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In einem Südtiroler Krankenhaus der 1980er-Jahre wird eine ältere, namenlose Bettlerin in lebensbedrohlichem Zustand aufgenommen. Die Krankenpflegerin Emma möchte mehr über diese Patientin erfahren. Auf einer spannenden Zeitreise durch die bewegten Jahre des 20. Jahrhunderts lüftet sich nach und nach das Geheimnis rund um das Leben der obdachlosen Frau.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
HeleneMathà
MUTTER- NACHT
HeleneMathà
MUTTERNACHT
Ein Südtiroler Frauenschicksal im 20. Jahrhundert ISBN:979-12-5532-085-2
©2025byEffekt!GmbH,NeumarktanderEtsch,www.effekt.it
Umschlaggestaltung: Ursula Zeller Herausgeber:Effekt!Verlag
Texte: Helene Mathà Lektorat:GertrudMatzneller
HerstellungundVerlag:Effekt!-Buchverlag,www.effekt.it
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GefördertmitfreundlicherUnterstützungdurch
HeleneMathà
MUTTER- NACHT
EinSüdtirolerFrauenschicksal
im 20. Jahrhundert
1981
DieNotaufnahme
Emma fröstelte, denn ihr Körper forderte jetzt, gegen Ende der Nachtschicht,mitallerVehemenzdenversäumtenSchlafein.Mit einermüdenBewegungzogsichdieerfahreneKrankenschwester, deren hellblauer Kittel und weiße Brustschürze nach getaner Arbeit nichtmehrmakelloswaren,eineStrickjackeüberdieSchultern.
Am kleinen Schreibtisch in der Teeküche, von dem aus sie durch eine große Glasscheibe das gesamte Krankenzimmer gut im Blick hatte, begann sie, ihren Nachtbericht zu schreiben. Mehrmals hob sie dabei ihren geschulten Blick und schaute hinaus in den großen Raum, in dem die drei, durch einen weißen Vorhang voneinander getrennten Patienten der Überwachungsstation in ihren Betten lagen und in dem die Schwesternschülerin vor dem Heimgehen die letzten Handgriffe erledigte.
Nur noch zehn Minuten, dann würde Emma der Kollegin vom Morgendienst berichten, dass die Nacht ruhig verlaufen war, und endlich nach Hause zu ihrem vierzehnjährigen Sohn gehen.
„Wenn ich mich beeile, kann ich noch zusammen mit Luca frühstücken, bevor er zur Schule geht. Danach kann ich hoffentlich ein paar Stunden schlafen, denn schon heute Abend muss ich den nächsten Nachtdienst antreten“, dachte sie, während sie die letzten Eintragungen auf den Fieberkurven tätigte.
Gähnend schloss sie das große Buch und strich gedankenverloren über den abgegriffenen Einband. Tag für Tag und Nacht für Nacht notierten die Schwestern darin fein säuberlich alle guten und weniger guten Befunde ihrer Patienten, und so manches, in roter Farbe gemalte Kreuz zeugte vom Ableben eines Menschen, wenn kein noch so starkes Medikament und keine Beatmungsmaschine mehr den Tod verhindern konnten.
Das schrille Läuten des Telefons riss Emma aus ihren Gedanken. Rasch hob sie den grauen Hörer von der Gabel, denn das durchdringende Klingeln schmerzte in ihren müden Ohren.
„Wiederbelebungsabteilung, Emma am Apparat“, meldete sie sich und versuchte dabei, den erschöpften Ton aus ihrer Stimme zu verdrängen.
„Kommst du bitte gleich in die Erste Hilfe? Wir haben hier einen Notfall“, antwortete die Stimme am anderen Ende der Leitung.
Mit einem Schlag fiel alle Müdigkeit von Emma ab, sie war wieder hellwach. Sie wusste, nun musste sie funktionieren, das Heimgehen musste warten. Trotz der unzähligen, schwierigen Situationen, die sie in all den Jahren als Krankenschwester bereits gemeistert hatte, überfiel sie doch jedes Mal, wenn sie zu einem Notfall gerufen wurde, diese seltsame Unruhe. Was aber gut so war, denn das schärfte ihre Sinne.
