt wurde. In einigen der braunen Lehnstühle mit Stahlrahmen sitzen weitere ambulante Patienten. Sie nennen sich »die Gruppe« und sind nur deshalb ungewöhnlich, weil gewisse Individuen zu ihnen zählen.

Mr. Faysha, der in einer Ecke sitzt, begrüßt Mummery und Mr. Kiss mit einem freundlichen Lächeln. Der kleine, muskulöse Afrikaner ist um die sechzig; sein Bart und seine Haare sind grau, seine Haut so jugendfrisch, dass er einem Schüler gleicht, der sich auf eine Rolle in einem Krippenspiel vorbereitet. Ally Bayley, die kaum aufzublicken vermag, sitzt wie mitten in der Bewegung erstarrt direkt daneben auf der Stuhlkante. Sie ist die Jüngste und versteckt sich unter einer braunen Lockenmähne, frischen Schorf an den Fingern. Petros Papadokis wiederum liest mit finsterer Arroganz in einer recht neuen Nummer von Country Life; der Zypriot schenkt ihr keine Beachtung. Er besucht, so behauptet er, die Klinik nur, weil die muslimische Mafia, die das örtliche Ärztehaus betreibt, ihn unter Druck setzt. Neben ihm trägt ein älterer Mann mit rotem Kraushaar, einer leeren Pfeife im Mund und dem etwas aufgedunsenen, attraktiven Äußeren eines Filmstars aus den 1950ern den sportlichen Kordanzug, Wollschal und Fair-Isle-Pullover der verschwundenen Bohème von Soho. Obwohl er zugibt, dass das nicht sein richtiger Name ist, nennt er sich »Hargreaves«, weil er befürchtet, ein Verlag könnte herausfinden, dass er die Klinik besucht, und ihn nicht mehr mit der Gestaltung von Titelbildern für Taschenbücher beauftragen. Vor allem Mummery betrachtet »Hargreaves« mit Argwohn, da er ihm ein oder zwei Mal in den Büros von Lektoren begegnet ist. »Morgen, alter Knabe.« Seine Begrüßung kommt einer brüsken Zurückweisung gleich.

Doktor Samit, in seinem gewohnten grauen Nadelstreifen-Dreiteiler, stößt seine Bürotür auf und grinst sie an, wobei er sonderbar gleichmäßige Zähne entblößt, die wahrscheinlich kosmetisch behandelt wurden. »Hallo zusammen! Wir sind gleich bereit. Ich habe Miss Harmon die Straße heraufkommen sehen. Sind alle da? Was für eine entsetzliche Kälte, nicht wahr?«

»Der Neue ist noch nicht aufgetaucht, der mit dem Imbiss.« Doreen Templeton ist der Meinung, er hätte letzte Woche das Niveau gesenkt. »Und wie immer warten wir auf Old Nonny.«

»Aber wo ist unser Mr. Mummery?« Doktor Samit wirkt überrascht. »Er ist doch sonst so pünktlich. Ach, verzeihen Sie mir, David. Ich habe Sie nicht erkannt.«

Sichtlich verlegen und mit zitternder Hand nimmt Mummery seine Mütze ab. »Ich bin dieses Jahr ein wenig paranoid, was das Wetter betrifft. Ich möchte mir nicht schon wieder eine Grippe holen.«

»Und Mrs. Weaver ist wahrscheinlich abermals krank.« Doreen Templeton meldet die letzte Abwesende. »Letzte Woche sah sie ziemlich elend aus. Um die Weihnachtszeit bekommt sie immer ihre Bronchitis. Ich kann mich nicht erinnern, dass das jemals anders war.« Es gefällt ihr, darauf hinzuweisen, dass sie der »Gruppe« bereits länger angehört als irgendwer sonst, ausgenommen eben Mrs. Weaver, die inzwischen nur noch kommt, wenn ihr nach Gesellschaft zumute ist.

Die Eingangstür geht auf, und kalte Luft weht herein. Die Anwesenden nehmen den durchdringenden Geruch von Lavendel wahr, bevor sie Old Nonny sehen, deren Kleidung trotz der Kälte wie immer leuchtend blau, lila oder violett ist, sogar ihr Hut, sogar ihr Lidschatten. Sie hat sich mehrere Chiffontücher um Hals und Handgelenke geschlungen – überall, wo ihre Haut unter Bluse und Pullover hervorlugt. »Bleib!« Mit einer theatralischen Geste redet sie ihre unsichtbare Lulu an. Der Zwergspitz wird, ebenso optimistisch und überschwänglich wie sein Frauchen, in der Einfahrt warten. »Guten Morgen miteinander.« Sie hat einen äußerst merkwürdigen Akzent, ein irgendwie vorzeitliches Englisch, das von tausend anderen Einflüssen und Ambitionen überlagert wird. »Guten Morgen, Doktor Samit, Schätzchen. Wie geht es unserem dunkelhäutigen Quacksalber?«

Der Arzt zupft an seinen Manschetten und verneigt sich wie gewohnt vor ihr. »Gleich viel besser, Mrs. Colman, nachdem Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beehren.« Nonny behauptet, sie habe 1941 Ronald Colman geheiratet, kurz bevor die Kirche und das ganze Archiv ausgebombt wurden. »Wie es Ihnen geht«, fragte er umständlich, »ist von weit größerer Bedeutung.«

»Voll einsatzbereit, wie immer. So stark wie ein Pferd. Ich bin nicht, liebster Herr Doktor, wegen meines Befindens hier. Ich bin hier, weil das für mich, wie für viele von uns, die einzige Möglichkeit ist, der Klapse fernzubleiben. Wirklich krank ist hier niemand, wie Sie nur zu gut wissen, außer vielleicht Mrs. T. Guten Morgen, meine Liebe.« Und sie lacht ihrer erklärten Feindin ins Gesicht und dreht ihr den Rücken zu. »Hurra, Mr. Kiss!« Sie zwinkert. »Na, in letzter Zeit irgendwelche guten Rollen gespielt?« Sie sei, sagte sie, vor dem Krieg auch auf der Bühne gestanden, und zwar unter dem Namen Eleanor Hope. Ronald Colman habe sie über Alexander Korda kennengelernt, als sie für Hearts of Oak vorsprach. »Er hätte wenigstens den OBE bekommen sollen, bei allem, was er getan hat.« Sie dreht sich zu einem verdutzten Mr. Papadokis um. »Die Schwestern haben an den König geschrieben, müssen Sie wissen, aber nie eine Antwort erhalten. Habe ich recht, Mr. K.?«

