Muttersuchen - Eva Christina Zeller - E-Book

Muttersuchen E-Book

Eva-Christina Zeller

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Beschreibung

Muttersuchen, ein Roman. Und doch mehr als ein Roman.Eine Recherche in Gegenwart und Vergangenheit über drei Generationen und Orte hinweg: Großvater, Mutter, Tochter. Da ist der Großvater in der Nacht der Geburt seiner Tochter. Da ist seine Tochter, die 16 Jahre später nach Bosnien reist. Da ist schließlich die Erzählerin, die ihrer Mutter viele Jahre später folgt. Zellers vielstimmige Recherche ist ein Familienroman, ein Reiseroman, ein Erinnerungsroman. Ein Buch zum Staunen, eine literarische Überraschung. Und eine großartige »Lebenserzählerin«, die manche an Annie Ernaux denken lässt.

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Seitenzahl: 166

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Eva Christina Zeller, in Ulm geboren, schreibt Lyrik, Prosa, Theaterstücke. Lebt in Tübingen, unweit des Hölderlinturms. Sie erhielt für ihr literarisches Schreiben mehrere Auszeichnungen, u. a. den Thaddäus-Troll-Preis, den Preis der Akademie Schloss Solitude, den Preis der Akademie für Gesprochenes Wort, dazu zahlreiche Auslandsstipendien. Sie ist Mitglied im Deutschen PEN.

Zuletzt erschien in der KrönerEditionKlöpfer: Unterm Teppich, Roman in 61 Bildern, 2022.

eva-christina-zeller.de

EVA CHRISTINA ZELLER

MUTTERSUCHEN

ROMAN EINER RECHERCHE

KRÖNER EDITION KLÖPFER

Eva Christina Zeller

Muttersuchen

Roman einer Recherche

1. Auflage

in der KrönerEditionKlöpfer

Stuttgart, Kröner 2024

ISBN DRUCK: 978-3-520-76403-4

ISBN DRUCK: 978-3-520-76493-5

Verlag und Autorin danken dem Förderverein Schwäbischer Dialekt e.V. für die Unterstützung und dem Förderkreis der Schriftsteller:innen in Baden-Württemberg für ein Stipendium.

Umschlaggestaltung Denis Krnjaic´

unter Verwendung von Christian Krohg: Håret flettes, 1888

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2024 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

Wenn wir über die Mutter sprechen, dann oszillieren wir zeitlich vor- und rückwärts. Ich vermisse meine Mutter. Ich bin eine Mutter. Ich suche nach einer Mutter.

LOUISE BOURGEOIS

Mehr als von allem anderen bin ich vielleicht von meinen Eltern weggelaufen und lief ihnen doch hinterher.

BARBARA HONIGMANN

Dieses Buch ist ein Zopf. Ein alter Zopf, der aus einer stickigen Schublade befreit wurde, um neu geflochten und gezopft zu werden. In ihm werden drei Stimmen verschränkt. Drei Texte aus drei Generationen. Großvater, Mutter, Enkelin. Sie wollen wissen, wer sie sind, und wagen sich ins Fremde vor. Sie reisen nach Bosnien oder Amerika. Sie suchen eine Aufgabe im Leben.

Die Texte wurden einmal wirklich geschrieben, dennoch sind sie fiktiv, weil sie mehr Literatur sind als Tatsachenbericht. Alle drei lassen wichtige Dinge weg, und der jeweilige Zopfstrang ist geglättet, wurde mehrfach gebürstet. So oft gebürstet, bis die Haare glänzten. 50 Striche, hieß es zu Mutters Zeiten.

Alle drei haben eine Mission. Großvater schreibt während des Zweiten Weltkriegs auf dem Truppenübungsplatz in Münsingen seine Erinnerungen an die Hausgenossinnen und die Geburt seiner Tochter auf. Es treibt mich dazu, die freien Stunden nicht zu verträumen und aus der Vergangenheit Kraft und Ziel für die gewiß schwere Zukunft zu schöpfen, denen nach mir Wegweisung zu geben und sich ihrer Ahnen bewußt zu werden. Welche Mission meine Mutter vielleicht hatte, versucht diese Spurensuche zu ergründen.