Nach einem hastigen „Wir sind gleich bei euch!“ legte sie den wuchtigen Hörer auf die Gabel zurück, ermahnte die Schwesternschülerin, bis zum Eintreffen der Krankenpflegerin vom Morgendienst in etwa fünf Minuten gut auf die drei Patienten achtzugeben, und verließ eilig die Überwachungsstation für Schwerkranke.
Rasch eilte sie den langen Gang, an den Krankenzimmern der chirurgischen Abteilung vorbei, hinunter bis zum Rückzugsraum des Bereitschaftsarztes für Notfallmedizin und öffnete die gepolsterte Flanke der Doppeltür, welche die nächtliche Geräuschkulisse des Krankenhauses aussperren sollte. Weder die Stimmen von unruhigen Patienten noch das Surren der Rufanlage oder das Klappern der Holzpantinen von Pflegerinnen, die unermüdlich von Zimmer zu Zimmer gingen, um nach dem Rechten zu sehen, konnten diese Lärmisolierung durchdringen.
Energisch klopfte Emma an die hölzerne Innentür und antwortete auf ein verschlafenes „Was ist los?“ mit kurzen, aber deutlichen Worten:
„Notfall in der Ersten Hilfe!“
„Ich bin in einer Minute vor Ort. Stellen Sie bitte inzwischen alles Notwendige bereit“, rief der Arzt durch die geschlossene Tür. So rasch sie ihre Füße trugen, rannte Emma über die schwarzen, etwas ausgetretenen Steinstiegen in das Erdgeschoss zum Schockraum hinunter.
Ein strenger Geruch nach menschlichen Exkrementen und Schweiß schlug ihr entgegen, als sie den langgezogenen Raum betrat, in dessen Mitte auf einer Bahre eine ältere Frau mit bläulich angelaufenem Gesicht lag.
Ihr Atem ging unregelmäßig, stoßartig, rasselnd. Durch das unruhige Hin- und Herdrehen ihres Kopfes war die Sauerstoffmaske, die ihr ein Sanitäter aufgesetzt hatte, verrutscht und belüftete anstelle der Atemwege ihr rechtes Ohr. Schnell schob Emma die Maske wieder auf ihre Nase, wo sie hingehörte, und wollte sich bei dem Neuzugang vorstellen. Sie musste jedoch feststellen, dass die Frau nicht klar bei Bewusstsein war.
„Wie heißt sie?“, fragte sie deshalb die zwei Sanitäter, die die Frau mit dem Krankenwagen gebracht hatten, und überprüfte gleichzeitig den augenscheinlich kritischen Zustand der Patientin.
„Sie ist eine Bettlerin. Sie stromert schon seit Monaten schreiend und zeternd durch die Gassen und beschimpft auch mal gerne den einen oder anderen hohen Herrn unserer Stadt. Nacht für Nacht sucht sie in verlassenen Schuppen oder unter Brücken Unterschlupf. Ihr gesamtes Hab und Gut befindet sich in den drei Plastiktaschen, die wir unter die Bahre gelegt haben. Die haben wir zwar durchsucht, aber keinen Hinweis auf ihren Namen oder ihre Herkunft gefunden“, lautete die Antwort der Sanitäter.
Beim zweiten Hinsehen erkannte auch Emma die Frau wieder. Das war doch die Bettlerin, die sich Mamuschka nannte und der sie schon einige Male in der Stadt begegnet war!
Ein eigenartiges Gefühl von Zärtlichkeit ergriff sie, während sie sich über das runde, von Falten durchzogene Gesicht und den geschundenen Körper beugte, die von einem Leben voller Entbehrungen erzählten. Sanft strich sie der Frau über das schüttere, strähnige Haar, und ihrem wachen, erfahrenen Blick entging nicht, dass sich der an sich schon kritische Zustand der Patientin jetzt rasend schnell verschlechterte.
Für einen Moment erwachte diese aus ihrem Dämmerzustand und starrte mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen hilfesuchend die Pflegerin an, die dicht vor ihr stand, bevor sie das Bewusstsein verlor. Die Atemgeräusche der Frau hörten sich immer bedrohlicher an, sie begann mit den Zähnen zu knirschen und ihr Gesicht zeigte jetzt eine grau-blaue Färbung.
