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Auf dem Heimweg wird die Krankenschwester Billiana von unheimlichen Männern angegriffen. Verzweifelt kämpft sie um ihr Leben. Plötzlich eilt ihr aus der Dunkelheit der gutaussehende Vampir Patrick Winchester zur Hilfe. Als er nach dem Kampf schwer verwundet zu Boden geht, kann nur Billiana mit ihren magischen Heilkünsten ihn retten. Ein verhängnisvoller Biss verbindet ihre beiden Schicksale fortan miteinander. Billiana und Patrick ahnen nicht, dass das erst der Anfang war ... Wer steckt hinter den Angriffen auf Billiana? Unterstützt von den Mystery Hunters, Patricks Einsatztruppe aus unterschiedlichen Fantasywesen, versuchen sie, das Rätsel zu lösen. Eine dramatische Verfolgung auf Leben und Tod nimmt ihren Lauf ...
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Seitenzahl: 572
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Epilog
Danksagung
Die Buchstaben der Patientenakte verschwammen vor Billianas Augen. Sie versuchte, weiterhin konzentriert zu bleiben. Aber ihre Lider wollten ihr einfach nicht gehorchen. Ihr schwerer Kopf sank auf den Arbeitstisch, an dem sie saß. Als plötzlich eine Tür quietschend geöffnet wurde, schrak sie zusammen. Sofort saß sie kerzengerade auf ihrem Stuhl.
Sie sah über ihre Schulter. Nadine, Billianas Stationsschwester und Vorgesetzte, eilte mit flotten Schritten auf sie zu. Sie war etwas kleiner als Billiana und kompakt gebaut. Die Fältchen in ihrem Gesicht ließen erahnen, dass sie bereits etwas über fünfzig Jahre hinter sich hatte. Sie trug die übliche Krankenhauskleidung, ein blaues Shirt und eine farblich passende Hose. Ihr Heranstürmen verriet nichts Gutes. Irgendetwas war passiert. Ein Gefühl der Unruhe ließ Billianas Adern zu Eis gefrieren und sie stieß überstürzt ihren Stuhl um, als sie aufstand.
„Nadine! Was ist passiert?“
„Es ist Ben. Dein Krebspatient in Zimmer 106.“ Nach Atem ringend fasste Nadine sich an die Brust. „In dem Augenblick, als ich an seiner Tür vorbeikam, führte Grace eine Herzdruckmassage durch. Ben hat Herzrhythmusstörungen.“
„Oh Gott! Wie geht es ihm? Ist er wohl auf?“
„Ich kann dir bisher keine Details sagen. Zuallerst musste ich die Ärzte benachrichtigen.“
„Ich muss sofort zu ihm. Er braucht mich.“ Billiana rannte an ihrer Stationsschwester vorbei. Sie war schon halb auf dem Flur, als Nadine ihr nachrief: „Billiana, er wird bereits behandelt. Du kannst nicht mehr tun, als die Ärzte ohnehin schon unternehmen.“
„Doch. Das kann ich. Ich bin vielleicht in der Lage, ihn zu retten.“
Im Augenwinkel erfasste sie noch Nadines verwirrtes Gesicht, bevor sie um die Ecke bog und den Flur hinaufrannte. Billiana konnte es ihrer Kollegin nicht verdenken. Keiner hier im Krankenhaus wusste, dass sie eine besondere Gabe besaß.
In den vergangenen Monaten war Ben ihr sehr ans Herz gewachsen. Er war zu ihr wie ein Großvater. Er hatte für sie immer ein offenes Ohr. Selbst nach einer kräftezehrenden Chemotherapie lächelte er übers ganze Gesicht, sobald Billiana den Raum betrat. Seine Anekdoten aus seiner Kindheit brachten sie beide immer zum Lachen. Er strahlte eine entspannte Ruhe aus, die sofort auf Billiana überschwappte, wenn sie ihn nach einem arbeitsreichen Tag besuchte. Sie war in seiner Gegenwart stets glücklich. Es brach ihr das Herz, wenn er den Kampf gegen den Krebs verlor. Ihre Augen brannten und die Tränen benetzten ihre kühlen Wangen. Die Kehle wurde Billiana zu eng. Das Atmen fiel ihr schwerer, und das nicht nur wegen dem Sprint. Sie hechtete die Treppe herauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Auf dem richtigen Stockwerk angekommen, wo ihr Patient lag, preschte sie ins Zimmer.
Dort sah sie, dass zwei Internisten und eine weitere Krankenschwester um das Bett standen. Der eine Arzt führte eine Herzdruckmassage durch. Sein Kollege bereitete den Defibrillator vor.
Ben trug über Mund und Nase eine Atemmaske. Billiana beobachtete, wie die Schwester eine Flüssigkeit in die Kanüle an Bens Hand spritzte. Der Ton vom EKG-Monitor gab genau das wieder, was sie auf dem Bildschirm sah. Eine gerade Linie. In zwischen war der Defi startklar. Alle entfernten sich vom Bett. Kurz darauf schien Bens magere Gestalt durch die Stromstöße für eine Sekunde regelrecht über dem Laken zu schweben. Wie gespannt starrten alle auf den Bildschirm. Billianas eigener Puls raste in die Höhe. Ein Schimmer der Hoffnung durchflutete sie, als das Elektrokardiogramm unerwartet Aktivitäten ankündigte.
Sie verlor keine Zeit und rannte zum Bett. Die Proteste von den beiden Ärzten sowie der Schwester überhörte sie wissentlich. Ben sah sehr mitgenommen aus. Die ständigen Chemos hatten ihn sichtlich strapaziert. Die Haare waren ihm bereits ausgefallen und die graue Haut wirkte schlaff.
Billiana legte ihre Hand auf seinen Arm. Sofort erwärmte sich die Stelle und sie schloss die Augen. Sie lenkte ihre eigene Lebensenergie durch jede verfügbare Zelle. Dabei registrierte sie die gestreuten Metastasen. Sie flutete seinen Körper mit ihren letzten Kraftreserven. Aber wie beim letzten Mal halfen ihre Heilerfähigkeiten nicht, den Krebs aufzuhalten. Die Anstrengungen laugten Billiana aus und sie war gezwungen, den Kontakt abzubrechen. Auf dem Monitor erlosch die Lebenskurve. Sie hatte Ben nur ein paar Sekunden Zeit verschafft.
Völlig erschöpft und niedergeschlagen sank sie auf den nächstbesten Stuhl. Ein Strauß frischer Blumen stand auf dem Tisch. Ben schien vor Kurzem noch Besuch empfangen zu haben.
Die Krankenschwester verkündete die Todeszeit. Billiana zuckte ein wenig zusammen. Ihren Freund jetzt so zu sehen, zerriss sie innerlich. Natürlich der Tod gehörte zum Leben dazu. Als Angestellte in einem Krankenhaus hatte man öfter mit schwer kranken Menschen zu tun, die nicht immer gesund das Gebäude verließen. Jedoch war es für Billiana besonders hart, weil sie immer hoffte, mit ihren Kräften etwas bewirken zu können. Entsprechend weh tat es ihr, wenn sie einen Punkt erreichte, an dem ihre Gabe nichts mehr ausrichtete.
Die Fähigkeit hatte sie in ihrer frühen Kindheit entdeckt, als eine Blaumeise gegen das Zimmerfenster flog und zuckend auf dem Sims liegen blieb. Billiana war erschrocken aufgesprungen und zum geschlossenen Fenster geeilt, um es zu öffnen. Sie war so traurig, dass die Meise bald sterben würde. Zur Beruhigung strich sie dem Vogel sanft über die blauen Federn und flüsterte ihm besänftigende Worte zu.
Da passierte etwas sehr Merkwürdiges. Ihre Finger kribbelten und wurden wärmer. Sie spürte, wie wieder Leben in das kleine Wesen kroch und es rettete.
