My Wish - Breite deine Flügel aus - Audrey Carlan - E-Book
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My Wish - Breite deine Flügel aus E-Book

Audrey Carlan

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Beschreibung

Wohin du auch gehst, was du auch tust, meine Wünsche werden dich begleiten

Jedes Jahr an ihrem Geburtstag öffnet Suda Kaye Ross einen der Briefe, die ihre Mutter Catori vor ihrem Tod geschrieben hat. Darin wünscht sie ihrer Tochter Freiheit und Abenteuer, ein erfülltes Leben. Jetzt, zu ihrem 28. Geburtstag, hat Catori einen anderen Wunsch für Suda Kaye: Nach 10 Jahren, in denen sie die Welt gesehen hat, soll sie nun in ihren Heimatort Pueblo in Colorado zurückkehren. Zurück zu ihrer älteren Schwester Evie, zu ihren indigenen Wurzeln – und zurück zu Camden, dem Mann, den sie damals einfach hat sitzen lassen. Camden ist inzwischen verlobt und zu Recht wütend auf Suda Kaye. Doch das Knistern zwischen ihnen ist noch genauso stark wie früher. Wenn Suda Kaye einen Wunsch frei hätte, hätte er viel mit ihm zu tun …

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DASBUCH

Jedes Jahr an ihrem Geburtstag öffnet Suda Kaye Ross einen der Briefe, die ihre Mutter Catori vor ihrem Tod geschrieben hat. Darin wünscht sie ihrer Tochter Freiheit und Abenteuer, ein erfülltes Leben. Jetzt, zu ihrem 28. Geburtstag, hat Catori einen anderen Wunsch für Suda Kaye: Nach zehn Jahren, in denen sie die Welt gesehen hat, soll sie nun in ihren Heimatort Pueblo in Colorado zurückkehren. Zurück zu ihrer älteren Schwester Evie, zu ihren indigenen Wurzeln – und zurück zu Camden, dem Mann, den sie damals einfach hat sitzen lassen. Camden ist inzwischen verlobt und zu Recht wütend auf Suda Kaye. Doch das Knistern zwischen ihnen ist noch genauso stark wie früher. Wenn Suda Kaye einen Wunsch frei hätte, hätte er viel mit ihm zu tun …

DIEAUTORIN

Audrey Carlan schreibt mit Leidenschaft prickelnd-romantische Unterhaltung. Ihre Romane veröffentlichte sie zunächst als Selfpublisherin und wurde daraufhin bald zur internationalen Bestseller-Autorin. Ihre Serien Calendar Girl und Trinity stürmten in Deutschland die SPIEGEL-Bestsellerliste. My Wish – Breite deine Flügel aus ist der erste Band ihrer großen neuen Serie. Audrey Carlan lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Kalifornien.

AUDREY

CARLAN

My Wish

Breite deine

Flügel aus

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Nicole Hölsken

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe WHATTHEHEARTWANTS erschien erstmals 2020 bei Harlequin Enterprises ULC.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 11/2021

Copyright © 2019 Audrey Carlan, Inc.

Published by Arrangement with AUDREYCARLAN, INC.

Dieses Werk wurde im Auftrag

der Jane Rotrosen Agency LLC vermittelt durch

die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Anita Hirtreiter

Umschlaggestaltung: bürosüd, www.buerosued.de

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-26526-7V001

www.heyne.de

Für Jeananna Goodall …

Danke, dass Du mir Einblicke

in das Wesen Deiner Mutter gewährt hast.

Ich stelle mir gern vor, dass die wahre Suda Kaye Ross

von diesem Buch begeistert wäre.

Möge ihre Schönheit durch Dich weiterleben,

ebenso wie durch Deine Kinder und die folgenden Generationen.

Indem sie Dich schuf, hat sie uns

ein wunderbares Geschenk hinterlassen.

Ich jedenfalls bin ihr zutiefst dankbar.

Prolog

Mein achtzehnter Geburtstag

Fliege in die Freiheit.

Ich fahre den Worten nach, die dort in schwarzer Tinte zu lesen sind, in Schönschrift von ihr verfasst. Die Farbe setzt sich stark vom Blassrosa des Briefpapiers ab. Das war so ihre Art. Das machte sie ständig. Briefe schreiben. Vornehmlich an meine Schwester Evie und an mich – über Jahre hinweg, immer wenn das Fernweh sie gepackt hatte und sie auf Reisen war. Manchmal war es auch nur eine Postkarte aus einem der weit entfernten Orte, an denen sie war, zuweilen auch eine gekritzelte Nachricht auf der Serviette einer Bar zusammen mit einem Ticketfetzen von einem Konzert, das sie auf einem ihrer Abenteuer besucht hatte.

Einmal schickte sie uns diese wunderschönen, mit Glitzersteinen besetzten Ketten aus Deutschland. Sie waren aus mundgeblasenem Glas und handbemalt. Jedes Mal, wenn der Postbote ins Reservat kam, in dem wir bei unserem Großvater lebten, betete ich darum, dass er eine Nachricht oder ein Paket von Mom bringen würde.

Seitdem ich reden oder ihre Erzählungen bewusst verstehen konnte, hing ich an ihren Lippen und sog die fantastischen Geschichten förmlich in mich auf, die sie bei ihrer Rückkehr zum Besten gab. Ihre Berichte führten uns um den ganzen Globus, von Istanbul über Island bis hin zum Burning Man Festival in der Wüste Nevadas. Damals schenkte sie uns diese winzigen Fingerzimbeln, wie Bauchtänzerinnen sie benutzen. Danach meldete sie uns zum ersten Mal für Bauchtanzkurse an. Auch heute noch lieben Evie und ich es, gemeinsam zu tanzen.

Es gehörte zu unserem Leben, dass unsere Mutter, Catori Ross, sich vom Wind treiben ließ.

Ich betete meine Mutter an und beneidete sie um das Leben, das sie führte. Das tue ich immer noch, doch nun hat sie uns verlassen, um sich auf ihre letzte Reise zu begeben. Ihr allerletztes Abenteuer, wie sie es gern nannte. Außerdem versprach sie Evie und mir, dass es sie auf ewig glücklich machen würde.

»Sorgt euch niemals um mich, meine hübschen Mädchen«, flüsterte sie. In der einen ausgestreckten Hand hielt sie die meine, in der anderen Evies. Ihr Körper war eingesunken, sie war nur noch Haut und Knochen. Das Bett, in dem sie lag, hatte sie jetzt schon seit Monaten nicht mehr verlassen. Sie lächelte und richtete den Blick erst auf Evie, dann auf mich. »An jedem Ort, den ich besucht habe, fand ich nichts als Schönheit.« Dann drückte sie unsere Hände, schloss die Augen, atmete tief aus – und war nicht mehr bei uns.

Das waren ihre letzten Worte. Es mag erstaunlich sein, aber ich glaubte ihr. Der Tod würde Moms letzte Station sein, ob sie es wollte oder nicht. Und doch wusste ich tief in mir drin, dass sie überall Schönheit finden würde, egal, wohin ihre Seele flog. So war sie eben.

Was mich mit unserer Trauer versöhnte, war die Tatsache, dass Mom wirklich gelebt hatte. Sie war nie richtig sesshaft geworden. Sie war immer mit einem Fuß schon wieder zur Tür hinaus, ständig offen für neue Erfahrungen. Mit jedem Atemzug atmete sie Freiheit, Mut und Liebe aus. Fernweh strömte aus jeder einzelnen Pore. Nichts konnte sie zurückhalten. Weder ihr Ehemann mit seinen militärischen Ambitionen noch ihre beiden Töchter. Unter dieser Tatsache leidet Evie ganz besonders.

Ich selbst hingegen, ich habe Mom verstanden, denn ich bin ihr sehr ähnlich. Wie sie will ich die ganze Zeit in Bewegung sein, will tanzen, laufen, fliegen. Als ich also nun, an meinem achtzehnten Geburtstag, den letzten Abschnitt des Briefes meiner Mutter noch einmal lese, wird mir klar, dass das Fernweh auch mir im Blut liegt. Auch ich werde nicht sesshaft werden, mich niemals von irgendwelchen Verpflichtungen zurückhalten lassen, ebenso wenig wie von Verantwortung oder sogar von … der Liebe.

Ich blättere den Stapel rosafarbener Umschläge durch, der neben dem Satinband liegt, mit dem sie zusammengebunden waren, als mein Großvater uns die Briefe nach dem Tod meiner Mutter vor sechs Monaten aushändigte. Auf jedem Kuvert steht ein Datum oder ein bestimmtes Ereignis in unserem Leben, damit wir wissen, wann wir sie öffnen sollen. Evie und ich haben am gleichen Tag Geburtstag, aber sie ist zwei Jahre älter als ich, daher hat jede von uns beiden heute ihren ersten Brief gelesen.

Evie hat sich in den Papasansessel gekuschelt. Jetzt faltet sie ihren Brief wieder zusammen und schiebt ihn in den Umschlag zurück. Dann hält sie ihn sich mit der flachen Hand an die Nase und schnuppert daran.