Über mich würde ich sagen, ich bin neugierig. Ich will meine Mutter kennenlernen, die als 16-Jährige nach Bosnien zu den »Kolonisten« fuhr, um dort zu helfen. Als ich mit 16 in die USA reiste, um dort ein Jahr zu leben, wusste ich nicht, dass meine Mutter in ihrer Jugend auch mutig gewesen war und sogar über ihre Reise geschrieben hatte. Großvater, Mutter, Enkelin: Alle drei schreiben über abenteuerliche Reisen, aber veröffentlichen nicht oder ungern oder, wie ich, erst spät im Leben. Ich wollte mich aus der Tradition lösen und Fremdes erleben, und bei genauem Hinschauen bin ich Teil eines Geflechts. Eines Zopfes, der auseinandergerupft wird, um neu geflochten zu werden.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

WIE ES ANFING

INGE FÄHRT NACH OSTEN

EVA FÄHRT NACH WESTEN

DANK

WIE ES ANFING

Meine Mutter war meine Mutter. Dass sie eine Frau war, deren Leben mich interessieren könnte, dämmerte mir erst, als ich in ihrem Nachlass ihren Reisebericht fand, der im Jahr 1937 veröffentlicht wurde. Inge fährt nach Osten. Sie schrieb diesen mit 16 Jahren, als sie als Freiwillige nach Schutzberg in Bosnien fuhr, um dort bei den deutschen Kolonisten in einem Kindergarten zu arbeiten. Plötzlich begegnete ich einem jungen Mädchen, das ich nicht gekannt hatte, deren Erlebnisse mich aber sofort faszinierten. Ihre Sprache so lebendig, so bunt, so lebenshungrig. Diese Frau, diese meine Mutter, kannte ich nicht. Ich fuhr mit diesem Bericht im Koffer ihr hinterher. Sie zu suchen. Dieses Buch ist ein Versuch, ihr mithilfe mehrerer Stimmen zu begegnen.

Ich erinnere mich nicht daran, wie ich in ihrem Bauch in dem schönen W-Ort Gebärmutter heranwuchs. On revient toujours à ses premières amours. Ich habe mich lange gewehrt. Bin in der Ambivalenz ihr gegenüber hin und her geschwankt auf unruhigem Meer. Als ich selber Mutter wurde, habe ich Abbitte geleistet. Jetzt werde ich Großmutter und merke, ich kannte sie doch gar nicht.

Die Muttersuche muss mit einer Geburt beginnen. Der Geburt der Mutter in einer Bahnhofswirtschaft in einem kleinen Dorf auf der Schwäbischen Alb. Die hat mein Großvater, um den es später nochmal gehen wird, wenn ich auf seinen Spuren nach Banja Luka reise, aufgezeichnet. Diese Geschichte ist Literatur, Familienliteratur, geworden.

Als Inge geboren wurde: 22.8.1919

Wie es um uns stand, das konnten die Hausemer ohne besonderen Scharfsinn schon beim Aufzug im Juli 1919 feststellen. Daß wir nicht zu den »Plutokraten« gehörten, zeigte ihnen der Inhalt unseres Möbelwagens. Mit Befriedigung wurde festgestellt, daß das Mariele, die Tochter des Kirchenpflegers, zum mindesten ein schöneres Buffet habe als die neue Frau Pfarrer; unseres war nämlich alt von Mutter Martha aus elterlichem Besitz ererbt. Auch sonst war fast aller Hausrat ererbt und ehrwürdig und erregte demnach keinesfalls den Neid der besitzlosen Klasse – die Hausemer fühlten sich mit uns verbunden. Ohne Zweifel das interessanteste Stück unseres Hausrats wurde als erstes aus dem dunklen Möbelwagenbauch herausgeholt und dadurch besonders beachtet, es stand bis zum Schluß des Ausladens im Hof zur Schau und bot sich als Wert- und Wortobjekt dar, es war ein Kinderwagen. Kein neuzeitlicher, tiefgelagerter, stromlinienförmiger Kinderwagen, sondern ein wohlerhaltener, hochbeiniger, altväterlicher Wagen mit Wachstuchverdeck, Cabrioletform, der Fond aufgehängt in Lederriemen und großen Eisenfedern – also einmal vornehm und heute noch gediegen.

So stand es also um die neue ›Pfarrere‹, ein Kinderwagen war da, aber kein Kind. Brauchte es da den gerühmten Hausemer Scharfsinn, der das Gras wachsen sah und hörte, brauchte es da das sogenannte Fingerspitzengefühl für kommende Ereignisse, die sich am Pfarrfrauenhorizont abzeichneten? Oh nein, schon die Kinder merkten es: »Guck aa, dui Pfarrere wird bigosch a Kind kriega!« Und die Hausemer waren auch dessen zufrieden.

