Unterm Teppich - Eva Christina Zeller - E-Book

Unterm Teppich E-Book

Eva-Christina Zeller

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Beschreibung

Unterm Teppich? Das sind unerhörte, ironische, auf den Punkt gebrachte, peinlich-schamlose Schlüssellochgeschichten, die so noch nie erzählt wurden. Gleichsam Blitzlichter aus den Hinterzimmern des Bewusstseins mit Langzeitwirkung und ohne Verfallsdatum. Da geht es um Identität und Intimität, um Übergriffe, um Tod und Erinnerung. Alle diese Geschichten hängen zusammen, haben einen bestimmten Dreh, berühren Grenzen und werfen Licht auf Scham und Tabu. Eva Christina Zeller erzählt bewegend und mitreißend die Lebensgeschichten eines weiblichen Ichs von der Kindheit bis ins mittlere Frauenalter, Miniaturen eines coming of age. Zusammengehalten werden diese Geschichten eben durch dieses Ich, das versucht, seine Fluchten und Vertreibungen aus der Welt der Familie und der Beziehungen zu verstehen – und humorvoll, mit Esprit zu bewältigen.

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Seitenzahl: 157

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Eva Christina Zeller schreibt Lyrik, Prosa und Theaterstücke und lebt in Tübingen, direkt am Neckar, unweit des Hölderlinturmes. Für ihr literarisches Schreiben erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Thaddäus-Troll-Preis, den Preis der Akademie Schloß Solitude und das Venedig-Stipendium des Kulturstaatsministeriums. Aufenthaltsstipendien führten sie nach Irland, auf eine Insel im Åland-Archipel, nach Farö, Gotland, an den Genfer See, Venedig. Ganz aktuell wurde sie Preisträgerin des Literaturwettbewerbs »Wächst das Rettende auch?« der Akademie für gesprochenes Wort.

Seit 20 Jahren, seit ihrem gerühmten Lyrikband Stiftsgarten, Tübingen erschienen beinahe alle ihre Gedichtbände in verlegerischer Zusammenarbeit mit Hubert Klöpfer, zuletzt 2020: Proviant von einer unbewohnten Insel. Sie ist Mitglied im deutschen PEN.

EVA CHRISTINA ZELLER

UNTERM TEPPICH

ROMAN IN 61 BILDERN

Eva Christina Zeller

Unterm Teppich

Roman in 61 Bildern

1. Auflage

in der Edition Klöpfer

Stuttgart, Kröner 2022

ISBN DRUCK: 978-3-520-76401-0

ISBN E-BOOK: 978-3-520-76491-1

Verlag und Autorin danken dem Dahme Institut Berlin für die freundliche Unterstützung.

Umschlaggestaltung Denis Krnjaić

unter Verwendung eines Fotos von Dil, Leicester

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2022 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

Die Scham ist die letzte Wahrheit

ANNIE ERNAUX

Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen, wie es war.

EUGEN RUGE

Die Verfolgung

– 1 –

Ich habe mich am 20. 10. 2007 verfolgt. Aber da ich wusste, dass ich es bin, bin ich mir nur gefolgt. Was ich sah, hat mir nicht gefallen. Ich saß mit rundem Rücken auf einem Fahrrad. Ich sah gleich, dass heute nicht mein Tag ist. Ein Tag ohne Disziplin. Ich sah dem Rücken an, dass ich mich mit meinem Geliebten gestritten hatte. Dass der Geliebte sich nicht für mich entscheiden würde. Dass er sich niemals für mich entscheiden würde. Dass dies zu einer Trennung führen sollte. Dass ich mich von meinem Geliebten trennen sollte. Dass ich dies aber nicht könnte. Dass über dem Nichtvermögen der Rücken rund wurde. Ich sah den Rücken und überholte mich. So eine Person kann man nur hinter sich lassen.

Der Führerschein

– 2 –

Meine Mutter wollte 1959 mit vierundvierzig Jahren ihren Führerschein machen. Ihre sechs Kinder waren aus dem Gröbsten heraus. Da bemerkte sie, dass sie schwanger war. Ob sie an Abtreibung dachte, weiß ich nicht. Mein Vater sagte beschwichtigend: »Wir dachten nicht daran.« Ich wollte nicht schuld daran sein, dass meine Mutter keinen Führerschein machen kann. Denn Führerschein war damals eine Metapher. Sie hätte meinen Vater verlassen können, zumindest für einige Stunden. Sie hätte aus dem Raum mit meinem Vater treten können, sie hätte nur ins Auto steigen müssen.