Mit flinken Fingern versah Emma die Patientin mit einem venösen Zugang, schloss sie an den Monitor an, der ihre Herztätigkeit aufzeichnete, und bereitete alles für eine Intubation und eine eventuelle Reanimation vor. Dabei schickte sie ein Stoßgebet in den Himmel, der Doktor möge gleich zur Tür hereinkommen, und war heilfroh, dass just in dem Moment der Dienstarzt den Notfallraum betrat, als die regelmäßige Herzschlagkurve auf dem Bildschirm plötzlich in ein Wirrwarr von Zacken überging.
Jetzt musste alles sehr schnell gehen.
„Defibrillation!“
„Intubation!“
„Beatmungsmaschine starten!“
„Notfallmedikamente bereitstellen!“
„Blutgasanalyse durchführen!“
Die kurzen Anweisungen des Arztes genügten: Emma funktionierte, und sie funktionierte gut. Trotz ihrer Müdigkeit.
Eine Stunde lang kämpften der Doktor und die Pflegerin um das Leben der namenlosen Bettlerin. Jeder Handgriff saß, sie ergänzten sich gegenseitig, und erleichtert nickten sie einander zu, als sie feststellen konnten, dass sie diese Frau, vorerst zumindest, dem Tod entrissen hatten. Ihr Herz schlug regelmäßig, mithilfe der Maschine atmete sie wieder und der Blutdruck begann langsam zu steigen.
„Das haben wir gut gemacht! Ob sie es jedoch wirklich schafft, sich wieder zu erholen, wird sich erst in den nächsten Tagen und Wochen herausstellen. Jetzt aber sollte die Frau erst einmal gründlich gewaschen und gepflegt werden, damit sie den hygienischen Anforderungen eines Krankenhauses gerecht wird.“
Wohlwollend klopfte der Arzt bei diesen Worten Emma auf die Schulter. Dann verabschiedete er sich mit einer kleinen Verbeugung und verließ den Notfallraum mit den Worten:
„Bringen Sie die Frau bitte gleich nach oben auf die Überwachungsstation. Dort werde ich später noch einmal nach ihr sehen.“
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„Eigentlich sollte ich jetzt schon in meinem warmen Bett liegen“, sagte Emma im Stillen zu sich, als sie das Bett mit dem Neuzugang in den Raum für Schwerkranke schob, denn inzwischen war es acht Uhr geworden.
Trotz ihrer Müdigkeit schaffte sie es jedoch nicht, die Frau einfach an ihre Kollegin vom Morgendienst weiterzugeben und nach Hause zu gehen. Im Überwachungsraum herrschte geschäftiges Treiben, die Morgenvisite war in vollem Gange und alle waren beschäftigt. Der Chefarzt gab mit sonorer Stimme Anweisungen zu Therapien, welche die Assistenten fleißig notierten, die Schwester bereitete die neuen Infusionen vor und die Pflegeschülerin half der frisch operierten Patientin bei ihrer Morgentoilette.
„Dann versorge ich dich erst mal, Mamuschka.“
Emma strich der Bettlerin über das verfilzte Haar, stellte eine Schüssel mit warmem Wasser, mehrere Waschlappen und flauschige Handtücher bereit und dachte dabei an ihren vierzehnjährigen Sohn, der heute, wie so manches andere Mal auch, wenn sich die Mama nicht rechtzeitig von der Arbeit losmachen konnte, allein zurechtkommen musste.
„Ich hoffe, Luca, mein Junge, du bist pünktlich zur Schule gegangen“, murmelte die alleinerziehende Mutter in sich hinein, wandte sich dann aber der namenlosen, verwahrlosten Frau zu, die so verletzlich vor ihr lag, die aber trotzdem auf geheime Weise eine seltsame Kraft ausstrahlte.
Vorsichtig begann sie, zuerst das rundliche Gesicht, das jetzt im künstlichen Tiefschlaf ruhig und friedlich wirkte, zu waschen. Nach und nach reinigte sie auch den restlichen Körper der Frau mit Waschlappen und warmem Wasser vom Schmutz eines entbehrungsreichen Lebens auf der Straße. Die vielen Jahre, in denen sie Wind und Wetter ausgesetzt gewesen war, hatten ihre Haut hart und rissig gemacht, ja fast zu Leder gegerbt.
