Mütterlein, tanz den Tod mit mir - Rosemarie Brilmayer - E-Book

Mütterlein, tanz den Tod mit mir E-Book

Rosemarie Brilmayer

4,7

  • Herausgeber: Silberburg
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Ein aufgeknüpfter Kioskbesitzer und ein Bombenattentat auf den Leiter der Mordkommission stellen das schräge, von Eifersüchteleien und Zwangsneurosen gebeutelte Team der Kripo Mannheim vor schier unlösbare Aufgaben. Zudem setzen grässliche Leichenfunde die Ermittler unter enormen Aufklärungsdruck. Schnell häufen sich die Indizien, dass ein psychopathischer Serienmörder sein Unwesen treibt. Als auch die von allen Männern heiß begehrte und von ihren Geschlechtsgenossinnen abgrundtief gehasste Polizeifotografin Milena Breiter in sein Visier gerät, nimmt der Fall rasant Fahrt auf. Den entscheidenden Hinweis liefert schließlich ausgerechnet die graueste aller grauen Mäuse …

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Seitenzahl: 536

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Mütterlein, tanz den Tod mit mir

Rosemarie Brilmayer

Mütterlein,tanz den Todmit mir

Ein Baden-Württemberg-Thriller

Rosemarie Brilmayer, geboren 1956 in Mannheim, studierte Archäologie und Kunstgeschichte, absolvierte eine Ausbildung zur Trickkamerafrau und Filmcutterin und ist heute unter anderem als Texterin und Grafikerin tätig. Die Leidenschaft für das Schreiben hat sie stets begleitet und führte über das Verfassen von Kurzgeschichten und einem Kinderbuch mit eigenen Illustrationen schließlich zu ihrem ersten Thriller.

Für meinen Freund und ganz privaten,unermüdlichen Lektor Michael Ockert,ohne den ich niemals durchgehalten hätte.

1. Auflage 2014

© 2014 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © Artem Furman – Fotolia.Druck: CPI books, Leck.Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1652-6E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1653-3Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1350-1

Besuchen Sie uns im Internetund entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

Inhalt

Autorin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

NACHTRAG

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Im alten HausMit sieben SälenMuss der König langsam faulenSich am letzten Bissen quälen

Schach dem KönigErledigt sichGewöhnlichDurch die Königin

Äxel

1

Kaja gab einen dumpfen, gequälten Laut von sich und schloss die Augen vor dem Ungeheuerlichen, doch die grausigen Bilder verschwanden nicht. Übelkeit stieg in ihr hoch, ihr wurde wieder schwindlig, die grässliche Küche drehte sich, schnell und immer schneller. Der ekelhafte Geruch der Verwesung, der aus allen Ecken und Ritzen des dämmrigen Raumes kroch, nahm ihr den Atem. Die Fesseln, durchtränkt von ihrem Blut, schnitten ihr unbarmherzig ins Fleisch.

Er war wieder hier.

Mühsam schlug sie die Augen auf, konnte sie nur noch zu Schlitzen öffnen.

Und plötzlich kippte alles. Sämtliche Gegenstände schienen im Zoom auf sie zuzurasen und über ihr zu zerbersten. Die säuselnde Stimme ihres Peinigers schwoll an und dröhnte ihr in den Ohren. Sie würgte und erbrach sich, wieder und wieder, ihre wunde Kehle brannte wie Feuer.

Er lachte sein heiseres, krankes Lachen.

Dies war kein Traum, sie wusste, für sie würde es kein Erwachen mehr geben. Das hier war der winzige, elende Rest ihres Lebens. Es war vorbei. Niemand konnte auch nur im Entferntesten ahnen, wo sie sich befand, und deshalb hatte sie auch nicht die geringste Chance, gefunden zu werden. Tränen liefen ihr heiß übers Gesicht.

Sie konnte sich nicht erklären, wie sie ihn jemals hatte anziehend finden können. Aber das hatte sie, es war ganz und gar unbegreiflich.

Seine eleganten, gepflegten Hände waren in Wahrheit erbarmungslose Vernichtungswerkzeuge, die steinernen Gesichtszüge stumpf und vollkommen gefühllos. Nur seine flackernden Augen glühten wie Kohlen im Eis.

»Du sollst hinschauen, verfluchte Hexe, los, schau hin!«

Zornig griff er in ihre wirren, verfilzten Haare, riss ihren Kopf hoch und presste mit Daumen und Zeigefinger der anderen Hand unbarmherzig ihre Wangen zusammen.

Kaja stöhnte und zwang sich, die verquollenen Augen zu öffnen. Und da war es wieder, das scheußliche Bild. Nein, lieber wollte sie gleich sterben als weiter hinsehen zu müssen. Er würde sie sowieso umbringen, daran hatte sie keinen Zweifel mehr. Kein Mensch konnte, kein Mensch durfte dieses Haus lebend verlassen. Niemand jedenfalls, der diese Küche je gesehen hatte.

Er ließ kurz von ihr ab und blickte zu seiner Mutter hinüber. Seine Züge wurden schlagartig weich, eine verzweifelte Zärtlichkeit huschte über sein Gesicht, das dadurch noch furchteinflößender und abstoßender wirkte. Als bestände es aus Gallert, das sich ständig veränderte, sich verschob und verdrehte wie bei einer Zeichentrickfigur aus Knetmasse. Seine Augen brannten in krankem Fieber, die Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Mit fahrigen Händen strich er sie zurück und ging neben dem Stuhl seiner Mutter in die Hocke.

»Ist Kaja nicht entzückend, Mutter?«, wisperte er und streichelte behutsam die Knochenhand.

Kaja gefror das Blut in den Adern. Sie wimmerte leise, versuchte mit letzter Kraft ihre Wahrnehmung abzuspalten, sich innerlich abzuschotten. Sie schloss wieder die Augen, aber Ohren und Nase konnte sie nicht vor dem Grauen verschließen. Die ganze Küche atmete Tod.

Plötzlich kicherte er und machte sich schnaufend an ihren Fesseln zu schaffen, vergewisserte sich noch einmal, dass sie ihm nicht entkommen konnte. Schon lange spürte sie Arme und Beine nicht mehr. Selbst wenn sie es jemals schaffen würde, die Stricke zu lösen, konnte sie nicht mehr fliehen.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier hockte, von Entsetzen geschüttelt, verrückt vor Angst, sie hatte inzwischen längst jegliches Zeitgefühl verloren. Bilder aus ihrem früheren Leben zogen immer wieder in Momentaufnahmen vor ihrem inneren Auge vorüber, und dann stürzte alles in sich zusammen, hinab in den entsetzlichen Abgrund.

Hier also würde sie sterben. Bald. Sie wollte längst kein Essen aus seinen Todeshänden mehr nehmen. Aber immer, wenn er kam, um etwas Essbares in sie hineinzustopfen, öffnete sich ihr armer Mund wie von selbst und sog gierig die Nahrung in sich auf. Dabei hatte sie nur noch den einen Wunsch: dass er verschwinden würde, damit sie in Ruhe sterben konnte.

»Ist meine Mutter nicht überirdisch schön?«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr.

Sein heißer Atem streifte ihre Wange wie sengendes Feuer.

»Antworte!«, brüllte er.

Sie hob die Lider und blickte direkt in sein wutverzerrtes Gesicht. Verzweifelt versuchte sie, Worte zu formen, und brachte doch nur ein klägliches Gurgeln zustande. Das Atmen fiel ihr immer schwerer, ihr geschundener Körper schmerzte wie eine einzige große, offene Wunde. Die Fesseln, die ihre Brust einschnürten, zwangen sie, aufrecht zu sitzen. Sie sehnte sich danach, alles loszulassen, sich dem Tod einfach zu ergeben. Mit letzter Kraft hob sie den Kopf und spuckte ihm mitten ins Gesicht. Ihr Speichel traf ihn ins Auge und blieb an seinen dichten, dunklen Wimpern hängen.

Wutentbrannt schrie er auf und wischte sich mit dem Ärmel hektisch über die Augen. Dann stieß er ihr mit einer einzigen brutalen Bewegung wieder den stinkenden Stofffetzen in den Mund, sprang auf und hetzte zur Spüle, wo er sich mit beiden Händen wie besessen Wasser ins Gesicht schaufelte.

Ein absurdes Gefühl der Dankbarkeit überkam sie, und gleichzeitig tiefe Verwunderung, dass die Befriedigung darüber, ihn besudelt zu haben, im Angesicht des Todes so stark sein konnte.

Sehnsüchtig blickte sie zum Fenster hinüber. Draußen ging gerade die Sonne auf, das Morgenlicht hatte schon jetzt diesen besonderen Glanz. Der Tag, an dem sie sterben würde, versprach ein herrlicher Sonnentag zu werden. Sie weinte lautlos.

Nur noch ein Mal die Sonne spüren, noch ein Mal auf der Erde liegen, im klammen Novembergras, mit dem Gesicht nach unten. Sie würde das Gras riechen und den frostigen Boden, würde gierig den herben, frischen Duft einatmen, sie würde sich auf den Rücken drehen, Arme und Beine ausbreiten, und die flirrenden Sonnenstrahlen würden sie berühren und liebkosen.

Im nächsten Moment versank ihre Welt im Dunkel.

2

Albert absolvierte seine gewohnte Route durch die Stadt wie jeden Tag. Es war Mitte Januar. Man konnte schon deutlich merken, dass die Tage wieder länger wurden, aber es war bitterkalt, der Winter schien in diesem Jahr endlos. Der eisigen Kälte zum Trotz schoben sich schon jetzt am Morgen Einkaufslustige durch die weitläufigen Straßen.