Mit großen Augen verfolgte Billiana dieses Schauspiel. Schließlich entließ sie den Vogel wieder aus ihren Händen. Für einen Moment schauten sie einander noch in die Augen, bevor er die schönen Flügel ausstreckte und davonflog.
Billiana konnte nicht glauben, was ihr da gelungen war, geschweige denn begreifen, wie sie dies hatte vollbringen können.
Mit der Zeit wuchsen ihre Kräfte und sie entdeckte, dass sie nicht nur bei Tieren ihre heilende Gabe einsetzen konnte. Nachdem sie zu einer Pflegefamilie umgezogen war, hatte sie bei ihrer Freundin Paige eine blutende Wunde geheilt. Billiana und Paige waren im Kinderzimmer wild auf dem Bett herumgehüpft. Paige verlor das Gleichgewicht und stieß mit dem Kopf an die Ecke der Kommode. Billiana geriet in Panik. Schon öfters hatte man sie und Paige ermahnt, es beim Spielen nicht zu übertreiben. Nun lag ihre Freundin bewusstlos auf dem Boden. Die Wunde blutete stark und tropfte auf den hellblauen Teppich.
Billiana holte tief Luft und ließ es auf einen Versuch ankommen. Sie kroch zu ihrer Freundin und legte ihre Hände wie bei dem Vogel behutsam auf die Verletzung. Und tatsächlich: Die Wunde begann sich zu schließen.
Nachdem Paige wieder ihr Bewusstsein erlangt hatte und die Stelle begutachten wollte, spürte sie nicht einmal eine Narbe auf der Haut. Billiana erzählte ihr von der Gabe und bat sie, Stillschweigen zu bewahren. Paige war so überglücklich, dass sie herumsprang und sich dabei fast erneut ein Knie anschlug. Sie offenbarte ihrer Freundin, dass auch sie besondere Kräfte besaß. Als Beweis vollführte sie schnelle Kreise mit der rechten Hand und sogleich entstand ein kleiner Wirbelsturm in der Luft. Er war nicht größer als etwa dreißig Zentimeter. Doch es reichte aus, die Hausaufgaben samt Stifte und Bücher vom Schreibtisch zu fegen. Paige meinte, dass das noch gar nichts war. Aber weil das Zimmer zu klein war und sie nicht die Einrichtung demolieren wollte, beließ sie es vorerst dabei.
Billiana war so begeistert, dass sie ihrer Freundin um den Hals fiel. Als sie sich wieder voneinander lösten, schlossen sie einen Pakt, dass sie niemals das Geheimnis der anderen verraten würden, und besiegelten dies mit einem Handschlag.
Billianas Schulter wurde sanft geschüttelt. Die Berührung holte sie aus ihrer Erinnerung. Nadines besorgtes Gesicht tauchte vor ihr auf. Die Falten auf ihrer Stirn machten einem Krater deutlich Konkurrenz.
„Billiana, du bist überarbeitet.“
Billiana wollte protestieren. Aber Nadine ließ ihr keine Chance dazu. „Streite es nicht ab! Ich sehe es an deinen geröteten Augen. Wie ich dich kenne, ackerst du noch die Akten durch, obwohl der Schichtwechsel bereits vorüber ist. Ab morgen beginnt sowieso dein zweiwöchiger Jahresurlaub. Also, ab nach Hause! Die Patientenakten kann auch Grace übernehmen.“
Billiana nickte ihrer Stationsschwester zu, rieb über ihre müden Augen, erhob sich träge von ihrem Stuhl und torkelte Richtung Tür.
Keine fünfzehn Minuten später trat sie ihren verdienten Feierabend an. Die geschulterte Handtasche wog wie Blei. Entweder hatte sie, ohne es zu wissen, Ziegelsteine gesammelt oder sie war erschöpfter, als sie dachte. Zur Bestätigung knurrte ihr der Magen. Billiana legte einen kleinen Zwischenstopp in der Krankenhauskantine ein und holte sich zwei Sandwiches. Eines mit Käse, Gurken, Ei und Salat. Das andere mit knusprigem Bacon, Tomate und Mozzarella. Zwar hätte sie lieber ihren Hunger mit etwas Warmem gestillt, doch sie wusste jetzt schon, dass ihr nachher in ihrer Wohnung einfach die Geduld und Kraft fehlen würden, noch ein Gericht zu kochen.
Das erste belegte Brot wurde in weniger als einer Minute verputzt. Sofort strömte neue Energie durch ihre Adern und sie fühlte sich fast wie neugeboren. Wenn sie häufiger ihre Fähigkeit einsetzte, regte das ihren Stoffwechsel an und sie war gezwungen, die fehlenden Reserven zügig mit Nahrung auszugleichen. Deshalb biss sie sofort genüsslich in ihr zweites belegtes Brot.
Gut gestärkt und gesättigt trat sie ihren Heimweg an. Die Nacht war schon längst angebrochen. Ein kühler Maiwind schlug ihr entgegen und streifte ihre von der Arbeit erhitzte Haut. Billiana zog ihre ausgewaschene Jacke enger um ihren Körper, während sie durch die Straßen von San Francisco hastete und ihr Wohnviertel ansteuerte.
Weit oben auf den dunklen Dächern verfolgte Patrick das Treiben der Menschen auf den Straßen. Der kühle Wind wehte ihm um die Ohren und zerzauste seine Haare. Es war weit nach Mitternacht und die Stadt erweckte den Eindruck, als sei alles in Ordnung. Nur Patrick wusste es besser. Er gehörte zu den wenigen Mitgliedern einer geheimen Truppe von Übernatürlichen. Sie hatten die Aufgabe, abtrünnige Mythenwesen, die Menschen anfielen, zu jagen und zu liquidieren. Es war kein einfacher Job. Doch das Wissen über die paranormale Welt und die außergewöhnlichen Fähigkeiten ihrer Kreaturen musste unbedingt geheimgehalten werden. Sollte herauskommen, dass unter den Menschen übernatürliche Wesen lebten, wären die Konsequenzen verheerend.
In den über neun Jahrhunderten, die Patrick bereits auf der Erde wandelte, hatte sich die Verfolgung von Abtrünnigen zu seiner Pflicht entwickelt.
Als Gründer und Anführer seines Clans nahm er die Aufgabe sehr ernst. Von ihm hing es ab, dass seine Kameraden und Freunde nach einer erfolgreichen Mission gesund nach Hause kamen.
In all den Jahren, die er schon auf der Welt weilte, hatte Patrick bereits einige Verluste erlebt und auch einem geliebten Freund Lebewohl gesagt. Die Illusion, dass sich das je ändern würde, hatte er vor vielen Jahrhunderten begraben.
Auch für den Fall, dass es eines Tages Patrick selbst auf Patrouille erwischte, hatte er entsprechende Vorkehrungen getroffen.
Er ließ seinen wachsamen Blick weiter über die Straßen wandern und sprang dann mit Leichtigkeit zu dem gegenüberliegenden Wohnhaus. So setzte er seinen Weg fort, bis er eine kleine Gruppe entdeckte. Ein kräftiger Atemzug füllte seine Lungen mit kühler Luft und mit einem Geruch, der ihm leider sehr vertraut vorkam: Der unangenehme Gestank von Blut, Schweiß, Fäulnis, Tod und Begierde.
Patricks Fangzähne prickelten bei diesen Ausdünstungen und das Blut kochte in seinen Adern. Sein Jagdtrieb war erwacht.
Auf leisen Sohlen verfolgte Patrick die Truppe von Dach zu Dach. Nach einer Weile bemerkte er, dass sie gezielt jemanden verfolgten. Sein Augenmerk richtete sich auf die Gestalt weiter vorn. Sie schlang im Gehen ihre Jacke enger um sich, vermutlich fror sie.
Damit sie ihn nicht entdeckten, blieb Patrick ein Stück zurück, aber er spannte sämtliche Muskeln an, um jederzeit eingreifen zu können, falls nötig.