Der betretene Doktor Samit lässt ein professionelles Kichern hören. »Na, na, na …«

Old Nonny wedelt mit ihrem Chiffon, der ein exzentrisches Muster bildet. »Ziemlich muffig hier, oder?«

Die schmalen Gesichtszüge von Doreen Templeton werden noch weißer, ihre Augen werden zu Schlitzen, und sie presst die Lippen aufeinander. Selbst Ally findet Vergnügen an ihrem dramatisch zur Schau gestellten Unbehagen, denn Old Nonny zieht bei diesen Konfrontationen nie den Kürzeren, weshalb Doreen ihre nächste Bemerkung auch an die Zimmerdecke richtet. »Sie sollte ihre Pfannen wegwerfen. Meiner Meinung nach sind diese Haushaltshilfen schuld.« Doreen hat wiederholt die Theorie aus Reader’s Digest nachgeplappert, Old Nonny habe sich die Alzheimer-Krankheit zugezogen, weil sie zu viel Aluminium geschluckt habe, und deshalb habe sie in der Klinik auch nichts verloren.

keinen Mumm Schlampe alles blutig ich kein Salz die ist echt verbissen

Mary Gasalee runzelt die Stirn und blickt ebenso überrascht wie dankbar auf, als Josef Kiss, dem ihre Reaktion nicht entgangen ist, sich feierlich erhebt und zu ihr tritt. »Sieht fast so aus, als wäre es an der Zeit, dass ich mir ein neues Rezept hole«, sagt sie. »Geht es dir gut?«

Er drückt die Hand, die sie ihm reicht. »Ach Mary. Meine liebe Mary.«

Mummery blickt zu ihnen hinüber und tut so, als bemerkte er nichts. Vor langer Zeit, als er ein Teenager war und sie Mitte dreißig, hat sie Josef Kiss den Vorzug gegeben – mit seinem Großmut, seiner Gewissenhaftigkeit und seinem Erfahrungsreichtum konnte es Mummery nicht aufnehmen, ganz gleich in welchem Alter. Selbst jetzt, nachdem er sich Behandlungen und Therapien unterzogen hat und erwachsen zu sein glaubt, beschränkt sich Mummerys Erkenntnisvermögen auf das Konventionelle, und seinen Versuchen, Mitgefühl zu zeigen, fehlt das Verständnis. Er meint es gut, aber seine Angst lässt ihn kleinlich sein. Er kann nur sagen, was ihr seines Erachtens schmeichelt, denn sie ist es vor allem, die es ihm vielleicht ermöglicht, in die goldene Vergangenheit zurückzukehren, wo er vorübergehend das Glück hatte, der Gegenstand ihres romantischen Idealismus zu sein: ihre Zwillingsseele. Ihr Enthusiasmus hatte ihm das Gefühl gegeben, auf der Welt von Wert zu sein. Einmal hatte es so ausgesehen, als käme sie zu ihm zurück, aber offenbar hat sie sich nur neu orientiert. Trotzdem gibt er die Hoffnung nicht auf. Er hat die Hoffnung schon immer der Realität vorgezogen. Mary Gasalee hatte begriffen, was es bedeuten würde, dauerhaft für Mummerys Selbstwertgefühl verantwortlich zu sein, und es abgelehnt, diese Last auf sich zu nehmen. Mummery, der sich ihrer Gründe nur undeutlich bewusst ist, möchte lieber traurig sein als eifersüchtig, während er Josef Kiss insgeheim um seinen vertrauten Umgang mit ihr beneidet – Josef Kiss, der ihnen beiden zu verschiedenen Zeiten nahegelegt hat, die Klinik aufzusuchen. Mummery fragt sich, warum Mr. Kiss den Kopf schüttelt.

Schweinefleisch alle verlassen Jerusalem Schweinefleisch alle ziehen nach Babylon

Der Schauspieler im Vorruhestand besucht Mrs. Gasalee einmal die Woche, immer samstags, wenn er ihr bei den wöchentlichen Einkäufen hilft. An den Sonntagen trifft er sich mit ihrer Freundin Judith. Der Mittwoch ist Mary Gasalees einzige andere Konstante. Der Alltag von Mr. Kiss unterliegt jedoch einer strengen Routine, von der er nicht abweichen will. Sein fester Tagesablauf und seine auf ihn abgestimmten Medikamente sind sein Schutz gegen das Chaos, auf das er sich vielleicht drei oder vier Mal im Jahr einlässt, und dann meist nur im eingeschränkten Umfeld der Abbey, seinem kostspieligen Zufluchtsort. Jedes Jahr spart er für eine Sabbatwoche. Er ist geschieden.

Dobrzel! Czego Pan chcesz? Lord Suma hat in jener Nacht gegen den Cockney Bulldog gekämpft, was schlimmer als Waterloowar, ist aber wie ein platzender Sperrballon in sich zusammengesackt. Der Bulldog ließ ihn ausstopfen, heißt es, und benutzte ihn in seiner Villa in Blackheath als Sofa. Es regnete. Ich fühlte mich so elend, dass ich beinahe ins Tattoostudio zurückgekehrt wäre. Diese Nadeln haben irgendwie etwas Tröstliches. Was einem aber auch zur Gewohnheit werden kann. Ich kenne noch andere Leute wie Lord Suma. Kein Fingerbreit Haut mehr übrig. Er war ein Londoner, wie sich herausstellte, aus Uxbridge. Wäre ich nie drauf gekommen. Jetzt duftet sie wieder danach. Ist das natürlich, oder parfümiert sie sich?

