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Wir schreiben das Jahr 1798, Napoleon führt in Europa an mehreren Fronten Krieg, als Matthias, ein junger Tiroler Bauer, eine Frau aus einem anderen Tal kennen und lieben lernt. Die kluge, belesene Barbara folgt ihm als Braut auf seinen Hof und wird in ihrer neuen Heimat dank ihrer einnehmenden Art von den Dorfbewohnern bald gut aufgenommen. Das Glück der jungen Familie wird jedoch in den folgenden Jahren durch die Auswirkungen der Kämpfe, von denen auch Tirol nicht verschont bleibt, gefährdet. Können die Eheleute in dieser unruhigen Zeit einen Mittelweg zwischen Aberglauben und vernünftigem Denken sowie zwischen dem Wert alter Traditionen und aufgeklärtem Fortschritt finden? Wird es ihnen in dieser stürmischen Epoche gelingen, ihrem Grundsatz von Gewaltlosigkeit treu zu bleiben?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
HeleneMathà
Stürmische
Jahre
HeleneMathà
StürmischeJahre
EineFamiliengeschichte–freierzähltundumrahmt
vonhistorischenEreignissenamBeginndes19.JahrhundertsinTirol
Umschlaggestaltung: Ursula Zeller Lektorat: Gertrud Matzneller
Herstellung und Verlag: Effekt! – Buchverlag, www.effekt.it ISBN:979-12-5532-026-5
Alle Rechtevorbehalten
©2023byEffekt!Gmbh,Neumarkta.d.Etschwww.effekt.it
GefördertmitfreundlicherUnterstützungdurch
HeleneMathà
Stürmische
Jahre
EineFamiliengeschichte–freierzählt undumrahmtvonhistorischenEreignissenam Beginn des 19. Jahrhunderts in Tirol
DieFrauvomanderenTal I
Es waren unruhige Zeiten, nicht nur für Matthias, aber auch für ihn. Im letzten Frühjahr hatte er die tragische Nachricht erhalten, dass seine Eltern während eines Verwandtenbesuches im nördlichen Tirol an den Pocken erkrankt und bald darauf an dieser schrecklichen Seuche dort gestorben waren. Fernab ihres Heimatdorfes hatten sie somit ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Zu seiner Trauer um Mutter und Vater war in den letzten Monaten auch noch die Furcht vor einem möglichen Kampfgeschehen in unmittelbarer Nähe dazugekommen, denn immer wieder waren beängstigende Meldungen über Kriege in Europa bis Matthias’ Heimatdorf vorgedrungen, das abgelegen und hoch in den Bergen, an der Sonnenseite eines engen Tales lag. Störgeher, welche oft von weit herkamen, um auf den Höfen als Kesselflicker, Schuster oder Schneider ihre Dienste anzubieten, hatten von den napoleonischen Feldzügen gegen Wien und von Kämpfen im Süden Tirols berichtet. Seither war der drohende Krieg häufig Gegenstand der Gespräche, welche die Bauern nach der Messe am Sonntag auf dem Kirchplatz führten, bevor sie besorgt in ihre mehr oder weniger armseligen Hütten zu einem mehr oder weniger kargen Sonntagsmahl heimkehrten.
Die Tatsache aber, dass Matthias jetzt, als einziger Sohn, von heute auf morgen den Hof des Vaters übernehmen musste, ließ wenig Raum für trübe Gedanken, denn mit der Erbschaft wurden ihm nun auch die Schulden übertragen, die sein Vater vor zwei Jahren, nach dem Verlust seiner Kühe an eine Rinderseuche, aufnehmen musste.
Matthias, an schwere Arbeit gewöhnt, war aber ein zäher Kämpfer, und seit dem Tod seiner Eltern versuchte er, durch gut überlegtes Wirtschaften, die Schulden, die er mit dem Hof geerbt hatte, Gulden für Gulden abzutragen.
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Deshalb ging er den langen Weg von seinem Hof über das Joch und kam an einem sonnigen Septembernachmittag müde, aber zufrieden auf der anderen Seite der Berge in der Marktgemeinde an, wo er einige seiner Schafe verkaufen wollte. Er hatte gerade die Genehmigung für den Handel erhalten und seine Lagerstelle auf dem großen Platz zugewiesen bekommen, als er, unweit von seinem Pferch, eine junge, gertenschlanke Frau von bezaubernder Schönheit erblickte, die an einem Stand Käse, Butter und Eier feilbot. Nachdem er seine Tiere eingezäunt hatte, setzte er sich hin, stillte seinen Hunger mit einem Stück Roggenbrot und etwas Speck und konnte währenddessen nicht aufhören, immer wieder verstohlen zu ihr hinüberzublicken.