Mannheim ist ein Besuchermagnet, egal zu welcher Jahreszeit, vielsprachiges Stimmengewirr vermischt sich mit den Klängen hupender Autos, die versuchen, sich ihren Weg durch die flanierenden Passanten zu bahnen. Mannheimer empfinden eine rote Fußgängerampel nicht grundsätzlich als ein definitives Haltesignal, sondern eher als Vorschlag, den man annehmen oder ablehnen kann. Meistens wird er abgelehnt, weshalb in der Mannheimer Innenstadt die Autos nicht fahren, sondern zuckeln. Das beste Beispiel für diese gemütliche Symbiose sind die Fressgasse und ihre Schwester, die Kunststraße.

An Werktagen war Albert am liebsten vormittags unterwegs. In den Fußgängerzonen der Breiten Straße und den Planken, die Mannheim wie ein riesiges T mittendurch zerteilen, parkte, wie immer um diese Zeit, Lieferwagen an Lieferwagen vor den Geschäften. Warenkisten wurden herausgewuchtet und in die Läden geschleppt, überall herrschte rege Betriebsamkeit. Manchmal, wenn ein Lieferant es eilig hatte, durfte Albert mit anpacken, meistens vor den kleineren Geschäften. Mit seinen fast sechzig Jahren war er noch recht kräftig, und das trotz schlechter Ernährung und sonstigem körperlichem Raubbau. Oft wurde er in Naturalien ausbezahlt. Feinere Geschäfte hatten allerdings feinere Lieferanten, dort hatte ein Penner wie er nichts zu suchen. Grundsätzlich galt hier für ihn die Wasserturmregel. Je näher am Wasserturm, dem Mannheimer Wahrzeichen, desto feiner die Läden und desto nachdrücklicher der Rauswurf.

Die vormittägliche Geschäftigkeit der Stadt wirkte auf Albert belebend und beruhigend zugleich. Die Nachmittage dagegen mit dem endlosen Besucherstrom und den kamerabewehrten Touristengrüppchen entlarvten ihn allzu deutlich als Außenseiter, durch den man hindurchsah, als sei er aus schmutzigem Glas. Albert hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt, auch an den Widerwillen und den stummen Protest, den er überall hervorrief.

Inzwischen war er bei Rudis Kiosk angekommen, der etwas abseits des Stadtkerns in der Schwetzinger Vorstadt lag. Um diese Zeit waren hier nur wenige Menschen unterwegs.

»Ouh«, machte er erstaunt.

Rudi war wohl spät dran heute. Erst einer der fünf runden, mit den neuesten Tageszeitungen bestückten Ständer stand auf dem Bürgersteig. Trotzdem war die kleine Tür an der Seite des Kiosks geschlossen. Seltsam.

Albert klopfte an die fleckige Scheibe über der Ladentheke. Er wusste, dass er sich bei Rudi solch aufdringliches Verhalten ohne Weiteres herausnehmen konnte. Ja, er ging sogar so weit, Rudi in seinem tiefsten Inneren als Freund zu bezeichnen, obwohl ihm klar war, dass seine eigene Einschätzung ihrer Beziehung wahrscheinlich nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Rudi war oft miesepetrig und brummig, aber er behandelte ihn und seinesgleichen wie alle anderen Menschen auch. Und er verschenkte die vom Vortag übrig gebliebenen Backwaren. Das allein war schon Grund genug, täglich bei ihm vorbeizuschauen. Mit überraschend anmutendem Feingefühl hatte Albert Rudis Menschenfreundlichkeit nie über Gebühr strapaziert. Na ja, jedenfalls nicht allzu oft.

Jetzt starrte er durch das Thekenfensterchen ins Innere des Kiosks, konnte aber so gut wie nichts erkennen. Die kleine Funzel, die von der Decke hing, spendete nur schwaches Licht, und draußen war es morgens zu dieser Zeit noch ziemlich düster. Außerdem standen die restlichen vier Zeitungsständer drinnen, und zwar so dicht hinter dem Fenster, dass sie völlig die Sicht verdeckten.

Rudi musste noch einmal weggegangen sein. Aber warum hatte er dann den Zeitungsständer einfach draußen stehen lassen? Das war noch nie passiert.

»Entweder alle draußen oder alle drinnen«, sagte Albert laut zu sich selbst und klopfte noch einmal an die Scheibe, diesmal kräftiger.

Nichts rührte sich.

Er ging um den Kiosk herum zur Tür und rüttelte daran. Eigenartig, die Tür war nicht mal abgeschlossen und gab sofort nach. Albert blickte sich rasch nach allen Seiten um, bevor er in die Hütte trat. Eine Frau mit Kinderwagen, an dessen Seitenstange sich ein Kleinkind festhielt und trippelnd versuchte, mit dem strammen Tempo der Mutter mitzuhalten, sah kurz zu ihm herüber und dann sofort wieder weg.

Zögernd betrat Albert den kleinen Raum und zog die Tür hinter sich zu. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er überhaupt etwas sehen konnte. Aha, der Bäcker war jedenfalls schon da gewesen. Die Tüten mit den frischen Brezeln, Brötchen und Kuchen lagen unausgepackt auf dem kleinen Seitentisch. Noch fest verschnürte und ein paar schon aufgeschnittene Zeitungspacken stapelten sich an der Seitenwand. Zuoberst sprang Albert die Schlagzeile über den Fund eines weiteren Opfers des Frauenschänders entgegen.

Der zweite Zeitungsständer war bereits bestückt und wartete darauf, hinausgerollt zu werden. Rudi musste seine Arbeit mittendrin unterbrochen haben.

Aus dem unwiderstehlichen Drang heraus, Normalität zu schaffen, so, als könne er damit den plötzlich sicheren Instinkt verscheuchen, dass hier irgendetwas überhaupt nicht in Ordnung war, griff Albert nach dem Ständer, um ihn nach draußen zu rollen. Aber etwas musste sich da oben verhakt haben. Er streckte sich, fasste in das Gestänge und berührte dabei unerwartet etwas Weiches, Schlaffes. Er griff danach und schrie im nächsten Augenblick angstvoll auf.

Teufel, von dort oben baumelte eine Hand herab, eine leblose, aber noch warme, menschliche Hand.

Taumelnd wich er zurück und fiel rückwärts über den kleinen, rollbaren Radiator, der hinter der Tür stand. Polternd ging er zu Boden, er zitterte am ganzen Körper und blieb einige Sekunden gelähmt von Entsetzen liegen. Schließlich rappelte er sich wieder auf und zwang sich dazu, nach oben zu blicken, obwohl er sich vor Grauen kaum auf den Beinen halten konnte.

Rudi hing mit einer dicken Kordel um den Hals, die tief in sein Fleisch einschnitt, an einem Haken von der Decke. Sein Gesicht war blau angelaufen, die Augen traten wie rotgeäderte Murmeln aus ihren Höhlen. Durch Alberts Berührung baumelte der Leichnam sachte hin und her, und Rudis tote Füße tippten ihm sanft gegen den Bauch. Albert machte einen Satz zur Seite.

Es musste gerade erst passiert sein, die Leiche war ja noch warm! Warum hatte Rudi das getan, so völlig ohne Vorwarnung? Wieso hatte er plötzlich einen Strick genommen und sich da oben erhängt? Warum hätte er überhaupt morgens wie immer zur Arbeit gehen sollen, wenn er vorhatte sich umzubringen? Das ergab doch überhaupt keinen Sinn!

Unterhalb der Leiche lag ein umgekippter Stuhl – der Stuhl, auf dem Rudi immer hinter seinem Fensterchen gesessen hatte. Rudi musste ihn dazu benutzt haben, hochzusteigen und sich die Schlinge um den Hals zu legen, und dann hatte er ihn wohl unter sich weggetreten. Mechanisch griff Albert nach dem Stuhl, stellte ihn auf und sank darauf nieder. Sein Herz schlug so heftig, dass es schmerzte, er ballte beide Hände zu Fäusten und drückte sie sich gegen die Brust. Rudi glotzte aus toten Augen zu ihm herunter, seine dicklichen Wangen hingen ihm wie zwei kleine, traurige Säckchen im Gesicht.

Warum hatte er das bloß gemacht? Er hatte seinen Kiosk, seine Frau Linda, ja, er hatte sogar seit einiger Zeit eine Geliebte, ein junges, naives Ding. War ganz stolz drauf gewesen. Und jetzt das!

Mit fahrigen Händen zog Albert aus dem Seitenregal eine Flasche Weinbrand heraus, öffnete den Schraubverschluss und leerte sie in einem Zug fast bis zur Hälfte. Betäuben. Nicht denken, bloß nicht denken. Von draußen drangen laute, fröhliche Stimmen herein, wahrscheinlich Kinder auf dem Weg zur Schule.

Was sollte er jetzt bloß machen? Polizei, klar, er musste die Polizei alarmieren.

Halt, nein, das war keine gute Idee. Sie würden ihm alle möglichen Fragen stellen und vielleicht sogar Schlimmeres mit ihm machen. Er hatte in seinem bisherigen Leben immer einen möglichst großen Bogen um sie gemacht und war bisher ganz gut damit gefahren. Rudi war sowieso nicht mehr zu helfen, und allmählich dämmerte Albert, dass er sich gerade in einer wirklich miserablen Lage befand.

Er musste verschwinden, sofort! Rudis Frau würde bald auftauchen. Sie kam morgens immer kurz vorbei, um ihn für ein halbes Stündchen abzulösen, damit er in Ruhe eine Kleinigkeit essen und seine Zigarre rauchen konnte. Sie würde Rudi finden und dann alles Notwendige tun. Er stellte sich ihr Entsetzen vor, und wieder überlief ihn ein eisiger Schauer. Hastig kippte er noch einen Schluck Schnaps hinunter, das Zeug brannte wie Feuer.