»Kommen Sie alle mit, bitte.« Miss Harmon reißt die Doppeltür zum Versammlungsraum weit auf. »Fangen wir an, ja?«

Folgsam erheben sie sich und betreten im Gänsemarsch den Raum mit dem dunkelblauen Teppich und den grauen Samtvorhängen. An den eierschalenfarbenen Wänden hängen weitere Pastellgemälde von der Küste, den Cotswolds, den Alpen. Ein Couchtisch, ein paar geblümte Polstersessel, drei Stühle mit gerader Lehne und ein Sofa stehen im Kreis auf dem Teppich. Alle setzen sich auf ihren gewohnten Platz und scheinen sich, bis auf Ally Bayley, zu entspannen.

Ich hätte den Heilpraktiker aufsuchen sollen, den er empfohlen hat. Das bringt mir nichts ich weiß ja nichts über ihn aber das ist ganz auf der anderen Seite von London in Temple Fortune gibt es nicht mal einen U-Bahnhof dort ist alles in nachgeahmtem Tudorstil gebaut da läuft es mir kalt den Rücken runter aber es heißt dass er richtig gut ist. Von den Elektroschocks sind mir nur die Haare ausgefallen.

Mummery setzt sich so, dass er direkt durch die hohen Fenster auf die frostige Grünfläche mit den hässlichen Bäumen und Straßenschildern und dem vertrockneten Gras hinausblicken kann. Im Vergleich dazu ist es hier drin richtig angenehm.

Eine der Raketen ist im Park runtergekommen. Niemand hatte damit gerechnet, dass ihr gleich eine weitere folgen würde. Die wiederum mich erwischte.

Doktor Samit legt Bleistift und Notizbuch auf die Armlehne seines Sessels, nickt Miss Harmon kurz zu und eröffnet die Sitzung. »Also, was haben wir so getan, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben? Wer möchte anfangen?«

Miss Harmon beugt sich gemächlich vor. »Wie wäre es mit Ihnen, Ally? Was ist mit Ihrer Hand passiert?«

Ally fängt sofort an zu schluchzen. »Er ist weggegangen«, sagt sie. »Zerbrochene Milchflaschen auf der Türschwelle, und ich hab einfach nicht aufgehört zu bluten. Die Leute aus dem Pub kamen mit Waschlappen herüber. Ich habe mich so geschämt.«

Was Ally erzählt, ist ihnen allen äußerst unangenehm. Sie bringt es einfach nicht fertig, ihren Mann zu verlassen.

»Er ist ein Rohling, Ally.« In Old Nonnys Augen stehen Tränen der Entrüstung. »Ein richtiges Scheusal. Schlimmer als die meisten anderen. Gehört eingesperrt. Können Sie nicht in einem dieser Frauenhäuser unterkommen?«

»Er hat mich verfolgt.« Ally nimmt wieder Zuflucht zu ihren Tränen und wiegt sich in ihrem Sessel vor und zurück. Jetzt lässt sie niemanden mehr an sich heran. Auch Mr. Faysha kommen die Tränen. Er legt eine winzige Hand auf den Stuhl neben ihr, nur für den Fall.

»Und was ist mit uns anderen?« Miss Harmon hängen die Haare lang und dunkel über den Rücken und die langen Wangen. Ihre Nase und ihr Kinn sind so markant, dass sie wie eine der präraffaelitischen Frauen wirkt. Sie trägt ein Kleid aus einem William-Morris-Stoff, der eigentlich als Möbelbezug gedacht ist. Manchmal schreckt Mummery aus einem Tagtraum hoch und ist überzeugt, dass da ein Lehnstuhl zum Leben erwacht ist. »Wie geht es uns denn allen?«

Unter der Anleitung von Miss Harmon und Doktor Samit berichten einige von ihnen – manche bereitwillig, manche widerstrebend –, was ihnen im Lauf der Woche widerfahren ist, oder geben Geschichten und Abenteuer zum Besten, die glaubhaft klingen oder ganz offensichtlich erfunden sind. Mr. Kiss nimmt gerne an diesen Sitzungen teil. Seine Erzählungen sind anekdotisch und häufig reißerisch, wenn nicht sogar humorvoll. Ihm fällt es schwer, nicht den Entertainer zu spielen, während Mrs. Gasalee in der Regel etwas nacherzählt, das sie von Bekannten gehört hat, traurige Geschichten über kleine Ungerechtigkeiten und Enttäuschungen, und wie sie das Gefühl hatte, nur unzureichend helfen zu können. Manchmal gibt sie zu, von anderen Leuten etwas telepathisch aufgeschnappt zu haben, aber sie weiß, dass das einigen Patienten und vor allem Doktor Samit unangenehm ist. Old Nonny erzählt von berühmten Freunden, unwahrscheinlichen Ereignissen, unerhörten Zusammenkünften, zufälligen Begegnungen mit vertrauten Namen, von denen nicht wenige seit Langem tot sind, und sie erwartet keine Reaktion außer einem Nicken oder einem Ausruf hier und da. Doreen Templeton hört sich das alles mit ungläubiger Resignation an und berichtet dann, wie schlecht sich die Leute ihr gegenüber verhalten, selbst wenn sie ihnen zu helfen versucht. Mr. Papadokis spricht, den Blick auf den Boden gerichtet, vor allem über den Kummer, den er mit seiner Frau und mit seiner Mutter hat, mit seinen drei Kindern, seinem Bruder, seiner Schwägerin; dabei murmelt er so leise, dass sich alle anstrengen müssen, ihm zuzuhören, wenn sie sich denn überhaupt die Mühe machen. »Sie sagt furchtbar unflätige Dinge. Sie fragt nach den Schlüpfern meiner Freundin. Sie kann sich einfach nicht zurückhalten. Sie ist keine Griechin. Wie Sie wissen.« Nur hin und wieder hebt er die Stimme, und dann stellt er rhetorische Fragen. »Was soll das? Wie kann ich dafür verantwortlich sein? Bin ich Supermann?, habe ich da gefragt.«

Als Mr. Faysha an der Reihe ist, zuckt er mit den Achseln. »Ach, immer nur dasselbe alte Lied.« Die Bewegungen seiner Hände und Schultern wirken zaghaft. Sein Lächeln ist stets sanft. »Aber was soll ich machen?« Seit vierzig Jahren ist er mit einer Engländerin verheiratet. Sie leben immer noch in Brixton, überlegen aber umzuziehen. Seit Jahren schon leiden sie unter den Vorurteilen ihrer Nachbarn; jetzt sind es die jungen Westinder, die ihnen am meisten zusetzen. Mr. Faysha neigt dazu, seine privaten Probleme abzutun und sich in allgemeinen philosophischen Erörterungen zu verlieren. »Was kann irgendjemand dagegen tun?«, fragt er die Gruppe. »Wir sind ganz offensichtlich Opfer der Vergangenheit, meine ich. Und Sie?« Er wurde aus einer Nervenheilanstalt hierhergeschickt, nachdem er einen Taxifahrer gebissen hat, der sich weigerte, ihn abends aus dem West End nach Hause zu fahren. Als er in der Klinik Mummery entdeckte, war er überrascht, aber es ermutigte ihn auch.