Das lange, rabenschwarze Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr fast bis zum Gürtel reichte, und in ihren dunklen Augen funkelte ein Feuer, das ihn ganz in ihren Bann zog. Ihre anmutige Erscheinung entsprach nicht dem landläufigen Aussehen eines Bauernmädchens. Sie war hochgewachsen aber rank, ja beinahe zierlich, und hätte Matthias nicht an ihren kraftvollen Bewegungen erkannt, dass sie an harte Arbeit gewöhnt war, hätte nicht ihr einfacher, aber sauberer Kittel ihre bäuerliche Herkunft verraten, er hätte sie leicht für ein Fräulein aus der Stadt halten können.
Immer wieder wurden seine Blicke an diesem Tag zu dem fremden Mädchen hingelenkt, und gerne sah er ihr dabei zu, wie sie mit ihren feingliedrigen Händen die Ware in den Körben so anordnete, dass sie ansprechend auf Kunden wirkte, wie sie mit wachem Blick, ohne aufdringlich zu werden, unermüdlich die Menschenmenge nach möglichen Käufern absuchte und wie sie einen erfolgreichen Verkauf nach dem anderen tätigte.
„Geschäftstüchtig ist sie also auch noch“, schmunzelte er in sich hinein, und als sie gegen Abend die leeren Körbe auf ihrer linken Hüfte aufsetzte und sich mit anmutig wiegendem Gang auf den Nachhauseweg machte, nahm er allen Mut zusammen, lief ihr rasch hinterher und fragte sie nach ihrem Namen.
„Ich bin die Barbara“, sagte sie in der Tonart der Bevölkerung vor Ort und schenkte ihm dabei ein derart bezauberndes Lächeln, dass ihm schier schwindelig wurde. Da sie sich jedoch gleich nach diesen Worten von ihm wegdrehte und raschen Schrittes weiterging, blieb dem jungen Mann nichts anderes übrig, als ihr seufzend hinterher zu blicken, bis sie in der Menge der zahlreichen Marktbesucher und Händler verschwunden war.
Nachdem er sie aus den Augen verloren hatte, ging Matthias noch einmal zurück zu seinem Lager, versorgte die Tiere im Pferch, trank in der nahen Schenke noch einen Becher Gerstensaft und verbrachte dann eine unruhige Nacht in der Scheune des Wirtshauses, in der er sich für ein paar Kreuzer ausruhen durfte.
Beim ersten Morgengrauen jedoch sprang er behände vom Heuboden herunter, zupfte sich die Strohhalme aus dem Gewand und war froh, dass die Dunkelheit vorbei war, in der das Gesicht der jungen, schönen Frau immer wieder vor ihm aufgetaucht war und in der er wohl an die hundert Mal in wirren Träumen ihren Namen wiederholt hatte. Eilig verließ er sein Schlaflager, schritt die enge Gasse zum Marktplatz hinunter und hielt dort mit pochendem Herzen Ausschau nach ihr. Erleichtert atmete er auf, als er Barbara wieder an ihrem Stand erblickte, den sie, wie er erfreut feststellte, etwas näher an seinen Pferch herangerückt hatte.
„Guten Morgen“, begrüßte sie ihn freundlich und wurde verlegen, als er zurückgrüßte und ihr dabei schelmisch zuzwinkerte.
„Wenn sie errötet, ist sie noch schöner“, dachte Matthias überglücklich und wertete ihre Befangenheit als Zeichen dafür, dass auch sie von ihm angetan war.
Das gab ihm Mut und er begann an diesem Morgen, vorerst noch etwas zaghaft, sich mit ihr über dies und jenes zu unterhalten. Es schien ihm, als sei sie nicht abgeneigt, mit ihm zu plaudern, und so ging er an diesem und den folgenden Tagen immer häufiger zu ihrem Stand hin, um mit ihr zu reden. Langsam wurden sich die jungen Leute dabei vertrauter, ihre Gespräche wurden persönlicher und immer öfter verweilten sie einige Augenblicke dabei, sich tief in die Augen zu schauen.