Emma fühlte sich seltsam hingezogen zu dieser Bettlerin, und liebevoll gab sie nach dem Waschen noch eine Pflegesalbe auf die besonders zerklüfteten Stellen an Händen und Füßen. Immer wieder schaute sie dabei in das breite, von unzähligen Falten durchzogene Gesicht und fragte sich, welches Schicksal diese Frau wohl erlitten hatte, was sie dazu gebracht hatte, ein Leben auf der Straße zu fristen.
„Wer bist du bloß?“, fragte sie halblaut, während sie die Patientin noch liebevoll zudeckte, eine Wärmflasche zu ihren kalten Füßen unter die Decke schob und sich noch einmal vergewisserte, dass sie bequem lag.
Dann allerdings überkam sie eine so große Müdigkeit, dass sie ihrer Kollegin nur noch rasch die notwendigen Informationen zu diesem Neuzugang gab. Sie versicherte ihr noch, sie würde es am Abend beim Nachtdienst gerne übernehmen, die Habseligkeiten der namenlosen Frau nach Hinweisen zu deren Identität zu durchsuchen.
Dann machte sie sich eilig auf den Heimweg.
Im engen Eingangsbereich ihrer Mietwohnung streifte sie ihre Schuhe ab und ging barfuß in die Küche. Die kühlen Fliesen taten ihren übermüdeten Füßen gut. Auf dem kleinen, mit einem karierten Plastiktuch überzogenen Esstisch stand eine Papiertüte mit frischem Brot, daneben lag ein Zettel.
„HabebeimBäckerBrötchengeholtundanschreibenlassen“
Die wenigen, mit schlampiger Schrift geschriebenen Worte ihres Sohnes machten Emma gefühlsduselig. Obwohl er ohne Mann im Haus aufwuchs, obwohl er ein sogenanntes Schlüsselkind war, weil seine Mutter berufstätig war, und obwohl er als „lediges Kind“ oft von seinen Freunden gehänselt wurde, meisterte er sein junges Leben gut und sie war stolz auf ihn.
„Danke, aber ich kann jetzt beim besten Willen nichts essen“, sagte sie laut, als wäre auch Luca im Raum, und fiel, nachdem sie noch schnell geduscht hatte, todmüde in ihr Bett.
Trotz ihrer Erschöpfung konnte sie nicht gleich einschlafen, denn immer wieder tauchte vor ihren Augen das runde Gesicht der namenlosen Patientin auf. Immer wieder sah sie die weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen und das blau angelaufene Gesicht vor sich. Immer wieder glaubte sie, das Knirschen ihrer Zähne zu hören. Erst nach Stunden fiel sie in einen kurzen, unruhigen Schlaf.
Wirr träumte sie ihrem nächsten Nachtdienst entgegen.
1938
Agatha
Agatha liebte die lauen Abende, an denen die Familie auf der Bank vor dem Haus den Tag ausklingen ließ. Die Stallarbeit war getan, das karge Nachtmahl verzehrt und der Rosenkranz gebetet.
„Deeer frruns in den Himmel aaaufgefahren ischt“.
Die Verse, welche der Vater mit melodischem Klang und eigenartiger Verzerrung der Silben vorgebetet hatte, hallten noch immer in ihren Ohren.Die stetigen Wiederholungen des „Gegrüßt seist du, Maria“, in das die Mutter und die Kinder dann mehr oder weniger andächtig einfielen, vermittelten ihr immer noch ein Gefühl von Ruhe und Geborgenheit, obwohl sie sich dem stillen, langsamen Leben in den Bergen nicht mehr so richtig zugehörig fühlte.