Plötzlich zerrte die Gruppe die Person in eine dunkle verlassene Seitengasse.
„Verdammt.“ Patrick knurrte, sprang von dem Dach und sprintete los.
Als er ankam, entdeckte er, dass es sich bei dem Opfer um eine Frau handelte. Sie wurde von fünf Angreifern umzingelt.
Einer trat gerade abermals näher an sie heran und packte sie am Arm.
Patrick hörte ein starkes Atemgeräusch, auf das ein Angstschrei folgte. Der Mann zog die Frau am Arm und schleuderte sie gegen die nächstgelegene Wand, an der sie hart aufprallte, um dann auf den Boden zu sinken. Es folgte ein Konzert der Belustigung. Als die Truppe sich beruhigt hatte, kreiste sie ihr Ziel erneut ein. Genauso wie Geier auf einem Beutezug.
In wilder Panik blickte die Frau in alle Richtungen, um einen Fluchtweg ausfindig zu machen.
Mit einen Fluch auf den Lippen zog Patrick seine zwei Katanas aus der Scheide, die am Rücken befestigt war. Er sprang vom Dach. In übernatürlicher Geschwindigkeit stürzte er sich auf seinen ersten Gegner und rammte ihm eines seiner Schwerter in den Rücken.
Der Mann brüllte seinen Schmerz heraus, bevor er auf den Boden sackte. Die anderen fuhren herum. Natürlich, der Schrei war nicht zu überhören gewesen. Als sie begriffen, dass ihr Kamerad getötet war, zückten sie ihre Waffen und gingen in die Offensive.
Unbeeindruckt von der Anzahl seiner Gegner und ihren Spielzeugen wartete Patrick geduckt auf den ersten Angriff.
Blitzschnell kam ihm ein Schwert entgegen. Er parierte den Schlag mit seinen Katanas und keilte die einzelne Klinge zwischen seinen beiden ein. Der Wind wehte in Patricks Richtung und er erhaschte den Duft von Eisenkraut.
Vermutlich hatten seine Gegner die Klingen ihrer Schwerter mit dem Kraut eingerieben. Ein kleiner Schnitt auf seiner Haut reichte aus und seine Bewegungen würden langsamer werden. Dank seines hohen Alters betäubte ihn das Gift zwar nicht wie andere Vampire, aber es beeinträchtigte seine Geschwindigkeit im Kampf. Wenn er nicht aufpasste und die Klinge sein Herz traf, könnte es jedoch tödlich für ihn enden.
Mit einen kräftigen Schwung beförderte Patrick den Mann gegen den Müllcontainer. Benebelt blieb der Mann zwischen Pizzakartons sitzen.
Einige Meter von ihm entfernt versuchte die Frau verzweifelt wieder auf ihre Füße zu kommen und vor den Angreifern zu flüchten.
„Lauf, verschwinde von hier!“, rief Patrick ihr zu.
Sie blickte ihm mit großen, angstvollen Augen entgegen und zum ersten Mal konnte er ihr Gesicht sehen. Patrick stockte der Atem, als er in zwei azurblaue Augen schaute, die ihn an einen wolkenlosen Himmel erinnerten. Ihre kastanienrote Löwenmähne hatte sie zu einem strengen Pferdezopf gebunden, der ihr fast bis zu den schlanken Hüften reichte, die Patrick aus der Entfernung leicht erahnen konnte. Sie hatte, verborgen unter ihrer Schönheit, etwas Einzigartiges an sich.
Der Warnruf blieb nicht unbemerkt. Die Frau wurde von einem der Angreifer in eine aufrechte Position gezerrt und fortgeschleift. Ein Knurren kam aus seiner Kehle.
Patricks Unaufmerksamkeit nutzend, stürmten die zwei anderen auf ihn zu. Er versuchte den Angriff zu parieren.
Vergeblich. Patrick war nicht schnell genug. Als er sich schützen wollte, rammte einer der Männer ihm einen Dolch in den linken Unterarm. Gleichzeitig schlug der zweite Patrick das Katana aus der linken Hand und stach ihm eine scharfe Klinge in den Bauch.
Patrick gab keinen Laut von sich und ertrug den siedenden Schmerz. Mühsam kratzte er seine Reserven zusammen. Er ging in die Hocke, holte Schwung und stieß mit dem Bein gegen das Knie seines Gegners. Dieser verlor das Gleichgewicht. Patrick schwang das rechte Katana und köpfte den Kerl. Die Drehung nutzte er aus, um dem anderen Abtrünnigen hinter sich sein Schwert in die Brust zu stoßen.
Der Mann fiel wie sein Kamerad zu Boden und blieb regungslos liegen.
In der Zwischenzeit hatte sich der Mann am Container erholt.
Als Patrick zu ihm hinüberschaute, zückte er gerade eine Glock. Im nächsten Moment löste sich ein Schuss und traf Patrick in die Schulter. Es ziepte ein wenig, aber beeinträchtigte ihn nicht. Zum Glück enthielt die Kugel kein Eisenkraut.
Offensichtlich verfügte der Mann nicht über Kampferfahrung, denn er floh sofort wie ein Feigling.
Nicht weit entfernt ertönte ein gequälter Schrei von der Frau.
Patrick wirbelte herum und sah, dass sie aus seiner Reichweite gezogen wurde.
Mit Händen und Füßen versuchte sie, sich zu wehren, ohne Erfolg. Patrick jagte ihnen hinterher und griff an. Der Abtrünnige schubste die Frau zur Seite und parierte Patricks Schlag. Patricks linker Arm zitterte.
Der Angreifer grinste boshaft und entblößte dabei seine Fangzähne. Damit war klar, der Typ gehörte zu Patricks Vampirsippe. Nur mit dem Unterschied, dass er der Blutgier verfallen war, wie die ausgefahrenen Fangzähnen und sein tropfender Speichel verrieten.
Patricks Bewegungen wurden immer langsamer, während er versuchte, mit dem rechten Schwert auszuholen. Die Klinge des Dolches musste ebenfalls mit Eisenkraut versehen worden sein.
Der andere Vampir sprang blitzschnell zur Seite. Dann griff er erneut an.
Durch seine langsame Reaktion konnte Patrick den Hieb nicht abwehren. Das Schwert wurde in seinen Bauch gestoßen. Ihn durchfuhr ein höllischer Schmerz und das Eisenkraut auf der Klinge fuhr in seinen Blutkreislauf. Wie heiße Lava schoss das Gift durch seine Venen und zerfraß ihn von innen.
Der Vampir zog das Schwert mit einem Ruck aus seinem Körper. Patrick taumelte einige Schritte zurück. Es fiel ihm schwer, auf den Beinen zu bleiben. Die Wunde brannte wie Feuer. Ihm blieb nur noch ein Ausweg, wenn er die Frau und sich selbst retten wollte. Er sammelte alle Kraftreserven, richtete den Blick auf seinen Gegner und überrollte ihn mit seiner außergewöhnlichen Gabe. Der Mann erstarrte sofort zu Eis. Schock schwamm über sein Gesicht. Patrick hob seine zwei Schwerter und stürzte sich mit einem Knurren auf den Vampir. Mit einem gezielten Schlag durchtrennte er den Rumpf. Er trat einen Schritt zurück und sah den leblosen Körper vor sich zusammensacken.
Patricks Adrenalin verschwand allmählich und der brennende Schmerz überkam ihn so gewaltig, dass seine letzten Kräfte entwichen und er zu Boden sank. Durch die Verletzung hatte er so viel Blut verloren, dass er sich schnell nähren musste, um die Blutung zu stoppen. Seine Selbstheilungskräfte würden da nicht annähernd ausreichen. Allerdings hatte er so viel Eisenkraut in seinem Organismus, dass es ihm unmöglich war, aufzustehen. Ihm schwanden langsam die Sinne und er sah bereits kleine Lichtpunkte vor seinen Augen.