Das rege und laute Treiben am Markt hinderte die beiden nicht daran, immer wieder eine Gelegenheit für gemeinsame Momente zu suchen, und zwischen dem einen und dem anderen erfolgreichen Verkauf vergaßen sie dann eine Zeit lang die lärmende, geschäftige Umgebung und nahmen, wie in einer Blase, nur noch sich selbst wahr. Dann erzählten sie sich Geschichten aus ihrer Kindheit, denn es gab so viel, was sie voneinander wissen wollten. Vor allem aber lachten sie viel gemeinsam.
Am Beginn wirkte Barbaras Heiterkeit etwas befremdlich auf Matthias und so erzählte er ihr eines Tages, dass da, wo er herkam, wenig gelacht wurde, und wenn, dann geschah dies meist nur, wenn jemand verspottet oder gehänselt wurde.
„Es kann sein, dass das raue Klima, die wenigen sonnigen Stunden in den engen Tälern und die langen, dunklen Winter dazu beitragen, dass die Menschen in den Bergen oft schwermütig sind“, gab Barbara zu bedenken und war froh, dass sie selbst die hohen Berge, die ihre Heimat umgaben, nie als bedrückend empfunden hatte und dass ihr sonniges Gemüt auch durch widrige Umstände oder tragische Ereignisse, vor denen auch ihre Familie nicht verschont geblieben war, keinen Schaden genommen hatte.
„Vielleicht hattest du das Glück, dass dieser allgemeine Trübsinn nicht Teil deiner Erziehung gewesen ist und dir nicht mit einem strafenden Gott gedroht wurde, wenn du dich nicht anständig benommen hast“, entgegnete Matthias.
„Da hast du recht“, stimmte sie ihm bei. „Meine Mutter kommt ursprünglich aus einem Land im Süden und sie ist eine Frohnatur. Sie hat die Wärme der Sonne, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht hat, bis heute in ihrem Herzen bewahrt und immer auf uns strahlen lassen.“ An diesem Abend dachte er auf seinem Strohlager noch lange über dieses Gespräch nach und bewunderte die Klugheit dieser schönen Frau. Dabei stellte er fest, dass er nach seinem anfänglichen Vorbehalt die fröhliche, humorvolle Art von Barbara, bei der das Lachen nicht der Häme diente, sondern Ausdruck von Freude am Leben war, ebenso liebgewonnen hatte, wie die ernsten Momente, in denen sie
tiefes Mitgefühl für die Nöte anderer Menschen zeigte.
Die Marktwoche verging in der trauten Gemeinsamkeit der zwei jungen Leute wie im Flug, und als der Bursche alle seine Schafe für gutes Geld verkauft hatte und für ihn die Zeit gekommen war, in sein Dorf zurückzukehren, wussten die beiden, dass sie sich liebten.
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Am Tag, an dem sie Abschied voneinander nehmen mussten, begleitete Barbara Matthias bis zu einer großen Lärche an der Wegkreuzung, von welcher der Pfad steil zu jenem Bergkamm hinaufführte, der ihre zwei Wohnorte voneinander trennte und wo sich das Joch befand, über welches der junge Mann steigen musste, um sein Heimatdorf zu erreichen.
Dort angelangt, umfasste er sie unter den ausladenden Ästen des großen Baumes noch einmal mit seinen starken Armen und versprach:
„In einem Monat komme ich wieder, dann nehme ich dich als Braut mit zu mir in mein Dorf. Da ist es zwar viel ruhiger und bei Weitem nicht so belebt wie hier, und es verirren sich auch kaum Fremde in unser abgelegenes Dorf, aber ich glaube, es wird dir bei uns trotzdem gefallen.“
„Ich mag die Ruhe eigentlich viel lieber als das geschäftige Treiben, das hier oft herrscht. Als mein Vater noch lebte, bin ich mit ihm im Sommer oft wochenlang in den Bergen unterwegs gewesen, um unsere Schafe zu hüten. Das war meine liebste Zeit. Ich komme gerne mit dir mit in deine Heimat, Hauptsache du bist bei mir.“
Überglücklich küsste er zärtlich ihre vollen Lippen, wandte sich aber gleich darauf von ihr ab, um den Abschied für beide nicht noch schwerer zu machen, und machte sich auf seinen Heimweg. Betrübt schaute Barbara dem stattlichen Burschen hinterher, der mit federnden Schritten den steilen Pfad hinauf seinem Heimattal entgegenschritt, bis seine Gestalt immer kleiner wurde und schließlich ganz verschwunden war.