»Riecht nach ihr.« Evie räuspert sich, und eine Träne läuft ihr über die Wange.

Auch ich atme das Aroma des Papiers ein, nehme die dezente Note von Zitrus und Patschuli und vielleicht sogar einen Hauch Erde wahr. »Mom hat immer gesagt, wenn man schon nach irgendwas duften muss, dann wenigstens nach etwas Natürlichem. Fruit and spice.«

»And everything nice!« Evie gluckst leise, dann stößt sie einen tiefen Seufzer aus. »Ich vermisse sie. Manchmal stelle ich mir vor, dass sie sich nur wieder auf ein weiteres Abenteuer eingelassen hat, weißt du? Dann darf ich stinksauer sein und mir all die gehässigen Dinge ausdenken, die ich zu ihr sagen werde, wenn sie endlich mit einem Koffer voller schmutziger Klamotten und Mitbringsel zurückkehrt, mit denen sie versucht, wiedergutzumachen, dass sie uns allein gelassen hat.«

Meine Kehle wird eng, und ich atme mühsam ein. »Evie, sie wollte nicht gehen …«

»Diesmal nicht, Suda Kaye, aber was ist mit den ganzen anderen Malen? So viel verlorene Zeit. Und wofür?« Sie schnaubt und steht auf. Wandert ruhelos im Zimmer auf und ab, drückt die Briefe fest an ihre Brust. »Spaß. Wilde Erfahrungen. Abenteuer!« Ihre Verärgerung wächst, und ihre Stimme wird lauter. »Das hat sie umgebracht. Dieses Bedürfnis, immer woanders zu sein, weil sie dachte, sie könnte etwas verpassen.« Mit erbitterter Miene deutet sie auf mich, und ihre Entrüstung ist förmlich greifbar. »Na ja, mein Weg ist das jedenfalls nicht. Auf gar keinen Fall. Unter keinen Umständen. Ich stehe mit beiden Füßen fest im Leben. Ich werde mein Studium beenden, werde erst den Bachelor in Finanzwirtschaft machen und anschließend den Master und etwas aus meinem Leben machen. Und ich werde glücklich werden!«

Ich sehe, wie das blonde Haar meiner Schwester in Beach Waves an ihrem Rücken hin und her schwingt. Entschlossenheit lodert in ihren blauen Augen, als sie die Briefe auf ihren Stuhl wirft und sich mit dramatischer Geste auf das Bett neben mir fallen lässt. Meine Schwester ist hellhäutig, ich hingegen bin ganz und gar ihre dunkle Ausgabe. Mom hat nie viel über meinen richtigen Vater kundgetan, außer dass er Ian hieß und ich ihm wie aus dem Gesicht geschnitten bin. Kaffeebraunes Haar und bernsteinfarbene Augen. Von unserer Mutter haben Evie und ich die Physiognomie amerikanischer Ureinwohner geerbt: hohe, gewölbte Wangenknochen, dichtes Haar, die bronzefarbene Haut, das warme Herz. Das fantastische seidenglatte rabenschwarze Haar unseres Großvaters, das auch sie hatte, ist uns leider nicht vergönnt, genauso wenig wie die außergewöhnlich dunklen espressofarbenen Augen. Die unseren sind mandelförmig, was ich an uns immer besonders attraktiv gefunden habe. Obwohl wir nur Halbschwestern sind, sehen wir uns insgesamt doch recht ähnlich.

Langsam streiche ich Evie übers Haar, bis sie sich zu mir umdreht.

»Was stand in deinem Brief?«

Ich benetze die Lippen und frage mich, ob ich es ihr erzählen soll. Ihr etwas zu verheimlichen fällt mir schwer, denn wir beide hatten nie Geheimnisse voreinander. Wirklich nie. Immer hieß es Evie und Suda Kaye gegen den Rest der Welt. Mir ist klar, dass ich vor ihr nichts verbergen kann, also gebe ich ihr den Brief.

»Suda Kaye, huutsuu.« Sie hält sich die Hand vor den Mund und schließt die Augen. »Kleiner Vogel«, krächzt sie, als sie den Kosenamen ausspricht, den Mom stets für mich hatte.

Ich lächele. »Bis in alle Ewigkeit, taabe.« Ich benutze nun auch Moms Kosenamen für sie, was in der Sprache der Komantschen so viel heißt wie »Sonnenschein«.

Evie überfliegt den Brief. Ihre Hände zittern, als sie ihn mir wieder zurückgibt. Ihr Gesicht ist verzerrt vor Angst und Sorge. »Das machst du nicht wirklich, oder?«

Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange und nicke.

»Suda Kaye … das darfst du nicht tun. Was ist mit Camden? Er wird es nicht verstehen. Ein Typ wie er. Das Leben, das er dir bieten will. Keinesfalls. Du musst einfach …« Sie atmet scharf aus, nimmt meine Hände und drückt sie. »Was wirst du tun?«

Mein Herz pocht wild in meiner Brust, und ich sehe meiner Schwester in die Augen. Meine Seele wappnet sich für die Herausforderung, die vor mir liegt. »Ich werde davonfliegen.«

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»Suda Kaye, bist du ganz sicher? Wir können auch noch warten, mein Schatz.« Camden ragt über mir empor. Sein Gesicht ist dem meinen so nahe, dass ich die Pfefferminze in seinem Atem riechen kann. Sanft streicht er mir mit der Hand über die nackte Schulter und meinen Arm hinab, um dann seine Finger mit meinen zu verschränken. Er hebt meine Hand und hält sie neben meinem Kopf auf der Decke fest, unter der wir uns nackt aneinanderkuscheln. Auf dem Dachboden der alten Scheune auf der Farm seiner Familie haben wir unser Liebesnest gefunden.

Ich schüttele den Kopf und hebe ihn an, bis meine Lippen die seinen berühren. Er küsst mich bedächtig, knabbert an meiner Unterlippe, bevor er seine Zunge in meinem Mund abtauchen lässt. Wir küssen einander, bis mein Kinn schmerzt und ich nicht mehr atmen kann. Ich ziehe den Kopf fort, schnappe nach Luft und betrachte sein Gesicht. Noch nie habe ich so einen schönen Mann wie ihn gesehen. Dunkelblonde Locken und sanfte braune Augen mit grünen Sprenkeln, die momentan brennen vor Lust.

»Es muss heute Abend sein. Jetzt«, dränge ich und hebe die Hüften, ganz berauscht von der nackten Wölbung, die ich an meinem Schenkel spüre.

Er holt tief Luft, dann nickt er und verlagert die Hüften, bis sie zwischen meinen Schenkeln liegen. Die erste Berührung seiner Erektion an meiner Mitte durchfährt mich wie ein Stromstoß. Vor Aufregung und Erregung sind meine Nerven zum Zerreißen gespannt, und brennendes Verlangen pulsiert in meiner Vagina.

»Bitte …«, flüstere ich an seiner Wange ganz dicht an seinem Ohr.

Camden atmet schwer an meinem Hals. »Ich will dir nicht wehtun.«

Ich lächele und gebe ihm einen Kuss auf die Wange. »Evie schwört, dass es nur kurz wehtut und ab dann nichts als Glückseligkeit ist. Für uns beide. Also bitte schlaf jetzt mit mir, Cam.«

Seine Arme zittern, als er seinen großen Körper über meinem erhebt und nach seiner Jeans langt, die wir in unserer Hast, nackt unter die Decke zu kriechen und einander zu liebkosen, achtlos beiseite geworfen haben. Den Entschluss, dass es nun geschehen soll, habe ich erst am heutigen Abend gefasst und wollte ihn damit überraschen. Die Decke fällt bis auf seine Hüften herunter, und ich schaue an mir hinab und mustere seine muskulöse Statur, während er über mir kniet. Die vielen Stunden, die er im vergangenen Jahr in der Stahlfabrik seines Vaters gearbeitet hat, um den Job von der Pike auf zu lernen, haben seinen Körper in ein Kunstwerk verwandelt, in eine Skulptur. Als ich mit dem Finger seine straffen Bauchmuskeln bis hin zu seinem Schwanz hinabfahre, die Hand darumschlinge und sie energisch nach unten gleiten lasse, gibt Cam ein lustvolles Stöhnen von sich. Sein Penis ist lang und dick, und die Spitze glitzert von seiner Erregung. Ich benetze die Lippen, würde ihn am liebsten in den Mund nehmen.

Es ist keineswegs das erste Mal, dass ich ihn nackt sehe. Seit vier Jahren sind wir jetzt zusammen. Wir lernten uns auf der Highschool kennen, auf die ich mit vierzehn kam. Er war bereits in der zehnten Klasse und pickte mich am ersten Schultag in der Cafeteria aus der Menge heraus und fragte mich, ob wir zusammen etwas essen sollten. Ich sah in seine sanften braunen Augen und habe mich sofort in ihn verliebt. Rettungslos. Damals war das nicht viel mehr als eine Jugendschwärmerei. Vier Jahre später ist es die Art von Liebe, auf der man ein Leben aufbauen kann.

