Mutters Flucht - Andreas Wunn - E-Book
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Mutters Flucht E-Book

Andreas Wunn

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Beschreibung

»Wann immer ich an die Flucht meiner Mutter denke, sehe ich das Sonnenblumenfeld vor meinem Auge. Und irgendwo darin stelle ich mir meine schlafende Mutter vor und den Hund und die Grenzsoldaten. Eigentlich hat meine Mutter nie wirklich von früher erzählt. Nicht von ihrer Kindheit als Deutsche in Jugoslawien, nicht von der Flucht, nicht vom Ankommen in Deutschland. Für sie war das Dorf, in dem sie geboren wurde, ein untergegangener Sehnsuchtsort. Kann ein Ort Heimat sein, an den man sich kaum erinnert?«

Jahrzehntelang hat Andreas Wunns Mutter dazu geschwiegen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Gebiet Jugoslawiens nach Deutschland floh. Auch über ihre Wurzeln ― jene der Donauschwaben im Banat ― sprach sie nicht viel. 2017 endlich, genau 70 Jahre nach ihrer Flucht, beschließt Wunn, zusammen mit ihr eine Reise in die Region ihrer Kindheit zu machen: entlang ihrer damaligen Fluchtroute, die heute als »Balkan-Route« bekannt ist. Ihre Reise führt Mutter und Sohn über Süddeutschland, Österreich und Ungarn bis nach Serbien.

Entstanden ist die anrührende Erzählung eines Nachkriegsschicksals, aber auch die persönliche Wiederentdeckung eines fast vergessenen Stücks deutscher Geschichte, die vor Jahrhunderten begann und nach dem Zweiten Weltkrieg endete.

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Seitenzahl: 310

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Über das Buch

»Wann immer ich an die Flucht meiner Mutter denke, sehe ich das Sonnenblumenfeld vor meinem Auge. Und irgendwo darin stelle ich mir meine schlafende Mutter vor und den Hund und die Grenzsoldaten. Eigentlich hat meine Mutter nie wirklich von früher erzählt. Nicht von ihrer Kindheit als Deutsche in Jugoslawien, nicht von der Flucht, nicht vom Ankommen in Deutschland. Für sie war das Dorf, in dem sie geboren wurde, ein untergegangener Sehnsuchtsort. Kann ein Ort Heimat sein, an den man sich kaum erinnert?«

Jahrzehntelang hat Andreas Wunns Mutter dazu geschwiegen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Gebiet Jugoslawiens nach Deutschland floh. Auch über ihre Wurzeln ― jene der Donauschwaben im Banat ― sprach sie nicht viel. 2017 endlich, genau 70 Jahre nach ihrer Flucht, beschließt Wunn, zusammen mit ihr eine Reise in die Region ihrer Kindheit zu machen: entlang ihrer damaligen Fluchtroute, die heute als »Balkan-Route« bekannt ist. Ihre Reise führt Mutter und Sohn über Süddeutschland, Österreich und Ungarn bis nach Serbien.

Entstanden ist die anrührende Erzählung eines Nachkriegsschicksals, aber auch die persönliche Wiederentdeckung eines fast vergessenen Stücks deutscher Geschichte, die vor Jahrhunderten begann und nach dem Zweiten Weltkrieg endete.

Über Andreas Wunn

Andreas Wunn, geboren 1975, wuchs in Trier auf und studierte Politikwissenschaften in Berlin. Für das ZDF berichtete er als Südamerika-Korrespondent sechs Jahre lang aus Rio de Janeiro. Heute leitet er das ZDF-Morgenmagazin und -Mittagsmagazin. Für seine journalistische Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. »Saubere Zeiten« ist sein Romandebüt. Er lebt in Berlin.

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Andreas Wunn

Mutters Flucht

Auf den Spuren einer verlorenen Heimat

Für meine Urgroßmutter Maria Ziwei, gestorben 1983

Für meine Großmutter Rosl Loch, gestorben 1981

Für meinen Onkel Kurt Loch, gestorben 2012

Und für meine Mutter Rosemarie Wunn

Mit Luiza und Noah

»Alles, was ich habe, trage ich bei mir.« Herta Müller, Atemschaukel

»What’s wrong with the world, Mama?« The Black Eyed Peas, Where Is The Love?

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Vorbemerkung

Vor der Reise

Hauenstein

Hohenfurch

Allach

München Hauptbahnhof

Purtschellerhaus

Entlang der ungarischen Grenze

Gakowa

Groß-Betschkerek

Molidorf

Modosch

Sartscha

Setschan

Ende einer Reise

Epilog

Dank

Literatur

Zitatnachweis

Bildteil

Impressum

Vorbemerkung

In diesem Buch habe ich vor allem die alten deutschen Ortsnamen für Dörfer und Städte verwendet und weniger die heutigen serbischen Bezeichnungen. Ich wollte diejenigen Ortsnamen benutzen, die auch meine Großeltern in ihrem Alltag gebrauchten. Mir gefällt der Gedanke, dass die Erinnerung an diese jahrhundertealten deutschen Namen nicht nur in den Köpfen und Herzen der noch lebenden Donauschwaben, sondern auch in diesem Buch am Leben gehalten wird. Um der aktuellen Namensgebung gerecht zu werden, habe ich jedoch bei jedem Ort mindestens ein Mal auch die heutige serbische Bezeichnung verwendet.

Vor der Reise

Und dann erzählte mir meine Mutter von dem Moment, als sie spürte, dass ihr Vater nicht mehr lebte.

Noch waren wir gar nicht losgefahren, noch brüteten wir über unseren Reiseplänen. Erst in einigen Wochen würden wir aufbrechen. Die Fahrt durch Deutschland, Österreich, Ungarn und Serbien bis in die Region Banat und in das Dorf mit dem Geburtshaus meiner Mutter würde viele Erinnerungen an die Oberfläche spülen, auch schmerzhafte. Doch jetzt, in diesem Moment, bei meiner Mutter auf der Couch, wollten wir eigentlich noch nicht über Gefühle, sondern über die wichtigsten Stationen unserer Reise sprechen. Wir wollten Routen aussuchen, Entfernungen in Autostunden umrechnen und Hotels auswählen.