Wenn sie aber am Abend des Einzugtages – es hatte in Strömen fast ununterbrochen geregnet – das Häuflein Elend gesehen hätten, das heulend im Pfarrhaus mit seinem Chaos von Möbelstücken saß, dann hätten sie gewiß Mitleid gehabt und gesagt: »No net heula, so schlemm wirds net Frau Pfarr, mia lebat au ohne elektrisch Licht, ohne Wasserleitong, ohne Metzg und Beck – ond Kender krieget mer au, wenn mer au d’Hebamm en Mägerkenga hole muaß!«

Das war unser Einzug, einen Monat vor der Geburt unseres ersten Kindes. Als nun die Zeit erfüllet war – eigentlich war sie schon übererfüllt – fuhren wir am 21. August der Stadt mit dem höchsten Kirchturm der Welt zu. Denn dort sollte nach dem Wunsch der Mutter – der Vater hat hier nur ja zu sagen – das Kindlein geboren werden. Ein großer Reisekorb war mit der Gesamtaussteuer für einen neuen Erdenbürger vorausgeschickt worden. Ich glaube, es war nichts Notwendiges vergessen, sogar die Möglichkeit eines Buben war berücksichtigt, den sich natürlich der Vater wünschte, die Mutter wollte ein Mädchen – sie hat wie immer recht behalten. Zwillinge waren nicht in Rechnung genommen, der kluge Onkel Walter hatte seine Diagnose gestellt, er hatte zwar auch gemeint, esreiche mit der Abreise nach Ulm am 21. August noch, aber da hat er daneben diagnostiziert, mit den nicht zu erwartenden Zwillingen sollte er richtig geraten haben.

Besuche waren kurz vor der Abreise auch noch eingetroffen, sie nehmen bekanntlich auf solche Familiennöte nicht immer Rücksicht, jedenfalls waren wir einen Tag später dran als beabsichtigt. Das sollte sich bitter rächen. Denn ich hatte den Spruch meines letzten Kommandeurs im Weltkrieg in den Wind geschlagen: »Herr Leutnant, es pressiert nie im Leben, außer wenn man die Hebamme braucht.« Er mußte es wissen, denn er hatte fünf Kinder.

Ich höre die Stimme meiner Mutter. Damals, als sie mir den Text vorlas. Damals, vor langer Zeit, als sie mir diesen Text, in Sütterlin verfasst, diktiert hatte, damit ich ihn in eine Schreibmaschine tippen konnte. Die Stimme meines Großvaters, die ich nur als Kleinkind kannte, an die ich mich nicht erinnere, wird von der Stimme meiner Mutter überlagert. Wenn ich heute diesen Text in einen PC tippe, dann höre ich sie, deren Stimme nicht auf Band gebannt ist, die ich nur inwendig höre. Mit ihrer Stimme lösen sich die Jahre und Jahrzehnte auf, die zwischen ihrer Geburt vor über 100 Jahren, dem Aufschreiben meines Großvaters vor fast 90 Jahren und dem Diktieren meiner Mutter vor 40 Jahren liegen.

Wie schrieb Gustav Landauer: »Wir wissen von der Vergangenheit nur unsere Vergangenheit; wir verstehen von dem Gewesenen nur, was uns heute etwas angeht; wir verstehen das Gewesene nur so, wie wir sind; wir verstehen es als unseren Weg.«

Gestern hat mir eine Freundin aus Inge fährt nach Osten vorgelesen. Den Schluss. Aufgrund dieses Schlusses verschwieg mir meine Mutter dieses Büchlein. Ich hörte in der Stimme meiner Freundin die Stimme meiner Mutter, wie sie Sätze zum Singen brachte. Das rührte mich mehr als meine eigene Reise nach Bosnien. Mehr als das Gefühl, dort zu stehen, wo meine Mutter mit einer Kindergärtnerin zusammen 100 Bauernkinder gehütet hatte. Als ich an diesem Ort, dem Zwinglihaus, stand, wo jetzt ein Parkplatz ist und ein Denkmal für die Gefallenen des letzten Krieges. Meine Mutter hat mit 16 Jahren, im gleichen Alter wie ich, als ich in die USA reiste, diesen Reisebericht verfasst:

Nach einer Stunde hatte ich im D-Zug meine nächste Nachbarin, die ich allerdings vorher nur vom Sehen her kannte, getroffen. Sie hatte sich als stellvertretende Oberin in der einzigen Diakonissenanstalt Jugoslawiens betätigt. Es gab ein frohes Begrüßen und Erzählen. Unsere Arbeit und unser Erleben waren verschieden gewesen. Aber EINES haben wir gemeinsam erfahren dürfen: die starke Liebe der Auslandsdeutschen. Sie haben uns gastfreundlich aufgenommen, auf dem wohlhabenden Gutshof der Batschka wie in der dürftigen Bauernhütte Bosniens, in der aufstrebenden Großstadt wie in der entlegenen Siedlung. Diese Liebe ist uns ebenso eindrücklich geworden, wenn die Sprache auf Deutschland und seinen Führer kam.