Cams Hände zittern, als er sich das Kondom überstreift und noch einmal über seinen Schaft streicht. Ich stöhne und hebe ihm die Hüften entgegen, wünsche mir inständig, dass er etwas unternimmt, irgendetwas, um dieses schmerzhafte Sehnen in mir zum Schweigen zu bringen. Auf sexueller Ebene ist dies heute unser letzter Schritt, und ich bin mehr als bereit dafür.

Er lässt die Hände zwischen meine Schenkel wandern und seufzt, als er mich dort berührt.

»Du bist schon feucht«, flüstert er und lässt die Finger vor und zurück gleiten.

»Ja.« Ich stöhne, als er seinen Zeigefinger tief hineinschiebt und den Daumen auf jene Weise um meine Klitoris kreisen lässt, die mich stets in den Wahnsinn treibt. Im Laufe der Jahre hat er das perfektioniert. Nun ist das allerdings nicht mehr genug. »Cam … bitte«, bettele ich wieder. Ich will ihn in mir spüren, sehne mich danach, mich meinem Traummann so nahe zu fühlen, wie es nur geht.

Cam entzieht mir seine Finger und richtet sich an meiner Mitte aus. Er beugt sich vor, sodass sein Körper jetzt genau über meinem schwebt. »Du weißt, dass ich dich liebe, oder?« Seine Worte klingen kehlig, als seien sie geradewegs aus den Tiefen seiner Seele emporgestiegen.

»Ja.« Ich nicke energisch, hebe ihm erneut die Hüften entgegen, bis er mit der Spitze seines Schwanzes in mich eindringt.

Zwischen zusammengebissenen Zähnen stößt er hervor: »Du weißt, dass ich dich eines Tages heiraten werde?«

Ich grinse und umfasse seine Hüften. »Tu’s einfach. Ich will dich in mir spüren.«

Er schenkt mir einen weiteren Zentimeter, während ich die Beine weiter öffne, um ihm besseren Zugang zu gewähren. Sofort fühle ich einen Druck, den ich nicht erklären kann. So prall und hart, und ganz heiß. So viel größer als nur zwei seiner Finger.

»Sagst du mir, dass du mich liebst?« Er lehnt seine Stirn an meine. »Sag mir, dass du mich immer lieben wirst, Suda Kaye«, fordert er. Er ist kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.

Ich schlucke. Tränen brennen hinter meinen Augen, denn ich weiß, was ich tun werde und wie absolut selbstsüchtig es aussehen muss. Aber ohne diesen Schritt kann ich nicht weitergehen. Ohne Cams Liebe nicht bis zum Äußersten ausgekostet zu haben, bloß dieses eine Mal.

»Ich werde dich immer lieben, Camden. Egal, was passiert.« Was auch die Wahrheit ist, nur eben nicht die ganze Wahrheit.

Er lächelt, drückt seine Lippen auf meine und dringt ganz und gar in mich ein. Ich schreie in seinen Mund, in seinen Kuss, und er verharrt in mir, während der durchdringende Schmerz durch meinen Körper flirrt und mir den Atem raubt. Er hält mich fest, bleibt vollkommen still, bis mein Körper sich daran gewöhnt hat und die Spannung langsam verebbt, sodass bloß noch loderndes Verlangen zwischen meinen Schenkeln übrig bleibt.

Er hebt den Kopf und übersät meine Wangen, meine Stirn, meine Augen mit Küssen. »Alles okay? Soll ich aufhören?«

Ich schlucke den brennenden Schmerz zwischen meinen Beinen herunter und schüttele den Kopf. »Nein. Es ist perfekt. Du bist perfekt«, versichere ich ihm.

»Gott, und du erst.« Er küsst mich, zieht sich langsam zurück und dringt wieder in mich ein. Diesmal fühlt es sich warm an, nicht heiß. Der Schmerz hat nachgelassen, und ich bin inzwischen so feucht, dass er leicht in mich hinein- und wieder hinausgleiten kann. Cam verfällt in einen bedächtigen Rhythmus, und ich frage mich, warum zum Teufel wir es noch nie gemacht haben. Es ist unbeschreiblich schön.

Cam schiebt die Hand unter meinen Nacken und legt mir die andere um die Schulter, während er seine Hüften schneller und unkontrollierter pulsieren lässt. Mein Körper vibriert vor Empfindungen und prickelnden Wogen der Lust, während ein feiner Schweißfilm unsere Körper überzieht. Ein warmes Surren breitet sich in meinen Gliedmaßen aus, setzt meine Vagina in Brand, bis die Flammen in meine Brust hinaufzüngeln. Ich schlinge meine Arme und Beine um Cam, als er anfängt, seine Hüften mit aller Macht und immer wieder gegen die meinen pulsieren zu lassen.

Er hält mich ganz fest. Seine Muskeln, sein ganzer Körper ist hart vor Anstrengung, weil er die Kontrolle nicht verlieren will. »Das ist so gut, Süße. Baby, so gut«, stößt er mühsam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Wieder stößt er in mich hinein. Diesmal verharrt er ein paar lange Sekunden lang genau in dieser Stellung. »Ich hätte nie geglaubt, dass es so gut sein könnte. Ich liebe dich. Ich liebe dich«, beteuert er in mein Ohr. Dann kommt er wieder in Fahrt.

Mein ganzer Körper ist wie elektrisiert und erfüllt von dem Verlangen zu bersten, zu explodieren, zu irgendetwas, und dann geschieht es. Er lässt eine Hand zwischen unsere Körper gleiten und zwei Finger fest über meine Klitoris kreisen. Ich lasse völlig los, schnelle ins Nirwana empor. Sterne flackern hinter meinen geschlossenen Augenlidern, und mein Körper befindet sich in einer Endlosschleife der Ekstase.

Drei weitere Stöße, wobei Cam gleichzeitig unsere Lippen und Hüften aufeinanderprallen lässt. Sein Körper ist angespannt, jeder Muskel, den ich berühre, tritt hart hervor. Er stöhnt vor Erleichterung. Hoffentlich wird er diesen schönen Augenblick nie vergessen.

Ihn immer in seinem Herzen bewahren.

Ich halte mich an ihm fest, als hinge mein Leben davon ab, will ihn nie wieder loslassen. Nur ich weiß, dass ich ihn schon bald für immer loslassen werde, dass wir unser Leben nicht miteinander verbringen werden.

Cam zieht sich aus mir zurück, legt sich dicht neben mich und schlingt mir den Arm um die Taille. »Ich werde dich immer lieben, Suda Kaye Ross«, verspricht er, dann küsst er meinen Hals und seufzt zufrieden. Er entfernt das Kondom und verstaut es in einem Papiertaschentuch, das auf dem Nachttisch liegt, bevor er zu mir zurückkehrt und sich wieder an meine sich langsam abkühlende Haut schmiegt.

Ich warte gut zwanzig Minuten, liege da und präge mir ein, wie es sich anfühlt, seinen Arm um mich zu spüren, den Schmerz zwischen meinen Schenkeln, diese Nähe, bis ich weiß, dass er eingeschlafen ist. Dann fällt mir wieder ein, was ich tun muss, und mir bricht das Herz in zwei Hälften, sodass es wie eine offene Wunde in meiner Brust liegt. Sämtliche Liebe, die wir haben, ergießt sich in die Luft zwischen uns. Dort belasse ich sie, an jenem Ort, an dem Camden Bryant mich auf dem Dachboden der Scheune geliebt hat, das riesige Fenster weit geöffnet, damit wir in die Sterne hinausblicken konnten.

Es war das schönste Erlebnis meines ganzen Lebens.

Ich schlucke die Wehmut hinunter, löse mich lautlos aus seinen Armen und schlüpfe in mein Kleid und mein Höschen, wobei ich den Blutstreifen auf meinen Schenkeln bemerke. Anschließend schnappe ich mir meine Flipflops und nehme sie in die Hand, um nur ja keinen Lärm zu machen. Als Letztes nehme ich mein Handy, hebe es in die Höhe und mache ein einziges Foto von meinem schlafenden Geliebten, denn es wird das letzte sein, das ich jemals bekommen werde.

An meiner Hand spiegelt sich das Mondlicht in dem schmalen goldenen und mit Diamanten besetzten Ring, den er mir vergangenen Monat schenkte, als ich meinen Highschool-Abschluss machte. Er versprach mir, dass er für mich sorgen wollte und mir ein schönes Leben bieten würde. Damals wusste ich nicht so genau, wo die Zukunft mich hinführen würde, weshalb ich den Ring annahm. Das war, ehe ich den Brief meiner Mutter las – jenen Brief, der alles veränderte.

Ich lasse den Ring vom Finger gleiten und lege ihn zusammen mit einem kleinen pinkfarbenen Zettel, auf den ich, schon bevor ich heute Abend herkam, eine Nachricht geschrieben habe, auf sein Handy. Es sind nur ein paar Worte, aber er wird ihre Bedeutung verstehen.

Sei glücklich. Liebe eine andere.