Mr. »Hargreaves« erklärt, dass ihn das, was er als das Establishment bezeichnet, noch immer mit Abscheu erfüllt. Wieder einmal hat er mit seinen Studenten auf der Kunsthochschule, wo er zweimal die Woche unterrichtet, die Geduld verloren. Wenn das noch einmal passiert, wird er gefeuert. Er hat einen jungen Mann geschlagen. »Dabei hab ich den kaum angefasst. Ich verliere nur die Beherrschung, wenn es um Kunst geht. Der kleine Narr hat etwas Albernes über Pollock gesagt. Einer der üblichen schwachsinnigen Kalauer, wie sie Banausen oft äußern. Tja, es ist allgemein bekannt, dass ich kein Anhänger der abstrakten Expressionisten bin, aber diese geballte Ahnungslosigkeit, die einem heute von den Blagen entgegenschlägt, bringt mich auf hundertachtzig. Ich wollte ihm nicht wehtun. Hab ich auch gar nicht. Vor fünfzig Jahren hätte es fünfzig Schläge auf die Pfote gesetzt, und damit wäre die Sache erledigt gewesen. Aber das geht heute nicht mehr. Der Knackpunkt ist eben, dass ich zu spät geboren bin. Was auch auf meinen Malstil zutrifft. Ich wollte schon immer ein Präraffaelit sein.«

Miss Harmon lächelt – sie kann das aus tiefstem Herzen nachempfinden.

Geduldig hören sich die Anwesenden diesen altbekannten Vortrag an. Mr. »Hargreaves« erwartet lediglich, dass er einmal die Woche seinem Zorn Ausdruck verleihen darf. Zwischenzeitlich kommt Arthur Partridge herein und wird noch einmal vorgestellt. »Wir haben Arthur alle schon letzte Woche kennengelernt«, ruft ihnen Miss Harmon in Erinnerung. Arthur tritt von einem Fuß auf den anderen und grinst in die Runde.

Das ist doch ein Kindergarten sie machen Kinder aus uns und dann verlangen sie dass wir für uns selbst sorgen sie blicken auf uns herab und beschuldigen uns es fehle uns an Selbstbewusstsein sie demütigen uns und werfen uns gleichzeitig vor wir würden uns von der Realität abwenden.

Arthur ist Bäcker, und selbst jetzt sind seine Hände ganz weiß von Mehl. Sie hängen herab, als warteten sie auf den Ofen. »Keine Angst, Sie finden sich schon zurecht.« Doktor Samit deutet mit seinem Bleistift. »Setzen Sie sich bitte dort drüben hin, Arthur, neben David.«

Mary Gasalee öffnet die Augen und fragt sich, wer als Letztes gesprochen hat.

Sie haben gesagt, ich hätte großes Glück gehabt, bei der ersten Bombe davonzukommen. Bei der zweiten wäre es ein Wunder gewesen. Aber Mr. Kiss weiß über Bomben und Wunder Bescheid, und Mary G. ebenso.

Mummery erinnert sich an die seltsame Geschichte, die Arthur Partridge beim letzten Mal nicht zu Ende erzählt hat. Dabei ging es um eine Gefahr aus den Abwasserkanälen. Das interessiert ihn, denn sein nächstes Buch wird von den unterirdischen Wasserläufen Londons handeln. Vor einigen Jahren ist er auf der Suche nach den legendären Bewohnern der Unterwelt das erste Mal hinabgestiegen. Die Schweineherde des Fleet kehrte Gerüchten zufolge wieder in ihre alten Weidegründe zurück, die direkt unter dem Holburn Viaduct lagen; im frühen neunzehnten Jahrhundert waren sie in das Umland geflohen. Mummery hofft, dass Partridge ein paar Geschichten aus dem Volksmund kennt oder wenigstens einige kurze Anekdoten, denn er rechtfertigt seine Besuche in der Klinik noch immer als Recherche; eine medizinische Notwendigkeit besteht seines Erachtens nicht mehr, obwohl er zugibt, dass die Tabletten helfen. Er achtet genau darauf, sie einzunehmen, denn er möchte auf keinen Fall die gleichen Risiken eingehen wie Josef Kiss, der sich der Behandlung manchmal vorsätzlich entzieht. »Diese Tabletten sind dein Anker, mein Bester, aber hin und wieder ist es gut, das Tau zu kappen und unser Schiff auf interessanteren Gewässern dahintreiben zu lassen. Deshalb halte ich meine Gewohnheiten aufrecht. Schließlich erleben wir neue Abenteuer, wenn wir von einem Reiseziel zum anderen unterwegs sind!«

Mummery hat Mr. Kiss früher auf einige dieser Abenteuer begleitet, aber die Vorstellung, das wieder zu tun, verstört ihn. In letzter Zeit hat er seine Dosierung selbst erhöht, denn die Wirkung des Medikaments lässt immer mehr nach. Von Zeit zu Zeit sucht ihn ein Muskelzittern heim, weshalb er befürchtet, sein Problem könnte eher mit einer Zerebralparese zusammenhängen oder mit irgendeiner ähnlichen Krankheit als mit seiner seelischen Verfassung.

Das wird ja immer grässlicher. Merken sie denn gar nicht, was sie uns antun? Sie kennen kein Mitgefühl, das ist wahr. Aber, und das ist noch schlimmer, ihnen fehlt auch jede Einsicht.