Ich beschloss, nicht auf die Welt zu kommen. Schon bei der Wahl meiner Eltern waren Ambivalenzen vorausgegangen. Ich wollte mein Leben nicht mit Schuld beginnen. Die Geburt war ein Kampf. Ich sah aus wie ein Frauengesicht von Picasso, völlig verschoben. Hässlich. »Das wird noch«, sagte mein Vater. Er war stolz. Ich war sein letzter Einsatz. Er war Offizier gewesen. Meine Mutter hat nie einen Führerschein gemacht. Die Ambivalenz ist meiner Mutter und mir geblieben. Der Kampf ging weiter. Und die Schuld. Vertreibungen wurden mein Thema.

Das Töpfchen

– 3 –

Als ich zwei Jahre alt war, saß ich auf dem Töpfchen mitten im Wohnzimmer. Das Töpfchen stand auf dem roten Orientteppich. Meine sechs Brüder standen im Kreis um mich herum, kommentierten, lachten und erzählten sich Witze. Der Teppich war eine Bühne. Ich durfte erst aufstehen, wenn ich das »Rolle« gemacht hatte. Ich konnte nicht aufstehen, weil ich untenherum nackt war. Ich versuchte davonzufliegen, aber ich kannte die Geschichte vom kleinen Muck noch nicht.

Ich suchte die Welt ab nach einem Feigenblatt, um meine Blöße zu bedecken. Aber Feigenblätter rollen sich ein, trocknen und zerbröseln. Ihr Schutz hält nur wenige Tage.

Ich habe das Kind schweren Herzens in den Wald gebracht. Dort steht ein kleines Haus. Über dem Eingang hängt ein Schild: Hier wohnt ein jeder frei. Und ein Feigenbaum breitet seine Äste über das Haus. Das Kind hat es gut dort, und allein kann ich mich in der Welt besser verstecken.

Der Besen

– 4 –

Als ich fünf war, zog ich mich untenrum aus, legte mich über einen Stuhl und schlug mich mit meinem Kinderbesen. Er hatte einen roten Stiel und die Form eines Hexenbesens mit einer Rute. Es fiel mir schwer, mich richtig zu treffen, weil ich mit dem linken Arm nicht richtig ausholen konnte und sich rechts die Lehne des Stuhls befand. Der Stuhl stand mitten in meinem Kinderzimmer. Ich versuchte den Stuhl zu drehen, aber das Schlagen auf meinen nackten Po wurde durch die Lehne erschwert. Plötzlich kam einer meiner Brüder ins Zimmer, sah mich und schloss gleich wieder die Tür. Jahre später war ich mir nicht mehr sicher, was er wirklich gesehen hatte. Ich traute meiner Erinnerung nicht. Aber ich war mir sicher, dass er mich für verrückt hielt. Ich bemerkte, dass er heimlich meinen Schreibtisch durchwühlte. Ich schrieb Tagebuchaufzeichnungen über Brüder, die ihre Schwester missbrauchen, und ließ sie unter meinen Papierstapeln verschwinden. Einmal stand folgender Satz unter dem Text: Das war Niemand.

Fliegender Teppich

– 5 –

Der rote Teppich war die Mutter. Auf ihm konnte das Kind einschlafen wie in Abrahams Schoß oder wie unter den Posaunen von Jauchzet Frohlocket. Der Teppich erzählt eine Geschichte. Das Kind fährt sie mit den Fingern ab, seine Finger haben kleine Räder und parken in der Badstraße, der Straßburgerstraße oder der Unterländerstraße. Die Tauben auf der großen Kiefer im Garten gurren, wenn es über sie hinwegfliegt.

Die Erinnerung ist ein Geisterfahrer

– 6 –

Es könnte einen Zusammenstoß geben. Das Licht blendet, ich versuche ihm auszuweichen.

Die dunkle Kellertreppe gibt es nur noch in meinen Träumen. Dort, auf dieser Treppe, die in den Keller hinunterführte, in die Waschküche und noch einen Stock tiefer in den Luftschutzkeller, habe ich an einem Abend meine Angst überwunden und die Tür zum Garten mit dem großen Schlüssel geöffnet, der immer von innen steckte. Das Quietschen der Tür hat das Ohr behalten. Ich schlüpfte in den Garten, bekleidet mit einer roten Hose aus Trevira mit schwarzem Hahnentrittmuster. Ich war an diesem Abend in meinem Gitterbett aufgewacht und fand mich allein in dem großen Haus wieder. Keine Eltern, keine Brüder.