Fliege in die Freiheit.

Suda Kaye

Mit einem letzten Blick auf den Mann, den ich liebe und bis zu meinem letzten Atemzug lieben werde, steige ich die Leiter hinab, lasse ihn mit jeder Sprosse mehr los. Als ich die Scheune verlassen habe und das Auto erreiche, das ich von meiner Mutter geerbt habe, habe ich meine große Liebe hinter mir gelassen, denn für ein gemeinsames Leben mit ihm bin ich nicht geschaffen. Mit jedem Kilometer, den ich zurücklege, verschwindet dieses Leben immer mehr im Nebel, und neue Gelegenheiten tun sich vor mir auf. Mein Anteil von dem Geld, das Mom Evie und mir hinterlassen hat, wird durchaus eine Weile reichen, und ich habe vor, mein Leben mit seiner Hilfe voll und ganz auszukosten.

Ich werde nicht sesshaft werden. Keine Wurzeln schlagen.

Ich lebe nur im Augenblick, denke nicht an die Zukunft.

Ich muss selbst herausfinden, ob Mom recht hatte.

Vielleicht verpasst man an einem anderen Ort gar nichts, aber wenn man nur scharf genug hinsieht, kann man überall Schönheit finden.

Kapitel 1

Gegenwart

Fernweh. Für die einen einfach nur ein Wort, für die anderen ein Lebensstil. Fernweh kann man nicht so leicht ignorieren. Es lebt und atmet in dir. Ein Sehnen, das schwer zu beschreiben ist. Wenn du einmal erkannt hast, dass es in dir wohnt, lebendig ist, dich lockt, deine Gedanken mit großen Abenteuern und Entdeckungen verzaubert, musst du unweigerlich eine von zwei möglichen Entscheidungen treffen: entweder dem Ruf folgen oder ihm für immer entsagen.

Wie meine Mutter, so verspürte auch ich diese Leere in meinem Inneren, die mich dazu trieb weiterzuziehen. Zu gehen. Zu fliehen. Zu fliegen. Das Fernweh lebt immer noch in mir, manchmal gestillt, aber niemals ganz, denn ich bin stets auf der Suche.

Ich reiste von einem Ort zum nächsten. Zehn Jahre lang führte ich das Leben einer Weltenbummlerin. Schlief auf den Sofas von Menschen, die ich bei einem Konzert kennengelernt hatte, zog mit anderen Globetrottern umher, trat mit einer Bauchtanzgruppe in ganz Europa auf und ließ es mir gut gehen. Genoss das Leben in vollen Zügen. Gönnte mir ein bisschen Luxus.

Exklusives Essen auf der ganzen Welt.

Fließende Kleider, verführerisch und sinnlich.

Trips zu exotischen Orten, von denen die meisten Menschen nur träumen können.

Tolle Männer lernte ich auch kennen und schlief mit ihnen, doch mit keinem war es so wie mit Camden. Keine einzige Begegnung kam an die Nacht mit meiner ersten Liebe heran.

Aber nicht, dass man mich jetzt falsch versteht. An jedem Ort, an den meine Suche mich führte, bemühte ich mich, von vorn anzufangen, mein altes Leben in Colorado hinter mir zu lassen. Für ein paar kurze Augenblicke gelang mir das auch. Bis jenes nagende, quälende Gefühl in meinem Inneren sich erneut regte und ich wieder weiterziehen musste. Weiter zum nächsten Abenteuer, mit dem ich die innere Leere zu füllen versuchte.

Ich fuhr über die Autobahn in Deutschland. Verbrachte einen Monat in einem Ashram in Indien, lernte die Kunst des Yoga und der Selbstliebe. Küsste einen Franzosen unter dem Eiffelturm. Aß Pasta mit einem fantastischen Italiener in einer kleinen Stadt am Meer an der Stiefelspitze Italiens. Ich ritt auf einem Kamel durch die Wüste und berührte die Pyramiden von Gizeh. Betete um Erleuchtung am Fuße der Cristo-Redentor-Statue in Brasilien. Trug einen flauschigen Kosakenhut in Russland, während ich im Schnee tanzte. Ich fuhr auf dem Fahrrad durch Kopenhagen. Segelte durch die Fjorde in Norwegen. Beobachtete an meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag den Silvester Ball Drop am Times Square. Damals war Evie zu Besuch, und den ersten Kuss im neuen Jahr gab ich ihr.

Trotz all dieser wunderschönen Erlebnisse, trotz dieses atemberaubenden Lebens reichte rein gar nichts an die Nacht heran, in der ich mich Camden Bryant hingegeben hatte. Auch heute noch ist dies meine kostbarste Erinnerung. Ich bewahre sie tief in meinem Herzen, rede nie darüber – mit niemandem. Noch nicht einmal mit Evie. Sie weiß, dass ich an Cam meine Jungfräulichkeit verloren und noch in derselben Nacht die Stadt verlassen habe, aber sie versuchte nie, mehr darüber zu erfahren. Intuitiv schien ihr klar zu sein, dass ich nicht darüber sprechen konnte.

Jahrelang ließ ich mich vom Wind treiben, genau wie meine Mutter es getan hatte, und ich bedaure es nicht. Die Fremde reizt einen immer, einfach schon deshalb, weil damit etwas Unbekanntes verbunden ist. Jede Laune des Augenblicks bringt wieder etwas Neues, das in atemlosem Staunen mündet. Doch im Laufe der Zeit lernte ich eines: Weder die Chinesische Mauer, Machu Picchu, der Taj Mahal, die Inseln Hawaiis oder jede andere Sehenswürdigkeit noch meine fantastischen Abenteuer können mit dem Gefühl mithalten, zu Hause zu sein.

In den letzten Jahren begann ich zu verstehen, warum meine Mutter immer wieder zurückkehrte. Es lag nicht nur an Evie, an mir oder an unserem Großvater Tahsuda, an dem Reservat in Oklahoma oder unserem Haus in Colorado, wo wir letztlich landeten. Es war alles zusammen. Das ganze Paket. Dieser Ort und seine Menschen waren ihr vertraut. Nach dieser Art von Schönheit musste man nicht lang und breit suchen, denn sie existierte bereits. Das hatte auch Mom gewusst.

Ich halte Moms Brief in der Hand, während das Flugzeug endlich auf dem Denver International Airport landet.

Mit zitternden Fingern öffne ich ihn und hole tief Luft, erinnere mich daran, wo ich noch vor nur achtzehn Stunden war.

In Australien. An meinem achtundzwanzigsten Geburtstag.

Ich hatte ihn gestern in Sydney gefeiert, doch nachdem ich Moms Worte gelesen hatte, packte ich meine Siebensachen, gab meinem derzeitigen Freund, Brody – einem lässigen australischen Surfer mit goldbrauner Haut und einem Wahnsinnslächeln –, einen schnellen Abschiedskuss und wünschte ihm alles Gute. Zum ersten Mal seit zehn Jahren musste ich nach Hause. Ich musste einfach. Das war mein Schicksal. Mit Brody konnte man unglaublich viel Spaß haben, aber er hatte auch das Herz am richtigen Fleck, weshalb er … verstand. Er stellte nicht mal Fragen. Er wusste Bescheid. Jeder Mann, mit dem ich in den letzten zehn Jahren Zeit verbrachte, wusste Bescheid.

Suda Kaye Ross ließ sich vom Wind treiben.

Ich hatte es sogar schriftlich. Meine Mutter hatte mir diese Botschaft auf rosafarbenem Briefpapier hinterlassen.

Seit ich damals Pueblo verlassen hatte, hatte ich mich mit unersättlichem Überschwang allem hingegeben, was meine Mutter mir geraten hatte, war ihren Empfehlungen mit unstillbarer Lebensgier gefolgt. Dieser letzte Brief jedoch warf alles, was sie mir sonst noch beigebracht hatte, über den Haufen. Im Vergleich zu den Briefen zuvor vollführte sie hier eine Hundertachtziggradwende. Der Brief zu meinem achtzehnten Geburtstag hatte mir geraten, nach Italien zu fliegen und einen Mann namens Marco in Kalabrien aufzusuchen. Sie hatte eine Adresse und eine Telefonnummer notiert. Als ich dort auftauchte, wusste Marco sofort, wer ich war, und empfing mich mit offenen Armen. Sein Sohn war sogar noch entgegenkommender, wärmte mir das Bett und half mir über meine Camden-Krise hinweg. Wenn wir nicht gerade im Ristorante seiner Familie arbeiteten, verbrachten wir die darauffolgenden Monate im Bett, bis mich wieder das Fernweh packte und ich von dieser inneren Unruhe erfasst wurde. Nach einem halben Jahr reiste ich wieder ab und fuhr nach Frankreich, wo ich mich mit einem weiteren von Mutters Kontakten traf.