Seit zwei Jahren bereits arbeitete sie in der nächsten größeren Stadt als Dienstmädchen bei einer reichen Familie, die ursprünglich aus der Schweiz stammte. Sehr bald hatte sie sich dort an ein Leben ohne Kühe, Ziegen oder Schafe und ohne die ständige Kontrolle durch die anderen Dorfbewohner gewöhnt. Sie genoss die Lebendigkeit, die von dem quirligen Treiben inmitten so vieler Menschen ausging. Sie mochte es, dass dort nicht jeder über jeden Bescheid wusste. Dass sie sich frei durch die Straßen bewegen konnte, ohne dass sie der erste Mensch, dem sie begegnete, fragte, wohin sie denn gehe oder was sie zu tun gedenke.
Vor fast einem Monat jedoch waren ihre Arbeitgeber in die Schweiz zurückgekehrt, und somit war Agathas Dienstzeit in der herrschaftlichen Villa mit dem großen, parkähnlichen Garten beendet.
„Ich wüsste schon einen guten Platz für dich. Wir haben Freunde in Florenz, und die wären froh, wenn sie ein so fleißiges Dienstmädchen wie dich hätten. Wenn du möchtest, verschaffe ich dir diese Stelle“, hatte die elegante Hausherrin kurz vor der Abreise zu Agatha gesagt.
Agatha musste nicht lange überlegen. Natürlich hatte sie Interesse an dieser Arbeitsstelle!
Wie die anderen Dienstmädchen, mit denen sie oft gesprochen hatte, während sie gemeinsam die Kinder ihrer Herrschaften auf der Promenade und in der Wandelhalle spazieren führten, träumte auch sie von der Möglichkeit, in einer italienischen Großstadt eine Anstellung zu bekommen. Wie die anderen Dienstmädchen wollte auch sie die große, weite Welt außerhalb der beengenden Berge ihrer Heimat kennenlernen.
Zwei Tage vor Beendigung ihrer Dienstzeit – Agatha war gerade dabei gewesen, Bettwäsche aus feinstem Damast in eine der zahlreichen Umzugskisten zu packen, die sich auf dem grau-weiß gefliesten Jugendstilboden in der Eingangshalle des vornehmen Hauses stapelten – hatte der Postbote schließlich einen Brief mit dem Absender der Familie Neri aus Florenz gebracht.
„…könnenSieam15.SeptemberhierbeiunsinFlorenz IhrenDienstantreten…“
Diese Zeilen aus dem Schreiben hatte sie noch am selben Nachmittag in ihrer Freistunde unter den teils bewundernden, teils neidischen Blicken ihrer Freundinnen vorgelesen, mit denen sie an diesem heißen Sommertag im Schatten der riesigen Mammutbäume des Parks neben dem Fluss Abkühlung suchte.
Die Zeit bis zum Antritt ihrer neuen Dienststelle überbrückte Agatha jetzt in ihrem Elternhaus, um hier der Mutter und dem Vater im Haus und auf den Feldern bei ihrer schweren Arbeit zu helfen.
Die Mutter hatte, während sie die Maiskörner ausstreute, welche die Hühner gleich gackernd verzehrten, erschrocken innegehalten, als ihr Agatha gleich nach ihrer Rückkehr erklärt hatte, sie würde in drei Wochen das Dorf wieder verlassen, um in Florenz eine neue Stelle anzutreten. Die immer kränkelnde, von harter Arbeit ausgezehrte Frau hatte sich schon ausgemalt, die Tochter würde ihr von nun an dauerhaft hier am Hof zur Hand gehen, sich später dann vielleicht in einen der jungen Burschen aus der Umgebung verlieben und als Bäuerin ein mehr oder weniger zufriedenes Leben hier in ihrer Nähe führen.
Agathas Eltern jedoch mussten feststellen, dass weder das gute Zureden der Mutter noch die ernsten Gespräche, die der Vater mit seiner Tochter immer wieder führte, imstande waren, die junge Frau von ihrem Vorhaben abzubringen. Schicksalsergeben willigten sie schließlich ein, Agatha ziehen zu lassen.
Am letzten Abend vor ihrer Abreise saß Agatha nach Sonnenuntergang neben ihren Eltern auf der Bank vor dem Haus. Gedankenverloren schaute sie zu ihren jüngeren Geschwistern hinüber, die in der Sandgrube hinter dem Stall ihre Murmeln durch geschickt angelegte Rillen kullern ließen. Die dreifarbige Katze „Dehe“ lag daneben im Gras und schnurrte verschlafen. Sie schaute nur auf, wenn die Kinder Steinchen, welche das Rollen der Tonkugeln störten, lachend über ihren Kopf hinweg in die Wiese warfen.