Über diesen Führer nichts. Jetzt nichts. Jetzt noch nichts.

Die Gastfreundschaft habe ich in Bosnien auch genossen. Aber es war nicht die Gastfreundschaft der Auslandsdeutschen, sondern der Menschen, die jetzt dort in Schutzberg wohnen. Das es nicht mehr gibt oder das jetzt Glogovac heißt. Bosnier, Serben, Polen, Muslime leben dort. Slibowitz musste ich trinken, schon in der Frühe, Kaffee, dicken, türkischen Kaffee, und zum Abschied bekam ich selbstgestrickte Hausschuhe geschenkt. Weil die Serben vor Ostern fasteten, musste ich Schokolade essen und bekam sie für meine Weiterreise eingepackt. Sie kam von Rittersport aus Deutschland. Jemand hatte sie von dort mitgebracht. Die Deutsche isst in Schutzberg/ Glogovac deutsche Schokolade und lernt üppige Gastfreundschaft kennen. Diese ist so reich wie der Kaffee, so wärmend wie die Hausschuhe und das Feuer im Herd. Draußen wachsen Osterglocken und die sprießenden Weinstöcke pflanzten die Schwaben, wie sie hier genannt wurden, vor über 100 Jahren. Das letzte Schwabenhaus nebenan ist eine Ruine, aus deren eingefallenem Dach eine Birke und Birkenschösslinge wachsen.

Aber zurück zu Großvater. Mutter muss erst geboren werden.

Mit einem Tag Verspätung fuhren wir also in Mägerkingen mittags ab und hofften, noch nach Ulm zu kommen. Es gingen damals nur zwei Züge auf der idyllischen hohenzollerischen Landesbahn – es war Inflation, Streik und damit böse Zeit.

Wir waren mit leichtem Gepäck ausgezogen: die künftige Mutter mit einem zierlichen Handtäschchen, Inhalt: ein Taschentuch. Der künftige Vater mit seiner Aktentasche, Inhalt: Vesperbröter und Waschzeug. Viel mehr haben wohl Maria und Josef auch nicht gehabt, in ihrer Art und Zeit. Wir hatten allerdings das beruhigende Gefühl des vorausgeschickten Erstlingsausstattungskorbs. Er war in Mägerkingen richtig abgegangen. Als wir nach gemütlicher Fahrt über das bekannte Hasental und Großengstingen in Kleinengstingen ankamen, begannen meine Ängste. Mir wurde heiß und kalt zugleich: es ging an diesem Tag kein Zug mehr nach Ulm, nur noch nach Münsingen. Und letzteren Ort kannte ich von drei Kriegsjahren auf dem Truppenübungsplatz zu gut, als daß er mich angelockt hätte. So schien mir ›Festhalten der gewonnenen Stellung‹ in Kleinengstingen sicherer als ein nächtlicher Vorstoß nach Münsingen.

Zu dem Zeitpunkt, da diese Geschichte spielt, lag der Erste Weltkrieg gerade hinter ihm. Er war seit Kurzem Pfarrer in einem kleinen Dorf ohne Strom und fließend Wasser. Sein Vikariat hatte er vor dem Ersten Weltkrieg in Banja Luka gemacht, bei den deutschen Kolonisten, wo es auch keinen Luxus gab. Er hatte sogar damit geliebäugelt, den Waffenrock gar nicht mehr auszuziehen:

Du bist nun beinahe fünf Jahre Soldat gewesen, in einer ganz anderen Welt heimisch geworden, so daß du manchmal damit geliebäugelt hast, den Soldatenrock nicht mehr auszuziehen. Immerhin hast du dich seiner Zeit gewehrt, deinen Kirchenrockder Braut zu überlassen, damit sie sich daraus für sich ein Kleid schneidern lasse. Also sahst du doch noch eine Verpflichtung zum eigentlichen Beruf in dir und vor dir. Nun wirst du ein miles Christi und tust militia Christi, gehorsam deinem Gelöbnis. Aber du bist zu lange von diesem Dienst ferngewesen, als daß du allem sofort und recht gewachsen wärest. Also bewirb dich um eine Pfarrstelle, wo du fertig wirst, und dein eigener Herr bist.