Und dann tat er etwas, das er sich später selber nicht mehr erklären konnte: Er öffnete die Ladenkasse unter der Theke und nahm das Wechselgeld heraus, die bereits in die Kasse eingezählten Münzen ließ er einfach liegen. Beiläufig nahm er wahr, dass die Scheine sich noch in einem Umschlag befanden, der sich ziemlich dick anfühlte. Er griff hastig danach, warf einen kurzen Blick hinein – und schnappte vor Überraschung nach Luft. Von wegen Wechselgeld! Das waren ja lauter 50-Euro-Scheine, ein ganzes Bündel! Und erst ganz unten kamen die Zehner und Fünfer. Mit offenem Mund starrte er auf den Schatz in seinen Händen. Seine zitternden Finger wollten ihm nicht so recht gehorchen, als er den Umschlag in seine Manteltasche schob. Und sobald das Geld in der Tasche war, fing es auch schon buchstäblich zu brennen an.

Er fluchte leise. Sollte er es wieder zurücklegen? Nein! Er musste irgendeinen Ausgleich schaffen zu dem Schock. Und weil er sich sowieso schon nicht mehr schlechter fühlen konnte, klemmte er die angebrochene Flasche Schnaps vorn in seinen Hosenbund und knöpfte den alten Mantel darüber fest zu.

Rudi brauchte kein Geld mehr. Rudi brauchte gar nichts mehr.

Albert schlich zur Tür, drehte sich noch einmal um und linste nach oben. An dem Haken dort oben hing einer seiner wenigen Freunde, sein aufgedunsenes Gesicht wurde von der nackten Glühbirne an der Decke gruselig beleuchtet. Niemals würde er diesen entsetzlichen Anblick vergessen.

Er trat, immer noch wacklig auf den Beinen und vorsichtig um sich blickend, hinaus und schlich zu dem Parkplatz, der sich hinter dem Kiosk befand. Gerade wollte er sich geduckt zwischen den geparkten Autos davonstehlen, da kam sie schon um die Ecke.

Linda Hardt wackelte behäbig auf ihren stämmigen Beinen heran. Sie stieß Kälterauchwölkchen aus und erinnerte an eine kleine, grimmige Dampflok. Albert kauerte sich blitzschnell hinter einen weißen Lieferwagen. Er musste warten, bis Linda im Kiosk war, bevor er sich aus dem Staub machen konnte. Auf gar keinen Fall wollte er ihr jetzt begegnen.

Er beobachtete durch die Scheiben des Lieferwagens hindurch, wie sie die Tür öffnete, und wartete mit klopfendem Herzen auf ihren Entsetzensschrei. Linda trat in den Kiosk und zog rasch die Tür hinter sich zu.

Und dann folgte Stille, absolute Stille. Kein Geheul, kein Rufen, kein Jammern, nichts. Entweder war Linda bei dem grausigen Anblick ohnmächtig geworden, oder sie hatte wesentlich bessere Nerven als er. Albert überlegte kurz, ob er nach ihr sehen sollte, entschied sich dann aber dagegen, für heute hatte er wahrlich genug Aufregung gehabt. Als er sich noch einmal umblickte, registrierte er überrascht, dass in dem Häuschen nun kein Licht mehr brannte.

Merkwürdiger Zeitpunkt, um ans Stromsparen zu denken, dachte er irritiert. Dann zog er den Kopf ein und schlich aufgewühlt und traurig davon. Erst Stunden später fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, den Stuhl wieder unter dem Erhängten auf den Boden zu legen.

3

Kommissar Herbert Niederegger zog die Jalousien seines Schlafzimmerfensters hoch und erblickte den vollkommensten Sonnenaufgang des Jahres. Vom Wind in fast unnatürlicher Gleichmäßigkeit zu fein ziselierten Wellen getriebene Schleierwolken wurden von den ersten zarten Strahlen der Sonne beleuchtet und in orangerotes Licht getaucht. Keiner seiner Kollegen ahnte, dass Niederegger in Wahrheit ein stiller Romantiker war.

Sein Gesicht bestand vorwiegend aus riesigen Glubschaugen hinter dicken Brillengläsern, die von einem altmodischen, dunkelbraunen Kassengestell umrahmt wurden, seine Stupsnase saß wie ein Knopf eingeklemmt unter dem stark nach unten gebogenen Brillensteg. Den scharfsinnigen Beobachter, der in ihm steckte, sah man ihm jedenfalls nicht an, im Gegenteil, er wirkte auf den ersten Blick eher wie ein muffiger, graustichiger Antiquitätenhändler, bei dem die Zeit schon vor Jahren stehen geblieben war.

Erst wenn man ihn näher kennen lernte, erkannte man, dass sein sperriger Charakter die augenscheinliche Harmlosigkeit mehr als wettmachte. Fast war diese sogar ein Ablenkungsmanöver, die meisten Menschen fielen nämlich auf Anhieb auf sein linkisches Gebaren und die kauzige, harmlose Ausstrahlung herein. Dieser Umstand hatte sich schon bei zahllosen Verhören bewährt. Niederegger war das As im Ärmel, die Geheimwaffe der Mannheimer Kripo, wenn sie bei einem Fall auf der Stelle traten.

Zwischen dem Haus am Ortsrand von Seckenheim, in dem Niederegger mit seinen drei Katzen lebte, und dem Fluss befand sich eine viel befahrene Durchgangsstraße. Ab und zu stach ein ungeduldiges, rechthaberisches Hupen aus dem gleichförmigen Gebrumme des Verkehrslärms hervor, der trotz der doppelt verglasten Fenster bis in seine Wohnung drang. Sein Blick wanderte hinüber zum Neckar. Ein schwer beladenes Schiff glitt stromabwärts, der Schiffsrumpf lag so tief im Wasser, dass man davon nur den vordersten und den hintersten Teil sah. Von weitem sah es so aus, als schwebten die bunten Container, die das Schiff transportierte, direkt über dem Wasser.

Da riss ihn das schrille Läuten des Telefons aus seinen Betrachtungen. Er stellte die Kaffeetasse auf die Fensterbank und griff nach dem Hörer.

»Niederegger«, bellte er unfreundlich und warf einen letzten sehnsüchtigen Blick hinaus in den goldenen Himmel, bevor er sich in Richtung Tür in Bewegung setzte.

Wer es wagte, ihn morgens anzurufen, egal ob dienstlich oder privat, durfte keine Opernarien erwarten.

»Ringshauser hier«, dröhnte eine sonore Stimme betont fröhlich am anderen Ende. »Hab ich Sie aus dem Bett geholt? Täte mir wirklich leid.«

»Klar doch. Was gibt’s? Machen Sie’s kurz.«

»Mord. Kürzer geht’s nicht.«

Sofort war Niederegger hellwach, und synchron dazu begann er, an den Füßen zu frieren.

»Doch nicht schon wieder eine Frauenleiche, etwa diese vermisste Lisetta Traub?«, stöhnte er.

»Im Gegenteil.«

»Was soll denn das jetzt wieder heißen, Mensch?«

»Na ja, es ist ein älterer Mann. Kioskbesitzer. Sein Zigarettenlieferant hat ihn gefunden. Er wartet noch dort. Seckenheimer Straße, Ecke Otto-Beck-Straße.«

»Kenn ich«, grunzte Niederegger. »Bin in einer Viertelstunde da.«

4

Eine Viertelstunde war allerdings um diese Uhrzeit, wo die halbe Stadt auf den Beinen war, viel zu niedrig angesetzt, obwohl er die Bäckerei heute sausen ließ. Er nahm das kurze Stück Autobahn von Seckenheim nach Mannheim, das direkt in die Augustaanlage mündet, bog nach links in die Otto-Beck-Straße ein, bis er auf die Seckenheimer Straße stieß. Dies war die kürzeste Strecke, dennoch brauchte er heute fast fünfundzwanzig Minuten, und als er endlich am Tatort ankam, waren alle schon da. Elmar Ringshauser, die Polizeifotografin Milena Breiter, der Polizeiarzt, die Kriminalassistentin Luisa Eichinger …

Moment mal. Er stutzte. Was wollte die denn eigentlich hier, die hatte doch heute frei?

Ringshauser begrüßte ihn mit einem kurzen Nicken. Er ließ sich neuerdings ein bisschen gehen, war schlecht rasiert und trug Klamotten, die er schon fast die ganze letzte Woche getragen hatte. Niederegger tippte auf eine aktuelle Ehekrise bei den Ringshausers, die traditionell mindestens einmal monatlich stattfand. Nicht dass Elmar Ringshauser seinen Kollegen irgendetwas aus seinem Privatleben anvertraut hätte. Aber seine Frau Ria war ebenfalls Kommissarin im Team der Mannheimer Kripo, und obwohl beide Ringshausers sich bemühten, im Arbeitsalltag professionell miteinander umzugehen, blieben dem geübten Blick die untrüglichen Anzeichen ehelicher Gewitterwolken nicht verborgen. Niederegger beglückwünschte sich insgeheim zu seinem friedlichen Katzenhaushalt.

»Weiß die Familie des Toten schon Bescheid?«, fragte er.

»Eichinger sollte das längst erledigt haben und der Ehefrau auch gleich ein paar Fragen stellen, aber die hat ja Wichtigeres zu tun«, antwortete Ringshauser achselzuckend.

»Ich hör wohl nicht richtig«, schnaubte Niederegger ärgerlich. »Die hat zu machen, was man ihr sagt, basta.«

»Ach ja«, blaffte Ringshauser. »Als ob das so einfach wäre.«

»Es ist einfach«, blökte Niederegger. »Wo steckt sie denn, die Gnädigste?«

Er blickte sich suchend um, aber Luisa Eichinger war plötzlich nirgends mehr zu sehen.