Wie meistens, wenn die Sonnenstrahlen am Vormittag durch das Balkonfenster brachen, hatte meine Mutter den Rollladen ein Stück weit heruntergelassen. Eine löchrige Schattenkante zog sich über den Teppich. In diesem Reihenhaus, in einem Neubaugebiet bei Trier an der Mosel, bin ich aufgewachsen. Es ist vielleicht ein Stück Heimat – die ersten 19 Jahre meines Lebens habe ich fast ausschließlich hier verbracht. Doch weder in dieser Zeit noch danach habe ich mit meiner Mutter je über den Tod ihres Vaters gesprochen.

Doch jetzt, für mich ganz unvermittelt, erzählt sie davon. Und ich merke, wie schwer es ihr fällt. Nicht nur, weil die Erinnerungen wehtun. Sondern auch, weil sie nicht oft in ihrem Leben über ihren Vater gesprochen hat.

Sie erinnert sich an den Moment im Lager in Hof-Moschendorf in Bayern, das nach dem Krieg ein Durchgangslager für Heimatvertriebene war. Es muss in der ersten Hälfte des Jahres 1948 gewesen sein, sie war damals sechs Jahre alt. Am Fenster, im Gegenlicht, steht ihre junge Mutter mit einem Brief. Es sind schlechte Nachrichten. Der Brief in der Hand, der Blick aus dem Fenster, der zusammengeschnürte Hals, die unterdrückten Tränen der Mutter, die sich nichts anmerken lassen will. Aber das Kind merkt es halt doch.

Im Gegenlicht dieses Moments verschwimmen die Erinnerungen meiner Mutter an den Krieg, an die Flucht, an den Vater. Sie erinnert sich an ihre Träume von ihm und das stille Hoffen, dass er doch noch zurückkäme. Sie weiß zwar nicht mehr, wann und wie genau sie von der Mutter erfuhr, dass er ermordet wurde, aber sie erinnert sich an diesen einen Augenblick im Gegenlicht – als sie es noch nicht wusste, aber bereits spürte.

Meine Mutter bricht ab, sie erzählt nicht weiter. Es ist ihr fast peinlich. Sie trägt ihr Inneres nicht gerne nach außen. Ich bleibe still.

»Ich schaue lieber nach vorne. Ich blicke nicht gerne zurück. Weil es nichts bringt.« Meine Mutter sagt oft solche Sätze. Die Gedanken an ihre Kindheit schmerzen, obwohl die Szenen in ihrem Kopf aus den ersten, glücklichen Jahren nur geborgte Erinnerungsfetzen sind. Sie selbst kann sich an ihre Zeit im serbischen Banat kaum erinnern. Die Idylle ihrer Kindheit wurde von den Erzählungen ihrer Mutter und Großmutter am Leben erhalten. Meine Mutter wollte diese geborgte Erinnerung nicht unbedingt verdrängen – aber auch nicht pflegen. Sie war ein Teil von ihr, den sie ruhen lassen wollte.

Doch jetzt werden wir genau an den Ort fahren, an den sie sich zwar nicht erinnern kann, von dem sie sich aber ein Bild gemacht haben muss: in das kleine Dorf Setschan im serbischen Teil des Banats, fast an der Grenze zu Rumänien. Im September 1941, während in weiten Teilen Europas schon der Krieg tobte und nur wenige Monate, nachdem die Wehrmacht auch in das damalige Jugoslawien eingefallen war, wurde meine Mutter hier geboren.

Bis der Krieg das Banat erreichte, muss es ein einfaches, aber sorgloses, vielleicht sogar glückliches Leben gewesen sein, das die Familie meiner Mutter als Teil der Donauschwaben, der deutschstämmigen Minderheit, dort führte. Die Familie besaß eine Mühle im Nachbardorf und war angesehen, im Wohnzimmer meiner Großeltern stand ein Flügel. Mein Großvater – damals noch ein junger Mann – war Apotheker, träumte aber von einer Karriere als Dirigent und wollte in Deutschland Musik studieren. In der Großfamilie sprachen sie Deutsch und Serbisch, manche auch Rumänisch und Ungarisch. Obwohl die Donauschwaben meist unter sich blieben, also auch in ihren eigenen Dörfern, lebten sie friedlich mit ihren Nachbarn zusammen, mit Serben, Ungarn und Roma und Sinti. Es klingt nach heiler Welt, wenn meine Mutter berichtet, was ihr berichtet worden war. Für sie aber blieb das Dorf, in dem sie geboren wurde, immer nur ein untergegangener Sehnsuchtsort. Nie wollte sie dorthin zurück – um von der Wirklichkeit nicht enttäuscht zu werden.

Kann ein Ort Heimat sein, an den man sich nicht erinnert? Den man nur aus verklärenden Erzählungen kennt? Und ist das diffuse Heimweh nach diesem Ort dann echt – oder nur ein Phantomschmerz?

Mehr als zwölf Millionen deutsche Kriegsflüchtlinge und Vertriebene gab es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, zwei Drittel von ihnen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches, darunter Ostpreußen und Schlesien. Das Schicksal der Donauschwaben im Banat hingegen ist bis heute wenig bekannt. Meine Vorfahren waren vor fast 250 Jahren dorthin ausgewandert, um das von der Donau, der Theiß und der Temesch durchzogene Land nördlich von Belgrad zu besiedeln. Sie waren Handwerker und Bauern und verwandelten den feuchten Boden in Ackerland. Doch mit dem Zweiten Weltkrieg änderte sich für die Donauschwaben im Banat alles. Viele von ihnen hatten mit Hitler sympathisiert, viele auch die Ziele der NS-Politik tatkräftig unterstützt und damit das friedliche Zusammenleben in der Region vergiftet. Josip Broz Tito, der als Marschall den Kampf der kommunistischen Partisanen gegen die deutschen Besatzer angeführt hatte und ab 1945 Jugoslawien regierte, ließ mit wenigen Ausnahmen alle Deutschen verfolgen. Ihre Häuser wurden geräumt, viele Männer und Frauen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert oder von jugoslawischen Partisanen ermordet. Auch mein Großvater war darunter. Was genau mit ihm geschah, wann und wie er gestorben ist, hat die Familie nie erfahren. Seine junge Frau (meine Großmutter) und die beiden kleinen Kinder (meine Mutter und meinen Onkel) steckte man in Lager.

