My Killer Vacation - Tessa Bailey - E-Book

My Killer Vacation E-Book

Tessa Bailey

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Es sollte ein erholsamer Urlaub im süßen, sonnigen Cape Cod werden – nur Taylor Bassey und ihr geliebter Bruder –, aber eine Leiche in ihrem gemieteten Haus bringt ihre Pläne durcheinander. Jetzt haben sie einen unhöflichen, groben Kopfgeldjäger am Hals, der auf seinem Motorrad angefahren gekommen ist, um den Mörder zu fassen, und sich weigert, zu glauben, dass Taylor dabei hilfreich sein kann. Myles Sumner ist nur da, um einen Job zu erledigen, nicht um eine Amateurdetektivin zu babysitten. Sie ist stur, lenkt ihn ab und kann sich nicht aus der Schusslinie halten. Aber sie ist auch mutig und wunderschön und erinnert ihn an zu Hause. Mit anderen Worten: Der unstillbare Hunger und der Beschützerinstinkt, den sie in ihm weckt, sind eine Bedrohung für seinen Seelenfrieden. Bevor Myles noch tiefer in diese gefährliche Anziehungskraft gezogen werden kann, muss er den Mord aufklären und sich wieder auf den Weg machen. Nur gibt es jetzt zwei Bedrohungen – und die größte betrifft sein Herz.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tessa Bailey

 

 

 

My Killer Vacation

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Übersetzt von Patricia Buchwald

 

My Killer Vacation

 

 

Copyright der deutschen Ausgabe. © 2025 VAJONA Verlag GmbH

MY KILLER VACATION copyright © 2022 by Tessa Bailey

All rights reserved

 

 

 

Übersetzung: Patricia Buchwald

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

»My Killer Vacation«.

Vermittelt durch die Agentur:

 

Agence Hoffman GmbH, Hohenstaufenstraße 1, 80801 Munich, Germany

 

Korrektorat: Anne Masur

Umschlaggestaltung: Diana Gus

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

An alle Leute, die mich in der Vergangenheit als geizig bezeichnet haben …

Was denkt ihr jetzt, ihr Idioten?

Nur durch jahrelanges Sparen und Rationieren konnte ich mir dieses wirklich luxuriöse Strandhaus für sechs Tage leisten – und das mit dem Grundgehalt einer Grundschullehrerin. Das strahlend weiße Juwel mit den funkelnden Fenstern liegt direkt an der Küste von Cape Cod, hat eine umlaufende Veranda und einen Fußweg, der direkt zu einem halbprivaten Strand führt. Meine Zehen wackeln schon voller Vorfreude darauf, sich im Sand zu vergraben, während die Sonne Neuenglands meine fast schon durchscheinend weiße Haut bräunt, doch am allerwichtigsten ist, dass mein kleiner Bruder einen Tapetenwechsel bekommt, um sich von seinem Liebeskummer zu erholen.

Mit dem Koffer in der einen und dem Hausschlüssel in der anderen Hand, den ich sofort ins Schloss stecke, schaue ich über meine Schulter, um zu sehen, wie das Leben in Judes jungenhaftes Gesicht zurückkehrt. »Verdammt, Taylor. Ich schätze, es hat sich gelohnt, deine Servietten immer in zwei Stücke zu zerreißen.«

»Keiner braucht eine komplette Serviette, wenn er sorgfältig genug isst«, singe ich fröhlich zurück.

»Hier wird nicht gestritten. Nicht, wenn du uns diese Aussicht beschert hast.« Jude rückt das Surfbrett unter seinem Arm zurecht. »Das Haus gehört also jemandem und er vermietet es? Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand nicht das ganze Jahr über hier leben will.«

»Du wärst überrascht. Die meisten Häuser in dieser Straße sind Mietshäuser.« Ich nicke zu einem fast identischen Haus auf der anderen Seite der schmalen Straße mit geschindelter Fassade und lilafarbenen Hortensien, die im Vorgarten in alle Richtungen blühen. »Das habe ich mir auch angesehen, aber es hatte keine Badewanne mit Löwenfüßen.«

»Gott«, sagt er sarkastisch. »Dann wären wir ja praktisch auf dem Campingplatz.«

Ich strecke ihm über die Schulter die Zunge raus, bleibe vor dem Eingang stehen, stecke den Schlüssel ins Schloss und drehe ihn mit steigender Vorfreude. »Ich möchte einfach, dass alles perfekt ist. Du hast dir einen schönen Urlaub verdient, Jude.«

»Was ist mit dir, T?«, fragt mein Bruder.

Aber ich öffne schon die Tür und oh. Oh ja. Es ist alles, was der Besitzer online versprochen hat, und noch mehr. Panoramafenster mit Blick auf den stürmischen Atlantik, ein Hang mit Seegras und Wildblumen, der zum saphirblauen Ozean hinunterfällt. Hohe Balkendecken, ein Kamin, der sich auf Knopfdruck einschalten lässt, große, einladende Sofas und eine geschmackvolle Einrichtung im maritimen Stil. Es liegt sogar ein Hauch von etwas in der Luft … ein Duft, den ich nicht genau zuordnen kann, aber er hat es in sich. Und das Beste ist, dass das Meer ein sanftes Hintergrundgeräusch zu sein scheint, das man überall im Haus hören kann.

»Du hast mir nicht geantwortet«, sagt Jude gedehnt, lehnt sein Brett gegen die Wand und zwickt mich in die Seite. »Glaubst du nicht, dass du nichtauch einen schönen Urlaub verdienst? Ein Jahr lang Unterricht mit Kindern, die heimlich Minecraft gespielt haben? Und dann gleich wieder ein Jahr lang eine neue Klasse auf Vordermann bringen, denen du den Stoff von zwei Jahren beibringen musst? An diesem Punkt darfst du eine Weltreise machen.«

Ich glaube, ich habe mir diesen Urlaub wirklich verdient. Ich werde mich amüsieren, aber ich konzentriere mich lieber darauf, dass Jude eine gute Zeit hat. Schließlich ist er mein kleiner Bruder, und es ist meine Aufgabe, mich um ihn zu kümmern. Das ist schon so, seit wir Kinder waren. »Ich habe vergessen zu fragen, ob du in letzter Zeit etwas von Mom oder Dad gehört hast?« Bei dieser Frage halte ich immer den Atem an. »Sie waren in Bolivien, als ich das letzte Mal mit ihnen gesprochen habe.«

»Da sind sie immer noch, glaube ich. Es drohen Aufstände und sie räumen das Nationalmuseum, nur für den Fall.«

Unsere Eltern hatten beim Karrieretag immer den seltsamsten Job. Offiziell sind sie Archäologen, aber dieser Titel ist viel langweiliger als ihre eigentliche Aufgabe, die darin besteht, im Auftrag ausländischer Regierungen Kunstwerke in Zeiten von Aufständen zu schützen und zu erhalten, wenn unbezahlbare Schätze zerstört werden könnten. Beim Karrieretag sagte ein Kind in der ersten Reihe unweigerlich: »Ihr seid ja wie Indiana Jones«, und meine Eltern – die darauf vorbereitet waren – brüllten: »Schlangen! Warum ausgerechnet müssen es Schlangen sein?« Perfekt synchronisiert.

Sie sind so faszinierende Menschen.

Ich kenne sie nur nicht besonders gut.