Agathas um ein Jahr älterer Bruder Johann hatte sich humpelnd in den Holzschuppen zurückgezogen, um seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Schnitzen von Holzfiguren, nachzugehen. Obwohl von der Kinderlähmung genesen, wollte ihm seither sein linkes Bein nicht so recht gehorchen und er war in seinem Wesen noch stiller, noch zurückgezogener geworden als vor der Krankheit.
Die Mutter hatte ihr Strickzeug aus dem Korb, der neben ihr auf der Bank stand, genommen, und während sie nun mit flinken Fingern die graue Schafwolle verarbeitete, war nur das stetige Klicken der Nadeln zu hören. Sie hatte es heuer besonders eilig mit dem Stricken, denn der Herbst nahte bereits und die Kinder benötigten noch warme Janker und Strümpfe für den kalten Winter.
Der Vater stopfte bedächtig seine Pfeife und nahm sein Feuerzeug zur Hand. Etwas ungeschickt versuchte er, mit seinen groben, schwieligen Fingern den petroleumgetränkten Docht etwas anzuspitzen und kurbelte dann das kleine, gezackte Rädchen so lange an, bis die sprühenden Funken eine kleine Flamme erzeugten. Genüsslich am Pfeifenmundstück saugend, brachte er den Tabak zum Glühen und paffte den Rauch in die milde Herbstluft.
Nachdenklich richtete Agatha ihr Augenmerk auf die zahlreichen Schwalben, die über dem Dach der Scheune geschäftig umherflogen und sich zwischendurch immer wieder in Reih und Glied auf die Wäscheleine im vorderen Teil der angrenzenden Wiese setzten.
Die Mutter wandte nur kurz ihren Blick von der halbfertigen Socke hinüber zu den unruhigen Vögeln und sagte mit einem wehmütigen Unterton in ihrer Stimme:
„Sie fliegen tief heute und rotten sich zusammen. Sie spüren, dass der Sommer vorbei ist, und sie werden wohl in den nächsten Tagen, genau wie du, in Richtung Süden aufbrechen.“
Agatha sah, wie sich ihre Mutter bei diesen Worten mit dem Oberarm eine Träne von der linken Wange wischte, ohne aber dabei den Blick von ihrer Handarbeit abzuwenden.
„Sie sieht aus wie eine alte Frau, dabei ist sie erst etwas über vierzig“, dachte Agatha bei sich und folgte mit ihren Augen den Strickbewegungen der von harter Arbeit gezeichneten Hände ihrer Mutter. Dann schaute sie hinauf in den dunkler werdenden Himmel, der sich farblich immer noch von den schwarzen Bergzacken, die den
Blick begrenzten, abhob.
„Ihr versteht das nicht“, sagte sie ein wenig trotzig, „mir ist es hier in den Bergen zu eng, und ich möchte etwas sehen von der Welt. Meine Dienstzeit als Hausmädchen hier ist zu Ende, und in Florenz werde ich viel mehr verdienen als hier bei uns. Dann kann ich euch vielleicht etwas von meinem Verdienst mit der Post schicken, damit ihr für die Kleinen warme Winterschuhe kaufen könnt.“
Bei diesen Worten zeigte sie mit dem Zeigefinger zur Sandgrube hinüber, wo ihre Geschwister immer noch mit ihren Murmeln spielten. Sie vergruben ihre nackten Füße, die unter den zerfransten Lodenhosen und zerlumpten Baumwollkleidchen hervorlugten, im von der Nachmittagssonne aufgeheizten Sand, um sich aufzuwärmen.
„Du bist jung, Agatha“, antwortete die Mutter mit leiser Stimme,
„und musst wohl deinen Weg gehen, aber Florenz ist halt schon arg weit weg von hier. Versteh mich, ich möchte nur, dass es dir gut geht, und ich hoffe bei Gott, dass du, wie die Zugvögel, die jetzt wegfliegen, im Frühjahr mit ihnen zu uns zurückkehren wirst.“
Damit legte sie das Strickzeug in den Korb zurück, mahnte die Kinder, dass es Zeit sei, ins Bett zu gehen, und stieg mühsam die steile Holztreppe hinauf, die in das Haus führte.