O Gott, im Feuer empfindest du keinen Schmerz.

Diese Damen. Ihm wären sie ein größerer Trost als mir. Ich wünschte, sie wären übertragbar.

Arthur Partridge sitzt zwischen Mummery und Mary Gasalee auf dem Rand des Sofas und beschreibt ein Lebewesen, von dem er weiß, dass es gar nicht existierten kann; trotzdem ist er überzeugt, dass es das Mehl aufgefressen hat, das er für eine Sonderbestellung Vollkornbrötchen bereitgestellt hatte. Mummery weiß, dass er sein Notizbuch besser nicht hervorzieht. Wie immer kann er nur versuchen, sich die interessanteren Einzelheiten zu merken. Auch wenn an dem Bericht von Arthur Partridge nicht viel dran ist. Ihm fehlt, findet Mummery, echte Vorstellungskraft. Ihm fehlt sogar jeglicher Wirklichkeitssinn. Die Geschichte des armen Bäckers ist auf eine grundlegende Weise banal, die häufig die wahrhaft Verrückten von jenen unterscheidet, die, wie so viele in der Gruppe, das Göttliche gestreift haben, die, wie es Miss Harmon manchmal herablassend formuliert, »besonders« sind. Mrs. Gasalee zum Beispiel mit ihrer bestürzenden Fähigkeit, die sie mit Josef Kiss gemeinsam hat, fast immer zu erraten, was jemand anderes denkt. Mr. Kiss bringt manchmal Dinge zustande, die an das Übernatürliche grenzen. Mummery selbst glaubt fest an Wunder; er glaubt, dass er die Zukunft voraussagen kann. Deshalb hat er auch aufgehört, bei Partys Zaubertricks mit Tarotkarten vorzuführen. Was nicht heißt, dass er in anderer Hinsicht geistig umnachtet ist; er glaubt lediglich, dass manche Leute besser darin sind zu entschlüsseln, was sich hinter bestimmten Äußerungen, Gesten, Kleidungsstücken und dergleichen verbirgt; das alles nimmt er als gegeben hin. Er und seine Freunde haben dieses Empfindungsvermögen, so glaubt er, mit vielen Künstlern gemeinsam, mochte diesen auch eine echte kreative Begabung abgehen, weshalb aus Josef Kiss, als er seinen ursprünglichen Beruf aufgab, auch kein großer Theaterdarsteller wurde und aus Mummery ebenso wenig ein Romanautor. Als die Behörden sie im National Physical Laboratory diversen Tests unterzogen, mit Bildkarten und anderen wohlerprobten Methoden, erwiesen sich die Ergebnisse als enttäuschend – die Wissenschaftler waren allzu sehr darauf bedacht, nur an bestimmte Formen außersinnlicher Wahrnehmung zu glauben.

Diese Namenslisten der Verstorbenen! Unsere Freundschaft war nie mehr dieselbe. Und so kreuzen wir die Generationen, die Gene. Die Gene, wie wir sie kennen. Ja, rief Robert du Baissy, wir müssen Chaos stiften. Das ist ihre einzige Rettung. In einer Zeitschrift, die sein Vater las, hat er einmal ein Bild von einem Dämon entdeckt, der Likörwein trinkt. »Fröhlich auf Erden! Elend in der Hölle!« Vor allem sind ihm die grünen Handgelenke des Dämons im Gedächtnis geblieben die sich vor dem Hintergrund einer roten Flamme abzeichneten und eine Schusswaffe Münze Nutridot sagte er und hakte seine Liste ab sagen wir fünf Pence ein Sixpencestück wäre besser eine Mahlzeit für sechs Pence klingt gut ach ja zehn Pence für ein Mittagessen? Damit kommen wir nicht weit das war ein junger Kerl Simon hieß er jedenfalls haben wir ihn so gerufen der ist die Northern Line hoch zur Bartholomew Fair gefahren dann zurück bis Morden das muss an einem Oak Apple Day gewesen sein.

Jetzt ist die Zeit gekommen, um in die Tiefe zu gehen, zu analysieren, sich selbst zu erforschen. Doktor Samit wird gleich vorschlagen, was sie sich bis nächste Woche überlegen sollen. Darauf reagiert jeder von ihnen anders; manche lediglich pflichtbewusst, einige trotzig, andere gleichgültig, ein oder zwei tieftraurig. Mr. Partridge sagt kaum etwas. Mr. Papadokis ist schwermütig, umständlich und langweilig. Ally weint eine Weile und erklärt, dass sie sich viel besser fühlt. Mr. »Hargreaves« rast rein rituell, sein eigentlicher Zorn schon aufgebraucht.

Als alles vorbei ist, greift Josef Kiss gravitätisch nach seinem Crombie. »Na, David, mein Junge, du willst dich doch bestimmt wieder deinem Kanal zuwenden. Bist du denn mit dem neuen zufrieden?«

»Mein Kanal.« Für einen Moment ist Mummery völlig glücklich. »Und meine verdammten Memoiren. Ich erzähle vom Blitz, von unseren Bomben. O ja, ich glaube schon.«

Mrs. Gasalee wirft ihm über die Schulter einen belustigten Blick zu.

[1] »Bringt meinen Bogen lohen Golds …« | Bring me a bow of burning gold … (William Blake)

[2] »… but she is only a beautiful picture, in a beautiful golden frame!« | … aber sie ist nur ein wunderschönes Bild in einem wunderschönen goldenen Rahmen!

David Mummery

Mummery hatte geschrieben: Ich wurde in Mitcham geboren, das für seinen Lavendel berühmt ist, zwischen den Flugplätzen von Croydon und Biggin Hill, etwa neun Monate, bevor die Luftangriffe begannen. In meiner ersten klaren Erinnerung sehe ich einen regnerischen Himmel bei Tagesanbruch, über den vor dem Hintergrund grauer Sperrballons Suchscheinwerfer zucken wie die Finger eines Menschen im Todeskampf, während einige Spitfires und Messerschmitts beinahe träge kreisen und in den Sturzflug übergehen, die vorletzten Manöver eines Luftkampfes, das ferne Gewehrfeuer wie das Bellen müder Hunde.