Aber sie haben mir den größten Schatz meines Lebens geschenkt, und er streckt sich gerade auf dem nächstgelegenen Möbelstück aus, so wie er es immer tut, wo er sich in Flanell und Birkenstocks mühelos einlebt. »Du nimmst das größere Zimmer, okay?«, gähnt er und fährt sich mit seinen sonnengebräunten Fingern durch das struppige dunkelblonde Haar. Als ich zu widersprechen beginne, zeigt er auf seinen Mund und macht eine verschließende Bewegung, um zu zeigen, dass ich den Mund halten soll. »Das steht nicht zur Debatte. Ich könnte es mir nicht einmal leisten, mich an dieser Unterkunft zu beteiligen. Du bekommst das Hauptschlafzimmer.«

»Aber nach der Sache mit Bartholomäus …«

Ein Schatten huscht über sein Gesicht. »Es geht mir gut. Du musst dir nicht so viele Sorgen um mich machen.«

»Wer sagt das?«, schnaube ich und schiebe meinen Koffer in Richtung Küche. Ernsthaft, was ist das für ein Geruch? Es riecht so, als ob … erst kürzlich ein großes Essen in der Küche zubereitet wurde und der Knoblauch und die Gewürze noch in der Luft hängen. »Du machst dein Nickerchen –«

Ich lache leise, als sein Schnarchen mich unterbricht. Mein Bruder könnte während eines Fluges auf dem Flügel einer 747 einschlafen. Ich hingegen muss ein ganz bestimmtes nächtliches Ritual aus Dehnübungen, Peeling und präzisem Platzieren des Kissens durchführen, um mickrige vier Stunden zu ergattern. Vielleicht werden mich die Wellen in den Schlaf wiegen, während ich hier bin. Das kann man nur hoffen.

Mit einem hoffnungsvollen Seufzen und einem Anspannen der Schultern verstaue ich den Griff meines Rollkoffers und hebe ihn an meine Brust, während mich meine nützlichen, flachen Lehrerschuhe die Treppe hochtragen. Die Löwenfuß-Badewanne ruft meinen Namen, seit ich sie online gesehen habe, im Hintergrund in einem der Bilder. Sie war nicht einzeln abgebildet gewesen, wie es sich gehört hätte. In meiner Wohnung in Hartford, Connecticut, gibt es nur eine Duschkabine, doch ich träume von Badewannen. Einige der Accounts, denen ich auf Instagram folge, sind luxuriösen Baderitualen gewidmet, darunter Menschen, die ganze Mahlzeiten essen, während sie in heißes Wasser und Blasen getaucht sind. Spaghetti und Fleischbällchen, mitten im Schaum. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es mit dem Baden jemals so weit bringen werde, aber ich respektiere ihre Begeisterung.

Das Hauptschlafzimmer ist groß und einladend und wieder einmal in einem nautischen Stil eingerichtet, der aus cremefarbenen, weißen und hellblauen Tönen besteht. Obwohl es sonnig war, als wir ankamen, ziehen gerade Wolken vor die Sonne und verdunkeln die Wände. Ruhig. Es ist so still. Das Bett lädt mich zu einem Nickerchen ein, aber nur ein Hurricane könnte mich davon abhalten, das Bad zu nehmen, von dem ich schon seit Wochen träume.

Als ich das Badezimmer betrete, versuche ich gar nicht erst, meinen Schrei zu unterdrücken, als ich die Badewanne am Ende des Raumes entdecke, hinter der ein bodentiefes Panoramafenster aufragt. Ich lasse meinen Koffer vor der Tür stehen und ziehe meine Schuhe aus, während es mir vor Aufregung im Nacken kribbelt … obwohl, dieser stechende Geruch ist doch auch hier oben? Ist das nicht merkwürdig? Vielleicht hat der Vormieter seine Mahlzeiten in der Badewanne zu sich genommen und sie aus Versehen verschimmeln lassen?

Hmm. Der Rest des Hauses ist tadellos. Das lässt sich also nicht wirklich nachvollziehen.

Irgendwo in der Wand muss eine tote Maus oder Ratte sein, aber ich lasse mir davon nicht die gute Laune verderben. Ich werde einfach den Besitzer anrufen und ihn bitten, einen Schädlingsbekämpfer zu schicken. Ein kleiner Wermutstropfen auf dem Radar des Urlaubs, der im Handumdrehen beseitigt sein wird. Jude wird nicht einmal von seinem Nickerchen aufwachen müssen.

Die Löwenfuß-Badewanne winkt mir von der anderen Seite des Badezimmers aus zu und ich höre bereits das weiße Rauschen des laufenden Wassers. Ich kann schon den Dampf vor mir sehen, der die Fensterscheibe beschlägt. Vielleicht schaffe ich es, ein kurzes Bad zu nehmen, bevor ich den Besitzer wegen des Geruchs anrufe?

Versuchsweise schließe ich die Badezimmertür und der Gestank wird deutlich gedämpft.

Es ist Badezeit.

Auf dem Weg zur Badewanne mache ich einen kleinen Tanz, drehe den Warmwasserhahn mit Schwung auf und blicke seufzend über den spärlich bevölkerten Strand. Wahrscheinlich sind alle zu Hause und erholen sich vom gestrigen vierten Juli. Die Mietpreise waren dieses Jahr deutlich billiger, und da mein beliebter Bruder an dem langen Wochenende sowieso mehrere Grillpartys besucht hatte, war die Anreise am fünften – einem Dienstag – für uns beide angenehmer.

Als die Wanne halb voll ist, kehre ich kurz ins Schlafzimmer zurück, wo ich meine Kleidung ausziehe und sie ordentlich auf dem Bett falte, um sie in den Koffer zu legen, sobald ich offiziell ausgepackt habe. Mit angehaltenem Atem gegen den Geruch will ich ins Bad zurückkehren, als mir etwas Wichtiges einfällt. Ich habe diese Unterkunft auf StayInn.com gefunden, und ganz oben auf der Mieter-Checkliste stand: Vergewissere dich bei deiner Ankunft, dass der Feuer- und Kohlenmonoxid-Alarm funktioniert.

»Ich mache es besser, bevor ich es vergesse …«, murmle ich und werfe einen Blick an die Decke, obwohl die Detektoren wahrscheinlich draußen im Flur –

Zwei kleine Löcher.

In der Zierleiste befinden sich zwei kleine Löcher.

Nein. Nein, auf keinen Fall. Das muss ich mir einbilden.

Gänsehaut bildet sich auf meiner nackten Haut und ich verschränke die Arme vor der Brust. Der Puls in meinen Schläfen beginnt zu pochen und ich zittere. Das ist eine konditionierte Reaktion auf die Überraschung, das ist alles. Ich bin sicher, dass es nur die Stelle ist, an der die Nägel in die Leiste geschlagen wurden. Das sind bestimmt keine Spionlöcher. Verdammt, ich wusste doch, dass ich in meine True-Crime-Podcasts zu tief eingetaucht bin. Jetzt geht es um Leben und Tod. Der Beginn eines grausamen Mordes, von dem die Strafverfolgungsbehörden unweigerlich sagen werden, dass es der schlimmste ist, den sie in ihrer zwanzigjährigen Karriere gesehen haben.

Das ist nicht das, was hier passiert. Dies ist keine neue Folge von Etched in Bone.

Keith Morrison von Dateline berichtet nicht über diese kleine Panikattacke.

Das ist mein einfaches, langweiliges Leben. Ich bin nur ein Mädchen auf der Mission, ein Bad zu nehmen.

Ich drehe mich im Kreis und suche die Decke nach weiteren Löchern dieser Größe ab – ohne Erfolg. Verdammt! Natürlich befinden sich diese beiden Löcher auf der Seite des Zimmers, die zur Mitte des Hauses zeigt. Auf der anderen Seite könnte es einen Dachboden oder einen Schrank geben. Bitte lass deine Fantasie nur Überstunden machen.