Aber dann spürte Patrick plötzlich noch etwas: ein warmes Prickeln. Ihm stieg ein süßlicher Duft von Erdbeeren und Rosenblättern in die Nase. Das war doch nicht möglich! Es gab nur eine Erklärung: Er musste so viel Blut verloren haben, dass er bereits begann, zu halluzinieren. Wie durch einen Nebelschleier nahm er wahr, dass sich eine Hand auf ihn legte. Patrick schwirrte der Kopf von dem Gift.
Unwillkürlich ergriff er das schlanke Handgelenk. Alles passierte wie von selbst, scheinbar ohne Patricks Zutun. Der herrliche Duft von Erdbeeren und Rosen sowie sein Hunger nach Blut betäubten ihn. Wie in Trance zog er die zierliche Gestalt zu sich herunter. Den überraschten Aufschrei der Frau hörte er kaum. Patrick fand die Stelle zwischen Hals und Schulterblatt und leckte genüsslich mit der Zunge darüber.
Vorsichtig durchstieß er die weiche Haut. Das Gewebe gab unter dem Druck seiner Fänge nach und er schmeckte Blut.
Die schlanke Person in seinem Griff wehrte sich zunächst, doch nachdem Patrick einige kräftige Züge von dem nahrhaften Lebenssaft genommen hatte, wurde sie in seinen Armen nachgiebiger. Es kam ihn wie ein Traum vor. Wie sie sich an ihn schmiegte ... Er vernahm sogar ein leichtes Seufzen. Der Geschmack war die reinste Explosion auf seiner Zunge. So etwas hatte er noch nie getrunken. Er löste in ihm ein Gefühl von Wärme und Sicherheit aus. So, als würde man nach Hause kommen. Schade, dass es sich bloß in seinem Kopf abspielte.
Den Augenblick noch auskostend, legte er seinen anderen Arm über die schlanke Hüfte und zog die Frau näher an sich, damit er einen besseren Zugang bekam. Mit jedem kräftigen Zug, den er nahm, kehrte seine Kraft zurück und klärte seine Gedanken. Patrick merkte bereits, dass sich seine Bauchwunde langsam schloss. Er wusste, morgen würde man nichts mehr davon sehen. Der Körper auf ihm wurde immer schlaffer. In seiner Hose wurde es enger. Er war von dem Geschmack so berauscht gewesen, dass er zu viel getrunken hatte und die Person ohnmächtig auf ihn zusammen sackte.
Jetzt realisierte Patrick auch, dass es keine Einbildung, sondern Realität war.
Sorge und Furcht traten in den Vordergrund. Angst womöglich zu viel getrunken zu haben, breitete sich in ihm aus und verursachte Übelkeit. Vorsichtig fühlte Patrick ihren Puls. Er schlug zwar regelmäßig, aber dennoch schwächer, als er sollte. Kein Wunder bei der Menge an Blut, die er zu sich genommen hatte.
Er leckte behutsam über die Einstiche und verschloss so die Wunde. Schon jetzt fehlte ihm ihre weiche Haut auf seinen Lippen. Patrick fühlte die Frau durch seine Venen pulsieren.
Ihre letzten Empfindungen, bevor sie das Bewusstsein verlor, strömten wie ein Tsunami auf ihn ein. Panik, Wut, Trauer, Hoffnung und vor allem Sehnsucht empfand er, als wären es seine eigenen Emotionen. Patrick kannte das schon. Eine Folge der Blutaufnahme. Vampire erfuhren immer die jüngsten Ereignisse ihrer Blutwirte.
Das Kraut hatte sich inzwischen so weit aus seinem Körper abgebaut, dass er wieder aufstehen konnte. Patrick witterte nun an der Frau einen weiteren Duft außer Erdbeeren und Rosenblättern. Unter ihrem eigenen persönlichen Geruch gab es einen, den nur seine feine Nase identifizieren konnte.
Dieser sagte aus, welchen Mythenweltwesen sie angehörte.
In Patricks Armen lag eine Hexe.
Und er hatte von ihr getrunken. Das Problem, was daraus folgte, war dass sich ein Blutbund zwischen ihnen beiden gebildet hatte.
Natürlich gehörte Patrick einer Rasse an, die von dem Lebenselixier anderer abhing. Doch tranken sie ausschließlich von normalen Menschen. Es gab hinterher keine Konsequenzen außer vielleicht einem leichten Kater, wenn der Mensch zu viel Alkohol getrunken hatte. Von übernatürlichen Wesen hingegen tranken Vampire nur dann, wenn es sich um ihre Gefährtinnen handelte, mit denen sie eine Verbindung eingegangen waren. Der Körper verlangte dann allerdings automatisch nach seiner Partnerin. Ihr Blut bewerkstelligte die Gesunderhaltung des Vampirs. Wenn die Gefährtin eines Vampirs ihm ihr Blut verweigerte, bedeutete das für ihn den sicheren Tod. Darum gingen die Wesen der Nacht erst einen Bund ein, wenn sie die gewählte Person umworben hatten und wussten, dass sie ihr absolut vertrauen konnten. Keiner fällte diese Entscheidung leichtsinnig.
Dazu kam, dass eine Symbiose heilig war. Sie bedeutete für beide Partner einen Bund fürs Leben. Dies war nicht mit einer normalen Hochzeit zu vergleichen. Eine Scheidung war nicht möglich. Nur der Tod konnte das Band durchtrennen. Doch oftmals ertrug der zurückgelassene Part die tiefe Leere im Inneren nicht. Manche wurden aus Verzweiflung verrückt, verloren jeden Funken an Realität und wurden gewalttätig.
Wieder andere suchten den Tod, weil die Trennung so sehr schmerzt, dass sie nicht ohne Partner weiterleben wollten.
Da ausschließlich Patrick von der Hexe getrunken hatte und nicht beide voneinander, entwickelte sich allerdings bloß eine einseitige Bindung. Für Patrick bedeutete das, dass er neben der normalen Nahrungsaufnahme nur noch von ihr trinken konnte ..., nein, sogar musste. Er war von nun an abhängig von ihr. Sie hingegen hatte die Wahl. Für sie gab es keine Pflichten. Die Entscheidung, wie sie ihr Leben gestalten wollte, lag in ihrer Hand ... wie auch sein Leben.
Aber so düster die Schattenseiten auch waren, gab es bei einem Blutbund doch auch positive Aspekte. Waren zwei Wesen einen Blutbund miteinander eingegangen, spürte jeder von ihnen immer, wenn der andere gerade in der Nähe war. In brenzligen Situationen konnte das sehr hilfreich sein. Darüber hinaus empfingen sie die Gefühle des Partners auf eine Weise, die weit über gewöhnliche Empathie hinausging.
Außerdem waren Mythenwesen außerhalb eines Blutbundes unfruchtbar.
Aus all diesen Gründen wäre Patrick niemals willkürlich mit einer fremden Hexe einen Blutbund eingegangen.
„So ein Mist! Dieses Problem kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen.“ Der ausgestoßene Fluch brachte selbstverständlich nicht viel. Patrick steckte ganz schön in der Tinte.
Er schaute sich um und begutachtete das Chaos.
Anschließend zückte er sein Handy und stellte eine Verbindung zur Zentrale her. Nach dem zweiten Klingeln wurde sein Anruf entgegengenommen. Es meldete sich eine tiefe Stimme.