Historiker gehen davon aus, dass bereits in den beiden letzten Kriegsjahren mehr als die Hälfte der rund 550 000 Donauschwaben vertrieben war, Zehntausende der Zurückgebliebenen kamen in den jugoslawischen Internierungslagern ums Leben, darunter zahlreiche Kinder; viele von ihnen sind verhungert. Meine Mutter und der Großteil ihrer Familie überlebten nach 1945 zwei Jahre in verschiedenen jugoslawischen Lagern, bis ihnen Mitte 1947 die Flucht über die jugoslawisch-ungarische Grenze gelang, so wie vielen anderen auch. Heute sollen in Serbien nur noch rund 4000 Deutschstämmige leben.

Über all dies hatte meine Mutter kaum je gesprochen. Als sei sie ein Leben lang auf der Flucht vor ihrer Flucht gewesen. Erst ein paar Monate vor unserer Reise trat eine Veränderung ein. Sie war nach Berlin gekommen, weil sie ihr erstes Enkelkind, meinen neugeborenen Sohn Noah Joaquim, sehen wollte. Sie brachte die alte, noch von meiner Großmutter gestrickte Babykleidung mit, die vor vielen Jahren erst ich trug und die jetzt mein Sohn tragen sollte. Meine Mutter blieb ein paar Tage bei uns. Sie sah glücklich aus, mit ihrem Enkel im Arm. Und dann, am Abend vor ihrer Abreise, gab sie mir, etwas unsicher, ein paar lose Blätter.

»Ich habe aufgeschrieben, wie wir damals geflüchtet sind«, sagte sie. Sie hielt mir die sieben Seiten hin, auf denen ich sofort ihre akkurate Lehrerinnenschrift erkannte. Es war Februar 2017, draußen stürmte der dunkle Berliner Winter. Sie hatte einen Text geschrieben, um ihn in meiner alten Schule vorzulesen. Manche der Erlebnisse, die sie beschrieb, kannte ich schon, viele aber noch nicht. Sie wolle Schülern zeigen, dass Flüchtlingsschicksale in Europa kein neues Phänomen, sondern Teil vieler Familiengeschichten seien, sagte sie. Irgendwann, nachdem sie die Flüchtlingsbilder im Fernsehen gesehen hatte, wurde ihr schlagartig klar, dass sie auf demselben Weg nach Deutschland gekommen war: Ja, sie war auf genau der Route geflüchtet, die im Sommer 2015 als Balkanroute bekannt wurde – von Serbien über Ungarn, Österreich und die Alpen bis nach Bayern. Jetzt, siebzig Jahre später, wollte sie endlich darüber reden. »Ihr könnt mich alles fragen«, sagte sie.

Aus vielen Fragen entstand die Idee zu einer Reise – eine Fahrt in den serbischen Spätsommer und zurück in die Vergangenheit meiner Mutter. Damit schloss sich für sie ein Kreis. Und ich lernte dabei sie – aber auch mich selbst – besser kennen. Während ihr sechs Monate altes Enkelkind in Berlin auf unsere Rückkehr wartete, drangen wir immer tiefer in die Familiengeschichte meiner Mutter vor. Es ist eine individuelle, persönliche und einmalige Geschichte, die dennoch für so viele deutsche Familiengeschichten steht. Eine Geschichte von Idylle, Krieg, Vertreibung, Flucht und Sprachlosigkeit – aber auch eine Geschichte über das Wesen der Erinnerung.

Als kleines Mädchen ist meine Mutter einmal unter dem Flügel im Wohnzimmer durchgerannt, mit großem Anlauf, alle haben sich erschreckt. Aber sie war so klein, dass sie problemlos hindurchsauste. Doch daran kann sich meine Mutter nicht erinnern. Man hat es ihr erzählt.

Hauenstein

Sie hatten keine Papiere, keine Koffer und besaßen nur die Kleidung, die ihnen in der Sommerhitze am Körper klebte. In einem Leinensäckchen waren die Familienbilder verstaut, gewellte Schwarz-Weiß-Fotografien, die sie hastig aus dem Album herausgerissen hatten. Meist versteckte es eines der beiden Kinder am Körper, weil Kinder in der Regel nicht durchsucht wurden. Den Stoß Notenblätter meines Großvaters, auf denen er leichte Operettenlieder komponiert hatte, um sie anschließend leidenschaftlich am Flügel vorzuspielen, trugen sie ebenfalls bei sich. Und auch den Familienschmuck hatten sie eilig eingepackt; sie würden die Ringe und Goldkettchen sofort hergeben, wenn es nötig wäre. Wenn sie etwa einen Grenzsoldaten bestechen müssten, damit er wegsah und sie durchließ. Oder einen Schlepper zu entlohnen hätten. Sie würden alles hergeben. Auf der Flucht ist wenig Platz für Nostalgie.

Schon mehrmals hatten sie versucht, aus dem Lager in Gakowa zu fliehen. Die Grenze nach Ungarn war so nah, keine fünf Kilometer Richtung Norden. Um dorthin zu gelangen, mussten sie erst die bewaffneten jugoslawischen Partisanen umgehen, die in loser Formation um das Lager herum Position eingenommen hatten. Dann mussten sie sich durch die Felder schlagen, abseits der Wege, damit sie an der Grenze nicht sofort wieder aufgegriffen wurden. Ein paarmal schon waren sie zurückgeschickt worden, aber sie gaben nicht auf, versuchten es immer wieder und immer wieder nachts.

Am 7. August 1947 gelang es ihnen dann. Vermutlich mithilfe von Schleppern konnten sie unentdeckt die Grenze nach Ungarn überqueren. Jugoslawien, ihre Heimat, die ihnen als Deutsche zur Hölle geworden war, lag hinter ihnen. Wären sie geblieben, davon war meine Großmutter Rosl überzeugt, hätten sie nicht überlebt.