In einem Brief meiner Mom zu meinem neunzehnten Geburtstag fand ich ein Buch, gefüllt mit Namen, Zahlen und Adressen und dazu folgende Nachricht:

Suda Kaye, huutsuu,

öffne das Buch, deute auf eine beliebige Seite und lass Dich vom Wind treiben. Tu das jedes Mal, wenn Dich der Drang überkommt, die Flügel auszubreiten. Fliege in die Freiheit, mein kleiner Vogel. Koste das Leben in vollen Zügen aus. Doch sei anderen gegenüber immer aufrichtig. Wecke nie die Erwartung in ihnen, dass Du mit den Füßen auf dem Boden bleibst.

Bedaure nichts, mein Liebling.

In Liebe

Mom

Ich verbrachte also die darauffolgenden Jahre damit, eine beliebige Seite aufzuschlagen und davonzufliegen. Ich schickte Evie Postkarten und Geschenke von meinen Reisen, kehrte aber nie nach Hause zurück. Allein die Vorstellung, wieder an dem Ort zu sein, an dem ich meine Mutter verloren und meine große Liebe verlassen hatte, war zu schmerzhaft. Bis heute. Bis zwei Worte meiner Mutter mich nach Hause trieben.

Ich seufze und falte den Brief auseinander, schaue mir, seit ich dieses Flugzeug bestiegen habe, ihre wunderschöne Handschrift bestimmt zum hundertsten Mal an.

Suda Kaye, huutsuu,

Du hast deine Abenteuer gehabt. Hoffentlich hast Du meine Ratschläge befolgt und Deine Flügel ausgebreitet, um mithilfe des Geldes, das ich Dir hinterlassen habe, die ganze Welt zu bereisen.

Wenn es eins gibt, das ich bereue, dann die Tatsache, dass ich meine Abenteuer nie mit meinen Mädchen geteilt habe. Eines Tages wirst Du das verstehen. Fernweh ist vielleicht ein Teil von uns, aber wir selbst entscheiden, wann wir davon ablassen.

Heute und für die nächste Zukunft wünsche ich mir von Dir, dass Du mutig bist, stark, all das, was ich niemals sein konnte.

Sesshaft.

Vollkommen im Reinen mit Dir.

Du kannst das schaffen, mein Liebling. Der Zeitpunkt ist gekommen, auch mich loszulassen, genau wie Deinen inneren Drang, davonzufliegen. Damit meine ich nicht, dass Du Dir Deine Flügel stutzen sollst, denn eines Tages wirst Du sie noch brauchen.

Sei eine verlässliche Freundin.

Eine treue Ehefrau.

Eine verantwortungsvolle Mutter.

Eine liebevolle Schwester.

Sei für Evie da. Für unsere Familie. Säe. Schlage Wurzeln. Binde dich an einen Ort und suche Dir etwas, das Deine Seele mit einem anderen Wunsch erfüllt. Dem Wunsch, gebraucht zu werden. Begehrt. Geliebt. Da.

Kehre heim.

Wo immer dein Zuhause ist, geh jetzt dorthin.

Mit aller Liebe, die die Welt zu geben hat

Mom

Kehre heim.

Nachdem ich so viele Jahre lang das Leben und die Schönheit, die die Welt zu bieten hat, gefeiert habe, ergießen sich die Worte meiner Mutter in meinen Geist wie ein warmes, glühendes Licht. Der Gedanke an Evie, die Vorstellung, in ihrer Nähe zu leben, fühlt sich … richtig an. Sie kommt der Vision von einem Zuhause näher als alles andere.

Es wird Zeit, Frieden mit dem zu schließen, was ich zurückgelassen habe. Zeit, mich zu erden, meinem Leben Beständigkeit zu geben. Stabilität.

Eine Freude, die ich schon seit zehn Jahren so nicht mehr empfunden habe, durchrieselt mich bis ins Mark, wärmt mich von innen heraus, als die Flugzeugreifen den Boden berühren. Ich sehe aus dem Fenster und lächele beim Anblick des Himmels von Colorado.

Ich bin daheim.

h

Kaum verlasse ich den Denver Airport, entdecke ich einen schnittigen schwarzen Porsche Cayenne, der müßig am Bordstein herumsteht. Allerdings ist es nicht der Wagen, der mir den Atem raubt, sondern vielmehr die unglaublich attraktive Frau, die mit vor der Brust verschränkten Armen lässig dagegenlehnt. Ihre langen blonden Locken fallen über ihre Schultern wie fein gesponnenes, welliges Gold. Sie trägt eine schwarze Pilotenbrille mit feinem Goldrand, eine taillierte mitternachtsschwarze Hose, eine weich fließende weiße Seidenbluse, ein Paar verdammt sexy Stilettos und als Krönung des Ganzen einen schwarzen Lederblazer. So edel gestylt. Sie sieht einfach fantastisch aus. Als wäre sie gerade dem Cover von Business Badass entstiegen – wohlgemerkt, der Frauen-Ausgabe!

Ihre pinkfarbenen Lippen verziehen sich zu einem verhaltenen Lächeln.

»Wird auch langsam Zeit.« Sie reckt das Kinn, dann strahlt sie mich an. Überglücklich breitet sie die Arme aus und stößt sich vom Wagen ab.

»Schwesterherz!«, kreische ich und renne ihr in meinen Sandalen mit Keilabsatz aus Kork entgegen, wobei mein Maxikleid mich umflattert. In einem Arm halte ich meinen labberigen Sonnenhut mit der breiten Krempe.

Wir prallen aufeinander, kichern wie Schulmädchen und nicht wie erwachsene Frauen, von denen die eine schon Ende zwanzig ist und die andere gerade dreißig geworden ist.

»Alles Gute zum Geburtstag!« Ich weiche zurück und gebe ihr zwei Küsse auf die Wangen.

»Gleichfalls, Schwesterherz!«, grinst Evie. Dann löst sie sich von mir, schlingt mir den Arm um die Taille und führt mich zu ihrem schicken SUV.

»Hübsche Karre.« Ich lache leise vor mich hin.

»Besser als die alte blaue Klapperkiste von einem Käfer, die ich fuhr, als du das letzte Mal hier warst, hm?«

Ich lache und wuchte meinen riesigen Trolley mit einem lauten Rums in den Kofferraum. In diesem Gepäckstück befindet sich mein ganzes Leben, und zum Glück ist mir auf all meinen Reisen nie etwas abhandengekommen.

»Das kannst du laut sagen!« Ich schlage die Heckklappe zu, und wir springen ins Auto.

Kaum auf der Straße, setze ich meinen Hut wieder ab und werfe ihn ohne Umschweife auf die Rückbank. Dann krame ich in meiner riesigen Hobo-Reißverschlusstasche auf der Suche nach meinem Lippenbalsam. Nach dem Flug sind meine Lippen total ausgetrocknet.

»Wohnst du immer noch in Colorado Springs?« Ich kreuze die Finger neben meinem Oberschenkel, denn ich hoffe, dass wir nicht nach Pueblo zurückkehren, wo Mom so lange gegen den Krebs kämpfte. Damals wollte sie, dass wir wie ganz normale Schülerinnen zur Highschool gingen, statt privat unterrichtet zu werden wie zu unserer Zeit im Reservat, als wir noch bei unserem Großvater lebten.

Evie schiebt sich das lange Haar wieder hinters Ohr und konzentriert sich auf die Straße. Immerhin wird unsere Fahrt beinahe zwei Stunden dauern.

»Ja, aber ich bin häufig in meinem Büro in Pueblo, denn man braucht nur vierzig Minuten dorthin. Ein- oder zweimal die Woche fahre ich nach Denver, um an Vorstandssitzungen teilzunehmen.« Sie zieht die Nase kraus.

»Das ist sicher genau dein Ding.« Ich lächele und lege meine Hand auf ihre, die auf der Mittelkonsole ruht.

Sie erwidert meinen Händedruck, und ich kann unsere schwesterliche Zusammengehörigkeit fast körperlich spüren. Das Gefühl wandert über meine Handfläche, den Arm entlang bis hinauf zu meinem Herzen und erfüllt es mit einer Wärme, die ich eigentlich immer nur in Evies Gegenwart spüre.

»Du kennst mich gut.«

»Ich weiß, dass du nie gern Auto gefahren bist. Ich würde ja anbieten, dich abzulösen, aber ehrlich gesagt liebe ich dich zu sehr und bin zu müde. Ich würde gegen die Leitplanke donnern oder in einen Graben fahren. Der Flug war echt anstrengend.«

Evie lacht. »Lass mich nachdenken. Wie lange warst du in Australien? Manchmal weiß ich, ehrlich gesagt, gar nicht mehr, wie lange du dich an deinen einzelnen Stationen herumgetrieben hast.«

Ich zucke mit den Schultern. »Hm, ich glaube, drei Monate. Davor war ich in Neuseeland. Bin dort mit einem Rugbyteam herumgefahren.«

Evie zieht die Brauen so weit hoch, dass sie den Rand ihrer Sonnenbrille überragen. Mit ihren blauen Augen wirft sie mir kurz einen Blick über den Brillenrand hinweg zu. »Mit einem Rugbyteam? Suda Kaye, erzähl mir jetzt nicht, du hast mit einem ganzen Rugbyteam gevögelt.«

Beinahe schockiert öffne ich den Mund und versetze ihr einen spielerischen Schlag auf den Oberarm. »Nein. Nur mit zweien … aber das immerhin gleichzeitig, sodass man eigentlich bloß von einer einzigen Affäre sprechen kann.«

»Ernsthaft?!« Sie umklammert das Lenkrad, ruckelt energisch daran und klingt halb entrüstet und halb eifersüchtig. Dann schüttelt sie den Kopf. »Du hast vielleicht ein Leben! Wer hätte gedacht, dass meine kleine Schwester mal um die Welt reisen und sich ausschließlich von ihrem Bauchgefühl leiten lassen würde.«

»Mom hat es gedacht«, antworte ich leise und muss an den Grund denken, aus dem ich zurückgekehrt bin.