„Hey Rick, was kann ich für dich tun?“
„Hey Leo, ich bin in einen Kampf geraten und bräuchte hier ein Aufräumkommando.“
Leo holte tief Luft und antwortete: „Klar, kein Problem. Ich schaue nur kurz, wo du dich gerade befindest, und schicke dann ein paar Leute von uns hin. Sie sollten in wenigen Minuten bei dir sein.“
„Leo, ich muss noch etwas erledigen, deswegen kann ich nicht auf sie warten.“
„Okay. Aber ist bei dir alles in Ordnung? Du bist nicht verletzt?“
„Nichts Ernstes, nur ein paar Kratzer.“
„Na gut. Ich funke die anderen an und sie räumen bei dir auf.“
„Danke dir, Leo. Wir sehen uns später!“
Patrick legte auf, stieß einen Seufzer aus und wandte sich wieder der Frau zu. Sie war noch immer betäubt. Er schaute sich in der dunklen Gasse genauer um und entdeckte an der Wand, an die die Frau geworfen worden war, eine Handtasche. Patrick durchwühlte sie und fand zwischen unnützen Dingen ein Portmonee mit einem Ausweis. Er würde nie verstehen, warum Frauen immer so viel Kram mitschleppten. Ein Blick auf ihren Namen und die Hausadresse sagte ihm alles, was er wissen musste.
Patrick lief zu der Frau zurück und zog sie in seine Arme.
Ein paar Querstraßen weiter stand sein schwarzer Aston Martin. Mit einem Knopfdruck auf den Autoschlüssel entriegelte Patrick den Wagen. Er legte die Frau behutsam auf den Beifahrersitz und schnallte sie an. Danach verstaute er seine Schwerter im Kofferraum, setzte sich hinters Steuer, überprüfte den Zustand seiner schlafenden Begleiterin und fuhr los.
Etwa fünfzehn Minuten später parkte Patrick vor einem Mehrfamilienhaus. Das Gebäude sah etwas in die Jahre gekommen aus. Es könnte einen neuen Anstrich vertragen, fand Patrick, denn die Hausfassade wies einige Graffitis auf und an einigen Stellen blätterte der Putz von der Wand. Auf dem Dach wuchs bereits etwas Moos. Patrick sah missmutig zur Eingangstür. Er konnte nicht glauben, dass jemand freiwillig in dieses Viertel zog. Er verstand zwar, dass die Wohnungen in San Francisco nicht billig waren, doch der Eigentümer sollte Sorge dafür tragen, dass die Mieter sich in den eigenen vier Wänden wohl fühlten. Aber warum machte er sich überhaupt solche Gedanken darüber? Schließlich ging es ihn nichts an, wie andere Leute ihr Leben gestalteten.
Er stieg aus, öffnete die Beifahrertür und zog die Frau wieder in seine Arme. Sie gab ein kleinen Laut von sich. Patrick dachte schon, sie würde aufwachen, doch sie kuschelte sich bloß weiter an seine warme Brust. Ihn überkam ein prickelndes Gefühl, welches sich in seinem ganzen Körper ausbreitete. Er versuchte es zu verdrängen und betrat die Eingangsstufen. Nachdem er auch das muffige Treppenhaus erklommen hatte, verschaffte er sich mit dem stibitzten Hausschlüssel Zutritt zu ihrer Wohnung.
Patrick fiel sofort auf, wie sauber und ordentlich es hier aussah. Das genaue Gegenteil von dem, was er vorher vorgefunden hatte. Er befand sich in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung mit einer einfachen offenen Küche. Das Wohnzimmer schloss sich gleich nahtlos an. Die Wände waren in einem freundlichen Weiß gestrichen und mit mehreren Bildern dekoriert. Die eingerahmten Fotos zeigten unterschiedliche Orte, unter anderem den Eiffelturm, die Freiheitsstatue, Big Ben oder das Opera House in Sydney.
Aber keines davon beinhaltete eine Person. Als wäre sie allein. Ohne einen liebenden Menschen an ihrer Seite.
Es stand nicht viel in der Wohnung, nur das Nötigste. Eine braune, ältere Sofaecke mit weißen Kissen, die zum Einmummeln einlud. Darauf saßen aneinandergereiht ein paar Stofftiere und Puppen. Angrenzend befand sich ein Abstelltisch und gegenüber auf einem Lowboard ein Farbfernseher, der vermutlich schon einige Jahre auf den Buckel hatte, weil solche Geräte gar nicht mehr hergestellt wurden. Patricks Blick schweifte weiter und er sah auf der Küchenzeile ein Mandala-Malbuch, verschiedene Kochmagazine, im Regal daneben ordentlich aufgestellte Bücher desselben Genres und in der Ecke einen alten Plattenspieler.
Patrick steuerte die offen stehende Tür an. Wie erwartet befand sich dort das Schlafzimmer. Er legte seine kostbare Fracht auf das Bett. Bevor er sie zudeckte, zog er ihr den Mantel und die Schuhe aus. Es musste den Anschein erwecken, dass sie erschöpft nach Hause gekommen und sofort zu Bett gegangen war.
Patrick strich ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. Dabei entdeckte er kleine Sommersprossen unter den Augen und der winzigen Stupsnase. Er wollte über sie fahren, stoppte allerdings seine Hand in der Luft, bevor er sie berührte.
„Billiana“, flüsterte er leise vor sich hin. „Was mache ich bloß mit dir? Eigentlich sollte ich dir die Erinnerung an den Vorfall heute nehmen.“
Jeder Vampir besaß neben seiner persönlichen Gabe auch die Fähigkeiten, sich schnell zu bewegen, seine übernatürliche Stärke einzusetzen und einem Lebewesen die letzten Erinnerungen zu nehmen.
Aus irgendeinem Grund konnte sich Patrick jedoch nicht überwinden. Auf dem Nachtisch bemerkte er ein Foto von einem kleinen Mädchen mit zwei geflochtenen Zöpfen.
Patrick huschte ein Lächeln über die Lippen. Das Kind hüpfte begeistert auf einer Hüpfburg. Ob sie die Tochter von Billiana war? Nein, unmöglich. Er hatte hier keine weitere Person angetroffen. Außerdem ließ eine Mutter ihr Kind nicht stundenlang alleine. Vielleicht war sie eine nähere Verwandte?
Einen letzten Blick auf die schlafende Gestalt werfend, verließ er die Wohnung. Mit raschen Schritten stieg er die Treppe hinab und schloss die Haustür hinter sich.
Als er am Steuer saß, kam ihm noch ein Gedanke, den er aber sofort wieder verwarf. Patrick startete den Wagen und machte sich auf den Heimweg ins Hauptquartier.
Ein Sonnenstrahl strich über Billianas Haut und blendete sie. Nur zögerlich erwachte sie aus dem Schlummerland.
Sie drehte sich auf die andere Seite, damit sie noch etwas Schlaf fand. Doch ein lautes, nerviges Geräusch durchquerte Billianas Traum. Mühsam öffnete sie ihre Augen und erhaschte einen Blick auf den Wecker, der auf dem Nachttisch stand. Es war viel zu früh für ihren Geschmack.
Das störende Klingeln verstummte, um gleich wieder von vorn zu beginnen. Billiana drehte sich auf den Rücken und starrte die Zimmerdecke finster an. Allmählich begriff sie, dass das Geräusch von ihrem Handy kam. Sie erhob sich aus ihrem Bett. Ihre Muskeln fühlten sich etwas steif an, als sie sich taumelnd in Richtung des alten Sessels bewegte, auf dem ihr Mantel und ihre Handtasche lagen.
Seltsam! War sie gestern so neben der Spur gewesen?
Normalerweise hingen ihre Handtasche und ihr Mantel an der Garderobe im Eingangsbereich. Dafür standen ihre Stiefel neben der Wohnungstür, statt wie sonst unordentlich auf dem Fußboden herumzuliegen.
Sie fischte ihr Handy aus der Jackentasche.
Auf dem Display erschien der Name ihrer besten Freundin.
Sie nahm den Anruf entgegen und der Ton erlosch.
„Guten Morgen, Paige.“ Billiana merkte, dass ihre Stimme kratzig klang. Sie räusperte sich schnell, während sie für den Plausch mit ihrer Freundin zur Bettkante zurückkehrte.