Trotzdem werde ich mich jetzt nicht mehr entspannen können, also schließe ich den Wasserhahn mit Bedauern, wickle ein Handtuch um meinen nackten Körper und gehe zurück in den Raum unter den Löchern. Ich habe natürlich schon von solchen Dingen gehört. Voyeurismus. Das hat jeder. Aber das ist nicht die Art von Problem, die man in einem Haus am Strand erwartet, das mich einen Monatslohn gekostet hat. Das können keine Spionlöcher sein. Unmöglich. Das ist nur ein Fehler im Holz. Sobald ich das bestätige, stecke ich bis zum Hals im heißen Wasser und dieser perfekte Urlaub kann beginnen.

Bevor ich mir erlauben kann, Angst zu bekommen, wage ich mich in den Flur vor dem Schlafzimmer und öffne die Tür zum angrenzenden begehbaren Kleiderschrank. Als ich keinen Stalker sehe, atme ich erleichtert aus. Obwohl … es gibt auch keine Löcher. Nicht in der unmittelbaren Umgebung des Raumes. Aber es gibt eine abnehmbare Holzverkleidung an der gemeinsamen Wand. Ein Hohlraum?

Mein Körper kribbelt.

War das Haus schon so still und dunkel, als wir ankamen? Ich höre nicht einmal mehr Jude schnarchen. Nur das entfernte Tröpfeln des Wasserhahns in der Badewanne. Tropf. Tropf. Und das Geräusch meines Atems, der sich jetzt beschleunigt. »Jude?«, rufe ich und meine Stimme klingt zu laut in der absoluten Stille. »Jude?«, rufe ich noch lauter.

Einige Sekunden vergehen. Kein Ton.

Dann kommen Schritte die Treppe hoch. Warum ist mein Mund so trocken? Das ist doch nur mein Bruder. Aber als ich mit dem Rücken gegen die Wand stoße, merke ich, dass ich dort kauere und mein Kampf-oder-Flucht-Instinkt mich darauf vorbereitet, ins Schlafzimmer zu rennen und die Tür abzuschließen. Falls was? Falls jemand anderes als mein Bruder die Treppe hochkommt? In was für einem Horrorfilm lebe ich gerade? Beruhige dich.

Meine Eltern infiltrieren Aufstände, um Kunstwerke zu retten, um die Geschichte zu bewahren. Offensichtlich ist ihre Tapferkeit keine erbliche Eigenschaft. Zwei kleine Löcher in der Zierleiste lassen mein Herz höher schlagen.

Sogar noch mehr als der erste Tag des Einzelunterrichts mit einer Meute von Zweitklässlern, die ein Jahr lang in einem kleinen Raum eingepfercht waren und sich kaum bewegen konnten.

Könntest du noch mitleiderregender sein, Taylor?

Wenn ich einen Beweis dafür bräuchte, dass mein Leben mit sechsundzwanzig Jahren zu sicher und vorhersehbar ist, dann wäre es dieser. Nur eine unvorhersehbare Sache und mein routiniertes Ich ist bereit, sich selbst zu zerstören.

Ich lasse mich gegen die Wand sinken, als Judes gähnendes Gesicht in Sicht kommt. »Was ist los?«

Ich reiße mich zusammen und gestikuliere flüchtig in den Schrank. »Wahrscheinlich bin ich verrückt, aber da sind zwei Löcher an der Decke des Schlafzimmers. Und ich glaube, sie gehören zu dem Hohlraum da oben?«

Jude ist jetzt hellwach. »Wie Spionlöcher?«

»Ja?« Ich zucke zusammen. »Oder bilde ich mir das nur ein?«

»Besser auf Nummer sicher gehen«, murmelt er und geht an mir vorbei in das Schlafzimmer. Die Hände in die Hüfte gestemmt, betrachtet er die Löcher für einen langen Moment, bevor er mir in die Augen schaut. Und dann läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Sein Blick ist misstrauisch. Nicht neckisch, wie ich es mir erhofft hatte. »Was zum Teufel?«

»Okay.« Ich stoße einen etwas unsicheren Atemzug aus. »Du lachst nicht und weist nicht auf einen Fehler in der Konstruktion hin, wie ich gehofft hatte.«

»Nein, aber lass uns kurz nachdenken, T. Wenn das Spionlöcher sind, ist jetzt niemand da, der spannen könnte.« Er geht zurück in den Flur und stellt sich neben mich. Wir starren beide auf den Hohlraum. »Aber keiner von uns wird sich entspannen, bis wir uns sicher sind, richtig?«

Ich stöhne auf und die Vorstellung von meinem Bad löst sich auf wie Rauchschwaden. »Sollen wir die Polizei rufen?«

Er denkt über meine völlig irrationale Frage nach. Denkt wirklich darüber nach und streicht sich über sein Kinn. Das ist einer der Gründe, warum ich Jude so sehr liebe. Da wir Geschwister sind, haben wir uns im Laufe der Jahre natürlich oft gestritten und angeschrien, aber er steht hinter mir. Darauf kann ich mich verlassen. Er beschuldigt mich nicht, verrückt zu sein. Er nimmt mich ernst. Die Dinge, die mir wichtig sind, sind ihm genauso wichtig, und ich werde immer alles tun, was ich kann, um ihm das Leben leichter zu machen, so wie er es für mich getan hat, als unsere Eltern nahezu ständig weg waren.

»Ich glaube, ich mache das Panel ab und sehe mir das mal an«, sagt Jude schließlich.

»Das gefällt mir nicht.« Jude mag jetzt über einen Meter achtzig groß sein, ein erwachsener dreiundzwanzigjähriger Mann, aber er wird immer mein kleiner Bruder sein – und bei dem Gedanken, dass er sich vor meinen Augen mit einem möglichen Spanner anlegt, wird mir schlecht. »Wir sollten zumindest eine Waffe griffbereit haben.«

»Muss ich dich daran erinnern, dass ich sechs Monate lang Jiu-Jitsu trainiert habe?«

»Muss ich dich daran erinnern, dass du nur so lange durchgehalten hast, weil du darauf gewartet hast, dass die Trainerin mit ihrem Freund Schluss macht?«

»Die Beziehung stand eindeutig auf der Kippe.«

»Ich bin sicher, deine Grübchen haben dazu beigetragen, dass es schneller zu Ende ging.«

»Du hast recht.« Er schenkt mir ein absichtlich gruseliges Lächeln. »Sie sind die wahre Waffe.«

Ich schüttle den Kopf über ihn, aber zum Glück lässt das Zittern nach.

»In Ordnung.« Er klatscht in die Hände. »Lass uns schnell nachsehen und beten, dass wir nicht ein Glas mit Fingernägeln oder so einen Scheiß finden.«

»Oder eine GoPro«, murmle ich und lehne mich gegen die Wand, um mein Gesicht mit meinen Händen zu bedecken. Ich beobachte durch den Spalt meiner Finger, wie Jude in den Schrank schlüpft, nach oben greift und das Panel beiseiteschiebt, um einen kleinen Raum freizugeben. Sehr klein. Sofort strömt Tageslicht durch die beiden Löcher und es ist unmöglich, die Tatsache zu ignorieren, dass sie genau so einen Abstand haben, wie ein durchschnittliches Paar Augen und dass sie direkt ins Schlafzimmer führen. Spionlöcher. Hundertprozentig. »O Gott. Igitt. Ist da oben irgendetwas … oder irgendjemand?«

Jude greift nach der Kante des Hohlraums und zieht sich schnell hoch. »Nope. Nichts.« Er landet wieder auf seinen Füßen. »Man muss schon winzig sein, um da hochzukommen. Oder sehr beweglich. Wenn mich mein Spürsinn nicht im Stich lässt, ist der Spanner also ein Turner.«