Bevor sie nach Hause ging, umarmte sie den Waldriesen, unter dem sie stand, und die Tränen, die jetzt über ihre heißen Wangen flossen, benetzten seine Rinde.
„Er kommt wieder, nicht wahr?“, suchte sie Bestätigung bei dem großen Nadelbaum und es schien, als flüsterten die Zweige, die leise im Wind rauschten, ihr Trost zu:
„Er wird zu dir zurückkehren, hab keine Angst!“
DieFrauvomanderenTal II
Barbara hatte es sich, nachdem ein Monat seit ihrem Abschied von Matthias vergangen war, nach ihrer Arbeit zu Hause und auf dem Feld zur Gewohnheit gemacht, zur alten Lärche hinaufzuwandern, wo sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Auch heute, an diesem warmen Oktoberabend war sie gekommen, um sich auf das grüne Moos, das unter den Ästen des großen Baumes ein weiches Polster bildete, zu setzen und auf ihn zu warten.
„Er hat versprochen, dass er mich holt, und ich bin mir sicher, dass er bald kommen wird“, redete sie sich hoffnungsvoll zu, nahm das mitgebrachte Strickzeug zur Hand und begann, mit ihren flinken Fingern die graue Schafwolle des Knäuels auf ihrem Schoß, Masche für Masche, über die Holznadeln gleiten zu lassen.
Immer wieder unterbrach sie ihre Arbeit und schaute sehnsüchtig hinauf in Richtung Joch, von dem der Steig herunterführte, den die Bauern benutzten, die vom Nachbartal herüberkamen, um Viehhandel zu betreiben. Dabei ließ sie jedoch ihre Blicke auch umherwandern, denn sie konnte sich nicht sattsehen an der Schönheit der Landschaft. Die langen, dunklen Schatten der späten Jahreszeit standen in auffallendem Gegensatz zum Farbspektakel auf lichtdurchfluteten Hängen mit herbstlich gefärbten Lärchen, die in den verschiedensten Gelbtönen so hell erstrahlten, als hätten sie ein Feuer inne. Das Licht der tiefgehenden Sonne gab an morschen Baumstämmen und brennend-roten Vogelbeersträuchern den Blick auf Spinnennetze frei, deren kunstvoll verwobene Fäden morgens mit unzähligen Tautropfen übersät waren und wie kleine Perlenketten aussahen.
Barbara hatte die Stunden des Wartens liebgewonnen, sie mochte diese Zeit des Jahres, in der die Natur mit einem letzten Feuerwerk die nahende Winterruhe ankündigte, und hier, unter diesem Baum, konnte sie den Herbst mit seiner Schönheit in aller Ruhe in sich aufnehmen, ohne die geliebten, aber lärmenden Geschwister um sich zu haben.
So schritt auch an diesem Abend die Zeit rasch voran und bald spiegelte die untergehende Sonne mit ihrem letzten, wärmenden Licht noch einmal die besonderen, herbstlichen Farben des Waldes und den stahlblauen Himmel im nahen Weiher, um dann hinter den hohen Felszacken im Westen zu verschwinden.
Das Licht im Talgrund wurde rasch dämmrig und lediglich die Gipfel der hohen, bereits vom ersten Schnee angezuckerten Berge erstrahlten noch im Licht der Abendsonne. Die Luft im schattigen Talgrund war kühler geworden und Barbara fröstelte ein wenig, deshalb legte sie ihre Handarbeit zurück in den Korb und beschloss, nach Hause zurückzukehren, um der Mutter bei der Zubereitung des Abendmahls zu helfen.
Bevor sie aufbrach, kniff sie jedoch noch einmal die Augen zusammen und suchte mit scharfem Blick den Pfad ab, der vom Bergkamm herunterführte, und plötzlich hielt sie aufgeregt den Atem an, als sie hoch oben einen kleinen, schwarzen Punkt entdeckte, der sich Richtung Tal bewegte. Sie ließ ihn nicht mehr aus den Augen, und als die Gestalt größer wurde und sie sich sicher war, dass es sich um einen Menschen handelte, wurde ihr heiß und kalt zugleich.