„Oh, guten Morgen, Billy. Ich hoffe ich habe dich nicht geweckt?“
„Nein, ist schon okay. Es wurde sowieso Zeit, aufzustehen.“
„Gut. Ich wollte dich nur fragen, wann du bei mir vorbeikommst.“
Billiana überlegte kurz.
„Eigentlich möchte ich heute an das Grab meiner Mutter, weil ich an ihrem Todestag vor ein paar Tagen leider nicht hin konnte.“
„Entschuldige, das hatte ich vergessen. Willst du, dass ich dich begleite?“
„Nein ich komme schon zurecht, aber ich muss beim Floristen ein Gesteck besorgen, bevor ich zum Friedhof gehe.“
„Und danach? Du wirst doch nicht den ganzen Tag dort verbringen, oder?“
„Das nicht. Aber ich möchte heute endlich meine Wohnung entrümpeln. Vielleicht sind Dinge dabei, die ich spenden kann. Und meinen Kühlschrank muss ich wieder füttern.“
„Schade. Ich hätte mich gefreut. Und jemand anderes bestimmt auch.“ Paiges Stimme wurde ein wenig leiser und bedrückter. Billiana wusste, dass ihre Freundin enttäuscht war. Doch sie brauchte einen freien Tag nur für sich. Der Alltag kam eher, als ihr lieb war. Das wollte sie natürlich ihrer besten Freundin nicht so direkt auf die Nase binden.
Paige hatte die Angewohnheit, schnell an die Decke zu gehen.
„Ich weiß. Morgen komme ich zu dir, versprochen. Könntest du einen Tag länger auf meinen kleinen Engel aufpassen? Als Wiedergutmachung bringe ich etwas süßes mit.“
„Kein Problem, ich kann mit ihr in den Zoo gehen.“
„Das ist eine tolle Idee. Nicky liebt Tiere über alles. Sie wird sicher viel Spaß haben.“
„Dachte ich mir. Du kannst später zu uns stoßen, falls es deine Zeit zulässt.“
Schuldgefühle stiegen in Billiana auf, weil es häufiger vorkam, dass sie Paige um etwas bat.
„Ich werde versuchen, eher bei euch zu sein, aber ich kann nichts versprechen.“
„Mach dir keinen Kopf. Ich weiß doch, dass du viel um die Ohren hast. Du kannst jederzeit auf meine Unterstützung bauen.“
„Du bist die Beste. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne dich täte.“
„Wahrscheinlich wäre dein Leben ohne mich todlangweilig.“
„Stimmt.“ Beide prusteten los. „Darf ich kurz mit Nicole sprechen?“
„Natürlich, ich hole sie.“
Wenige Sekunden verstrichen, dann vernahm Billiana ein Rascheln, als der Hörer wieder in die Hand genommen wurde.
„Mami, bist du das?“
Billiana ging das Herz auf, wie immer, wenn sie die Stimme ihrer Tochter hörte.
„Ja, mein Schatz. Ist bei dir alles in Ordnung?“
„Mir geht es prima. Ich gewinne jedes Mal beim Memory gegen Tante Paige.“
„Das ist toll! Aber bist du auch schön brav und isst dein Gemüse auf, wie ich es dir gesagt habe?“
Im Telefon wurde es augenblicklich still. Billianas Mutterinstinkt erwachte. Ihre Tochter verheimlichte oft ihr Essenverhalten, sobald sie bei anderen war.
„Nicky, hast du gehört, was ich dich gefragt habe?“
„Ja, aber ... Naja, die grünen Dinger mag ich nicht.“
„Ich weiß, doch die Bohnen sind gesund.“
„Mama, gehst du heute ins Krankenhaus?“
Billiana hatte den schnellen Themenwechsel bemerkt.
Allerdings stand für sie fest, dass sie die Angelegenheit nicht vergessen, sondern nur auf einen anderen Tag verschieben würde.
„Nein, jedoch muss ich einige Dinge erledigen. Mich würde es freuen, wenn du mitkämst, aber ich fürchte, dass du dich bestimmt langweilen würdest. Wenn du möchtest, kannst du stattdessen einen Tag länger bei Paige bleiben und mit ihr in den Zoo gehen.“
„Oh, dann will ich lieber die Wölfe und Löwen sehen.“
Billiana lächelte. Sie hatte es bereits geahnt, dennoch wollte sie Nicky die Wahl lassen.
„Du musst mir aber versprechen, dich zu benehmen und auf Paige hören.“
Durch das Telefon drang ein langgezogener Seufzer von Nicky.
„Hast du mich verstanden, Nicole?“ Billiana legte mehr Strenge in ihre Worte.
„Ja, Mama, ich werde nichts anstellen.“
„Dann wünsche ich dir heute viel Spaß. Gibst du mir bitte vorher noch einmal Tante Paige?“
„Ist gut. Bis bald Mami!“
„Tschüss, mein Schatz.“
Als Nächstes erklang Paiges Stimme im Hörer.
„Was hast du mit dem Kind angestellt? Sie hüpft aufgeregt im Wohnzimmer herum.“
„Ich habe ihr von eurem Ausflug in den Tierpark erzählt.“
„Na, dann brauche ich mich nicht zu wundern, dass sie wie ein Känguru umher springt. Wann wirst du sie morgen abholen?“
„Ich werde dich vorher anrufen und Bescheid geben, wann genau es sein wird.“
„Geht klar, und übertreib es nicht. Etwas Erholung könnte dir auch gut tun.“
„Ich werde es beherzigen.“ Billiana legte auf, erhob sich und schleppte ihre schlaffen Muskeln ins Badezimmer. Mühsam schlüpfte sie aus der Kleidung, stieg unter die Dusche und drehte den Wasserhahn auf. Der warme Strahl traf sofort auf ihre Haut. Es half ihr, ihre verkrampften Glieder zu lösen.
Billiana schloss die Augen und gab sich für einige Minuten dem wohltuenden Gefühl hin. Es dauerte jedoch nicht lange, da erschienen die Bilder der letzten Nacht vor ihrem geistigen Auge.
Die Erinnerung daran, wie sie in die dunkle Gasse gezerrt wurde, jagte ihr trotz des heißen Wassers einen frostigen Schauer über den Rücken. Sie zitterte am ganzen Leib. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Angst gehabt wie in diesem Augenblick. Sie hatte gedacht, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen, als sie sich fast leblos in einer stinkenden Seitenstraße wiederfand. Wer weiß, was die Männer sonst noch mit ihr angestellt hätten ...
Billiana griff nach dem Shampoo, es rutschte ihr aus der Hand und fiel in die Ablaufwanne. Die Geschehnisse brachten sie mehr durcheinander, als sie zugeben wollte.
Beklommen startete sie einen zweiten Versuch und massierte das Waschmittel in ihre Haare. Als sie ihren Körper einseifte, bemerkte sie einige blaue Flecken auf ihrem Unterarm und am Handgelenk. Sie strich vorsichtig mit ihren Fingerspitzen darüber. Bei der Berührung zuckte sie etwas zusammen, weil sie noch schmerzten. Die Hämatome wiesen bereits eine bläuliche Farbe auf. Es schnürte ihr die Kehle zu. Ein Glück, dass die Blutergüsse an Stellen waren, wo die Kleidung sie bedecken würde. Billiana wusste, mit einer ordentlichen Portion Nahrung würden sie schnell wieder verblassen. Sie besaß dank ihrer Gabe zügige Selbstheilungskräfte.
Spätestens heute Abend würden sie kein Thema mehr sein.
Nichtsdestotrotz hatte Billiana das Gefühl, als ob ihre Nackenhaare sich aufrichteten. Und das heiße Wasser fühlte sich jetzt eiskalt an. Was wollten die Männer von ihr?