Das Kind steigt über das Geländer seines Gitterbetts, es ist noch klein, es geht noch in den Kindergarten, und schlüpft in die Trevirahose. Sie liegt auf dem Stuhl davor. Das Kind sieht sich zu, wie es in die Hose steigt. Hatten sich seine Eltern verlaufen? Wie Hänsel und Gretel im Wald? Das Kind muss seine Eltern suchen, es hat sie schon lange nicht mehr gesehen. Das Kind kennt die Uhr noch nicht und kennt sich in den Märchen besser aus als im Leben der Eltern. Das Kind öffnet die schwere Tür und geht in den Garten. Die Haustüre war abgeschlossen. Vom Garten aus gibt es einen Weg am Haus entlang auf die Straße. Dort säumen Bäume die Hauptverkehrsstraße, und die Lampen, die quer über der Straße schaukeln, verbreiten ein gelbes, schattenbewegtes Licht. An der Straßenbahnhaltestelle bleibt das Kind stehen. Sie könnten dort stehen wie Hänsel und Gretel im Wald. Es schaut sich alle Menschen genau an. Da ist eine Frau, die das Kind anspricht. Sie sieht nett aus. Was es denn suche? Seine Eltern seien schon lange nicht mehr zuhause gewesen. Das Kind hat Pantoffeln an den Füßen, gelbbraune Opapantoffeln, die bis zu den Knöcheln reichen.

Die Pantoffeln können eine falsche Erinnerung sein, eine false memory. Experimente haben bewiesen, dass wir die Lücken im Gedächtnis mit Bildern und Märchen schließen. Die Erinnerung ist der beste Schriftsteller.

Die Frau will dem Kind helfen. Ältere Frauen kennen sich aus. Sie sind keine Hexen, sie sind kundig. Das Kind zeigt der Frau den Weg zum Haus und durch den Garten in den Keller und durch das Treppenhaus mit dem geschwungenen Geländer, das vom Rutschen des Kindes blankpoliert ist, bis in die Studierstube des Vaters. Dort steht im Erker ein Telefon. Die alte Frau ruft einen Kollegen des Vaters an, dessen Telefonnummer an die Wand gepinnt ist. Die Frau muss die Straßenbahn in den Wald nehmen. Der Mann, der Kollege des Vaters, kommt zur Tür herein und er und das Kind spielen Menschärgere-dich-nicht. Später kommen die Eltern, das Spiel ist noch nicht zu Ende. Es ist ihnen peinlich. Dem Kind dann auch.

Auch dies kann eine falsche Erinnerung sein, wer kennt die richtige Erinnerung? Sie ist im Irrgarten der Synapsen verschwunden. Das Kind hat aus dem Wald der Straße wieder hinausgefunden.

Das Kind, das Mädchen, wird das schwindelerregende Licht, das die Straßenlampen warfen, die quer über die Fahrbahn gespannt waren und mit den Blättern tanzten, nicht vergessen. Dieses Licht ist ein Foto, das sie später immer abrufen kann. Die schwankenden Lampen, die auch die feuchten Straßenbahnschienen der Hauptstraße zum Glänzen brachten, beleuchten ein Gefühl in ihr, dem sie später auf Bildern von Edward Hopper wiederbegegnete. Das Licht trennt sie von Vater und Mutter und verbindet sie mit der Frau, die sie einmal sein würde. Die ergründen will, warum das verlassene Mädchen, das nun Gretel hieß und keinen Hänsel kannte, der es an der Hand nahm, und das der Hexe noch nicht begegnet ist, aber Vater und Mutter verlassen musste, warum dieses Mädchen in dieser Nacht die Erregung, die eine Straße mit glänzenden Straßenbahnschienen in ihr auslöste, behielt, ebenso wie die Scham. Die Scham, dass sie ihre Eltern bloßgestellt hatte, weil herauskam, dass sie das Kind alleine gelassen hatten, und das Kind sich auf den Weg in den Wald machen musste, um sie zu suchen. Das Kind steht heute noch an der Straßenbahnhaltestelle und wundert sich über die Schönheit der Spiegelungen des Lichts auf dem Asphalt und wartet auf jemanden.

Ein anderes Bild: Ein Männlein steht im Walde, ganz still und stumm. So sieht sie später das Kind an der Straßenbahnhaltestelle stehen. Sie hatte sich eingereiht in die Wartenden. Bis die Frau sie ansprach. Diese Szene hat sie nie vergessen und die Peinlichkeit Tage später, als sie mit ihren Eltern die Frau besuchen musste, die sie damals mitgenommen hatte. Der dunkle Flur in der Wohnung der Frau ist ihr geblieben und die Schwäche, mit der sie dastand. Seither will sie dem stummen Kind, dem Männlein, das im Wald der Unterländerstraße steht, zu Worten verhelfen.