»Keine Ahnung. Vermutlich irgendwo in der Nähe. Ihr Wagen steht jedenfalls noch dort drüben an der Ecke.«

Ringshausers Gleichmut konnte einen wahnsinnig machen. Niederegger raufte sich die Haare, riss sich entnervt die Brille herunter und setzte sie sofort wieder auf.

»Manchmal könnte ich …«, polterte er los. »Herrgott nochmal, ist das hier ein Kegelausflug oder was?«

Jemand kicherte. Die Traube neugieriger Passanten, die sich inzwischen bis dicht an die Absperrung drängte, wurde immer größer.

»Ganz ruhig, Niederegger, denken Sie an Ihren Blutdruck! Dann fahre ich eben zu Frau Hardt«, schlug Ringshauser sanft vor. »Sie sind ja jetzt hier und können sich selbst noch mal umsehen und mit Holger Lembach, dem Zigarettenlieferanten, reden.«

»Nichts da. Wofür haben wir denn Assistenten?«

»Um sie rumzuscheuchen?« Ringshauser grinste.

»Funktioniert ja dummerweise bloß, wenn sie greifbar sind«, brummte Niederegger missmutig. »Ich will jetzt erst mal den Toten sehen.«

Der Kiosk, ein würfelförmiges Häuschen mit Flachdach, stand vor einem großen düsteren Schulgebäude. Zwischen dem Kiosk und der Schule lag ein Parkplatz und direkt daneben ein von Bäumen umsäumter Spielplatz mit Schaukeln und Rutsche, der jetzt im Winter allerdings völlig verwaist war. Drumherum und auf der gegenüberliegenden Straßenseite erhoben sich mehrstöckige Mietshäuser, von denen die meisten einen Laden, eine Kneipe oder ein Café im Untergeschoss beherbergten. Die Seckenheimer Straße war eine mäßig belebte Straße, die aus der Stadtmitte bis hinaus in die Vorstadt führte. Obwohl Mannheim im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerbombt worden war, standen hier in diesem Stadtteil noch viele Gebäude aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Alle paar Minuten quietschte eine Straßenbahn vorbei.

Der Zigarettenlieferant Lembach saß bei offener Schiebetür auf der Rückbank seines roten Lieferwagens und rauchte Kette. Die Kippen warf er wohl schon seit den frühen Morgenstunden einfach in kurzem Bogen hinaus auf den Bürgersteig, der inzwischen aussah, als hätte eine Mannschaft von Zwergen gerade ein paar Dutzend winzige Birken zerlegt und auf dem Gehweg abgeladen.

Niederegger nickte dem Mann kurz zu. Die Schar der Gaffer wuchs und wuchs, er bedachte die Sensationshungrigen mit einem finsteren Blick und betrat kopfschüttelnd den Kiosk. Ringshauser folgte ihm.

Der Polizeiarzt Friedemann Schill hatte bereits den Tod des Opfers festgestellt, was nicht allzu schwierig gewesen sein konnte. Dass der Mann, der dort oben von der Decke baumelte, tot war, war nicht zu übersehen. Der kleine Raum war in grelles Scheinwerferlicht getaucht, das die Kollegen von der Spurensicherung installiert hatten.

»Können Sie schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen?«, fragte Niederegger den Arzt und sah sich in dem muffigen kleinen Kabuff um.

Die Spurensicherung war wohl bereits abgeschlossen, niemand aus dieser Abteilung, außer dem Leiter Elmar Ringshauser natürlich, war noch vor Ort, aber alle Flächen waren bedeckt mit Unmengen von diesem fluoreszierenden, bläulichen Pulver.

Niederegger verzog das Gesicht und nieste. Nicht auszudenken. Dieser stickige Raum war mit Sicherheit bis unter die Decke voll mit Bakterien und Keimen. Grund genug, die Besichtigung des Tatorts so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

»Wie ich Ringshauser schon sagte, zwischen sieben und acht heute Morgen«, antwortete der Arzt.

Schill wirkte wie immer aus dem Ei gepellt, als rechne er jederzeit damit, im nächsten Moment in die Oper eingeladen zu werden.

»Hmm, also vor ungefähr zwei Stunden.«

Schill nickte, ohne aufzusehen, und fuhr damit fort, seine Instrumente in einem schwarzen Köfferchen zu verstauen.

Der Tote war Ende fünfzig, etwa einsachtzig groß und korpulent. Ein dicker Strick grub sich tief in das Fleisch seines Halses. Die mit grauen Strähnen durchzogenen schwarzen Haare fielen in das aufgedunsene Gesicht, sie waren so lang, dass die Vermutung nahelag, dass Rudolf Hardt zu Lebzeiten Pferdeschwanzträger gewesen war. Jemand musste ihn vor dem Erhängen geknebelt haben, denn ein bunter Stofffetzen hing ihm lang, ja fast obszön, aus dem Mund heraus, so, als hätte er ihn gerade hervorgewürgt. Damit konnte man Selbstmord eindeutig ausschließen.

Es war ein scheußlicher Anblick, und Niederegger war froh, dass er außer Kaffee noch nichts im Magen hatte. Nein, er würde sich nie an solche Bilder gewöhnen.

Er konnte nicht umhin, sich wieder mal über diese junge Fotografin, Milena Breiter, zu wundern, die um den Erhängten herumtänzelte und Bilder schoss, als befände sie sich auf einem Popkonzert. Hübsche Person übrigens. Ihr auf wilde Lockenmähne sorgfältig getrimmtes Haar war stets perfekt frisiert und umrahmte ein herzförmiges, ausdrucksvolles Gesicht. Immer ein bisschen zu aufdringlich geschminkt für seinen Geschmack, aber sein Geschmack war leider mit Sicherheit völlig irrelevant für sie. Sie war groß und kräftig, ohne dick oder auch nur mollig zu sein. Er wäre jede Wette eingegangen, dass sie regelmäßig Kraftsport trieb, um sich fit zu halten.

Mit dem Toten war sie wohl inzwischen fertig. Nun begann sie, alles in der Hütte aus jedem Blickwinkel zu fotografieren, es war offensichtlich, dass sie ihr Handwerk aus dem Effeff beherrschte. Zwischendurch unterhielt sie sich lebhaft mit dem jungen Arzt, der sein Notizbuch in der Hand hielt und eifrig hineinkritzelte. War er es, den sie mit ihrer Tapferkeit beeindrucken wollte? Oder überspielte sie ihre Nervosität, um einfach nur ihre Arbeit erledigen zu können? Ja, so war es wohl, er selbst machte es ja auch nicht anders.

Hardt musste von seinem Mörder mitten in der Arbeit unterbrochen worden sein. Überall lagen Zeitungspacken herum, manche aufgerissen, andere noch völlig unberührt.

Die meisten Tageszeitungen berichteten heute auf ihren Titelseiten über den Fund des letzten rothaarigen Opfers des Frauenmörders. Einige brachten Fotos der Ermordeten aus glücklichen Tagen, ein junges lachendes Gesicht, und daneben eine Aufnahme des Waldstückes, in dem ihre Leiche gefunden worden war. Der »Mannheimer Morgen« lag auf dem Boden, direkt neben einem Stuhl. Niederegger betrachtete das scharfe Teppichmesser, mit dem Hardt die Zeitungspacken aufgeschnitten hatte. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihm damit die Kehle durchzuschneiden. Stattdessen hatte sich der Mörder die Mühe gemacht, sein schwergewichtiges Opfer auf einen Stuhl zu hieven und an der Decke aufzuknüpfen. Merkwürdig fleißig.

Niederegger begann, sich Notizen zu machen, dann zog er ein paar dünne Handschuhe aus der Tasche, von denen er immer mehrere Packen im Wagen hatte, und betätigte den Lichtschalter neben dem Eingang. Nichts, die Glühbirne da oben musste kaputt sein. Er legte den Kippschalter für die Scheinwerfer um. Sofort versank der kleine Raum in düsterem Halbdunkel.

»Hallo?«, machte die Fotografin entrüstet.

»Wird gleich wieder hell«, versprach Niederegger.

Zum Todeszeitpunkt Hardts war es draußen auf jeden Fall noch dunkel gewesen. Das kleine Oberlicht in der Decke ließ sogar jetzt um halb zehn nur wenig Tageslicht in den Raum. Neugierig stieg er auf einen Stuhl und betastete die Glühbirne, die traurig in ihrer Fassung hing. Direkt neben ihm baumelte Hardts Leichnam, der einen säuerlichen Geruch verströmte. Krampfhaft versuchte Niederegger, möglichst flach zu atmen.

Aha, die Birne war offensichtlich nur herausgeschraubt worden. Sobald sie wieder Kontakt hatte, brannte immerhin ein trübes Licht. Nachdenklich stieg er wieder herunter.

»Auf diese Weise hätte man ihn hinauflocken können«, murmelte er vor sich hin.

»Was? Wie?« Ringshauser trat neben ihn.

»Na, jemand dreht die Birne heraus, um Hardt dazu zu bringen, auf den Stuhl zu steigen. Er denkt, sie sei kaputt und will sie auswechseln. Nur, er schafft es nicht mehr, weil der Mörder ebenfalls hochsteigt und ihn von hinten stranguliert. Er könnte den zweiten Stuhl hier benutzt haben.«

Niederegger schaltete die Scheinwerfer wieder an.

»Na endlich«, seufzte der Polizeiarzt Schill.

Warum ist der denn überhaupt noch hier? Er ist doch längst fertig mit seinem Job, dachte Niederegger gereizt. Der Kiosk war auch für drei Personen schon eng genug.