Das war auf der Schwäbischen Alb. Wo die Sage geht, dass dort ein dreiviertel Jahr Winter herrscht und es den Rest der Zeit kalt ist. Großvater klagt nicht. Er war ein glücklicher Dorfpfarrer.

Also Entschluß: wir übernachten in Engstingen und fahren mit dem ersten Zug am anderen Morgen weiter. Der Bahnhof steht auf einsamer Flur, ebenso einsam einige hundert Meter entfernt die Bahnhofwirtschaft, sie gehört zur Gemeinde Großengstingen. Ihr steuerten wir zu, sie empfahl sich uns durch das Wirtshausschild, auf dem auch ein Fischer als Besitzer verzeichnet stand. Die Aufnahme dort war freundlich, ein Übernachten möglich, Gastzimmer in einem besseren Gaststübchen, mitgenommene kariert überzogene Betten – für einen Feldsoldaten ein nobles Quartier, für eine Martha geborene Schlör ein Armeleuteunterschlupf. Wir aßen etwas zu Nacht, Eintrag ins Gästebuch war nicht nötig, also inkognito gewahrt. Wohl merkten wir, daß die natürlich neugierige Wirtsfrau zu gerne herausgebracht hätte, wer und woher wir sind. Sie konnte uns anscheinend in keine Kategorie ihrer Stamm- und Laufgästeunterbringen. Metzger und Wirt schien ich nicht zu sein, dazu war ich zu ›schnädrig‹, also vielleicht ein Steueraufseher, aber wozu die Frau? Sie war kein Meerrettichweible vom Bayrischen, keine Samenhändlerin von Gönningen, keine Reisende auf Hamsterei, zu all dem fehlten die Taschen, Körbe und Koffer. Also die Neugier der Wirtin wurde zunächst nicht gestillt und wir verzogen uns still nach oben mit der Bitte uns zeitig zum ersten Zug zu wecken. Es sollte von ganz anderer Seite das Wecken besorgt werden!

In dieser Nacht wurde meine Mutter in der Bahnhofswirtschaft geboren. Für die Familienannalen eine memorable und fast biblische Geschichte. Ich will die Lebensgeschichte meiner Mutter erzählen, nicht die ganze, aber eine, die ich noch nicht kenne, und diese Geschichte adelt sie von Beginn an. Als Schneewittchen habe ich sie im Wochenbett gesehen, mit langen, dunklen Haaren und dem Glanz und den Tränen der Wöchnerin. So stelle ich mir das im Nachhinein vor. Später, nach meiner Geburt, wurden ihre Haare grau. Ich habe ihr nicht gutgetan und wurde ihr nicht gerecht. Aber so weit sind wir noch nicht, erst muss Großvater eine Hebamme holen.

Die Nacht war dunkel, ein anhaltender Regen klatschte auf die Ziegel über unserem Haupt. Mitten in finsterer Nacht erwachte ich an einem verhaltenen Stöhnen, der Bettrost krachte dazu. »Du Vater – bis jetzt bin ich das noch nicht gewesen – ich glaube, es geht los!« Die meinerseits über nunmehriges Losgehen geäußerten Zweifel, ob es auch ernst sei, ob manes nicht noch bis Ulm abwarten könne, wurden durch den klaren Bittbefehl abgeschlossen: »Du mußt die Hebamme holen.« Aber wo? In dieser Regen- und Sturmnacht zur mitternächtlichen Stunde? Es half kein Wunder, ich sah mich vor die harte Notwendigkeit gestellt, Vaterpflichten zu erfüllen. Also heraus und in die Kleider! Wo soll ich mich erkundigen? Alles mäuschenstill im Haus, nur irgendwo ein Schnarchen, also menschliche Nähe. Ich taste mich im Gang bei mattem Kerzenschein an eine Türe. Gottlob, da drin schnarcht es. Also Mut! Ich klopfe sanft, das Schnarchen tönt weiter. Ich klopfe stärker, das Schnarchen verstummt, ein Etwas wirft sich herum. Aber noch kein menschlicher Widerhall. Ich klopfe noch stärker. »Zum Kuckuck, was isch denn los, s’isch doch noch nicht Zeit.« Es war für mich jedenfalls schon Zeit, also kenne ich kein Erbarmen.