Gruft oder Kluft

– 7 –

Das Kind lebt in Gesangbuchversen. Die Sprache ist ein Urlaubsort, den es ganz für sich allein hat. Dort gelten merkwürdige Gesetze und alles bewegt sich, die Blumen sind lebendig.

»Narcissus und die Tulipan, die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide.« Die Tulipan ziehen sich an, ob es ihnen Spaß macht oder nicht, es ist sicherlich schwer, die Blütenblätter über die dünnen Blumenstengel zu ziehen. Das Kind muss über seine spirreligen Beine auch Strumpfhosen ziehen, die nicht anliegen mögen, sie knirschen beim Hochrollen, sie kratzen und vielleicht mögen sie auch lieber an einem anderen Ort Kinderbeine wärmen, wenn sie überhaupt für Kinderbeine geschaffen sind, vielleicht eher für Pflanzen oder Bäume. Auch Salomonis Seide zieht sich an, dabei ist Seide doch ein Stoff. Wie kann er sich anziehen? Aber auch der Stoff lebt und muss sich erst fertig weben. Es ist wie im Schlaraffenland, wo jedes Tier seine Bestimmung und Aufgabe hat. Das Kind hat auch eine Aufgabe, es muss mit weißen Strumpfhosen, die kratzen und komische Geräusche von sich geben, auf der harten, dunklen Kirchenbank zwischen Vater und Mutter sitzen, die es umgeben wie die Wände eines Gefängnisses. Wehe, wenn die Knie wieder ins Schlaraffenland zurückkehren oder dort Station machen und zu wippen beginnen oder davonfliegen wie die gebratenen Tauben. Denen muss es heiß sein, dass sie so schnell fliegen. Den Knien ist es eng, sie bekommen kaum Luft, die Knie wollen aus den Mauern entkommen, zwischen die es geraten ist. Warum kann es nicht fliegen wie das Täublein, das aus seiner Gruft fliegt? Das Kind weiß, was eine Gruft ist, aber nicht was eine Kluft ist. »Das Täublein fleucht aus seiner Kluft und macht sich in die Wälder«. Wie man sich in die Wälder macht, weiß das Kind nicht, aber es hört sich schön an und es möchte sich auch in die Wälder machen. Es macht ein »Rolle«, aber das kann nicht gemeint sein, es macht Purzelbäume und Unfug und jetzt macht es bald in die Wälder. Dort muss es Angst haben so ohne Vater und Mutter und ohne das Täublein, aber es wird dort beschützt werden von den Worten, die es umflattern werden, sie werden heranschwirren und sich auf die Äste setzen, es wird sie auswendiglernen und immer inwendig hören.

Der Eingriff

– 8 –

Einmal stand ihr Vater in seinem schimmernden, gestreiften Schlafanzug über ihr und schlug mit dem Handtuch auf sie ein. Sie lag auf dem Boden. Sie sah die Haare, die dunklen, die aus dem Eingriff herauslugten, und das Tier, das hinter dem Eingriff lauerte und kurz vor dem Aufwachen war. Sie muss ihren Vater sehr genervt haben, er schlug sonst nicht zu. Und sie hat sich dieses Bild so oft hervorgeholt und die Seite schnell zu den schönen, gestellten Familienfotos umgeblättert, dass sie mittlerweile davon ausgehen muss, dass sie das alles erfunden habe. Das Handtuch, das Mädchen auf dem Boden, der alte Vater breitbeinig und schlagend über ihm. Es darf nicht sein, nicht dieser schwache, liebe Vater. Das Bedeutsame an diesem Bild, das merkwürdig eingefroren in ihrem Gedächtnis sitzt, ist der Eingriff in der Schlafanzughose und was sich dahinter befindet. Welche Geschichte ist das? Was ihr dazu einfällt, meidet die Worte.

Beziehungserfahrungen

– 9 –

Als Kind versuchte sie mit den Tieren zu sprechen. Das konnte schon Franziskus. Aber die Schildkröte Kleopatra, der sie ein rotes Herz mit Nagellack auf den Rücken malte und der sie versprach, ihr ein bisschen Freiheit zu schenken, lief langsam davon. Das rote Herz war nirgends mehr zu finden.

Dann kam die kleine Katze. Sie verzog sich unter den Bücherschrank oder kletterte auf einen hohen Baum. Sie wollte dem Kind nicht zuhören. Sie entwischte auf die Straße und ließ sich überfahren.