»Oder eine kleine Frau?« Wir tauschen einen skeptischen Blick aus. »Ja, das passt nicht wirklich in das Profil eines Spanners, oder?« Ich ziehe mein Handtuch unter den Achseln fester zu. »Und was machen wir jetzt?«

»Schick mir die Kontaktdaten des Besitzers. Ich rufe ihn an.«

»Oh. Nein, ich mache das. Ich möchte nicht, dass dein Urlaub dadurch gestört wird. Geh und mach dein Nickerchen.«

Er ist bereits auf dem Weg zurück zur Treppe. »Schick mir die Info, T.«

Aus irgendeinem Grund will ich immer noch nicht allein mit den Spionlöchern sein, also eile ich in meinem Handtuch hinter meinem Bruder her. »Gut.« Ich kaue auf meiner Lippe. »Ich glaube, ich schaue in der Waschküche nach einem Tritthocker und etwas Gaffa Tape, um die Löcher zu verdecken.«

Er zwinkert mir zu. »Für den Fall, dass der Spanner ein Geist ist?«

»Oh, sicher. Jetzt ist es noch lustig, aber sobald es dunkel wird, wird ein Stalkergespenst zu einer völlig realistischen Möglichkeit.«

»Nimm das andere Zimmer, wenn du willst. Ich habe nichts dagegen, von Casper ausspioniert zu werden.«

Ich lache, als wir unten an der Treppe ankommen und beide in die Küche gehen, wo sich die Tür zur Waschküche befindet. »Das würde dir bestimmt gefallen«, sage ich.

»Hast du wieder mein Tagebuch gelesen?«

Als ich die Tür zum Waschraum öffne, lache ich so sehr mit meinem Bruder, dass ich erst nicht glauben kann, was ich sehe. Es muss ein Scherz sein. Oder ein Fernsehbildschirm, auf dem eine grausame Nachstellung aus einer Netflix-Dokumentation über wahre Verbrechen läuft. Es kann nicht sein, dass ein großer, toter Mann zwischen der Waschmaschine und dem Trockner eingeklemmt ist, das Gesicht violett von blauen Flecken, die Augen glasig und blind. Und in der Mitte seiner Stirn ist ein sauberes, schwarz umrandetes Einschussloch. Das kann einfach nicht wahr sein. Aber die Galle, die mir die Kehle hochsteigt, ist echt. Genauso wie die Kälte, die mich von Kopf bis Fuß lähmt und mir den Schrei in der Kehle gefrieren lässt. Nein. Nein, nein, nein.

»Taylor?« Jude kommt auf mich zu und klingt besorgt.

Instinktiv versuche ich, ihn wegzuschieben. Mein kleiner Bruder sollte so etwas nicht sehen. Ich muss ihm das ersparen. Leider lassen sich meine Hände nicht bewegen, und bevor ich genug Kraft aufbringen kann, um Jude daran zu hindern in die Waschküche zu schauen, steht er schon neben mir. Und dann zerrt er mich einige Meter nach hinten und schreit: »Was zum Teufel?« Eine unheimliche Stille macht sich zwischen uns breit. Das Bild verschwindet nicht. Er ist immer noch da. Er ist immer noch tot. Irgendwie kommt mir der Mann bekannt vor, aber ich zittere und versuche, mich nicht zu übergeben, was meine ganze Konzentration in Anspruch nimmt. O Gott, o Gott, was passiert hier? Ist das irgendein kranker Scherz?

»Okay«, flüstere ich. »Ich glaube, wir sollten die Polizei rufen.«

 

Ich bin in eine Decke eingewickelt und werde von blinkenden blauen Lichtern überflutet. Das sollte nicht im echten Leben passieren. Ich bin in einer Folge von Etched in Bone gefangen. Ich bin die unschuldige Zuschauerin, die über die makabre Szene gestolpert ist. Natürlich wird die jahrelange Therapie, die ich brauche, um mich davon zu erholen, nicht einmal in den Sendungsnotizen erwähnt werden. Die prägnanten Moderatoren werden meinen Namen nicht richtig aussprechen. Aber ich? Ich bezweifle, dass ich den Anblick des ermordeten Mannes, jemals vergessen werde.

Es sei denn … vielleicht ist das ein sehr lebhafter Albtraum?

Nö.

Es gibt definitiv einen großen schwarzen Sack, der von den Gerichtsmedizinern aus dem Haus gerollt wird. Vom Tatort weg, während Jude und ich alles mit offenen Mündern beobachten. Wir versuchen, uns auf das zu konzentrieren, was der Officer sagt, der vor uns auf dem Couchtisch sitzt, aber wir beide haben ihm jetzt schon dreimal unsere Aussagen gegeben. Nicht ein einziges Detail hat sich verändert. Und jetzt, wo das Adrenalin von der Entdeckung eines Mordopfers langsam nachlässt, bekomme ich einen starken Anfall von »Verschwinde von hier«.

»Es muss Mord sein, oder?«, sage ich, hauptsächlich zu mir selbst. »Er kann sich doch nicht einfach so in die Stirn geschossen haben.«

»Nein«, gibt der Officer zu – ein Mann Anfang vierzig namens Officer Wright, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Jamie Foxx hat. So sehr, dass ich zweimal hineingeschaut habe, als er durch die Eingangstür kam. »Das ist so gut wie unmöglich.«

»Der Mörder … ist also noch da draußen«, sagt Jude. »Vielleicht sogar ganz in der Nähe.«

Der Officer seufzt. »Nun, ja. Das wäre ebenfalls möglich. Und das wird unseren Job ziemlich schwierig machen. Fast alle diese Häuser werden im Sommer vermietet, das heißt, es sind keine Einheimischen. Es könnte jeder von überall her sein. Ein Besucher eines Besuchers eines Besuchers. Diese Vermietungsportale wie StayInn.com sind zu einer verdammten Belästigung geworden. Nichts für ungut.«

»Schon gut«, sage ich automatisch und sehe zu, wie das letzte Stück des Leichensacks durch die Vordertür verschwindet. In diesem Moment wird mir klar, warum der Mann mir so bekannt vorkam. »Das war der Besitzer dieses Hauses. Oscar. Jetzt erinnere ich mich.« Ich taste nach meinem Handy. »Sein Bild ist auf der Auflistung –«

Der Officer legt seine Hand auf meine, was mich innehalten lässt. »Wir wissen bereits, dass er der Besitzer ist. Wir wissen sogar nur zu gut, dass er hier gewohnt hat.«

Ein anderer Officer kommt vorbei und räuspert sich laut.

Officer Wrights Mund schnappt zu.

Sobald der andere Mann aus dem Haus gegangen ist, beugen Jude und ich uns fast gleichzeitig vor. »Was meinen Sie damit?«, fragt Jude. »Sie wissen nur zu gut, dass er hier wohnt?«

Wright schaut über seine Schulter, seufzt und tut so, als würde er etwas in sein Notizbuch schreiben. »Jemand von StayInn.com hätte sich mit Ihnen in Verbindung setzen sollen. Wir haben uns ausführlich mit ihnen über die ganze Situation unterhalten. Sie hätten Sie nie hierher kommen lassen dürfen.«

»Warten Sie, nicht so schnell.« Jude fährt sich mit der Hand über das Gesicht und sammelt sich sichtlich. »Auf welche Situation beziehen Sie sich?«

»Wir wurden vor ein paar Nächten wegen eines häuslichen Streits hierher gerufen.« Die Stimme des Officers ist so leise, dass wir uns noch näher zu ihm beugen müssen, um seine Worte zu verstehen. Inzwischen kann ich sogar die Haare seines Ziegenbarts zählen. »Einer der Mieter aus der Nachbarschaft hat uns angerufen. Er meldete Schreie. Lautes Krachen.« Er klopft mit dem Stift auf seinen Oberschenkel und schaut noch einmal von einer Seite zur anderen. »Es stellte sich heraus, dass ein paar Mädchen die Wohnung gemietet hatten und auf die Spionlöcher im Obergeschoss gestoßen waren –«