„Das ist Matthias, das ist er“, redete sie sich selbst ein, und als sie bald darauf glaubte, am federnden Gang und dem ausholenden Schlenkern der Arme sein Bewegungsmuster zu erkennen, begann ihr Herz vor Freude so wild zu pochen, dass sie meinte, es würde ihr aus der Brust springen. Flugs sprang sie auf und begann, so schnell sie ihre Füße trugen, über Stock und Stein den steilen Berghang hinaufzulaufen.
„Das muss er sein!“, beseitigte sie noch einmal alle Zweifel und machte völlig außer Atem kurz halt, um sich noch einmal zu vergewissern, dass sie sich nicht getäuscht hatte.
Nachdem sie jedoch sah, dass auch der junge Mann zu laufen begonnen hatte und ihr dabei immer wieder zuwinkte, war sie sich sicher, und mit einem lauten Jauchzer, der von Matthias durch einen Jodler beantwortet wurde und der in den nahen Felsen widerhallte, begrüßten sie sich ungestüm von der Ferne und rannten aufeinander zu.
Als sie sich aber dann gegenüberstanden, wussten beide nicht mehr so recht, was sie sagen sollten, sondern sahen sich nur schweigend eine Weile an, lächelten sich verlegen zu und erst nachdem Matthias Barbara an der Hand genommen hatte und ihr zärtlich „Jetzt kann uns nichts mehr trennen“ ins Ohr geflüstert hatte, überwanden sie ihre anfängliche Befangenheit und sie fielen sich um den Hals.
Mit einem langen, innigen Kuss war die alte Vertrautheit wiederhergestellt und Matthias hielt Barbara in seinen starken Armen so fest umschlungen, dass sie fast nicht mehr zu Atem kam und lachend nach Luft schnappte.
„Komm, wir wollen zu mir nach Hause gehen, ich möchte dich meiner Familie vorstellen“, sagte sie, löste sich sanft aus seiner Umarmung und Hand in Hand begab sich das Paar in der Abenddämmerung zu Barbaras Geburtshaus.
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Es war schon fast dunkel, als sie außerhalb des Dorfes am Waldrand ein einfaches, aber gemütlich anmutendes Holzhaus mit angrenzender Scheune erreichten. Durch die beleuchteten Fenster drang warmes, heimeliges Licht hinaus in die stille Nacht, und als sie an der Stalltür vorbeigingen, hörten sie dahinter das zufriedene Schnauben der satten, wiederkäuenden Kühe.
Barbara schob Matthias durch eine niedrige, knarrende Holztür, bei der er den Kopf einziehen musste, in eine einfache, aber blitzeblanke, saubere Diele hinein und gemeinsam betraten sie die Küche, in der eine hochgewachsene, hagere Frau mit schneeweißem Haar am Herd stand und gerade dabei war, geschmolzene Butter über das Mus, das sie in einer riesigen Eisenpfanne über dem offenen Feuer zubereitet hatte, zu gießen. Der junge Bursche erkannte sogleich, dass dies die Mutter von Barbara sein musste. Das Leuchten in ihren Augen ließ trotz ihres fortgeschrittenen Alters und der zahlreichen Entbehrungen, die das Leben wohl mit sich gebracht hatte, etwas von ihrer früheren Schönheit erahnen, und die Art, wie sie sich zu ihm umdrehte und auf ihn zuging, um ihn freundlich zu begrüßen, erinnerte ihn an die anmutigen Bewegungen seiner Liebsten.
„Grüß dich Gott, ich heiße Sophia und bin die Mutter von Barbara, und du musst der Matthias sein, von dem mir meine Tochter schon so viel erzählt hat“, hieß sie ihn willkommen und unterstrich die herzliche Begrüßung mit einem kräftigen Händedruck. „Du kommst gerade rechtzeitig zum Abendessen.“
Dann wandte sie sich zur Küchentür, durch welche die Brüder von Barbara neugierig und grinsend ihre schwarzen Wuschelköpfe hereingesteckt hatten, schubste ihre Söhne sanft in die Diele hinaus, wedelte mit dem hölzernen Kochlöffel in der Luft herum und tadelte sie augenzwinkernd mit einem Schmunzeln:
„Benehmt euch, Buben! Führt unseren Gast in die warme Stube, stellt euch vor und setzt euch zusammen an den Tisch, ich komme gleich mit der Pfanne nach.“
„Sie spricht zwar wie wir, aber ihre Aussprache ist irgendwie anders“, dachte Matthias bei sich und erinnerte sich daran, dass ihm Barbara erzählt hatte, ihre Mutter stamme aus einem Land im Süden.