Am glücklichsten war ich als Kind während des Krieges. Tagsüber suchte ich zusammen mit Freunden nach Granatsplittern und Trümmerteilen von Kampfflugzeugen; wir erforschten zerstörte Häuser und ausgebrannte Fabriken, sprangen über Klüfte, die drei oder vier Stockwerke tief waren, von geschwärzten Balken zu schwankenden Mauern. Nachts schlief ich bei meiner schwarzhaarigen Mutter, der schönsten Frau im Viertel, deren königsblaue Augen wenig sahen und deren nervöses Herz alles wahrnahm, auch wenn wir in dem Morrison-Unterstand aus Stahlblech und Maschendraht lagen, der uns auch als Esstisch diente.

Wir hatten nie einen Soldaten in der Familie. Mein Vater, der Rennfahrer Vic Mummery, war gelernter Elektrotechniker und galt deswegen als unabkömmlich. Er sah gut aus und war so charmant, dass ihm die Frauen gleich reihenweise nachliefen, vor allem jene, die sich noch daran erinnerten, wie berühmt er vor dem Krieg gewesen war. Er wartete bis zum Kriegsende, bevor er meine Mutter verließ, die mir das allerdings vorenthielt. Später erklärte sie mir, es wären schließlich alle Väter fortgewesen, und deshalb hätte sie gedacht, mir würde das gar nicht auffallen. Offenbar kam sie gar nicht auf den Gedanken, ich könnte mich fragen, warum mein Vater nicht wie die meisten anderen nach Hause zurückkehrte.

Ich kam in einem kleinen Haus in einer unscheinbaren Straße zur Welt, die Lobelia Gardens hieß, unter tatkräftiger Mithilfe eines Arztes namens Gower, einem stümperhaften Waliser, den meine Mutter bis zum Tag seines verdientermaßen vorzeitigen Todes anhimmelte. Er lebte in dem Haus direkt gegenüber, und seine Frau hasste meine Mutter, deren Gebärmutter aufgrund seiner unhygienischen Faulheit einen bleibenden Schaden davontrug. Die Straße war in den frühen 30ern angelegt worden, in einer Mischung aus nachgeahmten Tudorstil und von Hollywood abgeschautem Kieselrauputz, und blieb schon damals hinter den in sie gesetzten Erwartungen zurück, aber an das Haus erinnere ich mich mit großer Zuneigung. Die Vertäfelungen darin wurden, meinen Eltern zufolge, als jakobinisch bezeichnet, und auch sonst war Eichenholz allgegenwärtig, unter anderem bei den Einbauschränken mit den Buntglasscheiben, einer Esszimmergarnitur und zwei oder drei massiven Bettgestellen. Seither hege ich eine gewisse Vorliebe für Eiche. Die Haustür war ebenfalls mit Buntglas verziert, auf dem eine Galeone mit geblähten Segeln prangte.

Im Sommer war der Mitcham Common nicht weit; dort gab es Teiche, auf denen Marineschlauchboote und Flöße aus Ölfässern zu Wasser gelassen wurden, vor allem, nachdem die Luftwaffe bei der Schlacht um England vernichtend geschlagen worden war, einen Golfplatz mit kurzgemähtem weichen Rasen, Gestrüpp, harmlose Sümpfe sowie zahlreiche Pappeln, Zedern und natürlich Ulmen. Fußgängerbrücken aus Holz und Eisen überspannten Bahngleise, und ich konnte mich tagelang in Sandkuhlen ausstrecken, unbemerkt lesen und essen. Die Grenzen von Mitcham Common habe ich, soweit ich mich erinnere, niemals erkundet. Mit Ausnahme zweier Wäldchen, die ich erst später entdeckte, war zwischen London und Croydon von der unberührten Natur kaum etwas übriggeblieben. Mit dem Anwachsen einer Mittelschicht, die entschlossen von der Eisenbahn Gebrauch machte, waren um den Park herum Tausende von kleinen, gleichartigen Straßen entstanden, deren Beton, Backstein und harter Asphalt Croydon, Sutton, Thornton Heath, Morden, Bromley und Lewisham miteinander verbanden, alles bald keine selbstständigen Gemeinden mehr, sondern Vororte, die von den gepflegten Blumenbeeten der Grafschaften Surrey und Kent gesäumt wurden, dem sogenannten Grüngürtel.

Die Schule wäre vielleicht interessanter gewesen, hätte ich nicht bereits lesen können. Der Unterricht war langweilig und das Essen widerwärtig. Es dauerte keine zwei Wochen, bis es mir dringend geboten schien, der Direktorin auf den Schreibtisch zu kotzen – ich war in ihr Büro geschickt worden, weil ich das Mittagessen versäumt hatte. Mrs. Fallowell saß auf ihrer Seite des Tisches und ich ihr gegenüber, zwischen uns, von Formularen und Prüfungsarbeiten umgeben, mein Teller mit kaltem, grauem Hackfleisch, labbrigem Kohl und wässrigem Kartoffelbrei. Ich kann das alles heute noch riechen. Und muss dabei immer noch würgen. Wie das damals üblich war, hatte mir Mrs. Fallowell erklärt, die Kinder in Russland wären bestimmt froh, wenn sie überhaupt etwas zu essen bekämen. Wer sich daran erinnern konnte, dass es einmal reichlich zu essen gegeben hatte, kannte bei diesem Thema keinen Spaß. Ich war mit der Rationierung von Lebensmitteln aufgewachsen, den sogenannten Versorgungsengpässen. Entsprechend gehörte ich der gesündesten Generation Englands an. Mir fehlte nichts. Ich konnte nie verstehen, warum sich Erwachsene so für Kaninchenkeulen, ein fettiges Kotelett oder sogar Schokolade begeisterten. Meine Großmutter lebte während des Krieges von Tauben, die ihr riesiger Kater Nero auf der Straße fing. Auch an rosarote Vogelbeine, die aus der Kruste einer Pastete ragten, kann ich mich erinnern. An einem Wochenende im Jahr 1945 zerstörte eine glückbringende V2 die Schule, sodass ich mich wieder ganz meinen Trümmern und meinen Abenteuern zuwenden konnte.