»Irgendwas stimmt da nicht«, murmelte Ringshauser. »Das müsste ja alles passiert sein, während er damit beschäftigt war, die Zeitungen zu sortieren. Das bedeutet doch, dass das Licht zumindest anfangs noch funktioniert hat.«

»Hm, ja.«

Niederegger versuchte, sich die Szene vorzustellen, sein Blick wanderte wieder zur Decke. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Aber nein, das war einfach zu unwahrscheinlich, obwohl … Eine herausgedrehte Glühbirne, nur etwa dreißig Zentimeter vom Oberlicht entfernt. Das Oberlicht!

»Wir müssen das Dach nach Spuren absuchen.« Er fegte aus dem Kiosk und kam wenige Sekunden darauf triumphierend wieder zurück. »Auf einer Seite gibt’s ’ne nette, kleine Leiter, und man kann mit bloßem Auge erkennen, dass sie erst kürzlich benutzt worden ist. Raten Sie mal, wofür?«

»Die hab ich natürlich auch schon entdeckt. Um aufs Dach zu kommen, na und?« Ringshauser zog zweifelnd die dichten, schwarzen Brauen zusammen.

»Wenn man das Oberlicht von außen aufschieben kann, würde ein schmaler Spalt schon ausreichen, dann …«

»… ist es eine Kleinigkeit, die Glühbirne herauszudrehen, ohne den Kiosk zu betreten«, vollendete Ringshauser kopfschüttelnd den Satz. »Unwahrscheinlich, dass Hardt nichts davon bemerkt haben soll. Und auch sonst niemand aus einem der Häuser gegenüber.«

Er musterte den Toten an der Decke, als erwarte er von ihm ein bestätigendes Nicken.

»Hardt war ja mit dem Aufschneiden der Zeitungspacken beschäftigt. Und dann …«, Niederegger schnippte mit den Fingern, »… geht plötzlich das Licht aus.«

»Möglich«, nickte Ringshauser. »Ja, so könnte es vielleicht geklappt haben, Hardt auf den Stuhl zu locken. Aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie es funktioniert haben soll, ihn da oben zu strangulieren. Wäre ’ne echte Meisterleistung.«

»Die Vorstellung ist ziemlich abenteuerlich, klar, trotzdem wäre es machbar.« Niederegger betrachtete den auf dem Boden gelandeten linken Schuh des Toten. Der rechte baumelte direkt neben ihm, am Fuß der Leiche.

»Und dann vergisst er, seinem Opfer den Knebel aus dem Mund zu nehmen und die Glühbirne wieder reinzudrehen?« Ringshauser schüttelte wieder den Kopf. »Nein, das wäre doch wirklich zu dumm! Warum kümmert er sich um Kleinigkeiten und vergisst dann das Offensichtliche?«

Er ließ den Blick über die vollgepfropften Regale schweifen. Ein wahrlich breites Sortiment, vom Gebissreiniger bis zum Kondom war hier alles zu haben. Er griff nach einem Päckchen Erdnüsse und riss die Verpackung auf.

Nichts und niemand konnte Ringshauser den Appetit verderben. Seelenruhig knabberte er seine Nüsschen, während Niederegger noch immer mit seinem Mageninhalt vom Vortag kämpfte.

»Vielleicht ist er überrascht worden und musste schnell verschwinden.«

Niederegger zog das Schublädchen heraus, das die Kasse beherbergte. Sie war leer.

»Um Reichtümer wird es sich hier ja wohl kaum gehandelt haben«, murmelte er. »Apropos Geld, Herr Kollege. Sie können sich hier doch nicht einfach so bedienen.«

Ringshauser hatte bereits die nächste Handvoll Nüsse im Mund.

»Ich bezahle sie ja«, grummelte er undeutlich, zog ein plattgedrücktes Portemonnaie aus der Hosentasche und warf einen Euro in die Kasse. »So, mit Trinkgeld. Zufrieden?«

»Müssen Sie eigentlich immer irgendetwas zwischen den Zähnen haben?«, meckerte Niederegger, der sich ärgerte, dass er schon zunahm, wenn er nur an Erdnüsse dachte.

Zum hundertsten Mal nahm er sich vor, wenigstens ab und zu ein paar Trainingseinheiten im Polizeisportverein einzulegen.

»Was dagegen?«

Ringshauser wandte ihm demonstrativ den Rücken zu. Sein drahtiger Körper strotzte vor Kraft und wirkte trotz seiner Massigkeit beweglich und geschmeidig.

Milena Breiter war inzwischen fertig und schon damit beschäftigt, ihre Kamera zu verstauen, da erschien Luisa Eichinger neben der schmalen Eingangstür und beäugte die hübsche Fotografin mit abschätzigem Blick. Ihre beiden Vorgesetzten übersah sie geflissentlich. Breiter sah Eichinger herausfordernd an und packte gelassen weiter.

Niederegger pfiff leise durch die Zähne.

Aha, natürlich, daher wehte der Wind! Todsicher hatte Luisa ihre Schicht getauscht, um ihren Freddy, wie sie Friedemann Schill nannte, bewachen zu können. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie und der junge Arzt seit einiger Zeit liiert waren. Manche hatten, wenn auch noch nicht das Läuten der Hochzeitsglocken, so doch immerhin schon ein leises Scheppern vernommen. Und dann tauchte diese Vorstadtprinzessin Milena Breiter in Mannheim auf und fuhr Luisa Eichinger zielgenau in die Parade.

Niederegger holte tief Luft. »Na, wieder auf dem Posten, Frau Assistentin?«, bellte er. »Oder soll ich lieber sagen: auf dem Beobachtungsposten?«

Luisa reagierte kaum, hatte aber immerhin den Anstand, zartrosa anzulaufen.

»Ich geh ja gleich«, zischte sie.

»Nicht gleich, sondern sofort«, schnauzte Niederegger. »Du fährst dir grade wieder mal haufenweise Minuspunkte ein.«

Luisa trug eine olivgrüne Inkamütze auf dem kurzen, schwarzen Haar, was ihr hübsches Gesicht mit dem makellosen Teint betonte. Außerdem hatte sie ihre »gefährliche« Lederjacke an. Niederegger lächelte grimmig. Sobald die zierliche Polizistin in dieser Jacke steckte, hatte sie, bei aller Zartheit, automatisch eine einschüchternde, fast maskuline Ausstrahlung. Heute war das Outfit allerdings durch einen schwarzen Lederminirock und rote Stiefel abgemildert.

Glücklicher Schill! Wie beneidenswert, von zwei so attraktiven Frauen umschwärmt zu werden. Warum passierte eigentlich so was nie ihm? Milena Breiter war eine Frau, die ihm auch hätte gefallen können. Das dichte rote Haar, die ebenmäßigen Gesichtszüge und der bewegliche Körper – sicherlich unerreichbar für ihn. Nicht aber für Friedemann Schill, der nicht mal zu bemerken schien, dass sie ihn haltlos anhimmelte.

Da, plötzlich stolperte sie, der Arzt machte einen Schritt nach vorn und fing sie auf. Das Ganze wirkte wie eine Filmszene, die beiden hübschen Gesichter ganz nah beieinander, lachend und erhitzt, obwohl es in der Hütte lausig kalt war. Nur der aufgedunsene Rudolf Hardt oben an seinem Haken störte ein bisschen.

»Ach Gottchen, Frau Fotografin, kann ich helfen?«, spottete Luisa und verdrehte die Augen.

»Nicht nötig, ich hab alles im Griff«, erwiderte Schill gelassen und hielt Milena ein paar Sekunden länger als nötig im Arm.

»Luisa«, brummte Niederegger mit drohendem Unterton, »verschwinde endlich!«

»Aber ich hab doch überhaupt keine Erfahrung damit, solche Nachrichten zu überbringen«, maulte sie aufsässig. »Warum muss ausgerechnet ich diesen miesen Job erledigen?«

»Weil ich es dir sage!«, raunzte Niederegger. »Und jetzt Abmarsch, ich komme später nach.«

Eichinger stampfte mit zornrotem Gesicht zu ihrem Wagen, und Niederegger bemerkte plötzlich, dass Ringshauser das Geschehen genauso gespannt verfolgte wie er selbst. Das Ganze erinnerte inzwischen eher an ein schlecht gespieltes Theaterstück als an eine Tatortbesichtigung. Die Eifersüchteleien am Set waren mittlerweile eindeutig interessanter als der Tote an der Decke, der inmitten der Szene hing wie ein vergessenes Requisit.

Ringshauser folgte der wütenden Luisa und rief ihr etwas zu, das Niederegger nicht verstand, weil Milena Breiter genau in diesem Moment einen ihrer bezaubernden Lacher platzierte. Luisa legte draußen einen Eins-A-Kavalierstart hin und brauste mit quietschenden Reifen davon.

Schill wirkte erleichtert, während die Fotografin scheinbar unbeeindruckt immer noch an ihrer Ausrüstung herumwerkelte. Wahrscheinlich war ihre Stolperei genau geplant gewesen, aber wer kannte sich da schon aus? Auf jeden Fall hatte sie grade einen dicken Punktesieg über Luisa Eichinger errungen.

Niederegger riss sich aus seinen Betrachtungen, ging nach draußen und wandte sich endlich dem Zigarettenlieferanten im roten Lieferwagen zu, der selbst sein bester Kunde zu sein schien. Er hatte schon wieder eine frische Zigarette im Mund, und mit seiner fahlen, zerknitterten Haut wirkte er wesentlich älter als er laut Protokoll war, nämlich neunundzwanzig. Er trug, Klischee auf zwei Beinen, tatsächlich Westernstiefel, die unter hochgekrempelten, ausgebleichten Jeans hervorlugten, und eine dicke, gefütterte Lederjacke. Sein ausgemergeltes Gesicht hätte attraktiv, ja, beinahe hübsch sein können, wären da nicht die stechenden, schwarzen Augen gewesen, die nervös hin und her schossen und den Eindruck des coolen Stadtrandcowboys verdarben.