Er war ein wenig aufgeregt, als er unter dem Herrgottswinkel seinen Platz in der Runde der fünf Brüder von Barbara einnahm, weil er nicht wusste, wie sie ihm entgegentreten würden. Schon bald aber lehnte er sich entspannt an die Holztäfelung hinter seinem Rücken, denn er wurde gleich so herzlich aufgenommen, als sei er schon lange ein Mitglied dieser Familie, und als Sophia mit der eisernen Pfanne die Stube betrat, waren die jungen Leute in ein angeregtes Gespräch vertieft. Sie tauschten sich über unterschiedliche Dialektausdrücke in den zwei Nachbartälern aus und hatten offensichtlich viel Spaß dabei. Nachdem sich alle an dem herrlich schmeckenden Milchbrei sattgegessen hatten, holte Sophia vom Regal oberhalb des Stubentisches ein Buch herunter, und reihum las jedes der Geschwister im Kerzenschein eine kurze Geschichte daraus vor.
Matthias genoss diese gesellschaftliche Runde, in der auch viel geredet und viel gelacht wurde, und ihm kamen dabei die manchmal bedrückenden Abende bei sich zu Hause in den Sinn, an denen häufig jeder vor sich hinbrütete. Auch musste er darüber staunen, welch quirlige Lebensfreude diese Familie ausstrahlte, eine offenherzige Heiterkeit, die er bei den, vor allem Fremden gegenüber, zurückhaltenden Leuten seines Heimattales oft vermisste.
Es wurden aber auch ernste Themen aufgegriffen und sie sprachen über die kriegerischen Auseinandersetzungen Napoleons gegen die herrschenden Königreiche und Fürstentümer Europas, von welchen vor einem Jahr auch südliche Teile Tirols betroffen gewesen waren.
„Ja, diese neuen, revolutionären Ideen aus Frankreich bringen leider auch Kämpfe mit sich. Ich befürchte aber, egal ob nun Adelige unser Land regieren oder ob es ein Mann aus dem Volk ist wie Napoleon, die Mächtigen werden uns kleine Leute immer knechten. Erst die Zukunft wird zeigen, ob dieser neue Vernunftglauben, der mehr Freiheit und Gerechtigkeit verspricht, für uns ein Segen wird“, überlegte der älteste der fünf Brüder, und Matthias war erstaunt darüber, welch umfangreiches Wissen diese Familie über das Weltgeschehen hatte.
Er erfuhr an diesem Abend auch, dass Hans, der Vater von Barbara, seine Frau auf einer Handelsreise kennengelernt und mit in die Marktgemeinde gebracht hatte. Sophia kam ursprünglich aus einem Land im Süden, lebte sich aber, nachdem sie ihrem Mann in die Berge gefolgt war, schnell in ihrer neuen Heimat ein.
„Ich habe die Entscheidung, aus Liebe in ein mir unbekanntes Land zu ziehen, nie bereut, denn ich führe hier mit meinen Kindern ein glückliches Leben“, erklärte sie ihrem Gast, und die unzähligen Lachfalten, die sich dabei rund um ihre Augen bildeten, verliehen im warmen Licht der flackernden Kerze ihrem Gesicht eine ganz besondere Note.
Dann aber blickte sie mit ihren dunklen Augen traurig in die Ferne und fuhr fort:
„Das Einzige, was mir fehlt, ist mein geliebter Mann. Hans ist vor Jahren bei Holzarbeiten im Wald verstorben, weil ein Baum auf ihn gestürzt ist, und er hat eine große Lücke in unserer Familie hinterlassen.“ Auch die sechs Geschwister wurden jetzt wehmütig und teilten mit Matthias so manche lustige und auch ernste Erinnerung an ihren Vater, wie sie ihn nannten, der aufgrund seiner Stärke und seiner Für-
sorglichkeit ein großes Vorbild für die fünf Brüder war.