Zwei Frauen und zwei Kinder auf der Flucht. Es fällt mir immer noch schwer, mir meine Mutter, meinen Onkel, meine Großmutter und meine Urgroßmutter von damals vorzustellen. Immer wenn ich es versuche, wirkt es auf mich, als liefe in meinem Kopf eine Art Kostümfilm ab. Meine Mutter Rosemarie war fünf Jahre alt, ein ernstes Mädchen mit durchdringendem Blick. Die Traurigkeit ihrer dunklen Augen wollte nicht recht zu den verspielten Zöpfen passen, die ihr oft mit weißen Schleifchen gebunden wurden. Ihr Bruder Kurt war nur ein Jahr jünger. Während meine Mutter auf den alten Fotos immer etwas schüchtern wirkt, stehen meinem Onkel schon als Vierjähriger Trotz und Wut im Gesicht geschrieben. Sie würden zusammenhalten, ein Leben lang. »Pass gut auf deine Mutter auf«, sagte mir mein Onkel als alter Mann in seinem Haus in der Schweiz leise ins Ohr. Er umarmte mich fest und hielt mich, und wir beide wussten, dass es ein Abschied für immer sein würde. Kurz darauf starb er an Magenkrebs. Von jenem Teil meiner Familie, die damals flüchteten, lebt heute nur noch meine Mutter.

Meine Großmutter Rosl war damals eine junge Frau Ende zwanzig – und sie war bereits Witwe. Auf den frühen Fotos, auf denen sie neben ihrem Mann, meinem Großvater, steht oder die Kinder auf dem Schoß hat, lacht sie und wirkt glücklich. Sie kam aus gutem Hause, spielte Tennis und Geige, interessierte sich für Mode und schlug elegant die Beine übereinander. Auf den späteren Fotos, jenen aus der Zeit nach der Flucht, ist das Glück aus ihrem Gesicht entwichen – und es sollte zeit ihres Lebens nicht wiederkommen. Ihre Mutter, meine Urgroßmutter Maria, war eine Frau um die fünfzig, die die Geschicke des Lebens stets selbst anpacken musste, weil auch sie ihren Mann früh verlor. Schon damals trug sie ihr Haar streng und zurückgebunden, ihre Röcke waren breit und dunkel, genau so, wie ich sie viel später als kleines Kind noch kennenlernen würde.

Am 7. August 1947 also, in der Hitze des Sommers, gelang ihnen die Flucht. Sie wussten, dass sie sich auch in Ungarn nur nachts und im Schutz der Dunkelheit fortbewegen konnten, um nicht entdeckt zu werden. Kurz hinter der jugoslawisch-ungarischen Grenze versteckten sie sich tagsüber in einem Sonnenblumenfeld. Sie legten sich auf den staubigen Boden, um sich auszuruhen, und verschwanden in einem Meer aus Gelb und Grün.

Plötzlich Hundegebell im Sonnenblumenfeld. Stiefel rammten sich ihren Weg durch die trockene Erde. Die Grenzpolizei machte Jagd auf Flüchtlinge, Ungarn zeigte schon damals eine harte Hand. Meine Urgroßmutter und die beiden Kinder waren im Schatten der Sonnenblumenköpfe eingeschlafen, nur meine Großmutter war noch wach. Durch das Grün der Blätter sah sie die Schnauze zuerst. Der Hund kam schnüffelnd näher, Schritt für Schritt. Jetzt stand er direkt vor ihr und starrte sie an. Er hechelte, doch sonst gab er keinen Laut von sich. Ein einziges Bellen, und es wäre vorbei. Sie würden entdeckt und zurückgeschickt werden. Meine Großmutter sah dem Hund in die Augen und bewegte sich nicht. Er starrte sie weiter an. Sie starrten sich gegenseitig an. Die Zeit dehnte sich.

Und dann ging er. Er machte kehrt und trottete davon, ohne Hast, ohne Bellen.

Niemand entdeckte meine Familie. Sie konnten ihre Flucht fortsetzen. Richtung Deutschland, wo alles besser war, wo sie in Sicherheit sein würden. Wo sie neu beginnen konnten, wo sie sich ein neues Leben aufbauen mussten. Dies war ihre einzige Hoffnung. Ein einziges Hundebellen hätte sie zunichtemachen können.

Wann immer ich an die Flucht meiner Mutter denke, sehe ich das Sonnenblumenfeld vor meinem Auge. Ich sehe es aus der Vogelperspektive, als fliege eine Drohnenkamera darüber, es strahlt in leuchtenden Farben und reicht bis zum Horizont. Ich sehe es auch von Nahem, Wind weht durch das Feld, er rauscht und biegt und schüttelt die Halme. Und irgendwo darin stelle ich mir meine schlafende Mutter als kleines Kind auf der Flucht vor und den Hund und die Grenzsoldaten. Aber im Grunde sehe ich fast immer nur das Feld, selten meine Mutter. Das Sonnenblumenfeld ist das einzige Bild, das ich von Mutters Flucht in meinem Kopf habe, das echt wirkt und nicht wie aus einem zu opulent geratenen Geschichtsbuch.

21 Tage lang dauerte ihre Flucht von der jugoslawischungarischen Grenze durch Ungarn (das seine Donauschwaben selbst ausgewiesen hatte) über Österreich bis nach Bayern – zu Fuß, auf Pferdewagen, mit dem Zug. Doch in Deutschland angekommen, sollte es fast drei Jahre dauern, die sie in verschiedenen Flüchtlingslagern verbrachten, bis sie ihren künftigen Wohnort, Hauenstein in der Pfalz, erreichten. Und genau siebzig Jahre später, im August 2017, ist Hauenstein die erste Station unserer großen Reise.