»O mein Gott!« Ich schlage eine Hand gegen meine Stirn. »Ich habe die Spionlöcher vergessen.«

»Du warst ziemlich abgelenkt«, sagt Jude und klopft mir auf die Schulter, behält aber den Officer im Auge. »Wir waren also nicht die Ersten, die diesen kleinen Bonus entdeckt haben?«

Wright schüttelt den Kopf. »Das Mädchen, das sie gefunden hat, hat ihren Vater angerufen. Er ist ein großer LKW-Fahrer, der viel unterwegs ist. Er war verständlicherweise stinksauer, aber anstatt die Polizei zu rufen, ließ er seine Tochter den Besitzer anrufen und ihn herbringen. Der Vater konnte ein paar Treffer landen, bevor wir eintrafen, um den Streit zu beenden. Die Mädchen stimmten zu, keine Anzeige zu erstatten, solange sie ihr Geld zurückbekommen und keine Anzeige wegen Körperverletzung gegen den Vater erhoben wird. Aber StayInn.com wurde von der Polizei in Barnstable kontaktiert. Ihr hättet informiert werden müssen.«

»Ja, das hätten wir sollen.« Im Geiste schreibe ich bereits eine strenge E-Mail an StayInn.com. Vielleicht enthält sie sogar ein paar Worte wie emotionales Trauma und Rechtsbeistand … und Gutschrift. »Wurde Oscar tatsächlich dabei erwischt, wie er durch die Löcher geschaut hat?«

»Nein.« Wright denkt über den nächsten Teil nach, bevor er ihn ausspuckt. »Aber da war eine Kamera. Auf einem Stativ aufgebaut.«

Ohne meinen Bruder anzusehen, weiß ich, dass sich in unseren beider Gesichtern Abscheu widerspiegelt.

Ich schüttle das Frösteln ab, das mich bei dem Gedanken überkommt, dass ein Mann die Frauen in diesem Haus illegal ausspioniert hat – und ich war kurz davor, sechs Tage hier zu verbringen – und mache mich wieder auf die Suche nach einer Erklärung. »Ich schätze, der Streit mit dem wütenden Vater erklärt die blauen Flecken auf Oscars Gesicht, aber der Vater dieser Mädchen hat ihn nicht ermordet, oder? Oscar war noch am Leben, als die ganze Situation geklärt wurde?«

Wright zuckt mit den Schultern. »Mein Lieutenant glaubt, dass der Vater immer noch wütend war, nachdem alles gesagt und getan war. Kam zurück, um den Job zu beenden. Der Hausbesitzer wird von einem Verdächtigen verprügelt und dann von einem anderen umgebracht? In derselben verdammten Woche? Nein. Wir glauben nicht an Zufälle. Nicht in diesem Ausmaß.«

»Ja, es sei denn …«

Irgendetwas an dem Szenario stört mich. Es passt nicht ganz zusammen. Und ich sollte wirklich aufhören, zu versuchen, alles ordentlich zusammenzufügen, wenn nichts an diesem Szenario ordentlich ist. Aber es fiel mir schon immer schwer, Rätsel ungelöst zu lassen. Normalerweise bestehen meine Rätsel jedoch aus Puzzles mit fünftausend Teilen und nicht aus Spion- und Einschusslöchern.

Doch meine neugierige Natur ist das Einzige, was ich von meinen Eltern geerbt habe. Ich wurde definitiv nicht mit einem Funken ihres Mutes geboren. Eine Tatsache, die sie im Laufe der Jahre mehrmals beklagt haben, indem sie meine Hand tätschelten und mir ein gezwungenes Lächeln schenkten.

Das ist unsere kleine Lehrerin.

Geht immer auf Nummer sicher.

Jude war in Indonesien surfen. Fallschirmspringen in Montana. Er arbeitet in einem Tierheim, meistens mit den Pandas, aber manchmal füttert er auch Löwen. Im Internet gibt es ein Video von ihm, in dem er mit einer der großen Katzen kuschelt. Er wälzt sich mit der riesigen Kreatur im Gras, während er lacht und die Mähne des Löwen krault. Ich bin fast tot umgefallen, als mir das jemand gemailt hat. Natürlich hat niemand daran gedacht, Judes große Schwester über die ganzen gefährlichen Sachen zu informieren, aber ich bin nichtmehr sauer. Meistens.

Also, okay. Mut ist etwas, das ich nicht im Überfluss habe. Dieser Urlaub ist eines der abenteuerlichsten Dinge, die ich seit Langem gemacht habe. Ich musste tatsächlich auf einem Kissen herumkauen, als ich bei der Reservierung auf »Buchen« klickte. Aber irgendetwas passierte in mir, als ich in die Waschküche ging und den armen Oscar sah, der mit leerem Blick in den Raum starrte.

Oder besser gesagt … es ist nichts passiert.

Die Welt ging nicht unter, trotz der erschreckenden Umstände.

Ich blieb stehen, genau dort, auf meinen eigenen zwei Füßen. Vielleicht bin ich jetzt neugierig, was ich noch tun kann. Vielleicht bin ich neugierig, ob ich helfen kann. Ob ich mutig sein kann, wie meine Eltern und Jude. Oder wie die Moderatoren von Etched in Bone, die die Tatorte der Kleinstadtmorde, die sie untersuchen, infiltrieren und die schwierigen Fragen stellen. Kann ich auch so mutig sein? Bin ich mutiger, als ich immer gedacht habe?

Aber ich habe eine Superkraft und die besteht darin, alles zu Tode zu überdenken. Und genau das tue ich jetzt. Ich knabbere an den Fakten … und finde die Handlungslücken. Vielleicht ist das nicht meine Aufgabe, vielleicht sollte ich mich darauf konzentrieren, eine andere Unterkunft für uns zu finden, aber ich kann nicht anders, als mich persönlich betroffen zu fühlen, weil ich diejenige war, die Oscars Leiche entdeckt hat. Ich habe ihn gefunden. Und auch wenn es verrückt klingt, fühle ich mich dafür verantwortlich, den Mörder zur Rechenschaft zu ziehen und das Rätsel zu lösen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese ganze Tortur hinter mir lassen kann, bevor die Fakten nicht richtig geklärt sind.

»Officer Wright –«

Ein Wehklagen erschüttert die Fensterscheiben, gefolgt von einem Schrei der Ablehnung. »Nein! Nicht mein Bruder! Oscar? Oscar!«

Jude und ich sehen uns an und drehen uns um, um zur offenen Haustür zu schauen. Vor den offenen Türen des Krankenwagens bricht eine Frau in den Armen eines Notarztes zusammen und wirft ihren Kopf mit einem Schmerzensschrei zurück. Eine Stimme knistert über das Funkgerät, das an Wrights Schulter befestigt ist. »Ja, wir haben die Schwester des Opfers hier. Kann jemand den Sozialarbeiter herschicken?«

»Oh nein.« Meine Nasenspitze beginnt zu brennen und ich greife, ohne nachzudenken, nach Judes Arm und drücke zu. »Die arme Frau. Sie hat gerade ihren Bruder verloren. Kannst du dir vorstellen, was sie fühlt?«

Der Officer vor uns grunzt. »Sie wird sich wahrscheinlich ganz anders fühlen, wenn sie herausfindet, was er getan hat.«

»Verwirrt, vielleicht. Aber trotzdem traurig«, murmelt Jude und lässt sich sichtlich erschöpft in die Kissen zurückfallen. Das arme Baby hat seinen Mittagsschlaf nicht beenden können. Ich muss ein sicheres Bett für die Nacht für ihn finden.