Matthias hörte mitfühlend zu, als Barbara berichtete, wie ihre Mutter über den Verlust des geliebten Ehemannes und des Vaters ihrer sechs Kinder anfangs in eine tiefe Verzweiflung gestürzt war, wie ihr aber bald klar wurde, dass sie für ihre Kinder nun allein sorgen musste und sie sich nicht von der Traurigkeit überwältigen lassen durfte.
„Trotz ihres großen Leids raffte sie all ihre Kraft zusammen und scheute fortan keine Mühen, um uns alle über Wasser zu halten“, erzählte sie weiter. „Am Anfang waren wir auf die Almosen mitleidiger Nachbarn angewiesen, und ich bin mir sicher, so manches Mal ist sie selbst abends mit knurrendem Magen ins Bett gegangen, weil sie die wenigen Lebensmittel, die wir zur Verfügung hatten, auf uns Kinder verteilt hatte. Aber unsere Mutter hat nie aufgegeben.“
Sophia winkte bescheiden ab und schaute hinüber zu Matthias, der ihr gegenübersaß:
„Das war doch selbstverständlich, und außerdem hätte ich es allein nie geschafft, die Arbeit am Hof zu bewältigen und die Kinder durchzubringen. Nur dank der Mithilfe einiger Nachbarn, die mich in der ersten schweren Zeit unterstützt haben, und des Zusammenhaltes in unserer Familie war es mir möglich, für ein bescheidenes Dasein zu sorgen. Ein wenig stolz bin ich aber schon darauf, dass es uns im Lauf der Jahre gelungen ist, aus der Bauernwirtschaft sogar einen kleinen Ertrag zu erwirtschaften.“
Zufrieden blickte die im Herzen jung gebliebene Mutter in die Runde ihrer Kinder, bevor sie sich mit ernstem Gesichtsausdruck wieder Matthias zuwandte, der seinen rechten Arm liebevoll um Barbaras Schultern gelegt hatte.
„Aber nun zu euch zwei. Auch wenn mir der Abschied von meiner Tochter schwerfällt, freue ich mich über euer Glück von ganzem Herzen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man seine Ursprungsfamilie verlässt und voller Hoffnung seiner Liebe an einen unbekannten Ort folgt. Ich hatte das große Glück einer harmonischen Ehe, die mir, wann immer notwendig, Rückhalt in einer mir anfangs fremden Umgebung gegeben hat.“
„Ich habe im letzten Frühjahr meine beiden Eltern an die Pocken verloren, es war schwer für mich, plötzlich allein dazustehen, und ich will nicht mit der Tatsache hinter dem Berg halten, dass ich den Hof meines Vaters mit einer Schuldenlast übernommen habe. Bis zur Tilgung dieser Verbindlichkeiten werde ich wohl neben der Arbeit am Hof, den er mir hinterlassen hat, auch als Holzfäller arbeiten müssen“, erwiderte Matthias und hielt seine Braut jetzt noch fester umschlungen als zuvor. „Ich verspreche dir jedoch, dass ich trotz alledem gut auf deine Tochter achtgeben und dass ich ihr immer zur Seite stehen werde.“
Sophia langte über den Tisch hinüber und legte mütterlich ihre Hand auf die von Matthias:
„Ich bin mir sicher, dass mich meine Menschenkenntnis nicht täuscht, bei dir ist meine Tochter in guten Händen und ich kann sie beruhigt mit dir ziehen lassen, ihr werdet euch auch in schwierigen Zeiten gegenseitig Halt geben. Jetzt aber wollen wir uns zur Ruhe begeben, es ist spät geworden, die Kerze ist schon fast abgebrannt und morgen wartet ein anstrengender Tag auf euch.“
Nach diesen Worten begaben sich Mutter und Tochter in die Stubenkammer und die Brüder stiegen mit Matthias über die steile Holztreppe hinauf in das Schlaflager unter dem Dach, das sie sich dort teilten.
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Am nächsten Tag verabschiedete sich Barbara bereits vor dem Morgengrauen, nun doch ein wenig traurig, von ihren Geschwistern, die ihr in ihrem bisherigen Leben neben der Mutter die liebsten Menschen gewesen waren, und sie war dankbar dafür, dass Sophia beschloss, die zwei jungen Leute noch ein Stück ihres Weges zu begleiten.