Billiana schluckte den baseballgroßen Kloß hinunter, spülte die letzten Reste Schaum von ihrem Körper, drehte den Wasserhahn ab, trat aus der Dusche und wickelte sich ein Handtuch um.
Als sie vor dem Spiegel stand, sah sie weitere blaue Blutergüsse auf ihrer Schulter. Die Szene, wie sie an eine Steinmauer geworfen wurde und auf den Boden sank, kam wieder in ihr Gedächtnis. Ihr Blick wanderte weiter nach oben und sie schaute direkt in ihre eigenen Augen ...
Bernsteine funkelten ihr entgegen. Sie hatten dem Mann gehört, der sie vor den Angreifern beschützt hatte. Ihrem Retter! Billiana war überglücklich gewesen. Was, wenn er nicht aufgetaucht wäre? Ihre Freundin Paige hätte sie heute wahrscheinlich im Leichenschauhaus besucht.
Nach diesen Geschehnissen war Billiana froh, dass sie Nicole sicher bei Paige gelassen hatte. Der bloße Gedanken daran, ihrem kleinen Mädchen könnte etwas zustoßen, sorgte dafür, dass sich ihr leerer Magen umdrehte.
Nachdem sie ein paar Atemzüge getan und die größte Übelkeit bezwungen hatte, brachte ihr Gehirn weitere Details ans Licht. Während des Kampfes hatte ihr Retter schwere Verletzungen einstecken müssen. Er hatte ein riesiges Loch im Bauch. Als das Gefecht vorüber war, brach er vor ihren Augen zusammen. Das erweckte automatisch die Heilerin in ihr. Billiana zögerte keine Sekunde und rannte sofort zu ihm.
Sie hatte keine Ahnung, woher sie das wusste, aber sie konnte ihm vertrauen, das spürte sie ganz deutlich. Als sie ihn genauer untersuchte, wurde ihr bewusst, dass er verbluten und sterben würde, wenn sie die Blutung nicht stoppte. Sie dachte nicht viel darüber nach und legte ihre Hände auf seinen Körper. Wie gewohnt setzte sie ihre heilende Fähigkeit ein.
Dabei nahm ihr Puls mit einem Mal Rekordgeschwindigkeit auf. Billiana spürte die Wucht ihrer beiden Energien durch ihre Venen fließen. Als würden endlich zwei Hälften zusammenfinden. Sie hatte das Gefühl, eine Miniausgabe ihrer selbst zu sein, wie in dem Film „Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft“. Bloß noch viel kleiner. Statt aber gegen riesengroße Insekten zu kämpfen, spazierte sie durch seinen Körper und heilte jede einzelne Verletzung. Diese Empfindungen waren neu für sie. Schon seit Langem hatte sie sich niemandem so nahe gefühlt. Binnen weniger Sekunden verschwand die klaffende Wunde und leicht gerötete Haut schien durch die Kleiderfetzen ihres Retters.
Doch plötzlich wurde Billianas Handgelenk gepackt und sie wurde an einen muskulösen Oberkörper heruntergezogen.
Das Nächste, was sie wahrnahm, waren zwei spitze Reißzähne, die sich in ihre nachgiebige Haut gruben. Es war nicht schmerzhaft gewesen. Im Gegenteil, ihr Körper verlangte sogar nach mehr. Vom Kopf bis zu den Zehen durchströmte sie Wärme. Es hatte etwas sehr Intimes an sich.
Billiana wollte alles auskosten, aber als sie sich fallen ließ, wurde es schwarz um sie herum. Was danach geschah, konnte sie nicht sagen. Da war nur Dunkelheit in ihren Erinnerungen.
Billiana wusste nicht einmal, wie sie nach Hause und in ihr Bett gekommen war.
Sie riss sich aus ihren Gedanken und sah wieder ihr eigenes Gesicht. Die starken Schatten unter ihren Augen wirkten sehr besorgniserregend. Ein lautes Knurren ihres Magens verdeutlichte ihr, wie ausgelaugt sie war.
Sie föhnte schnell ihre Haare, band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen und kehrte in ihr Schlafzimmer zurück, um sich anzuziehen. Mit einer blauen Jeans und einem engen roten Sweatshirt bekleidet, betrat sie die Küche.
Ein Erdnussbuttersandwich zum Frühstück würde ihr nach diesem Schreckenserlebnis neue Kraft geben.
Während die Scheiben langsam braun wurden, trank sie völlig in sich gekehrt einen heißen Tee. Sie hoffte, dadurch ruhiger zu werden.
Die Toastkammern schnappten in die Höhe und kündigten das Ende des Bräunungsvorgangs an. Das Geräusch erschreckte sie so sehr, dass ihr Hintern beinahe den Boden geküsst hätte.
Das Teeglas rutschte ihr aus der Hand und zerbrach in tausend Teile. Der Knall versetzte Billiana zurück in eine längst vergangene Zeit ...
Plötzlich war sie wieder drei Jahre alt.
Ein Auto hatte damals den Wagen ihrer leiblichen Mutter gerammt. Sie sah es nicht kommen, weil sie auf dem Rücksitz saß und quengelte. Das Quietschen der Reifen ähnelte ein Weinen eines Kindes. Das andere Fahrzeug drückte das Blech tief in das Innere des Wagens ihrer Mutter. Billianas Kindersitz wurde an den Vordersitz gepresst und eingekeilt.
Das Polster quetschte ihre Beine ein. Die Glassplitter der Autofenster schnitten in ihre Haut und brannte sich in ihr Gedächtnis. Die Wunden glühten wie Feuer und Blut floss über ihre Wangen. Billiana hatte nach ihrer Mutter geschrien, bis sie heiser war. Warme Tränen kullerten aus ihren Augen und vermischten sich mit dem Blut. Doch der ohrenbetäubende Knall, als das Fahrzeug den Berg hinabstürzte, verschanzte sich für alle Ewigkeit in ihren Erinnerungen.
Die Feuerwehrleute konnten ihre Mutter nur noch tot bergen.
Ihre Pflegeeltern hatten Billiana erzählt, dass ihre eigene Rettung ein Wunder war. Ein Rätsel, das bis heute nicht aufgeklärt wurde. Auch sie selbst konnte sich nicht vorstellen, wie sie es als Kleinkind lebend aus dem Wagen geschafft hatte. Auf einem Foto von dem Autowrack hatte Billiana gesehen, dass die Tür herausgerissen worden war. Aber wie war Billiana aus ihrem Kindersitz entkommen?
Billianas Erinnerungen dazu waren unklar. Vor Tränen war ihre Sicht verschwommen gewesen und sie konnte nur eine schemenhafte Gestalt erkennen. Doch ihr fiel ein achteckiger Ring an seinem Finger auf. Das Symbol war merkwürdig. Sie erinnerte sich nur noch an weiße Flügel, schwarze Zacken, die Hörnern ähnelten, und einen weißen Kreis, in dem eine Pfote abgebildet war. Silberne Punkte zierten den blauen Hintergrund. Billiana hatte das Zeichen nie wieder gesehen.
Auch ihre Pflegeeltern kannten es nicht.
Offenbar hatte der Schreck über das schreckliche Erlebnis von letzter Nacht die Erinnerungen an das einschneidende Erlebnis wieder ans Licht gebracht.
Mit zitternden Händen und wackligen Beinen räumte Billiana die Glasscherben fort. Dabei bildeten sich immerzu neue Fragen in ihrem Kopf.