»Ja«, stimme ich meinem Bruder zu. An Wright gewandt frage ich: »Sind Sie sicher, dass Oscar der Gaffer ist? Die Löcher –«

Ich werde erneut unterbrochen, als die weinende Frau ins Haus stolpert. Sie stützt sich an der Wand ab, macht einen Schritt ins Wohnzimmer, gefolgt von zwei weiteren und lässt sich dann schlaff auf die Couch zu unserer Linken fallen. Mir stehen die Tränen in den Augen, als ich mir ihren Kummer vorstelle. Wenn ich meinen Bruder verlieren würde, könnte ich nicht mehr oben und unten voneinander unterscheiden. »Ihr schrecklicher Verlust tut mir sehr leid«, sage ich zu ihr.

Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf mich und …

Ich will das nicht. Aber ich bemerke, dass ihre Augen trocken sind.

Jeder erlebt Trauer anders. Ich urteile nicht. Ich mache nur eine ganz beiläufige, nicht wertende mentale Notiz. Auf diesen trockenen Wangen könnte ein Kaktus gedeihen.

»Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen, Ma’am?«, fordert Wright sie auf.

»Lisa. Lisa Stanley.« Sie fixiert Jude und mich mit einem Blick. »Wer seid ihr?«

»Ich bin Taylor Bassey. Das ist mein Bruder, Jude. Wir wohnen hier. Oder besser gesagt, wir sollten hier wohnen. Aber wir … haben gleich nach unserer Ankunft Oscar gefunden.«

»Es tut mir wirklich leid, dass mein toter Bruder euren Urlaub ruiniert hat«, schnauzt sie. Bevor ich ihr versichern kann, dass wir uns nicht beschweren, verzieht sie das Gesicht. »Es tut mir leid, ich wollte nur … ich wollte nicht unfreundlich sein. Ich kann einfach nicht glauben, dass das passiert ist. Sie sagen, er wurde erschossen! Wer würde meinen Bruder erschießen? Er hat keinen einzigen bösen Knochen in seinem Körper. Keine Feinde …«

Keiner sagt etwas. Aber Wright hat offensichtlich das Pokerface-Training an der Akademie verpasst, denn er sieht aus, als würde er gleich explodieren.

»Was?«, fragt Lisa und richtet sich auf. »Was ist los?«

Es folgt das unangenehmste Gespräch der Welt, während Wright Lisa von der Konfrontation mit dem Vater der Mieterin wegen der Spionlöcher und der Kamera erzählt. Als er mit den Details fertig ist, starrt Lisa ins Leere. »Warum hat er mir nicht gesagt, dass er verprügelt worden ist?«

»Wahrscheinlich war es ihm peinlich, wenn man die Umstände bedenkt.« Mit einem Seufzer gibt Wright uns seine Karte und steht auf. »Sagt mir Bescheid, wenn euch noch etwas einfällt. Wenn ihr eine Unterkunft für die Nacht sucht, gibt es ein DoubleTree in Hyannis. Der Pool ist ganz anständig.«

»Danke«, sagt Jude und nimmt die Karte. Sobald Wright durch die Vordertür gegangen ist, steht mein Bruder auf. »Ich geh und werde das DoubleTree anrufen.«

»Das ist nicht nötig«, wirft Lisa schnell ein und scheint sich selbst zu überraschen. Als wir sie nur ausdruckslos anstarren, kramt sie in ihrer Handtasche und holt einen großen Schlüsselbund heraus, der an einem Ring hängt. »Meinem Bruder gehören noch drei andere Mietshäuser in diesem Block. Ich erledige die Wartungsarbeiten für ihn und inspiziere die Räumlichkeiten, bevor neue Mieter kommen. Etcetera. Heute bin ich zu spät gekommen, um die Wohnung zu überprüfen, sonst hätte ich ihn gefunden.« Sie stößt einen langen Atemzug aus. »Er ist … war … ziemlich unbeteiligt an dem ganzen Geschäft. Ein ganz normaler Typ. Er hat früher Post ausgetragen, bevor er ins Immobiliengeschäft eingestiegen ist. Bei Gott, mein Bruder war faul. Er hat delegiert. Deshalb …« Sie schüttelt den Kopf. »Es ergibt einfach keinen Sinn. Oscar würde keine Leute ausspionieren.«

»Nein. Das ergibt keinen Sinn«, platze ich heraus, bevor ich mich stoppen kann.

»Taylor«, sagt Jude aus dem Mundwinkel heraus. »Tritt auf die Bremse.«

»Er ist ihr Bruder«, flüstere ich zurück. »Ich würde alles wissen wollen.«

»Ich liebe dich, aber bitte misch dich nicht in eine Mordermittlung ein.«

»Ich mische mich nicht ein. Ich gebe nur ein paar Details weiter.«

»Schulbuchbeteiligung«.

Lisa lässt sich vor uns auf den Couchtisch fallen und nimmt den Platz ein, auf dem Wright einst saß. Sie stützt die Ellbogen auf die Knie und lehnt sich nach vorn. Aus der Nähe kann ich die äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen ihr und Oscar erkennen. Beide sind in ihren Fünfzigern. Leicht hakige Nase. Hohe Stirn. Graues Haar. Aber Lisa ist eher zierlich, während ihr Bruder …

»Zu groß. Oscar war viel zu groß, um in den Hohlraum zu passen.«

Lisa wird hellhörig. »Der Hohlraum, in dem du die Spionlöcher gefunden hast?«

»Ja, genau.« Ich ignoriere Judes Stöhnen. »Er kann unmöglich da hochgekommen sein.«

»Er hätte eine Leiter benutzen können, T.« Mein Bruder mischt sich nur widerwillig in das Gespräch ein und fügt zu Lisas Gunsten hinzu: »Rein hypothetisch, natürlich. Es wäre ziemlich einfach gewesen, die Löcher von beiden Seiten zu bohren. Und er brauchte nicht in den Hohlraum kriechen. Er hätte nur die Kamera hineinschieben müssen.«

»Ja. Wenn er nie die Absicht hatte, durch die Löcher zu schauen.« Für einen einzigen, flüchtigen Moment fühle ich mich wie Olivia Benson aus SVU. Alles, was ich brauche, sind der Mantel, die unergründlichen braunen Augen und Stabler an meiner Seite, der grüblerisch und gut aussieht. »Warum hat er zwei von ihnen gebohrt?« Ich werfe einen Blick zwischen meinem Bruder und Lisa hin und her. »Diese Löcher wurden mit der ausdrücklichen Absicht gebohrt, dass eine Person hindurchschauen kann. Wenn Oscar – rein hypothetisch – nur seine Gäste filmen wollte, hätte er ein einziges Loch gebraucht. Nicht zwei.«

Jude schaut kurz stirnrunzelnd auf seine Hände. »Du hast recht. Es ist auf jeden Fall seltsam.«

»Du meinst, derjenige, der diese Löcher gebohrt hat, ist klein genug, um in den Hohlraum zu passen«, sagt Lisa langsam und beginnt zu nicken. »Vielleicht eine Frau?«

Denk nicht darüber nach, dass sie immer noch nicht geweint hat. Nicht eine einzige Träne.