*

Waldfischbach, Thaleischweiler, Pirmasens, Hinterweidenthal. An der Perlenschnur meiner Erinnerung sind die Namen der Orte aufgereiht, an denen wir immer vorbeigefahren sind, wenn wir meine Omas in der Pfalz besuchten. Ich erinnere mich an die Schilder am Straßenrand. Und wenn mein Bruder und ich auf dem Rücksitz rechts hinter den Bäumen irgendwann den Teufelstisch erspähten, eine Felsformation so hoch wie ein mehrstöckiges Haus, die aussieht wie ein einbeiniger Tisch oder auch ein Pilz, dann wussten wir, gleich sind wir da. Bis ich sechs Jahre alt war, sind wir mit meinen Eltern oft am Wochenende in die Pfalz gefahren, um meine Großmutter und Urgroßmutter zu besuchen.

Ich bin viele Jahre nicht in Hauenstein gewesen. Jetzt nehme ich mit meiner Mutter denselben Weg wie damals. Wir fahren die Bundesstraße 10 entlang, durch die bergigen Kiefern- und Buchenwälder der Hinterpfalz. Wie ein hingeworfener Teppich wellt sich hier der Pfälzerwald durch die Landschaft, jetzt im Sommer saftig und grün. Leitplanken sind mit Büschen überwachsen. Es ist der erste Tag unserer Reise, wir sind morgens in Trier losgefahren, die Sonne steht hoch am Himmel. Meine Mutter auf dem Beifahrersitz ist ein wenig aufgekratzt. Sie konnte sich bisher nicht auf die Reise freuen, denn Vorfreude ist ihre Sache nicht. Es kann ja immer etwas dazwischenkommen. Doch jetzt sind wir wirklich unterwegs, ein Abenteuer steht uns bevor. Wir sind auf dem Weg in das Dorf, in dem meine Mutter im Alter von acht Jahren das Ende ihrer Flucht erlebte, das Dorf, in dem sie nicht nur aufgewachsen ist, sondern viel später, als junge Lehrerin, auch an der Schule unterrichtet hat.

Meine Mutter bemerkt, wie hoch die Bäume gewachsen sind und welche Bauarbeiten und Änderungen der Streckenverläufe an der Landstraße vorgenommen wurden. Auch sie ist lange Zeit nicht hier gewesen. Den Teufelstisch haben wir längst passiert, die Schilder am Straßenrand (»Deutsches Schuhmuseum«, »Luftkurort«) kündigen in großen Lettern unser Ziel an. An die Tankstelle am Ortseingang kann ich mich erinnern. Auch an die beiden Felsen, den Mond- und den Blitzfelsen, die steil an beiden Straßenseiten emporragen, wenn man weiter hinein fährt ins Dorf. Es ist »der Felsen« von Hauenstein.

»Hier ist die Oma verunglückt«, sagt meine Mutter leise und schaut weiter starr nach vorne. Sie spricht von dem Tag, an dem die unbeschwerten Familienbesuche meiner Kindheit jäh endeten.

»Wie fühlst du dich?«, frage ich sie.

»Normal«, antwortet sie und sagt dann nichts mehr.

Als meine Mutter im Juli 1950 nach Hauenstein kam, fuhren sie gar nicht erst durch »den Felsen« weiter Richtung Dorfkern. Die beiden Busse mit den aus Bayern umgesiedelten Flüchtlingen hielten in der Siedlung davor. »Hinterm Felsen«, so nannte man damals in Hauenstein die Arbeitersiedlung vor den Toren des Dorfes, die 1936 unter Hitler errichtet worden war und fast nur aus einer langen Straße bestand. Nach dem Krieg wurden hier zusätzliche Flüchtlingshäuser gebaut, kleine, im Dach spitz zulaufende Reihenhäuser, einfach und funktional, die eierfarbenen Hauswände grob verputzt. Links neben der Haustür ein kleines Küchenfester, rechts das winzige Toilettenfenster. Hier sollten nun die Flüchtlinge untergebracht werden.

Der Bürgermeister kam damals höchstpersönlich in die Waldenburger Straße, um die neuen Dorfbewohner in Empfang zu nehmen. Als sie aus den Bussen stiegen, rief jemand aus der Gemeinde ihre Namen auf und eine Hausnummer und verteilte so die Familien auf die freien Wohnungen. Meine Mutter erinnert sich, dass sie mit einer großen Kiste in Hauenstein ankamen, die sie sich im Flüchtlingslager selbst gezimmert hatten. Als sie das Haus betraten, sah meine Mutter zum ersten Mal in ihrem Leben bewusst eine Wohnung. Nach zwei Jahren in den jugoslawischen Internierungslagern hatte sie die vergangenen drei Jahre in bayerischen Sammelunterkünften verbracht und in den Tanzsälen der Gasthäuser, die man mit Stockbetten vollgestopft und umfunktioniert hatte – ähnlich wie es heute bei uns mit Turnhallen geschieht.

Nun also sollten sie ihre eigenen vier Wände bekommen. Auf dem Tisch, daran erinnert sich meine Mutter ebenfalls, stand zur Begrüßung ein Teller mit pfälzischer Blut- und Leberwurst. Die Hauensteiner hatten Möbel organisiert: einen Tisch, einen Küchenschrank, einen Herd; die gespendeten Betten waren frisch bezogen. Zwei kleine Zimmer und eine Küche – dies war fortan ihr Zuhause.

Inzwischen war auch der Bruder meiner Großmutter dazugestoßen, er war damals Ende zwanzig, also wohnten sie fortan zu fünft: das kleinere Zimmer für meinen Großonkel, und meine Großmutter schlief mit den Kindern in einem Bett im anderen Zimmer. Meine Urgroßmutter schlief in der Küche.

Vom Flur führte eine Treppe in den ersten Stock, dort war Frau Jost mit ihren vier Kindern untergekommen. Mit ihr mussten sie sich die Toilette auf dem Treppenabsatz teilen. Geheizt wurde mit Holz, gebadet wurde in einer Bütte in der Küche, man stellte zwei Stühle daneben und spannte ein Tuch darüber, für wenigstens ein bisschen Privatsphäre. Es gab keinen Kühlschrank, nur eine Treppenstufe mit einem Fach, wo es etwas kühler war. Dort stand ein Topf, in dem sie Butter und Wurst aufbewahrten.