Niederegger schob sich eines seiner roten Plastikkissen unter, die er sicherheitshalber stets mit sich führte, und setzte sich zu dem Mann auf die Rückbank. Man konnte zwar kaum atmen hier drinnen, trotzdem war er dankbar, sitzen zu können. Er war immer noch nicht richtig wach.

Soeben hatte Ringshauser sich noch mit dem Arzt unterhalten, jetzt kam er herüber und lehnte sich an die offene Schiebetür des roten Lieferwagens. Offenbar zog er es vor, sich nicht der zweifelhaften Versuchung des Passivrauchens auszusetzen, sondern blieb draußen stehen.

»Sie heißen Karsten Lembach?«, begann Niederegger, und der Mann antwortete mit einem nervösen Nicken. »Dann erzählen Sie mal. Legen Sie einfach los.«

Lembach sah ihn erschrocken an.

Niederegger stöhnte leise. Was erwartete der Mann? Einen Fragebogen für Leichenfinder? Er musste es anders angehen.

»Sie haben also den Toten, Rudolf Hardt, heute Morgen hier gefunden?«, fragte er.

Heftiges Nicken.

»Und uns natürlich sofort verständigt?« Wieder ein Nicken.

»Sie haben den Platz nicht verlassen, sondern sind die ganze Zeit hiergeblieben?«

Kopfschütteln, gefolgt von Nicken.

Niederegger begann sich allmählich Sorgen um Lembach zu machen. Hoffentlich konnte der Mann überhaupt sprechen. Ringshauser grinste und biss in ein Schokocroissant.

»Herr Lembach, Sie kommen jeden Morgen hierher und …« Niederegger sprach hastig weiter, bevor Lembach wieder nicken konnte, »… ist Ihnen heute Morgen irgendetwas Außergewöhnliches aufgefallen? Etwas, das anders war als sonst?«

»Ja. Rudi hing an der Decke.«

Ringshauser verschluckte sich an seinem Croissant und begann zu röcheln.

Machte der Mann sich über sie lustig? Niederegger betrachtete misstrauisch Lembachs sorgenvolles Gesicht, zwei arglos ängstliche Augen blickten ihm entgegen. Vielleicht stand der Cowboy ja einfach noch unter Schock.

»Ja, ja, Herr Lembach. Rudi hing an der Decke, und Sie sind sicher fürchterlich erschrocken.«

Eifriges Nicken.

Niederegger versuchte es mit einer »offenen« Frage, die beim besten Willen nicht mit bloßem Nicken beantwortet werden konnte.

»Wie haben Sie ihn gefunden? Warum sind Sie überhaupt in den Kiosk hineingegangen, Herr Lembach?«

Es funktionierte.

»Das Fenster war noch runtergelassen. War noch nie so. Rudi hat sonst immer schon offen, wenn ich komme. Deshalb hab ich geklopft und bin dann rein.«

Niederegger atmete erleichtert auf. Das waren hintereinander vier ganze Sätze gewesen. Mit Subjekt, Verben und allem Drum und Dran. Es ging voran.

In diesem Moment traten Friedemann Schill und die Fotografin aus der Hütte. Die beiden waren tief ins Gespräch versunken. Milena Breiter blickte kurz auf, winkte zu ihnen herüber und stieg dann auf der Beifahrerseite in Schills Wagen. Schill hatte sich ihre Kamerabox über die Schulter gehängt und verstaute sie nun sorgfältig im Kofferraum.

Inzwischen war ein Leichenwagen auf den Bürgersteig gefahren, und zwei kräftige Männer stellten eine Trage neben der Tür ab. Die Gaffer drängten sich noch dichter an die Absperrung heran und waren nicht davon abzubringen, in der Kälte auszuharren, um nur ja keinen Augenblick des traurigen Geschehens zu verpassen. Die Faszination des gewaltsamen Todes, es war immer das Gleiche.

Niederegger wandte sich wieder an Lembach. »Kommen Sie immer um die gleiche Uhrzeit hier an?«

»Na ja, so ungefähr immer um sieben.«

Niederegger ersparte es sich, den Mann auf die Unlogik hinzuweisen. Es war egal. Warum sich unnötig aufreiben? Es war viel zu früh und viel zu kalt.

»Heute auch?«

»Nein, heute nicht.« Kopfschütteln und neue Zigarette.

Niederegger war nahe daran, ebenfalls um eine Zigarette zu bitten. Am liebsten hätte er die Antworten aus dem Kerl herausgeschüttelt. Stattdessen brummte er etwas Unverständliches und sah hilfesuchend zu Ringshauser hinüber.

Mach was, bevor ich ihn schlage, sagte sein Blick.

Ringshausers blitzende Augen verrieten, wie sehr er das Ganze genoss. »Wann sind Sie denn nun heute hier angekommen?«, fragte er kauend.

»Um halb acht«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.

»Und warum erst so spät heute?«

»Da war so ein komischer Anruf, deshalb bin ich ja einen Umweg gefahren. Aber dann stellte sich raus, das war für die Katz.«

»Wer hat Sie wann angerufen?«

»Weiß nicht. War ’ne fremde Stimme. Aber irgendwie so komisch verstellt. Klang ganz unnatürlich, ’n bisschen wie Micky Maus, wenn Sie mich fragen.«

»Und ob wir Sie fragen«, schaltete Niederegger sich ungeduldig ein, und sofort verschloss sich das Gesicht des Mannes wieder.

»Das heißt also, dass Sie die Stimme nicht erkennen konnten?«, fragte Ringshauser.

Lembach schüttelte den Kopf. Mit seiner zigarettenlosen Hand strich er sich die langen, dunkelblonden Haare nach hinten.

Plötzlich sagte er: »Aber es muss ja jemand gewesen sein, den ich kenne. Warum hätte derjenige sonst seine Stimme verstellen sollen?«

Niederegger sah schnell zu Ringshauser hinüber, der anerkennend die buschigen Augenbrauen hochzog. Der Zigarettenmann offenbarte überraschende logische Fähigkeiten.

»Ich wollte gerade in die Seckenheimer Straße einbiegen und wäre dann zirka fünf Minuten später hier gewesen, als der Anruf kam. Ich wurde noch mal zu ’nem Kunden gerufen, bei dem ich gerade kurz zuvor auf meiner Tour gewesen war. Am Tattersall. Hatte angeblich bei seiner Bestellung was vergessen, kommt ja schon mal vor ab und zu. Aber diesmal war’s für die Katz.«

Dieser Ausdruck schien Lembach zu gefallen. Er nahm sich schon wieder eine Zigarette aus seiner Packung und zündete sie an. Niederegger sah, dass die letzte Kippe, die auf dem Bürgersteig gelandet war, noch qualmte und dankte Gott, dass er diesem Laster seit kurzem erfolgreich entronnen war. Na ja, dafür hatte er genügend andere.

Lembachs Ankunft beim Kiosk war wahrscheinlich absichtlich und mit gutem Grund hinausgezögert worden. Es hörte sich zumindest so an.

»Wurde die Nummer auf Ihrem Handy angezeigt?«

»Ja, aber das war komisch. Hardy hat eigentlich ’ne Nummer, die ich immer sofort erkenne. Und die war’s nicht. Und seine Stimme war’s erst recht nicht.«

Wäre ja auch zu schön gewesen!

»Wer ist Hardy?«

»Na ja, Harald Sauter, der hat doch diesen Kiosk am Tattersall.«

»Reichen Sie das Ding doch mal rüber.«

Ringshauser streckte die Hand aus, und Lembach förderte mit bebenden Händen sein Handy zutage.

»Telefonzelle?«, fragte Niederegger sofort.

Ringshauser nickte, und Lembachs Augen schossen von einem zum anderen, als verfolge er ein Tennismatch. Niederegger und Ringshauser wechselten einen Blick. Auf jeden Fall musste der geheimnisvolle Anrufer Lembachs Tour mit den Anfahrtszeiten genau gekannt haben, um ihn erfolgreich abzufangen und umzuleiten. Wie zum Beispiel ebendieser Harald Sauter. Die Nutzung einer öffentlichen Telefonzelle konnte einfach ein geschickter Bluff sein. Es war nur verwunderlich, warum diese Person so knapp kalkuliert hatte, sozusagen auf den letzten Drücker. Und niemand konnte einen schweren Mann mal eben spontan an einen Haken an der Decke hängen.

»Harald Sauter war der Kunde, bei dem Sie vorher gewesen waren?«, fragte Niederegger.

»Genau. Hardy.«

Lembach linste nach draußen. Der Anblick von Rudis Kiosk ließ ihn wieder und wieder erschauern.

Niederegger betrachtete ihn nachdenklich. Hier passte einiges nicht zusammen. Wenn die Tat geplant gewesen war, warum hatte der Mörder dann nicht einen abgelegeneren Ort gewählt, sondern ausgerechnet diesen Kiosk mitten in der Stadt? Und warum hatte er es sich so schwer gemacht? Erhängen war in den westlichen Ländern zwar die häufigste Art, sich selbst umzubringen, aber als Mordwaffe rangierte der Strick ganz unten. In diesen seltenen Fällen stellte er oft eine Art Symbol dar, und den Morden haftete meist etwas Rituelles an.

Im vorliegenden Fall schied Selbstmord jedenfalls aus. Schon allein wegen des Knebels. Kein Mensch, der seine Qualen im Diesseits durch Selbsttötung beenden will, fügt sich unnötigerweise noch weitere Qualen zu, indem er kurz vor seinem Tod seinen eigenen Schal verspeist.