Meine Mutter, ebenfalls in Mitcham geboren, war mit dem weitläufigen Park, den riesigen gewerblichen Lavendelfeldern, dem Jahrmarkt und den Zigeunern vertraut gewesen, bevor ihre Familie wieder eine Meile oder zwei Richtung Südlondon gezogen war, wo sie aus einer ehrbaren Gegend von Tooting auf Brixton hinabblickten. Ihr Haus aus harten graugelben Ziegeln sei ein wenig vornehmer als die meisten anderen gewesen, erzählte sie mir, denn zur Vordertür führten Stufen hinauf, was bedeutete, dass sie ein Untergeschoss hatten und damit möglicherweise mindestens eine Bedienstete, die bei ihnen wohnte. In Wirklichkeit machte meine Großmutter fast die ganze Arbeit und brachte dreizehn Kinder zur Welt. Acht davon erreichten das Erwachsenenalter. Fünf davon haben den Blitz überstanden. Drei leben heute noch.

Unsere Vorfahren, darunter sephardische Juden, irische Kesselflicker, Flüchtlinge aus Frankreich und Angelsachsen, waren schattenhafte Umrisse, kaum greifbare Legenden, wahrscheinlich weil es in der jüngsten Vergangenheit mehr als ein außereheliches Kind gegeben hatte, was auch der Grund sein mag, weshalb ich bei unserer Familie vor allem die mütterliche Seite zurückverfolge. Die Leute meinten, wir kämen aus Irland. Außer ihrem rabenschwarzen Haar und den eindrucksvollen Augen hatte meine Mutter einen weichen, rosafarbenen Teint, während ihre Schwestern alle rothaarig und eher blass waren; auf Photographien sehen die drei jüngsten hinreißend aus.

In den Dreißigern war mein Großvater, der sich weigerte, mit dem Trinken aufzuhören, von meiner Großmutter vor die Tür gesetzt worden und lebte in einem Zimmer in Herne Hill. Alle rechneten damit, dass der Whisky ihn umbringen würde. Er war Bäckermeister und hatte für die Branchenblätter geschrieben. »Von dem hast du dein Talent.« Meine Mutter hatte er allen anderen Kindern vorgezogen. Der einzige Triumph meines Großvaters bestand darin, an einem Lungenemphysem zu sterben – er war ein starker Raucher gewesen. Als großer Dandy hatte er, so wurde innerhalb der Familie erzählt, mehrere Vermögen durchgebracht. Wie bei den meisten unserer Nachbarn hing unser Status weniger von unserer derzeitigen Situation ab als von unserer mythischen Vergangenheit.

»Von dem stammst du ab.« Ich weiß noch, wie mein Onkel Jim in der Downing Street 10, wo er wohnte, gleichermaßen ernst wie vergnügt auf der Treppe stand. Er trug ein schwarzes Jackett und Hosen mit Nadelstreifen; sein rotbraunes Haar hatte sich bereits etwas gelichtet. Er hatte ein weiches, rötliches Gesicht, und seine mit Tabakflecken übersäte Hand ruhte sanft auf meiner Schulter. Das Porträt, das wir betrachteten, war eines von vielen, alles ehemalige Premierminister, die dichtgedrängt an den Wänden hingen. Er deutete auf Disraeli. Ich meinte, eine Familienähnlichkeit zu erkennen. Zehn Jahre alt war ich da. Ohne das Wissen meiner Mutter besuchte ich meinen Onkel in den Ferien regelmäßig; dabei nahm ich den Bus nach Westminster und hoffte auf etwas Taschengeld, vielleicht eine halbe Krone. Ich wurde nur selten abgewiesen. Meine Freunde und ich wandten einen Großteil unserer Ferien dafür auf, Verwandten nachzustellen, die für ein paar Schillinge gut sein mochten. Ich konnte auf die Eltern meines Vaters in Streatham zählen, auf meine Tante Kitty in Pollards Hill und auf meine Tante Charlotte in Thornton Heath. Bis ihre Tochter geboren wurde, war ich der Liebling meiner Tante Charlotte.

Wenn ich in der Downing Street anlangte, versuchte ich immer, den Türklopfer zu benutzen, aber ich wurde stets von einem Polizisten daran gehindert, der mich entweder kannte oder meinem Onkel Bescheid geben ließ. Meistens begrüßte er mich dann persönlich an der Tür und schickte einen der Boten oder Polizisten los, um Rosinenbrötchen zu holen. »Welche mit Zuckerguss. Sie haben doch Kinder, Bill. Was junge Kerle eben mögen.« Dann nahm ich den alten Aufzug in seine Wohnung, wo mich seine Frau Iris, von Rheumatismus verkrüppelt und in ihren Wachturm vertieft, mit Honigwein empfing; sie hatte selbst keine Kinder und hielt das offenbar für angemessen. Mit mir redete sie im selben Tonfall wie mit irgendwelchen Tieren, und ich wusste, dass sie Tiere nicht leiden konnte. Ein, zwei Mal unternahm sie einen unbeholfenen Versuch, nett zu sein, aber ihre unheilbaren Schmerzen beherrschten sie fast völlig. Als ich erzählte, dass ich Schriftsteller werden wollte, raffte sie sich dazu auf, mir ihr altes Lehrbuch für Kurzschrift von Pitman zu schenken (im Finanzministerium war sie die Sekretärin meines Onkels gewesen). An Weihnachten dachte sie meistens daran, mir ein Abonnement des War Cry zu schicken. Sie hielt sich über die Heilsarmee wie über die Zeugen Jehovas auf dem Laufenden, und später sollte mein Onkel Jim vorzeitig sterben, weil sie sich der Christlichen Wissenschaft angeschlossen hatte. Ich machte es ihr nie zum Vorwurf, dass sie diesen extremen Glaubensrichtungen zuneigte, aber dass sie diese Frömmelei auch ihm aufzwang und seine Katze am Tag vor seiner Bestattung einschläfern ließ, konnte ich ihr nicht verzeihen. Mein Onkel war ehrlich, liebenswert und großzügig. Was für Enttäuschungen mochte sie erlebt haben, dass sie sich so sehr in die gegenteilige Richtung entwickelte?