Zehn Menschen in einem kleinen Haus. Als meine Mutter Jahre später, schon im Gymnasium, einen Aufsatz zum Thema »Unser Zimmer« schreiben sollte, ging sie zur Lehrerin und sagte: »Ich habe kein eigenes Zimmer.« »Dann schreib mir halt, wie du dir dein Zimmer vorstellst«, antwortete sie.

Hauenstein war in den Fünfzigerjahren ein stolzes Dorf. Bis Ende des 19. Jahrhunderts hatten hier vor allem Tagelöhner und Kleinbauern gelebt, die sich von der Land- und Forstwirtschaft kaum ernähren konnten. Doch dann entwickelte sich Hauenstein zu einem Zentrum der deutschen Schuhindustrie, beflügelt von den erfolgreichen Manufakturen im nahen Pirmasens. 1886 kauften die Brüder Seibel, zwei ernste Männer, der eine mit Schnurr-, der andere mit Vollbart, eine gebrauchte Stanzmaschine und begannen in einem Stall und einer Scheune ihre Schuhe aus Wolle und Segeltuch herzustellen. Die ersten Jahre waren hart, sie machten keinen Gewinn. Doch sie hatten auf das richtige Pferd gesetzt. Nur sechs Jahre später, 1892, wurden in Hauenstein die ersten Lederschuhe fabriziert. Im Jahr 1900 arbeiteten bereits 400 Menschen in den elf Fabriken. Der Boom ging immer weiter. 1913, vor Beginn des Ersten Weltkrieges, waren es 18 Fabriken, in denen 1500 Menschen Arbeit fanden. In knapp drei Jahrzehnten hatte sich Hauenstein von einem Bauerndorf in einen Industriestandort verwandelt.

Nach den beiden Weltkriegen gelang es den Hauensteinern, an die alten Erfolge anzuknüpfen und auf der Wirtschaftswunderwelle zu segeln. Immer mehr Fabriken wurden gegründet, zwischen 1950 und 1960 vervierfachte sich die Schuhindustrie im Dorf, das inzwischen vier Prozent aller Schuhe in der Bundesrepublik produzierte. 1960 stellten die Hauensteiner mehr als dreieinhalb Millionen Paar Schuhe her. Im Folgejahr arbeiteten mehr als 2700 Menschen in den inzwischen 34 Fabriken.

Es war also auch ein wohlhabendes Dorf, in dem meine Mutter im Juli 1950 aus dem Bus stieg. Doch das heißt nicht, dass Flüchtlinge generell mit offenen Armen empfangen wurden. Sie bekamen zwar materielle Hilfe, doch in den Kreis der Dorfbewohner wurden sie nie wirklich aufgenommen. Sie blieben immer Fremde.

Der mächtigste Mann im Dorf war nicht der Bürgermeister, sondern der Pfarrer. Prälat Sommer, ein kantiger Mann mit hoher Stirn, weißem Haar und zusammengekniffenem Mund, war fast siebzig Jahre alt und seit 35 Jahren Pfarrer in Hauenstein. Er hatte Generationen von Hauensteinern getauft, verheiratet und beerdigt. 1933 stellte er sich den Nazis vehement entgegen und sorgte dafür, dass Hitler im durch und durch katholischen Hauenstein bei den Reichstagswahlen das schlechteste Ergebnis in ganz Deutschland einfuhr – mehr als 92 Prozent stimmten gegen Hitler. 1936 wurde er vom Amtsgericht Pirmasens zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er am Geburtstag des »Führers« nicht geflaggt hatte. 1938 saß er kurz im Gefängnis, weil ihm vorgeworfen wurde, staatsfeindliche Literatur zu besitzen. Doch Pfarrer Sommer ließ sich nicht beirren. Der Gauleiter fürchtete den Zorn des polternden Prälaten genauso wie die Mitglieder seiner Gemeinde.

Das mit dem Zorn änderte sich auch in den Jahrzehnten danach nicht. Der Kirchendiener, ein Mann der Keller-Sepp genannt wurde, hielt für den Prälaten im Dorf die Augen offen. Wer es am Samstagabend im Tanzsaal mit dem Feiern übertrieb, wurde am Sonntagmorgen von der Kanzel herab gemaßregelt. In den Religionsstunden, die er in der Schule gab, kontrollierte der Prälat montags, wer von den Schülern sonntags in der Kirche gewesen war. Viele Hauensteiner besuchten auch während der Woche frühmorgens um sechs Uhr die Messe, bevor sie in den Schuhfabriken ihre Schicht begannen.

Keller-Sepp war indes nicht nur für den Prälaten tätig, sondern arbeitete auch für den Bürgermeister. Er lief mit der Glocke durch das Dorf, um Neuigkeiten zu verkünden. Es ist davon auszugehen, dass der Prälat auf diese Weise durchregierte in Hauenstein. Wer von den Flüchtlingen Arbeit suchte und katholisch war, wurde vom Bürgermeister zum Prälaten geschickt, der in bestem Kontakt zu den Schuhfabrikanten stand.

*

Ich streife mit meiner Mutter durch die Gassen. Sie ist jetzt 75 Jahre alt und hatte in den vergangenen Monaten schlimme Rückenschmerzen. Eine Operation sollte helfen, hat aber nicht viel gebracht, sie läuft gebückter als vorher, alles geht nicht mehr so wie früher. Als sei sie plötzlich von ihrem Alter eingeholt worden. Doch vor der Reise hat sie sich Kortison verschreiben lassen. Die Schmerzen sind fast weg – eine Überraschung, geradezu ein Aufatmen. Ihre Energie scheint zurück, sie hat, während sie mit mir unterwegs ist, wieder etwas von dieser hektischen Schnelligkeit von früher, auch jetzt, auf den sauber gekehrten Straßen ihres Heimatdorfes. Sie tastet sich nicht vor, sie sucht nicht – sie schreitet voran, gibt die Richtung vor und kennt jedes zweite Haus, die meisten aus rotem Sandstein gebaut, viele mit akkurat gepflegten Gärten. Sie kann die Namen der Familien aufzählen, die hier gewohnt haben, sie entsinnt sich der Geschäfte und Firmen, an denen sie hier damals täglich vorüberging: Das hier war früher eine Schuhfabrik, dort die Apotheke, in diesem Haus wohnte meine Schulfreundin Uta, hier war die Metzgerei, hier die Villa eines Fabrikanten; und bei Kurzwaren-Heinzel gab es das einzige Telefon der Siedlung hinterm Felsen. Sie erinnert sich an den Bäcker, der auf dem Fahrrad durchs Dorf fuhr und Brot verkaufte. Und an ihren Schulweg, zwanzig Minuten durch den Felsen bis in die Dorfmitte. Heute steht das Schulgebäude direkt neben der übertrieben großen Christkönigskirche, die auch »Hauensteins Kathedrale« genannt wird. Der Prälat persönlich hatte den pompösen Sandsteinbau in Auftrag gegeben und ihm Jahre später auch die Weihe zum liturgischen Gebrauch verliehen.