»Nach dem Umweg kamen Sie also hierher«, schaltete Ringshauser sich wieder ein. »Und das Einzige, das anders war als sonst, war, dass Rudolf Hardt in seinem Kiosk an der Decke hing?«

Er war endlich fertig mit seinem Croissant, und seine Jacke war vorn übersät mit Bröseln. Niederegger widerstand dem Impuls, die Hand auszustrecken und sie ihm abzuklopfen.

»Nicht ganz.«

Lembach malträtierte sichtlich sein Gedächtnis, um es zu Höchstleistungen anzuspornen, und sog intensiv an seinem Glimmstängel. Ringshauser und Niederegger blieben mucksmäuschenstill.

»Ein paar Zeitungsständer fehlten, standen wohl noch im Kiosk. Klar, da stehen sie ja immer noch. War zuvor noch nie so, deshalb bin ich auch gleich rein. Na, und da hing er dann.« Lembach zog wieder nervös an seiner Zigarette, und mit dem Rauch spie er plötzlich einen sehr überraschenden Satz aus.

»Musste ja irgendwann so kommen, der Rudi war schon ein schlimmer Finger.«

Lembach machte nach diesem Bekenntnis ein betretenes Gesicht, wie ein kleiner Junge, der soeben seinen Spielkameraden verpetzt hat.

»Was meinen Sie damit?«, fragte Niederegger scharf.

Lembach wand sich. »Vielleicht fragen Sie das lieber seine Frau.«

»Das werden wir ganz bestimmt noch tun. Aber jetzt fragen wir Sie.«

Lembach schwieg. Er bereute sichtlich, überhaupt etwas so Verfängliches geäußert zu haben, und verfolgte mit ängstlichem Blick, wie Rudi von der Gerichtsmedizin abtransportiert wurde. Er schluckte.

»Ich will nichts Schlechtes über Rudi sagen«, flüsterte er heiser.

»Das Schlimmste, was Rudi passieren konnte, ist ihm heute bereits passiert. Sie können also nicht mehr viel falsch machen.« Ringshauser machte eine kunstvolle Pause. »Es sei denn, Sie stecken irgendwie mit drin.«

Lembachs fahles Gesicht wechselte von grau zu grün. »Sie glauben, dass ich …? Rudi war wie ein Freund für mich. Und wenn ich etwas damit zu tun hätte, warum bin ich dann hiergeblieben? Wär ich ja schön blöd.«

»Doppelter Bluff«, bemerkte Ringshauser freundlich und schnippte einen imaginären Fussel von seinem Hosenbein.

Niederegger hielt sich zurück und ließ die Sache einfach laufen.

Lembach schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Wir wollen ja nur an Ihren Gedanken teilhaben«, sagte Niederegger ruhig. »Warum sagen Sie uns nicht einfach, was Sie denken? Über Rudi. Und warum er ein schlimmer Finger war.«

Lembach war so aufgeregt, dass er sogar vergaß weiterzurauchen. Auf diese Weise hatte er geschlagene drei Minuten ohne Zigarette überlebt. Stattdessen rang er die Hände und zwang sich, nicht mehr zum Kiosk hinüberzuschauen. Sein Tag hatte denkbar miserabel angefangen, und es sah ganz danach aus, als würde es genauso miserabel weitergehen. Aber es stimmte natürlich, Rudi war tot und damit jenseits von Gut und Böse.

»Na schön.«

Lembach belohnte sich für seinen Mut mit einer neuen Zigarette.

Niederegger lehnte sich aufatmend zurück, während Ringshauser nun doch in den Wagen stieg und die Schiebetür zuzog.

Besser ersticken als erfrieren, dachte er. Lembach würde zwar sowieso noch ins Präsidium kommen müssen, um seine Aussage zu unterschreiben, aber unter Schock verrieten die Leute einfach mehr. Deshalb war es so wichtig dranzubleiben. Ringshauser warf einen Blick zu Niederegger, der sich so dünn wie möglich machte, um nur ja niemanden zufällig zu berühren. Natürlich saß er mal wieder auf einem seiner bekloppten abwaschbaren Plastikkissen. Ringshauser verdrehte die Augen. Der Mann konnte einen verrückt machen mit seinem Hygiene-Tick.

Lembach nahm einen Zug, stieß den Rauch aus und verkündete: »Ich weiß, er sieht nicht danach aus, aber Rudi war ein übler Aufreißer.«

Jetzt sieht er zumindest nicht mehr danach aus, dachte Ringshauser.

»Ja, da kann man so manche Überraschung erleben«, ermunterte er den Mann. »Was genau haben wir uns denn unter übel vorzustellen?«

»Na ja, er sammelte Frauen wie andere Bierdeckel. Und so behandelte er sie auch. Ließ sich grundsätzlich nur mit verheirateten Frauen ein, weil die ihn ansonsten in Ruhe ließen, meinte er. Aber das ist noch nicht alles.«

Lembach zögerte und sah sich unruhig um, als rechne er damit, den toten Rudi plötzlich hinten im Laderaum hocken zu sehen. Die Kommissare ließen ihm Zeit. Er war durch den grausigen Fund weichgekocht. Und er wollte etwas loswerden.

»Er hatte irgendwo in Ilvesheim ein kleines Apartment mit eingebauten Kameras. Und er hat jeden verdammten Quatsch, den er mit den Frauen angestellt hat, gefilmt.«

Niederegger beugte sich vor. Jetzt wurde es spannend. Eine eifersüchtige Frau konnte unangenehm werden, je nach Gemütslage und Temperament. Eine Horde betrogener Ehemänner dagegen war ein echtes Sicherheitsrisiko.

»Er hat sie erpresst, richtig?«

Lembach nickte gequält.

»Wenn er von ihnen genug hatte, hat er sie damit erpresst, ja. So wurde er sie am schnellsten wieder los. Er gab fürchterlich damit an, wie genial das war. Er hatte seine Ruhe vor ihnen und bekam noch dazu ihre Kohle. Und sie waren froh, wenn sie danach nie wieder etwas von ihm hörten. Er hat ihnen die Bänder teuer verkauft. Und nicht nur ihnen.«

Niederegger sog scharf die Luft ein und brachte die Schweinerei auf den Punkt. »Er verkaufte die Kopien unter der Ladentheke auch an interessierte Herren?«

Lembach ließ den Kopf sinken. Er öffnete ein Schiebefenster und warf seine noch brennende Zigarette hinaus.

»Zum Beispiel an Sie«, folgerte Niederegger mit Bedacht. »Und deshalb wissen Sie auch davon.«

»An alle, die sich dafür interessiert haben«, brauste Lembach auf. »Ich bin bestimmt nicht der Einzige gewesen. Außerdem hab ich nur ein einziges Mal ein Band gekauft. War langweilig. Ich mach’s lieber selber, wenn Sie’s genau wissen wollen.«

»Wo genau ist dieses Apartment? Wer sind die Frauen? Und wo sind die Filme?«

»Keine Ahnung.« Lembach stöhnte. »Mehr weiß ich wirklich nicht. Ich wollte auch gar nicht mehr darüber wissen. Ich fand das Ganze ziemlich ekelhaft.«

Niederegger sah über Lembachs Kopf hinweg zu Ringshauser hinüber. Der wirkte plötzlich seltsam abwesend.

So viel stand jedenfalls fest: Rudolf Hardts Hobby war nicht nur anrüchig, sondern auch gefährlich gewesen.

5

Sein Gesicht brannte vor Wut, die Haut spannte sich bis zum Zerreißen über dem kantigen Kinn, auf seiner Stirn bildete sich trotz der nächtlichen Kälte ein dünner Schweißfilm.

Er hatte dieses verdammte Versteckspiel so satt.

Wie viele Nächte hatte er hier schon in erzwungener und, wie er jetzt wusste, überflüssiger Zurückhaltung vergeudet? Und heute zeigte diese verlogene Schlampe endlich ihr wahres Gesicht. Schonzeit abgelaufen!

Zornig angespannt starrte er vom Waldrand aus hinüber zu der dunklen Glasfront des kleinen Hauses. Hier, wie auch in den umliegenden, ausnahmslos größeren Häusern, brannte nirgendwo mehr Licht. Klotz für Klotz reihten sich die phantasielosen Neubauten aneinander, abgegrenzt durch nahezu identische Vorgärten und Garagen. Die nächtliche Stille lag über der Vorstadtsiedlung Blumenau wie eine Totendecke, die nur vereinzelt trübe schimmernden Straßenlaternen erinnerten an Grablämpchen auf einem riesigen Betonfriedhof.

Milena war heute erst mitten in der Nacht nach Hause gekommen, und zwar nicht alleine, sondern – Überraschung, böse Überraschung – mit einem Mann, einem unscheinbaren Gnom, den er noch nie zuvor gesehen hatte, weder bei ihr noch sonst wo in der Stadt. Der Hänfling war aus einem Auto mit Kölner Kennzeichen gestiegen und hatte Milena dreist an ihrer Haustür abgepasst. Er hatte deutlich den Namen »Max« gehört, bevor er aus seinem Versteck im Vorgarten des Nachbarhauses zu seinem Lieblingsplatz am Waldrand geschlichen war.

Sein Mund verzerrte sich zu einem kleinen, grausamen Lächeln, doch schon im nächsten Augenblick wich die höhnische Grimasse wieder einer starren Maske.

Feige Weiberlügen, beschissene Lügen, die ihn hinters Licht geführt hatten, aber nun konnte sie ihn nicht mehr täuschen. Er hatte ja von Anfang an gewusst, dass alles nur Getue war. Ihr blödes Geschwätz vom überzeugten Single-Dasein, ihre scheinheiligen Beteuerungen, es läge nicht an ihm, sie wolle nur einfach nicht mehr enttäuscht werden, sich auf niemanden mehr einlassen und – oho, wie nobel – vor allem selbst niemanden mehr enttäuschen. Dieser ganze vorgeschobene Quatsch eben.