Agatha schaute ihr hinterher, bemerkte, dass sie hinkte und dachte bei sich:
„Die Hüfte plagt die Mutter wohl wieder sehr arg. Ist auch kein Wunder, die Arbeit am Hof macht ihr in letzter Zeit immer mehr zu schaffen. Dabei wirft die Schinderei auf den steilen Wiesen und den kargen Böden nicht immer genug ab, um die Familie über Wasser zu halten. Da lob ich mir meine Arbeit als Dienstmädchen mit weißen Handschuhen, auch wenn ich dabei weit weg von zu Hause bin.“
Als würde er ihre Gedanken erraten, sah der Vater seiner jungen, hübschen Tochter jetzt direkt in die Augen und sagte mit müder Stimme:
„Weißt, Agatha, wir gönnen es dir ja, dass du es in der Stadt vielleicht leichter hast als hier, aber wir sind halt auch ein wenig beunruhigt. Draußen in der Welt musst du für dich selbst sorgen, und auch wenn dich jetzt die Annehmlichkeiten, die wir hier nicht haben, hinauslocken, weißt du nicht, ob du in Florenz, weit weg von deiner Heimat, das bessere Los ziehst als hier bei uns, wo man zwar schwer arbeiten muss, um zu überleben, wo man jedoch alle seine Nachbarn kennt und wo man sich gegenseitig hilft.“
„Oder wo die Nachbarn nichts Besseres zu tun haben, als ständig schlecht voneinander zu reden“, gab Agatha zurück und richtete ihren Blick wieder in die Ferne.
„Lass mich ziehen, Vater. Welche Möglichkeiten habe ich, wenn ich hierbleibe? Entweder ich verbringe mein Leben als Magd bei einem Großbauern oder ich heirate einen Kleinhäusler, bekomme ein Kind nach dem anderen und bin, ehe ich mich‘s versehe, eine alte Frau, ohne die Welt hinter unseren Bergen kennengelernt zu haben. Außerdem kommt es euch gelegen, wenn ich etwas von meinem Verdienst nach Hause schicke, damit die Kleinen im Winter wenigstens warme Kleidung haben.“
Aus den Augenwinkeln heraus konnte Agatha sehen, wie sich jetzt ein bitterer Zug um den Mund des Vaters legte. Sie hatte seinen Stolz verletzt, aber er sagte nichts, presste lediglich die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und nickte stumm.
Zu sehr schmerzte ihn die Tatsache, dass er mit seinen zwei mageren Kühen, den drei Ziegen und vier Schafen im Stall, so sehr er sich auch abmühte, nicht immer genug erwirtschaften konnte, um seiner Familie ein sicheres Dasein zu ermöglichen.
Schweigend saßen die beiden noch eine Weile auf der knarrenden Bank, auf der sich bereits die Großeltern und die Urgroßeltern an so manchem Feierabend ausgeruht hatten, und hingen ihren Gedanken nach. Als es jedoch so dunkel geworden war, dass am klaren Himmel die ersten Sterne leuchteten, erhoben sie sich, stiegen gemeinsam über die ausgetretene Holztreppe hinauf und betraten das alte, etwas baufällige Haus, das die Familie seit Generationen ihr Eigen nannte.
„Gute Nacht Mutter!“
Agatha steckte ihren Kopf durch die halboffene Tür, die in die Kammer hinter der Stube führte, ging hinüber zum Doppelbett mit den hohen Pfosten, in dem die Mutter, die Hände zum Nachtgebet gefaltet, lag, und setzte sich auf die Kante.
„Mach dir keine Sorgen um mich, ich komme schon zurecht in Florenz, und ich werde euch regelmäßig schreiben, was ich so alles mache.“
Josefa zeichnete das Kreuzzeichen auf die Stirn ihrer Tochter.
„Gott beschütze dich, mein Mädchen, ich werde dich in alle meine Gebete einschließen.