Hauenstein ist umgeben von Kiefernpflanzungen, die sich die Hänge hinaufziehen, von denen das Dorf umschlossen ist. Hier und da sieht man einen roten Felsen zwischen den schützenden Wäldern emporragen. »Ich brauche die Hügel und das Bergige«, sagt meine Mutter. »Ich könnte nicht im Flachland leben. In der Ebene fühle ich mich verloren.«

Endlich stehen wir vor dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist. Wir haben vorher angerufen, jetzt öffnet uns Frau Gläßgen strahlend die Tür. Sie hatte schon am Fenster gewartet und nach uns Ausschau gehalten. Ihr Mann sitzt auf dem Sofa, er kann kaum noch laufen, aber seine Augen hinter der Hornbrille blinzeln hellwach. Er ist 89 Jahre alt, sie wird 85. Bald feiern sie ihren 65. Hochzeitstag. Gläßgens sind alte Bekannte meiner Großmutter, sie stammen aus Hauenstein und sind 1967 oder 1968 in das Haus gezogen – genau wissen sie das selbst nicht mehr –, nachdem meine Großmutter ein eigenes gebaut hatte. Sie kannten meine Mutter schon als Kind. Mich haben sie als neugeborenen Säugling im Krankenhaus in Neustadt an der Weinstraße gesehen, erzählen sie lächelnd. In meiner Kindheit haben wir sie manchmal besucht, wenn wir in Hauenstein waren, ich kann mich an sie erinnern, aber das ist mehr als 30 Jahre her. Sie sind aufgeregt und ein bisschen stolz, dass die »Ros’marie« mit ihrem Sohn zu Besuch ist. Sie haben Kuchen gekauft.

»Ich habe mich damals mit den Flüchtlingen immer gut verstanden«, sagt Herr Gläßgen, »unsere Kinder haben zusammen Federball auf der Straße gespielt.« Wir sitzen auf schweren Sesseln am gekachelten Couchtisch. Hier hat meine Mutter mit ihrer Familie gewohnt, es sind vielleicht vierzig Quadratmeter. Statt sich erst mal in Ruhe zu unterhalten, hält sie es kaum auf dem Sofa aus, sie wirbelt in der Wohnung umher und will mir alles zeigen.

»Dürfen wir?«

»Natürlich dürft ihr, Ros’marie, schaut euch alles an. Zeig ihm alles.«

Das Fach in der Treppenstufe, das früher als Kühlschrank diente, ist noch da. Im Keller entdeckt sie die Abdrücke des Kessels. Draußen, vor dem Wohnzimmerfenster, wo die Nähmaschine ihrer Mutter stand, haben sie damals das Holz für den Ofen gehackt. Die Türen sind noch die alten, die Fenster sind neu. Hier verlief eine Wand, dort hing ein Vorhang und hier war das Bett, in dem sie und ihr Bruder zusammen mit der Mutter geschlafen haben.

Dort, wo jetzt die verglaste Schrankwand mit den Fotos der Enkel und Urenkel der Familie Gläßgen steht, war früher das Sofa, erzählt meine Mutter. Hier saßen sie abends, links und rechts die beiden Frauen und die Kinder in der Mitte. Sie lasen, hörten Radio, machten Handarbeiten.

»Was für eine Stimmung war bei euch zu Hause?«, frage ich meine Mutter. Ich kann mich an meine Großmutter nicht gut erinnern, ich war sechs Jahre alt, als sie den Unfall hatte. Aber ich weiß noch, dass sie eine ernste Frau war. Genau wie meine Urgroßmutter, die zwei Jahre später starb.

»Ja, also fröhlich waren sie eigentlich nie«, antwortet meine Mutter. »Das kann man auch nicht verlangen, glaube ich.«

Es wurde nicht viel gelacht, man war nie ausgelassen. Wie eine bleierne Schwere lag die Vergangenheit über dem Alltag. Die beiden Frauen mussten die Kinder irgendwie durchbringen. Eine Arbeit in den Schuhfabriken ergab sich nicht, aber meine Großmutter konnte gut nähen und bot im Dorf ihre Dienste an. Viele Jahre lang schneiderte sie Kinderkleidchen für eine Fabrikantenfamilie. Eine richtige Anstellung hatte sie nie. Auf dem Küchentisch lagen stets eine Bügeldecke und die Nähsachen meiner Großmutter. Nur eine Ecke ließ sie frei, dort machten meine Mutter und mein Onkel ihre Hausaufgaben. Meine Urgroßmutter kümmerte sich um den Haushalt. Es gab Gulasch, Nudelsuppe oder Pfannkuchen (die meine Mutter bis heute nur Palatschinken nennt). Montag war Waschtag, da kochten sie Krummbeeren (Kartoffeln) und Nudeln, weil es schnell gehen musste. Alle paar Tage gab es auch Fleisch. Selten kam Fisch auf den Tisch, denn Fisch waren sie von zu Hause im Banat nicht gewohnt. Zu Weihnachten ging meine Urgroßmutter in den Wald, bis zur Schneise, dort, wo die Hochspannungsleitung verläuft und die Bäume kleiner sind, und schlug eine winzige Tanne für die Wohnung – sie war vielleicht vierzig Zentimeter hoch. Der Baum stand dann auf dem Spiegeltisch und blieb dort bis zum Dreikönigstag. Einmal kam zu Weihnachten ein Paket aus Los Angeles von Verwandten, die ebenfalls aus dem Banat nach Österreich geflüchtet, dann aber, wie viele ihrer Landsleute, nach Kalifornien ausgewandert waren. Meine Mutter bekam eine gebrauchte Puppe und einen Badeanzug.