Er ballte die für einen so kräftigen Mann überraschend feingliedrigen Hände zu Fäusten. Ihm war immer absolut klar gewesen, dass sie es in Wahrheit genauso wollte und brauchte wie er. Sie alle wollten es.

Doch er war wohl ihrer Meinung nach dumm und einfältig genug, um sich von ihrem gespielt schüchternen Kleinmädchengefasel an der Nase herumführen zu lassen. Statt einfach zuzupacken! So wie es dieser Max offensichtlich getan hatte, der soeben mit ihr in der Wohnung verschwunden war.

Der feuchte Kies unter seinen Schuhen knirschte sanft, als er sein Gewicht vom linken auf das rechte Bein verlagerte. Er starrte hinüber zu dem großen, dunklen Fenster, das von Milenas Wohnzimmer direkt auf die Terrasse führte.

Warum machte sie bloß kein Licht? Sie hatte doch sowieso alle Vorhänge sofort nach dem Betreten der Wohnung zugezogen. Das tat sie sonst nie, sie war im Gegenteil immer lachhaft unbekümmert, lief abends oft halbnackt in ihrer hell erleuchteten Wohnung herum. Er war fast sicher, dass dies mit Absicht geschah, um ihn noch mehr zu reizen.

Plötzlich wurde er unruhig und ein fast unwiderstehlicher Drang überkam ihn, einfach hinüberzuschleichen und sich gewaltsam Einlass zu verschaffen. Doch er beherrschte sich, nein, so dumm war er nicht. Sie war ja nicht allein.

Dass sie plötzlich die Vorhänge zuzog, konnte nur eines bedeuten, nämlich dass dieser lächerliche Zwerg da drinnen nun all das von ihr bekam, was er selbst längst hätte haben können, wenn er sich nicht so leichtgläubig von ihr hätte abfertigen lassen. Aber ihm konnte sie nichts mehr vormachen.

Seine glitschigen Hände über dem halb entblößten Glied öffneten und schlossen sich, wieder und immer wieder, schneller und immer schneller. Er spürte die Winterkälte nicht. Nein, er würde sich nicht mehr damit begnügen, jeden Abend in den Büschen hinter ihrem Haus zu hocken, nur um ab und zu einen Blick auf sie zu erhaschen. Der Kerl da drinnen war Beweis genug dafür, dass mehr für ihn zu holen war. Für jeden. Frauen wie sie musste man zwingen. Zwingen, ja, genau! Sie wollten es nicht anders.

Seine wahnwitzige Erregung nahm ihm jetzt fast den Atem, er keuchte, als wäre er mit ihr schon am Ziel.

6

Mona Krampp saß in ihrem sackfinsteren Schlafzimmer auf einem herbeigezogenen Stuhl am Fenster und starrte zum Waldrand hinüber.

Da, wieder eine leichte Bewegung in den Büschen! Kaum wahrnehmbar zwar, aber sie hatte sich nicht getäuscht. Angeblich gab es ja tatsächlich noch Leute, die kein Fernglas besaßen. Zum Glück gehörte sie selbst nicht zu diesen bedauernswerten Geschöpfen. Sie hatte sogar zwei, eines davon speziell für nachts. Das war insbesondere für die Wintermonate wichtig, wenn die Tage kurz und die Nächte lang und öde waren.

Klarer Fall, der Kerl war wieder da, an der gleichen Stelle in dem stacheligen, immergrünen Gesträuch, das den Weg am Waldrand begrenzte. Und er beobachtete wie immer ihr Haus. Wie bescheuert musste man eigentlich sein, um bei dieser Affenkälte Nacht für Nacht stundenlang im Gebüsch zu hocken und Eiswürfel zu kacken?

Eigentlich ging sie seit Wochen davon aus, dass er es auf dieses Flittchen Milena Breiter, ihre Mieterin aus der Erdgeschosswohnung, abgesehen hatte. Oder täuschte sie sich etwa? Sie wusste genau, dass Milena heute Abend noch gar nicht zu Hause war. Also war es doch durchaus möglich, dass er tatsächlich wegen ihr, Mona, dort herumlungerte und sich die Beine in den Bauch stand. Konnte doch sein, oder?

Ein leiser, wohliger Schauder überlief ihren dürren Körper. Wie lange war es her, seit sich ein Mann für sie interessiert hatte? Mona forschte vergeblich in ihrem Hirn nach entsprechenden Ereignissen. Ja, tatsächlich, der letzte Mann in ihrem von aberwitzigen gymnastischen Bettübungen gottlob freien Leben war Carolines Vater gewesen. Diese unerfreuliche Geschichte war inzwischen fast zwölf Jahre her. Sie biss sich bei dem Gedanken an Johann auf die Lippen. Frauen mit Charakter hatten wenig Chancen bei den Kerlen. Stattdessen interessierten sie sich für oberflächliche Weibsbilder wie diese Milena.

Leider war die Visage des Mannes am Waldrand trotz des teuren Fernglases nie wirklich gut zu erkennen, da er sich immer nur nach Einbruch der Dunkelheit dort herumtrieb. Es erforderte enorm viel Geduld und Erfahrung im Observieren, um ihn überhaupt zweifelsfrei auszumachen. Glücklicherweise besaß sie beides im Übermaß.

Sie überlegte kurz, ob sie Milena von dem Spanner erzählen sollte. Musste man Angst vor ihm haben? Und wenn schon, so aufreizend wie Milena herumlief, war es wirklich kein Wunder, wenn sie die Kerle anzog wie Schmeißfliegen.

Mona legte ihr Fernglas auf das Fensterbrett zwischen die Pflanzentöpfe und tappte auf Strümpfen ins Wohnzimmer, um ihre Strickjacke zu holen. Sie trug zwar schon einen dicken Pullover über ihrem Nachthemd, aber beim Herumsitzen war ihr trotzdem kalt geworden.

»Habisch disch net schun vor ner Ewischkeit ins Bett gschickt?« Sie streckte kurz den Kopf ins Wohnzimmer, in dem ihre elfjährige Tochter Caroline wie ein kleiner, dicker Buddha vor dem Fernseher kauerte.

»Schlafen is langweilig«, maulte Caro kauend.

»Schluss jetzt, ab mit dir.«

Mona schnappte sich ihre Strickjacke und schaltete im Vorübergehen den Fernseher aus. Caro heulte enttäuscht auf, trottete dann aber endlich mit missmutigem Gesicht in ihr Zimmer. Mona hoffte schwer, dass die Göre bald tief und fest schlafen würde. Es war letzte Woche doch reichlich peinlich gewesen, von ihrem eigenen Fleisch und Blut auf den Badezimmerfliesen unterm Waschbecken liegend mit einem Weizenbierglas am Ohr ertappt zu werden. Die effektivste Methode übrigens, um Milena im Bad zu belauschen. Caro hatte geschrien vor Lachen und sich eine Woche Hausarrest eingehandelt. Eigentlich überflüssig, denn sie hockte sowieso nur zu Hause herum, glotzte diese albernen Serien und wurde dabei immer fetter und fetter. Sollte sie nur ruhig so weitermachen, dann würde sie schon sehen, wohin das führte. Die Nachbarskinder weigerten sich mittlerweile, mit ihr zu spielen, seit sie letzte Weihnachten deren Kaufladen, mitsamt dem Spielgeld aus Schokolade, leergefressen hatte. Nichts Essbares war vor Caro sicher.

Plötzlich hörte Mona gedämpfte Stimmen aus der unteren Wohnung. Aha, die feine Dame war nach Hause gekommen, hatte sicher wieder irgendeinen Kerl abgeschleppt. Monas Mundwinkel verzogen sich zu missgünstig geschwungenen Linien, die rechts und links ihres Mundes deutlich nach unten strebten. Sie hastete zurück ans Fenster.

Unten vor Milenas Wohnzimmerfenster fiel eine schräge Lichtraute auf den Rasen, die im nächsten Moment gleich wieder verblasste. Milena hatte Licht gemacht und dann sofort die Vorhänge zugezogen. Das war hochinteressant bei einem Weib, das ansonsten die Schamlosigkeit in Person war.

Milena hatte häufig Männerbesuch, trotzdem waren leider nie Sexgeräusche von unten zu hören. Irgendwie passte das doch überhaupt nicht zusammen! Wie ein Stummfilm ohne Untertitel, bei dem man notgedrungen darauf angewiesen war, sich seine eigene Version zurechtzubasteln. Manchmal handelte es sich bei Milenas Besuchern auch um Arbeitskollegen aus dem Präsidium, Elmar Ringshauser zum Beispiel. Und Heribert Santmann, ein wichtigtuerischer Zwerg, den Mona Napoleon getauft hatte wegen der aufgeplusterten Selbstgefälligkeit, mit der er unten seine Monologe führte. Hauptsächlich wirres Zeug, deshalb lohnte sich das Lauschen bei Napoleon eigentlich nicht.

Ein Blick durchs Fernglas verriet ihr, dass der Spanner am Waldrand noch auf seinem Posten war. Ohne Licht zu machen, tastete sie sich wieder zurück in den schmalen Flur. Seltsam, sie hatte die Haustür gar nicht zufallen hören, obwohl Milena in dieser Hinsicht, wie in vielen anderen Belangen übrigens auch, nicht gerade rücksichtsvoll war.

Wie ärgerlich, dass sie nicht mitbekommen hatte, mit wem Milena nach Hause gekommen war! Sie war wohl doch zu sehr mit dem witterungsresistenten Würstchen am Waldrand beschäftigt gewesen. Und sie bedauerte mal wieder, dass das Haus letztendlich doch nicht hellhörig genug war.