Evie lässt die Schultern hängen und seufzt tief. »Ja, du hast recht.« Sie räuspert sich, und die Trauer breitet sich im Inneren des Wagens aus wie dichter Nebel. Wahrscheinlich denken wir jetzt beide an unsere Mutter.

»Na ja, erzähl mir doch mal ein bisschen von Brady, dem australischen Surfer!«

Ich lächele, denke an Brodys zerzaustes, langes Haar, das ihm bis auf die Schultern herabfällt, seine großen blauen Augen und seine schlanke Figur. »Er heißt Brody. Und er war toll. Ein echter Gentleman.«

»Wirklich? Ein Gentleman?«, erkundigt sich Evie ungläubig.

Ich schnaube. »Nein, nicht wirklich. Er ist ein friedliebender, Gras rauchender Hippie, ein begnadeter Surfer – und toll im Bett.«

Evie lächelt und gluckst vor sich hin. »Und er hatte nichts dagegen, dass du gehst?«

»Das war von Anfang an der Deal. Mit mir kann man Spaß haben, aber ich lasse mich auf nichts Ernstes ein.« Ich fahre mir mit den Fingern durch das lange braune Haar in dem Versuch, es zu entwirren. Von der Nacht im Flugzeug ist es total verfilzt.

»Fällt dir das denn nicht schwer? Mit einem Mann zusammen zu sein, mit ihm in einem Bett zu schlafen, manchmal sogar monatelang, und dann einfach fortzugehen, nur weil dir gerade der Sinn danach steht? Keine Ahnung, wie du das machst, Suda Kaye. Aber ich bin ja sowieso vollkommen anders. Gerade ich habe ja auch nie verstanden, warum Mom uns monatelang verließ, dann für ein paar Wochen wieder zurückkehrte, nur um irgendwann wieder zu verschwinden. Mit leuchtenden Augen und voller Vorfreude auf ihr nächstes Abenteuer.«

Bei ihren Worten dreht sich mir der Magen um.

Sie nimmt ihre Brille ab und sieht mich an. Plötzlich wirkt sie so verletzt, dass ich den Schmerz körperlich spüre. »Wir waren ihr niemals genug. Und dann wurde sie krank …«

Ich schlucke die Galle herunter, die in meiner Kehle kratzt. »Evie … sie konnte einfach nicht aufhören. Das brachte sie damals einfach nicht über sich, und als sie es endlich schaffte …«

»War es zu spät.«

»Wenigstens hatten wir diese letzten Jahre mit ihr. Dafür sollten wir dankbar sein.«

Evie schnaubt. Dankbarkeit ist anscheinend das Letzte, das sie empfindet. Vielmehr macht sie den Eindruck, ihre Frustration am liebsten lautstark in die Welt hinausschreien zu wollen. Aber sie würde nie explodieren. Dazu ist sie zu beherrscht. Zu reserviert. Korrekt. Kontrolliert.

Ich beobachte, wie die simmernde Wut im Schweigen zwischen uns wieder abkühlt, und schwöre mir, meiner Schwester dabei zu helfen, die Gefühle, die sie unterdrückt, an die Oberfläche zu holen. Niemand sollte sein Leben lang auch nur ein Stück seiner selbst zurückhalten. Eine Maske aufsetzen müssen, um die Trauer darunter zu verbergen. Das ist nicht gesund.

Allerdings bin ich klug genug, um zu wissen, dass dafür jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist. Immerhin bin ich nach zehn Jahren gerade erst wieder zurückgekehrt.

Evie atmet tief ein und schenkt mir ein Lächeln, aber ich durchschaue sofort, dass es gestellt ist. »Also, wie lange willst du bleiben? Wann wartet das nächste große Abenteuer auf dich, und wohin führt es dich?«

Ich greife nach der Hand meiner Schwester, führe sie an die Lippen und gebe ihr einen Kuss auf den Handrücken. »Keine Ahnung. Mein Herz und meine Seele haben mich wieder nach Hause geführt.«

»Ach ja? Heißt das, ich kriege dich vielleicht für zwei Wochen? Einen Monat? Drei? Wie der sexy Surfer Brady?«

Ich kichere und halte ihre Hand weiter fest. »Er heißt Brody, und nein, ich setze mir keinen bestimmten Zeitrahmen.«

»Na ja, du weißt ja, dass du bei mir immer ein Zuhause hast. Egal wann oder für wie lange.«

Ich lächele. »Gut. Ich verlasse mich drauf.«

Evie summt so lange »hmmmmmm«, dass sie hinterher tief einatmen muss.

»Du brauchst gar nicht so skeptisch zu sein. Ich hatte das Bedürfnis, nach Hause zu kommen«, beharre ich mit einer Endgültigkeit in der Stimme, die ich selbst kaum glauben kann.

»Ja? Und was sagt Mom in ihrem Brief an dich dazu? Hast du ihn schon aufgemacht? Im letzten hat sie dir geraten, von einer Klippe in Neuseeland zu springen, wodurch du ebenfalls einen sexy Surfer kennengelernt hast, der dich vorm Ertrinken gerettet hat, wenn ich mich recht entsinne.«

Ich berühre die Lippen mit den Fingern und zucke mit den Schultern. »Stimmt schon, aber diesmal hat mir Mom in dem Brief etwas anderes geraten.«

»Ach ja? Was stand drin?«

Ich beiße mir auf die Unterlippe, drehe mich zur Seite, sodass ich ihr geradewegs in die Augen sehen kann. Sie wirft mir einen kurzen Blick zu, dann konzentriert sie sich wieder auf die Straße.

»Sicher wird es mir nicht gefallen. Jeder Brief, den Mom geschrieben hat, stresst mich. Andererseits kann ich es meist kaum erwarten, den nächsten in dem Stapel zu lesen«, vertraut Evie mir an.

Das geht mir genauso. Es ist ein unbeschreiblich schönes Gefühl, wenn das Datum näher rückt, an dem man den nächsten Brief lesen darf.

»Sie hat mir gesagt, ich solle Zeit zu Hause verbringen. Mit dir.«

Sie runzelt die Stirn und verzieht die Lippen zu einem Schmollmund. »Also hast du einfach alles stehen und liegen gelassen und bist in den Flieger nach Hause gestiegen. Nach zehn langen Jahren in der Fremde?«

»Ja. Genau.«

»Suda Kaye, ist dir eigentlich klar, wie verdammt verrückt das klingt? Hörst du dir überhaupt selbst zu? Besonders nach ihrem Tod sind Moms Worte natürlich auch für mich besonders wertvoll, aber …« Sie stößt die Luft aus, dann schiebt sie sich die langen seidigen Strähnen aus dem Gesicht. »Huutsuu, sie sind nicht der Weisheit letzter Schluss. Du musst dein eigenes Leben führen. Hör nicht auf das, was unsere Mutter dir rät, sondern mach das, was du willst.«

»Und wo wäre ich jetzt, wenn ich das täte?«

Sie schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Vielleicht mit einem tollen Mann verheiratet, wahrscheinlich mit Cam. Vielleicht hättest du zwei Kinder von ihm und durch sein Stahlimperium ausgesorgt?«

Mir bleibt die Luft weg, als Camdens Name fällt. Ich greife mir an die Kehle und drücke dann hastig auf den Knopf an der Autotür, um das Fenster herunterzulassen, sodass etwas frische Luft hineinströmt.

»Hör auf, Evie. Das ist nicht lustig.«

Sie seufzt und streckt die Hand aus, um mir über den Arm zu streichen. »Ich weiß, tut mir leid. Aber mir will ehrlich gesagt nicht in den Kopf, warum Camden so ein Tabuthema ist. Immerhin bist du diejenige, die ihn verlassen hat. Du hast mir nie erzählt, was zwischen euch beiden vorgefallen ist. Ich erinnere mich nur noch, dass er am Boden zerstört war, als er nach deiner Abreise vor unserer Tür stand.«

Ich halte die Hand hoch. »Hör auf. Ich kann nicht über ihn reden. Es ist lange her. Es reicht, wenn du weißt, dass ich jetzt hier bin und nicht vorhabe, wieder zu gehen.«

»Tut mir leid, wenn ich dir nicht glaube, Suda Kaye.« Evies Stimme klingt gequält. »Aber ich wage es einfach nicht, mir Hoffnungen zu machen.«

»Was muss ich tun, damit du mir glaubst, dass ich bleibe? Es versprechen? Ich verspreche es dir. Ich bleibe.«

»Ein Jahr. Nein, zwei!«, fordert sie. Aber die Verzweiflung in ihrer Stimme windet sich um mein Herz und drückt zu.