»Vielleicht.«

Jude bekommt langsam ein komisches Gefühl. Das merke ich daran, dass er nicht aufhören kann, die struppigste Haarpartie auf seinem Kopf zu ordnen. »Wir sollten im DoubleTree anrufen, Taylor. Ich bin mir sicher, dass Ms. Stanley eine Menge Anrufe tätigen muss –«

»Die Polizei ist sich schon so sicher, dass es der Vater der letzten Mieterin war.« Lisa wirft einen Blick aus dem Fenster, wo die Officers am Ende der Einfahrt versammelt stehen. »Und seien wir mal ehrlich: Für jemanden, den sie für einen Perversen halten, werden sie sich bestimmt nicht ins Zeug legen, oder?« Hinter ihren Augen drehen sich die Rädchen. »Vielleicht sollte ich mich nach einem Privatdetektiv umsehen. Mein Freund ist gerade im Einsatz, aber er ist mit einem Typen in Boston aufgewachsen. Ein ehemaliger Detective, der zum Kopfgeldjäger wurde. Jemand, der den Einheimischen einen Strich durch die Rechnung machen und dabei vielleicht den Namen meines Bruders reinwaschen könnte.«

Wir alle trauern auf unsere eigene Art und Weise.

Ich weine. Lisa rächt ihre geliebten Menschen.

Die Moral von der Geschichte: Jeder ist mutiger als ich.

»Ich glaube, ein Privatdetektiv kann nicht schaden«, sage ich, erbarme mich aber schließlich Jude. Ich stehe von der Couch auf und lasse die Decke von meinen Schultern gleiten. »Noch einmal, Lisa, mein herzliches Beileid zu deinem Verlust.« Ich reiche ihr meine Hand. »Ich wünschte, wir hätten uns unter besseren Umständen kennengelernt.«

Sie zieht mich in eine Umarmung. »Du hast mir Hoffnung gegeben, Taylor. Ich danke dir. Ich will nicht, dass man sich an ihn als einen Widerling erinnert. Ich werde herausfinden, was wirklich passiert ist.« Etwas Kaltes und Metallisches wird mir in die Hand gedrückt, und als ich hinunterschaue, entdecke ich einen Schlüsselbund. »Es ist nur einen Block weiter. Nummer zweiundsechzig. Ich bestehe darauf.«

Ich versuche, die Schlüssel zurückzugeben. »Oh, wir könnten wirklich nicht –«

»Bist du sicher?« Sie wackelt mit den Brauen. »Es hat eine Badewanne mit Klauenfüßen.«

Steht es mir auf die Stirn geschrieben oder so etwas?

»Oh«, hauche ich. »Wirklich?«

Jude lässt den Kopf kurz hängen, dann geht er widerwillig zu den Koffern. »Nummer zweiundsechzig, sagtest du?«

Auf dem Weg aus dem Haus bleibe ich kurz an dem Konsolentisch vor der Tür stehen.

Als ich mir die Bewertungen des Hauses durchlas, sah ich Bilder von einem Gästebuch. Das macht mich natürlich zu einem totalen Idioten, aber ich freue mich darauf, unsere eigene Nachricht auf eine der Seiten zu schreiben, damit die zukünftigen Gäste sie lesen können. Ich wollte einen Tintenfisch an den Rand malen.

Ich ziehe die Schublade des Tischs auf und entdecke das weiße Lederbuch mit der goldenen Prägung. Gasterfahrungen. Ich bin mir nicht sicher, was mich dazu bringt, es zu nehmen. Ich stecke es schnell in meine Handtasche und decke es mit meinen Handdesinfektionstüchern und meinem Sonnenbrillenetui zu, während Jude den Kopf schüttelt. Vielleicht habe ich mich selbst überrascht, dass ich heute Abend so kohärent bin, nachdem ich eine Leiche entdeckt habe … und ich will wissen, was ich noch tun kann. Ob ich das Zeug dazu habe, ein Rätsel zu lösen und den Mut zu finden, der mir immer gefehlt hat. Oder vielleicht zweifle ich an der Motivation der Polizei, diesen Mord über ihre ursprüngliche Theorie hinaus zu untersuchen. Und seien wir mal ehrlich, Lisas Emotionslosigkeit wird nicht aufhören, an meinem sechsten Sinn zu rütteln. Ich wusste nicht einmal, dass ich einen sechsten Sinn habe.

Was auch immer der Grund für meinen improvisierten Beweismittelraub war, ich werde das Buch morgen zurückgeben, nachdem ich einen kleinen Blick darauf geworfen habe. Keine große Sache, oder?

 

Ich steige von meinem Motorrad und nehme ein Säureblocker.

Ist Cape Cod an diesem sonnigen Donnerstagnachmittag nicht einfach verdammt munter?

An jeder Tür hängen kleine Schilder, die verkünden, dass das Leben ein Strand ist. Strandleben. Es lebt sich besser am Strand. Meer geht immer. Wie jemand für einen Ort mit so viel verdammtem Sand schwärmen kann, ist mir ein Rätsel. Ich will jetzt schon wieder auf die Straße. Leider habe ich schon vielen Dingen den Rücken gekehrt, aber mit meinem Freund Paul konnte ich das nicht tun. Nicht, solange er im Einsatz ist und nicht in der Lage ist, das Chaos für seine Freundin persönlich zu beheben. Paul hat sich einmal geweigert, mich zu verraten, als ich ein Kirchenfenster mit einem Line Drive zerschmettert habe.

Ich bin hier, weil ich ihm etwas schulde und wir zusammen in Boston aufgewachsen sind – aber dann bin ich weg.

Bis dahin ist es meine Aufgabe, Oscar Stanleys »wahren Mörder« zu finden.

Das passiert in meiner Branche, der Kopfgeldjagd, häufig.

Die Familie leugnet es. Ihr Sohn hat gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen, aber er versucht, sein Leben zu ändern. Ihre Tochter ist auf der Flucht, aber nur, weil sie bei diesem Drogenschmuggel unschuldig ist und niemand ihr glaubt. Ich habe das alles schon mal gehört und es geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Mein Job ist es, böse Menschen vor die Tür der Strafverfolgungsbehörden zu bringen und mit einem Scheck in der Hand davonzulaufen, ohne dass ich mich um die Bürokratie oder den Papierkram kümmern muss.

Dieser Fall ist etwas anders, denn es gibt kein Kopfgeld zu kassieren. Es ist kein Verbrecher auf freiem Fuß. Ich habe weder einen Namen noch ein Gesicht noch eine Strafakte zur Verfügung. Alles, was ich habe, ist ein großes Fragezeichen und einen Gefallen, den ich erwidern muss. Aber nachdem Paul mir alles über Oscar Stanley erzählt hat und darüber, wie er vor dem Mord wegen seiner Spannerei verprügelt wurde, bin ich geneigt, der örtlichen Polizei in diesem Fall zuzustimmen. Der Vater dieses Mädchens kam zurück, um den Job zu beenden. Ich brauche nur ein oder zwei Tage, um das zweifelsfrei zu beweisen und wieder auf den Highway zurückzukehren, ohne irgendjemandem noch einen Gefallen zu schulden oder Verantwortung zu übernehmen.

Auf meinem Weg hierher – in die Coriander Lane – habe ich bei Lisa Stanley angehalten und den Schlüsselbund abgeholt, den ich in der Hand halte. Eigentlich ist das ein Tatort und der Eingang ist mit gelbem Klebeband abgesperrt, aber Regeln zu befolgen ist nicht gerade meine Stärke. Das war es noch nie. Deshalb war ich ein schlechter Detective und ein noch schlechterer Ehemann. Ich war vielleicht treu, aber Loyalität geht nur so weit, bis ein Mann den wertschätzenden Teil des Gelübdes auslässt.

Unten am Strand ertönt Gelächter, Stimmen vermischen sich mit den Klängen von Tom Petty. Ein Drachen in der Form einer Hummel wirbelt am Himmel herum. Der Geruch von Hotdogs und Burgern weht in der Brise. Hierher kommen die Menschen, um mit ihren Familien Urlaub zu machen. Um glücklich zu sein.

Ich kann es kaum erwarten, von hier zu verschwinden.