Sie versuchte es mit dem Vogel. Als die Erde bebte, war sie allein zuhause. Vielleicht waren ihre Eltern auch in ihren Studierzimmern und arbeiteten. Mit Philipp in seinem Vogelkäfig verzog sie sich in den kleinsten Raum der weitläufigen Wohnung, in das Bad. Sie saß auf dem Klo und sprach mit Philipp, der aufgeregt in seinem Bauer herumhüpfte. Sie wollte mit ihm überleben. Als das Erdbeben vorbei war, ging sie mit ihm in den Garten. Hieß es nicht, wir könnten zusammen Pferde stehlen? Wir können zusammen das Erdbeben meistern und dann eine Runde drehen und fliegen. Aber Philipp verstand das anders oder er hörte nicht zu. Sie öffnete seinen Käfig, er flog davon.

Märchen

– 10 –

Er hatte Leichen, Hochzeiten, Jahrestage, jemand wurde siebzig oder achtzig Jahr, er rannte von Termin zu Termin. Ich wuchs unter einer Kanzel auf bei den Spinnweben. Die Frauen vom Frauenkreis strickten mir winzige Sparstrümpfe für die Pfennige, die mir der Mesner sonntags nach dem Gottesdienst zuwarf, wenn er den Opferstock leerte. Ich lernte Haushalten unter der Kanzel, über mir hörte ich die scharrenden Füße meines Vaters, seine Worte verstand ich nicht. Auf dem Friedhof lernte ich Lesen, den Namen der Großmutter auf dem Grabstein, den Namen des Großvaters, fast das gesamte Alphabet. Das Märchen vom Aschenputtel war mir das liebste, aber Mutters Schuhe waren alle zu groß und Asche gab es unter der Kanzel auch nicht, nur Spinnweben und Dreck.

Werktags lief ich hinter ihm her und wenn er Konfirmandenunterricht hielt, saß ich unter dem Tisch und kaute Kaugummis, die verschwitzte Hände vor langer Zeit unter die Tischkante geklebt hatten.

Die Frauen vom Frauenkreis brachten mir Weihnachtsgutsle und tupften mir mit lavendelgetränkten Taschentüchern die Nase, damit ich gut roch. Die Kirchenlieder liebte ich, und wenn ich auch keine Wiesen kannte und Wälder, so doch »Geh aus mein Herz und suche Freud in dieser schönen Sommerszeit« und »das Täublein fleucht aus seiner Kluft und macht sich in die Wälder«, ich sah das alles in meiner Kammer unter der Kanzel, im Lavendelduft, und blickte auf den roten Sparstrumpf, die Spinnen wollten nicht hinein, aber die Pfennige. Ich sparte für ein paar Schuhe, die mir nicht zu groß wären, und Bücher. Mein Vater meinte, die Bibel und Märchen, das sei schon genug, nur nicht blaustrümpfig werden.

»Er macht sich ein schönes Leben« war das Schlimmste, was man über jemanden sagen konnte, es war das Einzige, was ich sonntags verstand. Mühe und Arbeit und siebzig oder achtzig Jahr, ich versuchte mir ja kein schönes Leben zu machen und schlug mich mit dem Besen, der der Putzfrau entzweigegangen war, aber das brachte nur merkwürdige Gefühle. Ich wollte es Jesus gleichtun, der einsam und schmerzverzerrt am Kreuz hing. Eines Tages tropfte Blut aus mir heraus, wie aus dem Lämmlein in den goldenen Abendmahlsbecher auf dem Bild, aber ich war kein Lämmlein und den goldenen Abendmahlsbecher hätte ich nicht angefasst, ich war noch nicht konfirmiert. Ich bekam’s mit der Angst und hätte mich am liebsten zu Jesus ans Kreuz gehängt, aber sein Blut aus der seitlichen Lanzenwunde war schon längst nicht mehr rot, war weiß und rein. Mein Vater sagte, das sind die Tage, und in einem Lied tauchten auch die Tage auf, da sollte man aber Danke sagen. Er schickte mich zu den Frauen des Frauenkreises, aber die stickten an einem Mann mit Goldhelm. Als ich sagte, ich habe die Tage, nickten sie nur und seufzten. Den roten Sparstrumpf fest in der Hand, einen ausgelutschten Konfirmandenkaugummi zwischen den Zähnen verließ ich den halbfertigen Mann mit Goldhelm. Die Schuhe der Mutter waren über Nacht zu klein, aber mir tropfte Blut in die Schuh. Ich betrat eine Straßenbahn, zahlte mit vielen Pfennigen und verschwand.

Beten

– 11 –