Sie braucht mich.

Evie fährt unverdrossen fort. »Die Ross-Schwestern sind einfach zu lange voneinander getrennt gewesen. Ich will nicht gezwungen sein, in ein Flugzeug zu steigen, um meine Schwester an irgendeinem x-beliebigen Ort zu treffen. Reisen ist nicht mein Ding, das weißt du.«

»Oh ja, und wie ich das weiß!«

»Dann versprich es mir. Zwei Jahre an ein und demselben Ort. Gib uns eine Chance. Tu’s für mich. Für uns. Wir brauchen das.« Sie legt die Hand auf meinen Oberschenkel, direkt oberhalb des Knies. »Ich brauche das. Ich habe keine Lust mehr, mir Sorgen darum zu machen, ob du vielleicht auf irgendeinem Berg in China oder einer zwielichtigen Biker-Bar ums Leben gekommen bist. Gib mir etwas von meinem inneren Frieden zurück. Schenk mir deine Zeit.«

»Unter einer Bedingung.«

»Spuck’s aus«, antwortet sie sofort.

»Du hilfst mir dabei herauszufinden, was ich in den nächsten beiden verdammten Jahren mit meiner Zeit anfangen soll!« Ich grinse breit und lege meine Hand auf die ihre, drücke sie.

Evie strahlt mich an. Es ist, als seien die Wolken aufgerissen, und die Sonne schiene noch heller. Die bedrückende Atmosphäre im Auto verfliegt, und an ihrer Stelle machen sich Glückseligkeit und Liebe breit.

»Abgemacht.«

Kapitel 2

Zwei Monate später …

Aufwachen, Schlafmütze!«Mein Körper wird hin und her geschüttelt. Ich öffne die Lider und sehe in ihre blauen Augen.

»Du hast irgendetwas von einer Verabredung heute gemurmelt. Und warum schläfst du auf der Couch, wenn ich ein perfekt ausgestattetes Gästezimmer habe? Du hängst dort deine Kleider in den Schrank, warum legst du dich also nicht auch in das gemütliche Bett?« Evie streichelt mir über die Wange und drückt ihren Hintern in Taillenhöhe an meinen Rücken. Ich schlafe mit angezogenen Knien auf der Seite.

»Ich liebe dein Gesicht.« Ich lächele zu der schönsten Frau empor, die ich kenne.

Sie tippt mir auf die Nasenspitze und zwinkert mir frech zu. »Und ich deins. Also, was soll das hier alles?« Sie streckt den Arm aus und deutet auf das Chaos, das ich im Zimmer veranstaltet habe. Auf dem Tisch liegen nicht zusammenhängende Stofffetzen herum. Der Boden ist übersät mit verschiedenen Kisten voller Krimskrams, den ich auf der ganzen Welt zusammengesammelt habe. Ich habe sie durchgesehen, um zu überprüfen, was davon vielleicht als Ware infrage kommt für die Idee, die mir jetzt schon zwei Monate lang im Kopf herumspukt. Auf den Stoffen aus Istanbul liegen Import-/Export-Kataloge, aus denen jede Menge Klebezettel herausragen, mit denen ich die Produkte markiert habe, auf die ich ein Auge geworfen habe.

Ich benetze die Lippen und beiße mir auf die Unterlippe.

Evie sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Oh nein, mhm-mhm, den Gesichtsausdruck kenne ich.« Eilig springt sie auf. »Du bereitest dich auf dein nächstes Abenteuer vor. Ich kenne diesen Blick, Suda Kaye. Mom hat uns von klein auf beigebracht, ihm mit Argwohn zu begegnen. Du hast es verspro-chen!« Sie zieht das letzte Wort ausdrücklich in die Länge, sodass eine beträchtliche Dosis Enttäuschung jeden einzelnen Buchstaben markiert. Es überrascht mich, dass sie nicht auch noch mit dem Fuß aufstampft.

Ich setze mich auf und schüttele den Kopf. »Nein. Nichts dergleichen. Ich plane nur. Ich habe eine Idee, über die ich sowieso mit dir reden wollte, aber … äh …« Ich blicke zur Uhr hinüber und erkenne, dass ich nicht rechtzeitig da sein werde, wenn ich jetzt nicht in die Gänge komme. »Später. Wir reden später darüber. Vielleicht morgen, wenn ich noch mehr zusammengetragen habe.«

»Morgen ist Samstag, und wir haben uns doch ganz fest vorgenommen, Tahsuda im Reservat zu besuchen. Ist eine ziemlich lange Fahrt. Und ich werde nicht zulassen, dass du unseren Großvater noch einen einzigen Tag länger warten lässt.« Trotzig verzieht sie die Lippen.

Ich stöhne und stehe auf, nur mit einem Hemdchen und einem Spitzenunterhöschen bekleidet. »Ich will mich um den Besuch ja auch gar nicht herumdrücken. Wahrscheinlich hat er bereits ein ernstes Wörtchen mit den Stammesältesten geredet, um mit ihnen gemeinsam Pia Mupitsi anzurufen und mich wieder zur Vernunft zu bringen!«

Wir erschauern beide bei der Erwähnung der Big Maneater Owl, des kannibalistischen Ungeheuers, mit dem unser Großvater uns in unserer Kindheit erschreckte, damit wir gehorsam waren. Er machte uns eine solche Angst damit, dass er nie die Hand gegen uns erheben musste.

»Toko ist schon verärgert genug, weil du so lange weg warst«, warnt Evie. »Du willst ihn doch bestimmt nicht noch wütender machen!«

Ich spüre, wie ich die Schultern hängen lasse, und das Schuldgefühl-Monster regt sein hässliches Haupt, weil ich ihn nie besucht habe. Immerhin ist er unser einziger lebender Verwandter mütterlicherseits: Großvater Tahsuda oder toko, was in der Sprache der Komantschen so viel heißt wie Großvater vonseiten der Mutter. Natürlich gibt es da noch unseren abwesenden Vater Adam Ross, der genau genommen mein Stiefdad und nur Evies leiblicher Vater ist. Ihm jedoch stand ich nie besonders nahe. Ich frage mich, wo er jetzt wohl gerade sein mag. Bestimmt weiß Evie das. Sie war immer besser darin, nachzuhalten, wo seine Truppen gerade stationiert waren.

»Du hast recht.« Ich gehe zur Kaffeemaschine hinüber, werfe eine Kapsel hinein, stelle meine Tasse unter die Düse und drücke auf Start. »Was hast du heute noch alles vor?«

»Ich muss zu einem Meeting in der Stadt. Willst du mit mir zu Abend essen?«

»Klar. Klingt gut. Übrigens, Schwesterherz«, sage ich in spöttisch-schwesterlichem Ton, »ich bin jetzt schon zwei Monate hier, und du hattest noch kein einziges Date.«

Evie greift nach ihrer Handtasche und schlingt sie sich über die Schulter. »Und …«

Ich runzele die Stirn. »Und du hast doch auch Bedürfnisse, aber wie soll das gehen, wenn du dich nie mit irgendwem triffst oder zumindest mal einen Typen an der Bar aufgabelst?«

Evie blickt zur Decke und seufzt.

»Wie lange ist es her? Ein paar Monate?«, frage ich leise.

Evie presst die Lippen zu einer flachen Linie zusammen.

»Sechs Monate? Ein Jahr?« Mir bleibt der Mund offen stehen. »Über ein Jahr?« Sie verzieht keine Miene. Ich schnappe nach Luft. »Du lieber Gott, Evie!«

»Halt den Mund. Nicht jeder ist so umtriebig wie du. Ich habe keine Zeit, mich mit Männern zu treffen. Nachdem ich mich von Stan Ludley getrennt hatte …«

»Du meinst Dudley«, murmele ich, greife nach der Kaffeetasse und nehme sie mit zum Kühlschrank, dem ich den Kaffeeweißer mit Kürbisgeschmack entnehme und eine großzügige Portion in den Kaffee gieße. Kürbisgeschmack steht bei mir das ganze Jahr über hoch im Kurs. Diese Creamer-Sorte sollten sie definitiv nie aus dem Sortiment nehmen. Und bis zu dem Tag, an dem sie es doch tun, heißt es für mich … Kürbis-Glückseligkeit an jedem Tag.

»Ach komm schon, Suda Kaye. So schlimm war Stan nun auch wieder nicht!«

Ich drehe mich zu ihr um und führe die Tasse an die Lippen. »Nein. Stan Ludley war genauso langweilig wie sein Name. Ich meine, wie kann man sein Kind nur so nennen? Nur langweilige Eltern tun so etwas. Und damit haben sie den armen Kerl zu einem Leben in Langeweile verdammt.«

»Oh, was du nicht sagst … Suda Kaye!« Sie spricht meinen Namen ganz laut aus.