Immer wieder stibitzte ich Winston Churchills Zigarrenstummel aus seinen Aschenbechern, eine Sammlung, die ich einige Jahre lang aufbewahrt habe. Die meisten waren mindestens eine Handspanne lang. Mit sechzehn beschloss ich, etwas gegen die Übelkeit zu tun, die mich überkam, wenn ich auch nur einen Hauch von Tabakqualm roch, und rauchte sie alle. Mein Onkel hatte mir eine große Karriere vorausgesagt, erst als Journalist und dann als Politiker, aber dass ich diese elenden alten Zigarren rauchte, war wohl ein deutlicher Hinweis darauf, dass ich nie dem Parlament angehören, geschweige denn Premierminister werden würde; mir fehlte es an dem erforderlichen Weitblick.

Seit der Flucht meines Vaters und dem Tod meiner Großmutter im Jahr 1948 hatte mein Onkel Jim meiner Mutter moralisch den Rücken gestärkt; viele Angehörige ihrer eigenen wie der Familie meines Vaters zeigten ihr die kalte Schulter und übten auch mir gegenüber ungewöhnliche Zurückhaltung. Manchmal hatte ich den Eindruck, meine Verwandten würden mich als Blindgänger betrachten, der jeden Moment hochgehen konnte. In meiner Gegenwart gaben sie sich oft herzlich, verstummten dann mitten im Satz, wechselten das Thema und begannen zu nuscheln. Dieses Getue machte mich äußerst neugierig auf ihre vermeintlichen Geheimnisse. Später fand ich zu meiner großen Enttäuschung heraus, dass sie lediglich darauf achteten, das schändliche Verhalten meines Vaters und die Schmach meiner Mutter nicht zu erwähnen. Es herrschte weitgehend Einigkeit darüber, dass meine Mutter irgendwie schuld am Verschwinden meines Vaters war. Damals war die Auffassung verbreitet, dass eine Ehefrau, der es nicht gelang, einen Ehemann bei der Stange zu halten, bei einer der wesentlichen Bewährungsproben des Lebens versagt hatte.

Ich weiß noch, wie ich einmal eine Lokalzeitung aufschlug, die noch immer voller Truppenbewegungen und kleinen Landkarten war; ich suchte nach den Comics und fand stattdessen ein viereckiges Loch, das meine Mutter fein säuberlich aus dem Mittelteil herausgeschnitten hatte. Jahre später wurde mir klar, dass sie einen Abschnitt zensiert hatte, der von dem Gerichtsverfahren berichtete, das die Trennung von Tisch und Bett meiner Eltern feststellte. Tatsächlich geschieden wurden sie erst, als sie einundsiebzig war und er siebenundsiebzig, ein für meine Mutter einigermaßen traumatisches Ereignis, bei dem ich als Vermittler agierte, da beide noch immer entsetzliche Angst vor einem Treffen hatten.

Nachdem er am Tag der Befreiung seine Taschen gepackt hatte, sah ich meinen Vater ein oder zwei Mal im Jahr, an Ostern, wenn er ein Ei vorbeibrachte, und im Dezember, wenn er mir die Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke überreichte. Manchmal klammerte ich mich an seinen breiten unpersönlichen Rücken und fuhr auf dem Sozius seines Motorrads mit. Vermisst habe ich ihn nie, aber es gefiel mir, wenn sein männliches Wesen in eine Welt eindrang, in der sich vor allem Frauen und Kinder tummelten. Was ich von ihm bekam, war mir stets willkommen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass er damit meine Mutter übertrumpfte. Später fand ich heraus, dass er mich vor allem auf Drängen von Sheila besuchte, seiner Lebensgefährtin, deren Name meine Mutter sich hartnäckig auszusprechen weigerte und die sie noch immer als herzloses Flittchen bezeichnet. Vic Mummery war keineswegs ein böser Mann, aber vermutlich zeigte er ungern seine Gefühle.

Mein Vater war ebenfalls in Mitcham geboren, nicht in einem Reihenhaus, sondern in einem freistehenden, und galt deshalb gegenüber seiner Frau als höherstehend. Seine Mutter kam aus Kent. Sie war kurz nach seiner Geburt an einer Blutvergiftung gestorben, und sein Vater hatte eine andere Landfrau geheiratet, die Vic noch mehr verhätschelte als seinen Halbbruder, ihren eigenen Sohn Reggie. Meine verbliebenen Großeltern besuchte ich fast ebenso oft wie meinen Onkel Jim. In einer viktorianischen Maisonettewohnung, wo Streatham unweit des großen Krematoriums an Mitcham grenzte, wohnten sie nicht mehr so prächtig wie in ihrem freistehenden Haus. Diese Straße war von winzigen gotischen Backsteinreihenhäusern gesäumt, die uralten Armenhäusern glichen, mit aufwändigen Buntglasfenstern und Veranden in Sakralarchitektur, die sich Reihe um Reihe endlos wiederholten, bis hinunter zu einer Hauptverkehrsstraße, wo behäbige, karmesinrot lackierte und messingverzierte Straßenbahnen mit der Zielstrebigkeit von Linienschiffen dahinglitten. Ich konnte mich darauf verlassen, dass meine Großmutter, die ganz in der Nähe in einer Schokoladenfabrik arbeitete, mich mit Süßigkeiten versorgte, und mein Großvater steckte mir manchmal etwas Geld zu. Sie neigten nicht so sehr dazu, die Vergangenheit der Familie schönzureden, und waren also eine verlässlichere Informationsquelle, was mir half, Erfundenes und Abseitiges von der Wirklichkeit zu trennen. Meine Mutter glaubte meist selbst an ihre Hirngespinste, und ihre Schwestern sahen sich nicht verpflichtet, mir gegenüber irgendetwas ins rechte Licht zu rücken, also lernte ich, während ich bestimmte Geschichten nacherzählte, auf ihre Mimik zu achten und fand dabei heraus, inwiefern sich die Erinnerungen meiner Mutter nicht mit der ihren deckte.