Für meinen Großvater war es nicht einfach, in dieser Nacht loszuziehen. Es war sein erstes Kind. Er kam aus kleinbürgerlichem Haus und war der erste Sohn, der studierte und Pfarrer werden wollte. Da lernte er als junger Vikar in Banja Luka, in Bosnien, Martha Schlör kennen. Sie arbeitete dort als freiwillige Sekretärin für den Pfarrer, seinen Chef. Sie war ausgebildete Religionslehrerin, schön und aus einem bürgerlichen Haus. Den Hüten nach zu urteilen, vielleicht sogar aus einem fast großbürgerlichen Haus. Ihr Vater hatte eine Druckerei und sie waren die Ersten, die damals einen Aufzug und eine Rotationsmaschine besaßen. Martha war einige Jahre älter als er. Sie verliebten sich ineinander. Das stelle ich mir vor. Das stattliche Pfarrhaus an der Herrenstraße in Banja Luka wurde als Geschäftshaus im klassizistischen Stil gebaut. Die evangelischen Kolonisten hatten kaum Geld. So konnten sie in der unteren Etage Gottesdienst feiern und der Vikar konnte dort wohnen, während oben die Räume an einen Anwalt vermietet wurden. Auf einem Foto aus dem Jahr 1913 sehe ich ihn stehen, von der Seite, ein stattlicher Mann mit Schnurrbart und Brille, der sich geradehält, der weiß, wer er ist. Er trägt einen Dreiteiler, Schlips und seine Uhrenkette lugt hervor. Martha, waren sie da schon ein Paar?, sitzt hinter einem Tisch, der aussieht wie ein Altar, gerade, schön und fast unnahbar. Da entdecke ich, dass er ein Papier in Händen hält und im Lichtstrahl eine Schreibmaschine sichtbar wird, hinter der Martha sitzt. Vielleicht diktiert er ihr seine Predigt oder eine Ansprache.

Mein Großvater Immanuel Fischer als Vikar mit der Gemeindehelferin Martha Schlör, seiner späteren Frau, in Banja Luka 1913

Waren sie schon in ihren Rollen gefangen? Welche waren das? Er Vikar, sie Gemeindehelferin? Sie sitzt, er steht. Sie blickt konzentriert auf ihre Arbeit, er schaut auf das Papier, das er in Händen hält. Ahnten sie damals schon, dass sie ein Paar waren oder werden wollten? Dass sie noch fünf Jahre, die meisten davon Kriegsjahre, warten mussten, bis sie heiraten konnten, bis sie ein Kind zeugen konnten, das in einer Regennacht in einem Wirtshaus zur Welt kommen würde?

Banja Luka gehörte zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Gegenüber dem Pfarrhaus befand sich die Synagoge, unweit die katholische Kirche und die serbisch-orthodoxe Kirche. Man pflegte Umgang, es gab nicht viele evangelische Christen in Bosnien. Er musste die verstreuten Gemeinden versorgen und dort Religionsunterricht erteilen. Er war ständig mit Pferd, Kutsche und Wagen Hunderte von Kilometern unterwegs. Die Bauern, die er unterrichtete, mussten hart auf dem Feld arbeiten, er musste Grundlagen legen, ihnen Bildung bringen. Er gab Konfirmandenunterricht und schlief in armen Behausungen. Er war Pfarrer in der Diaspora. Er blieb zwei Jahre. Martha verließ Banja Luka nach nur wenigen Monaten.

Im Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen finde ich einen Arbeitsbericht des Gemeindepfarrers aus dem Jahr 1913:

Da die Bewältigung all dieser und mancher anderer Arbeit, auch für Pfarrer und Vikar zu viel wurde, habe ich nun privatim noch eine Sekretärin angestellt. Mehrere Monate war Fräulein Martha Schlör aus Eßlingen, die bei einem Stuttgarter Vortrag Lust zur Mitarbeit bekommen hatte, in dieser Stellung tätig. Sie hat sich ohne jegliches Entgeld zur Verfügung gestellt. Leider konnte sie das hiesige Klima nicht vertragen und mußte im November wieder in ihre Heimat zurückkehren.

Das Klima nicht vertragen? Das Klima ist dort wie zuhause. Was hat sie nicht vertragen? War sie verliebt und Großvater war nicht standesgemäß? Einige Jahre jünger? In Ausbildung? Gab es andere Aspiranten daheim? Schwanger wird sie nicht gewesen sein, ein heutiger Gedanke.