»Genau. Eeev-ieeeeeee. Ganz genau. Du brauchst jemanden, der Rico oder Javier heißt.« Ich grinse.

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Und was ist mit dir? Ist schließlich schon zwei geschlagene Monate her, seit dich dein Surfer flachgelegt hat.«

Ich stelle meine Tasse ab und schlage mit dramatischer Geste auf die Theke. »Ich weiß! Zwei Monate zu lang! Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich mich vornehmlich darauf konzentriert habe herauszufinden, was ich zum Teufel noch mal mit meinem Leben anfangen soll. Außerdem muss ich Colorado Springs näher kennenlernen und mich auch mal wieder in Pueblo umsehen.« Ich tippe mir mit dem Zeigefinger an die Unterlippe. »Ich hab’s. Wir ziehen los und reißen ein paar heiße Typen auf. Nur zum Spaß. So ein Mädelsabend in der Stadt wäre jetzt sicher genau das Richtige.«

»Nein. Keinesfalls. Dann zwingst du mich womöglich, mich total in Schale zu werfen, und irgendwann lande ich mit einem wildfremden Typen im Bett, habe beim Aufwachen am nächsten Morgen einen furchtbaren Kater und schäme mich in Grund und Boden.«

»So Gott will!« Ich klatsche Beifall und lache von einem Ohr zum anderen.

Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin nicht wie du, Suda Kaye. Ich kann nicht mit jedem ins Bett steigen.«

»Willst du damit sagen, dass ich leicht zu haben bin?« Ich schürze die Lippen.

»Willst du etwa behaupten, dass du es nicht bist?«

Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange und schüttele den Kopf. »Du hast recht.«

»Wie kannst du das nur so oft machen und dabei gar nichts empfinden?« Ihre Stimme klingt nun abfällig und spitz.

Eine heiße Flamme lodert in meiner Brust auf, als habe sie mir einen Schlag versetzt. »Wow, Evie, das war ganz schön hart. Ich mag die Männer, mit denen ich in die Kiste gehe, immer sehr. Nur weil ich einen Mann, mit dem ich Sex habe, nicht gleich liebe, heißt das ja noch lange nicht, dass er mir egal ist oder ich ihn nicht schätze und respektiere. Und umgekehrt. Ich bin einfach bloß offen und lasse mich gern auf ein gemeinsames Erlebnis ein. Warum sollte man, solange man darauf achtet, dass der Sex safe und einvernehmlich ist und beide ungebunden sind, nicht etwas Wunderschönes mit einem Menschen erleben, dem man sich verbunden fühlt, und sei es nur für eine einzige Nacht? Das ist mir erheblich lieber, als allein zu sein und von niemandem berührt zu werden.«

Evie lässt die Arme sinken und streicht mit den Händen die Vorderseite ihrer roten Seidenbluse glatt, um danach den ohnehin perfekt sitzenden Saum noch gerade zu zupfen. Heute hat sie dieses Oberteil mit einer schwarzen Zigarettenhose kombiniert, und dazu trägt sie rote Peeptoes. Das Haar hat sie zu einem strengen Knoten zusammengefasst, sodass sie von Kopf bis Fuß wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau aussieht.

»Tut mir leid. Geht mich ja auch nichts an.«

»Alles, was mich betrifft, geht dich etwas an, Evie.«

Sie lächelt sanft.

»Versuch doch vielleicht mal – keine Ahnung –, na ja, einfach wenigstens hin und wieder etwas aufgeschlossener zu sein. Über den Tellerrand zu blicken. Das Bild auch außerhalb der Umrisse mal auszumalen. Loszulassen.«

Evie atmet tief ein und seufzt. »Vielleicht weiß ich gar nicht, wie das geht.«

Ich lächele und nippe an meinem Kaffee. »Dann bin ich ja gerade rechtzeitig wieder nach Hause gekommen, denn darin bin ich Expertin.«

Sie schließt die Augen und schenkt mir ein trauriges Grinsen, das ich nicht zu deuten vermag. »Bis später. Und vielleicht solltest du heute Abend vor dem Zubettgehen mal eine Pyjamahose anziehen?« Sie dreht sich um und legt die Hand auf die Türklinke.

»Vielleicht. Aber wahrscheinlich eher nicht.« Ich wackele mit den Hüften und schwenke sie hin und her. »Du hast Glück, dass ich überhaupt etwas anhabe. Normalerweise schlafe ich nackt.«

Evie schüttelt den Kopf und kichert. »Vermiss mich«, sagt sie.

»Vermiss du mich noch mehr.«

»Immer«, flüstert sie und schließt die Tür.

Ich schließe die Augen und lehne mich an die Theke, denke an all die Gelegenheiten, als Mom diese Worte zu uns sagte, bevor sie sich wieder zu einem neuen Abenteuer aufmachte. Nie verließ sie uns ohne diese persönliche Variante von Auf Wiedersehen: »Vermiss mich«. Bis zu dem Tag, an dem sie zum letzten Mal von uns Abschied nahm.

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»Auf wie viel, sagten sie, beliefe sich die Monatsmiete für das gesamte Gebäude?«

»4000. Wenn Sie zusätzlich die Atelierwohnung oben mieten wollen, kann ich definitiv etwas machen, wahrscheinlich wären es dann um die 3800. Vorausgesetzt natürlich, dass Sie für beides die komplette Sechsmonatsmiete im Voraus zahlen können. Was dann etwa 22 800 Dollar wären. Ich kenne den Besitzer der Immobilie recht gut, weiß also, dass er auch das Obergeschoss vermieten will.«

Ich betrachte die weitläufigen, offenen Räumlichkeiten, umgeben von nackten Backsteinmauern, die ihnen einen ganz besonderen Charme verleihen. »Zunächst einmal: Die obere Atelierwohnung hat keinen separaten Eingang. Sie ist nur über den Laden zugänglich, und die Tür, die die Wohnung vom Rest trennt, liegt innen. Das heißt, wenn der Besitzer die Wohnung separat vermieten wollte, könnte der Mieter nur durch meine Boutique hineingelangen. Kommt nicht infrage. Allein diese Tatsache sollte den Preis beträchtlich drücken. Handeln Sie ihn auf 3600 monatlich runter. Sonst bin ich raus.«

Mit nervösem Rumoren im Magen wende ich mich von der Immobilienmaklerin ab, sodass mein Seidenrock meine Knöchel umflattert. Ich gebe ihr ein paar Minuten Zeit, um sich zu überlegen, wie sie sich verhalten soll. Dann gehe ich zur Schaufensterseite des großzügigen, offenen Ladengeschäfts hinüber. Hier wartet jede Menge Arbeit auf mich. Ich fahre mit der Hand an einem Holzbalken entlang, der die Mitte des Raumes in zwei Hälften teilt. Keine Ahnung, ob es ein tragender Balken ist, aber er sieht nicht so aus. Wenn auch bloß die leiseste Hoffnung bestehen soll, dass ich hier eine Boutique aus dem Boden stampfe, brauche ich einen wirklich guten Bauunternehmer, der bereit ist, den Laden kostengünstig herzurichten. Allem Anschein nach muss ich sogar Evie um ein Darlehen anpumpen. Und zwar um ein ziemlich großes.

Ich drehe mich um und schaue, wie Menschen an den beinahe deckenhohen Schaufenstern vorüberflanieren, in den Händen ihre Einkäufe aus anderen Geschäften. Die untere Hälfte des Fensters ist mit Papier abgeklebt, aber durch die obere kann man hindurchsehen, sodass ich zu dem belebten Coffee Shop auf der anderen Straßenseite und dem danebenliegenden Edeljuwelier hinüberblicken kann. Direkt gegenüber entdecke ich ein Fahrrad- und Skigeschäft. Daneben eine Buchhandlung, die Wand an Wand mit einem Süßwarenladen und einem Schuhgeschäft liegt. Weiter die Straße hinab befindet sich eine Boutique für Luxustaschen. Die Location könnte für einen eigenen Laden eigentlich gar nicht besser sein.

Ich habe fast die ganzen letzten beiden Monate gebraucht, um endlich zu einer Entscheidung zu gelangen, was ich tun will, wie ich mir einen Namen machen könnte. Sesshaft werden könnte. Als ich meine Bilder und den ganzen Nippes aus der ganzen Welt durchsah, ist mir schließlich eine Idee gekommen. Ich will den ganzen Krimskrams der Welt genau hier nach Colorado bringen. Obwohl ich lieber einen Laden in Colorado Springs eröffnet hätte und Pueblo eigentlich hatte meiden wollen, ist dieses Geschäft auf der Main Street einfach der perfekte Ort für mein Vorhaben. Die Miete ist halbwegs erschwinglich, zumal ich hier dann auch wohnen werde. Die anderen kleinen Geschäfte auf der Straße florieren durchaus. Zumindest habe ich das nach meiner Tour durch die Läden und meine Gespräche mit den Ladenbesitzern geschlussfolgert.