Als meine Mutter und mein Onkel ins Gymnasium kamen und dafür jeden Tag mit dem Zug nach Landau fahren mussten, fingen die Leute im Dorf an zu tuscheln: Jetzt schickt die Flüchtlingsfrau ihre Kinder auf die Schule. Soll sie sie doch in die Fabrik stecken, dann verdienen sie wenigstens etwas Geld. Doch für meine Großmutter stand fest, dass ihre Kinder etwas lernen sollten. Obwohl sie als Flüchtlingsfamilie ganz unten in der sozialen Rangordnung des Dorfes standen, fühlte meine Familie sich den anderen nicht unterlegen. Im Gegenteil. »Wie dumm die Leute hier sind«, sagte meine Urgroßmutter einmal zu meiner Mutter. »Die wissen noch nicht mal, wo Jugoslawien liegt. Das lernt man doch in der Schule.«

»Ich habe mich immer als etwas Besseres gefühlt«, erzählt mir meine Mutter, und das finde ich erstaunlich, weil sie sonst sehr bescheiden ist. »Wenn ich in der Schule aufgerufen wurde und gefragt wurde, was ist denn dein Vater, und ich sagte ›Apotheker‹, dann war das schon irgendwie beeindruckend.«

Während die beiden Frauen, denen die zur Schau gestellte Frömmigkeit vieler Leute im Dorf suspekt war, zurückgezogen lebten und vor allem Kontakt zu anderen Flüchtlingsfamilien hatten, versuchten die Kinder, sich zu integrieren. Meine Mutter wollte dazugehören, eine Sehnsucht nach Anpassung trieb sie an, sie wollte akzeptiert werden. Sie ging in die Kirche, engagierte sich in der Jugendgruppe, wurde von Freundinnen zum Geburtstag eingeladen. Mein Onkel streunte mit seiner Bande auf den Felsen umher und leistete Mutproben, in dem er über tiefe Brunnen und Felsspalten sprang. Mit Schleudern, Steinen und Speeren kämpften sie gegen andere Banden, so lange, bis einer blutete; es war ein steter Kampf der Siedlung hinterm Felsen gegen das Dorf. Auch mein Onkel fühlte sich als etwas Besseres, aber auf eine aggressivere Art als meine Mutter. Er war ein hagerer Junge, eloquent und penibel und kleidete sich anders als die anderen. Er trug gut geschnittene Hosen, die ihm seine Mutter nähte. Er war ein Außenseiter im Ort, so wie alle in seiner Familie. Aber als er zum ersten Mal Magenbluten bekam, zu Beginn des Gymnasiums, und nach Landau ins Krankenhaus musste, betete sonntags das ganze Dorf für ihn in der Kirche.

»Das mit den Flüchtlingen ist jetzt anders«, sagt Herr Gläßgen zu mir. Er ist jetzt doch aufgestanden und zeigt aus dem Küchenfenster auf ein mehrstöckiges Wohnhaus am Hang gegenüber. Ich sehe mehrere Balkone, einer hängt voller Wäsche. »Dort wohnen sie«, sagt Herr Gläßgen, »es sind viele junge Leute. Und immer brennt bis spätabends das Licht.« Er wirkt nicht empört, nur besorgt und genervt. »Sie sind sehr laut. Die Frauen tragen alle Kopftuch und sprechen kein Deutsch. Und sie sind sehr frech, das kannst du ruhig in deinem Buch schreiben.« Einmal sei jemand auf ihrem Garagendach herumgeklettert. Darin steht sein Opel Vectra. Früher hatte er einen VW-Käfer und nahm meine Großmutter oft mit ins Dorf. Und einmal klingelte es vor Kurzem um halb zehn Uhr abends, erzählt er, es war ein Flüchtling mit einem Zettel in der Hand, er wollte Hilfe.

»Ich habe nichts gegen die Leute. Aber ich will meine Ruhe haben.« Gläßgens haben sich jetzt Riegel gekauft für die Türen und Fenster.

*

»Es kam mir alles viel kleiner vor, als ich es in Erinnerung hatte«, sagt meine Mutter, nachdem wir uns von Herrn und Frau Gläßgen verabschiedet haben. Sie ist in diesem Haus erwachsen geworden, hat oben im kleinen Zimmer, nachdem Frau Jost mit ihren vier Kindern nach Kanada ausgewandert war, für ihr Abitur gelernt. Erst als meine Mutter schon studierte, baute sich meine Großmutter ein eigenes Haus, direkt gegenüber am Hang in der Bergstraße, wo heute auch das Gebäude mit den Flüchtlingen steht. Von ihren Näharbeiten hatte sie sich Ersparnisse abgerungen, in den Urlaub gefahren ist sie nie. Auch als Studentin verbrachte meine Mutter jedes Wochenende in Hauenstein. Und später, als sie dort Lehrerin wurde, wohnte sie wieder zu Hause. Sie fühlte sich ihrer Mutter und Großmutter verpflichtet. »Ich kann die Mutti nicht alleine lassen«, war ihre Überzeugung. Samstagabend gingen sie oft zu einer befreundeten Flüchtlingsfamilie, um gemeinsam fernzusehen.

Mehr noch als an die Besuche bei den Omas in Hauenstein erinnere ich mich an die Besuche an ihren Gräbern. Nach dem Tod meiner Großmutter 1981 schlief meine Urgroßmutter eine Woche lang auf unserer Couch in Trier, ihre langen Haare hatte sie immer zum Knoten geflochten. Danach kam sie in ein Seniorenheim in Kandel in der Pfalz, wo ihr Bruder noch lebte. Dort starb sie auf den Tag genau zwei Jahre nach ihrer Tochter. Sie wurden nebeneinander in Hauenstein begraben, ihr Grab mit einer Marmorplatte versiegelt. Alle paar Monate fuhren meine Eltern nach Hauenstein und stellten Blumen auf.