An der Wegkreuzung bei der großen Lärche war es dann aber Zeit, Abschied zu nehmen, und die Mutter nahm ihre Tochter noch einmal beiseite, strich ihr mit ihren abgearbeiteten Händen liebevoll über die vor Aufregung etwas geröteten Wangen und übergab ihr ein handgeschriebenes, in Leder gebundenes Buch.
„Ich habe noch etwas für dich“, sagte sie und wischte sich dabei verstohlen eine Träne von ihrer Wange. „Auf diesen Seiten habe ich Geschichten niedergeschrieben, die in meinem Leben wichtig waren. Jetzt gebe ich das Schriftwerk an dich weiter, es soll dich in deiner neuen Heimat heiter stimmen, wenn du traurig bist, und es soll dich lehren, dein Herz für die Liebe zu öffnen.“
Barbara betrachtete ehrfürchtig das kostbare Buch und steckte es behutsam in das Bündel zu ihren restlichen Habseligkeiten, denn dass ihre Mutter selbst Geschichten schrieb, hatte sie nicht gewusst. Das Lesen hatte in ihrer Familie schon immer eine wichtige Rolle gespielt und die Mutter hatte es ihren Kindern trotz aller Not schon früh beigebracht. Ein wenig wehmütig dachte Barbara in diesem Moment an die heimeligen Abende in der elterlichen Stube, an denen die Mutter den Kindern beim Schein einer kleinen Öllampe Märchen vorgelesen hatte, aber nun musste sie gehen und so verabschiedete sie sich rasch mit einer innigen Umarmung von Sophia und wandte sich ihrem Bräutigam und ihrer neuen Zukunft zu.
Die zurückbleibende Mutter wischte sich eine letzte Träne aus den Augen, denn als sie nun dem schönen Paar nachsah, das in der Morgendämmerung den Pfad emporstieg, der über die Berge hinüber in die Heimat von Matthias führte, überwog in ihr die Freude. Sie war stolz, eine so starke Tochter zu haben, die sie ein Stück auf ihrem Lebensweg als liebende Mutter hatte begleiten dürfen. Nachdem ihr Barbara von der Ferne noch einmal zugewinkt hatte, kehrte sie mit dem Gefühl, dass diese einer guten Zukunft entgegenging, zufrieden in ihre kleine Hütte am Waldrand zurück.
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Als das junge Paar nach dem steilen Aufstieg den Übergang am Bergkamm erreicht hatte, der die beiden Täler voneinander trennte, blickte Barbara noch einmal zurück in die Landschaft, die ihr so vertraut war, in der sie alle Menschen kannte und alle Steige im dichten Tann und auf den Almen, und wo sie ihre Familie zurückgelassen hatte. Dann aber ließ sie die Vergangenheit hinter sich, drehte sich um und wandte hoffnungsvoll ihren Blick in die Zukunft und hinunter zu den gold-braun gefärbten Almwiesen, den grünen Fichten und den herbstlich leuchtenden Lärchen ihrer neuen Heimat.
Matthias, der sah, dass sie mit angestrengtem Blick versuchte zu erahnen, wo sich das Dorf mit seinem Hof wohl befinden könnte, legte den Arm um ihre Schultern, blickte ihr aufmunternd in die Augen und zeigte mit seinem Finger in die Ferne:
„Dein neues Zuhause befindet sich in einer Mulde gleich nach der Talenge, die du dort hinten siehst. Aber komm, lass uns rasch absteigen, der Pfarrer wartet auf uns, ich habe das Aufgebot bereits vor einem Monat bestellt und er hat mir zugesagt, uns zu trauen, sobald wir das Dorf erreichen.“
Barbara schenkte ihrem Bräutigam ein bezauberndes Lächeln, nickte ihm vertrauensvoll zu, hob die Schürze und den Rock ihres knöchellangen Gewandes ein wenig an und sprang behände über den steilen, felsigen Pfad und über eine steinige Moräne hinunter zu einem weiten Almboden, auf dem zwischen den rostfarbenen Grasbüscheln noch die letzten Preiselbeeren feuerrot hervorlugten und in dessen Mitte eine kleine Holzhütte stand.