Ich werfe die Schlüssel hoch, fange sie wieder auf und gehe über die Straße zu dem Haus, in dem der Mord passiert sein soll. Ich habe zwar keine Tatortfotos gesehen, aber ich habe die Beschreibung des Opfers und es ist unwahrscheinlich, dass ein Mann von Oscars Statur nach dem Mord vom Täter abtransportiert worden wäre. Außerdem, warum sollte der Mörder es leichter machen, die Leiche zu finden? Nein, dies war ein Verbrechen aus Leidenschaft. Wut. Klar und deutlich.

Bring es hinter dich.

Ich bin auf halbem Weg über die Straße, als ich Augen auf meinem Rücken spüre.

Langsam schaue ich über meine Schulter und entdecke eine junge Frau mit dunkelblondem Haar, vielleicht Mitte zwanzig, die auf der Veranda eines Hauses einen Blumentopf gießt. Allerdings verfehlt sie den Topf völlig. Das Wasser läuft aus dem Ausguss direkt auf die Dielen und spritzt ihr auf die nackten Waden. Und sie scheint es überhaupt nicht zu bemerken.

»Kann ich dir helfen?«, rufe ich in einem harten Ton.

Sie lässt die Gießkanne mit einem lauten Klirren fallen, dreht sich um und rennt mit dem Kopf voraus gegen die Haustür, wobei sie direkt an dem verdammten Ding abprallt. Selbst aus hundert Metern Entfernung kann ich sehen, wie die Kanarienvögel um ihren Kopf kreisen. Das hat man davon, wenn man so neugierig ist.

Ich krame noch ein Säureblocker aus meiner Jeanstasche, werfe ihn ein und setze meinen ach so fröhlichen Weg über die Straße fort, reiße das Absperrband von der Haustür und lasse es zu Boden flattern. Ich bin schon halb über der Schwelle, als ich von hinten Schritte höre. Flinke, mädchenhafte Schritte. Im Spiegelbild der Sturmtür nähert sich die neugierige Nachbarin. Und bumm, schon bin ich genervt. »Hör mal, willst du die Polizei rufen?« Mit finsterer Miene drehe ich mich halb zu ihr um. »Dann nur …«

Es ist sehr seltsam, wie ich einfach vergesse, was ich sagen wollte.

Das ist mir noch nie passiert. Jedes Wort, das ich sage, hat einen Sinn und die Person, mit der ich spreche, sollte besser zuhören. Ich weiß … nur nicht, warum ich vorhatte, so gemein zu ihr zu sein, das ist alles. Ist sie nicht gerade gegen eine Tür gelaufen? Das muss doch wehgetan haben. Außerdem hat sie überall Wasserspritzer an den Beinen und sie ist …

Fakten sind Fakten. Sie ist zuckersüß.

Bei süßen Frauen schaue ich nicht zweimal hin. Eigentlich bei allem, was süß ist. Das wäre so, als würde ein Traktor eine Pusteblume bewundern. Anschauen mag noch funktionieren, aber Traktoren sind dafür gebaut, Löwenzahn abzumähen. Das ist ihr Job. Es bringt also nicht viel, wenn ich mir die Sommersprossen ansehe, die sich von der Nase über den Hals erstrecken. Bis zu ihren Titten. Die sind in einem Bikinioberteil verpackt. Einem rosafarbenen. Allein bei der Farbe habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich hinschaue, aber sie würden genau in meine Hände passen. Vieles von ihr würde das. Diese Hüften. Ihre Knie. Die Seiten ihres schönen Gesichts.

O Gott. Der Scheitel ihres Kopfes erreicht kaum mein Kinn.

Was zum Teufel ist mit mir los?

Ich räuspere mich. Hart. »Wie ich schon sagte, willst du die Bullen rufen, halbe Portion? Tu dir keinen Zwang an. Sie wissen, dass ich hier bin.«

»Halbe Portion?«, keucht sie. Stottert. Sie schiebt sich eine dicke Haarsträhne hinters Ohr, sodass ich von der vollen Wucht ihrer Augen getroffen werde. Grüne Augen. Fuck. »Du sollst wissen«, fährt sie fort, »dass ich die Größte in meinem Job bin.«

»Entweder du arbeitest allein oder du bist Grundschullehrerin.«

Ein Sekundenbruchteil des Zögerns. Ein subtiler Wechsel von rechts nach links.

»Falsch.«

Ich zwinkere ihr zu und sie sträubt sich. »Ich liege nie falsch.«

Wird sie gerade etwa rot? Gott, sie muss acht oder neun Jahre jünger sein als ich. Mitte zwanzig zu meinen Mitte dreißig. Ich bemerke also definitiv nicht die Stelle, an der sich ihr Bikiniträger leicht in die Schulter eingräbt. Das ist fast schon zu eng. Ich denke definitiv nicht daran, meinen Finger darunter zu stecken und den kleinen Streifen Material über ihren Arm zu ziehen. Sie auszupacken wie ein Geburtstagsgeschenk.

Mein Gott, ich muss dringend mal wieder flachgelegt werden. Das ist mir erst jetzt klar geworden, als ich diese Fremde im Herzen der Mittelklasse-Urlaubsstadt begehre und mich frage, wie ihre Nippel im Sonnenschein aussehen würden, wenn ich sie ablecke. Sie ist wahrscheinlich verheiratet. Alleinstehende Frauen in ihren Zwanzigern machen keinen Urlaub in Cape Cod. In der Provinzstadt vielleicht. Aber nicht in diesem familienfreundlichen Teil von Falmouth. Warum trägt sie dann keinen Ring?

Sie bemerkt, dass ich nach einem suche. Verdammt!

Daraufhin ändert sich ihre Haltung. Ihre Hände fallen an die Seite, sie tritt von einem Fuß auf den anderen und wirft ihr Haar unbewusst über die Schulter zurück. Es ist, als würde ihr erst jetzt, in dieser Sekunde, bewusst werden, dass ich ein Mann bin und sie in einem Bikini und lächerlich kurzen Jeansshorts, die nur wenig mehr als ein Slip verdecken, auf mich zukommt. Und dass ich so interessiert bin, mich zu fragen, ob in dem zuckersüßen Haus mit den Herzchen an den Fensterläden schon ein Mann auf sie wartet. Sie findet all das heraus und verbirgt nichts davon in ihrem spektakulären Gesicht.

Großartig. Wir sind von schön zu spektakulär übergegangen.

Sie ist definitiv verheiratet, du Idiot. Mach deinen Job und verschwinde.

»Geh deine Blumen gießen. Ich bin beschäftigt.«

»Ich weiß. Ich wollte nur …« Sie wedelt mit ihren Händen durch die Luft, bis sie sie vor der Taille verschränkt. »Ich wollte nur wissen, ob du schon eine Theorie hast.«

»Ich bin gerade erst gekommen.« Ich neige mein Kinn zu meinem Motorrad. »Du hast mich ankommen sehen, oder?«

»Auf deiner Todesfalle. Ja. Aber ich nehme an, du hast eine Art Vorab … Dossier bekommen. Oder eine Fallakte. Richtig?«

Ich starre sie mit zusammengekniffenen Augen an und hoffe, dass sie sich davonschleicht, wie alle anderen, die das Pech haben, diesen Blick zu ernten.

»Gut. Zier dich, Mr. …«

»Mein Name braucht dich nicht zu interessieren.«

Das wirft sie für eine Sekunde aus der Bahn, fast so, als wäre sie verwirrt. Aber schließlich zuckt sie mit den Schultern. »Ich dachte nur, du würdest gerne mit mir reden.« Mit einem prüfenden Blick dreht sie sich um und geht zurück auf die andere Straßenseite.

---ENDE DER LESEPROBE---