Was wollten die Männer von ihr? Hatten sie Billiana gezielt angegriffen oder war es bloß Zufall gewesen? Würden sie es erneut versuchen? Und wo war ihr Retter so plötzlich hergekommen? Bei dem Gedanken an ihn glühten ihre Wangen ein wenig. Er sah beeindruckend aus, wie er grazil die zwei Schwerter geschwungen hatte. So, als wäre es für ihn alltäglich. War er es auch gewesen, der sie nach Hause gebracht hatte? Ja, bestimmt! Anders konnte Billiana sich nicht erklären, dass sie heute in ihrer Wohnung aufgewacht war. Ein Gefühl des Unbehagens keimte auf. Ihr Magen wollte den Tee loswerden und ihr Kopf fuhr Karussell. Ganz egal, wie gut dieser Fremde aussah ... Ein kräftiger Krieger wusste jetzt, wo sie wohnte. Wer weiß, was er in Schilde führte? Schließlich sollte Billianas Zuhause nicht nur ihr Schutz bieten, sondern auch einem kleinen Mädchen.
Schlagartig wurde ihre Brust eng.
Billiana wusste, wenn Paige sie jetzt so sähe, würde sie ihr eine ordentliche Predigt halten. Ihre Freundin war nicht der Typ dafür, ihr Leben von Ängsten bestimmen zu lassen. Das versuchte sie auch Billiana beizubringen.
Doch ihr fehlte es manchmal an Mut.
Auf jeden Fall musste sie auf der Hut sein. Am besten, sie organisierte sich ein paar Dinge zur Selbstverteidigung.
Vorausgesetzt, sie schaffte es jemals, einen Fuß aus ihrer Wohnung zu setzen.
Sie holte ein paar Mal tief Luft, bis ihr Puls wieder Normalzustand erreichte. Dann zog sie ihre Jacke über und schulterte ihre Handtasche. Sie war entschlossen, etwas für ihre Sicherheit zu unternehmen, auch wenn sie dazu das Haus verlassen musste. Den Toast ließ sie liegen. Lieber besorgte sie sich unterwegs beim Bäcker etwas Nahrhafteres. Billiana fühlte, dass sie ihre Kräfte für den heutigen Tag brauchte.
***
In den Tiefen eines Kellers trottete eine schwarze Gestalt über den nassen Steinboden. Die schweren Schritte hallten wie ein Echo von den Wänden wider. An der nächsten Kurve wartete bereits jemand auf ihn.
Mason stand lässig gegen die Mauer gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und ein Bein locker angewinkelt. Er wartete bereits seit einer gefühlten Ewigkeit auf ein Lebenszeichen von den Männern. Und jetzt kehrte nur einer von ihnen zurück, noch dazu ohne die geforderte Frau. Mason ging ihm mit einem erzürnten Blick entgegen.
Als der Mann vor Mason stand, bekam er kein Wort heraus.
Mason entwich ein Knurren und der Kerl zuckte vor ihm zurück. Gut, dachte Mason, das sollte er auch! Denn Mason gehörte nicht zu den Geduldigsten.
Weil der Mann immer noch nicht mit der Sprache herausrückte, nahm Mason es selbst in die Hand: „Spuck es endlich aus. Wo ist sie?“
„Wir hatten sie schon in unserer Gewalt, als ein Vampir sich eingemischt hat.“
„Du willst mir im ernst weismachen, dass ihr mit einem einzigen Blutsauger nicht fertig wurdet?“ Mason erwartete keine Antwort auf seine Frage. Das Schweigen war Bestätigung genug für ihn. „Verschwinde! Sonst wirst du auch gleich ins Gras beißen.“
Sein Wolf war dicht unter der Oberfläche und er musste sich stark beherrschen, um den Verlierer nicht zu zerfetzen. Der Mann nahm die Beine in die Hand und eilte in das alte, verlassene Gewölbe hinein. Es diente ihnen derzeit als Unterkunft und Handlungsort in San Francisco.
Mit großen Widerwillen holte Mason sein Handy aus seiner schwarzen Manteltasche und betätigte die Kurzwahltaste, um seinem Vorgesetzten Viktor von den Geschehnissen zu berichten. Der Anruf wurde nach dem dritten Läuten angenommen.
„Habt ihr sie?“ Drei Wörter. Kein Hallo oder hey, wie man sonst eine Unterhaltung begann.
Weil Viktor ebenso wie Mason keine Geduld hatte, kam Mason gleich zum Punkt: „Es gelang uns nicht, sie gefangen zu nehmen. Ein Vampir vereitelte unser Vorhaben.“
Mason hörte bereits ein Grollen in der Telefonleitung.
„Ich soll dir glauben, dass fünf Leute es nicht geschafft haben, eine einfache Menschenfrau gefangen zu nehmen und einen Vampir zu töten?“
„Hör zu, Viktor. Ich werde mich selbst um die Angelegenheit kümmern. Mir wird sie so schnell nicht entwichen.“
„Das will ich dir auch geraten haben.“
Viktor legte ohne ein weiteres Wort auf.
Mason starte sein Handy griesgrämig an und steckte es in seine Tasche zurück. Dann begab er sich zum Ausgang des unterirdischen Gewölbes. Diese Behausung stellte nicht das dar, was er sonst gewöhnt war. Er bevorzugte die Burg in New York mit all ihren Annehmlichkeiten. Er vermisste eine heiße Dusche, Strom und weiche Laken. Vor allem fehlte ihm eine willige Frau an jeder Seite. Jetzt musste er stattdessen in einem stinkenden, heruntergekommenen, nassen Keller ausharren.
Damit er sich wieder beruhigen und die Gedanken ordnen konnte, brauchte er einen ausgiebigen Lauf in seiner Wolfsgestalt. Als Mason am Eingang angelangt war, öffnete er die schwere Eisentür. Sie gab einen quietschenden Laut von sich. Sogleich blies ihm ein kalter Morgenwind ins Gesicht. Nach einem kurzen Fußmarsch gelangte er in ein Waldstück am Rande von San Francisco. An einem alten, hohlen Baum legte er seine Kleidung ab und verbarg sie darin. Mason drehte sich um, holte tief Luft und leitete die Verwandlung ein. Er fühlte, wie seine Knochen brachen und zu einem anderen Aussehen wieder zusammenwuchsen. Sein Kopf verformte sich, die Muskeln um seinen Mund zogen eine lange Schnauze und es bildeten sich scharfe Zähne, die sich zentimeterweise herausdrückten. Auf seiner gesamten Haut kribbelte es, als ihm rostbraunes Fell wuchs. Außerdem entwickelte sich eine lange Rute. Masons Finger wurden zu Klauen. Spitze Krallen sprossen daraus hervor. Die Transformation dauerte nur wenige Sekunden. Jetzt stand er auf vier Pfoten, bereit, seiner tierischen Seite freien Lauf zu lassen. Er schüttelte seinen Pelz, um sich zu lockern. Was für ein herrliches Gefühl! Mason schickte seine Sinne auf Wanderschaft. Die vielen unterschiedlichen Düfte und Geräusche aufzunehmen, versetzte ihn immer aufs Neue in Hochstimmung. Bei einem tiefen Atemzug schlug ihm sofort ein Geruch von frischem Moos, Blättern, Holz, Erde und Wild entgegen. Er stemmte seine Beine kräftig in den Boden und fühlte die weiche Erde unter seinen Pfoten. Einige hundert Meter entfernt roch er einen Hasen. Der Jagdtrieb war schlagartig erwacht und Mason sprintete in dessen Richtung.
Er bemerkte bereits, wie seine Gedanken sich klärten. Es war einfacher, in seiner Tierform einen freien Kopf zu bekommen.
Die Gefühle und Gedanken des Wolfes waren strukturierter als die eines Menschen. Sein jetziges Ziel war ein kleiner brauner Hoppler.
Nach seiner Jagd war er besser in der Lage, zu überlegen, wie er eine kleine Hexe mit einer seltenen Fähigkeit gefangen nehmen konnte.
Das Hauptquartier war ein alter, versteckter und verlassener Bunker außerhalb der Innenstadt am Rande von San Francisco. Er lag direkt am Waldrand, in einem Berg integriert.
Patrick verließ gerade den Fahrstuhl, der ihn in das unterirdische Domizil brachte. Ihre Behausung war wie ein Labyrinth aufgebaut. Wer das erste Mal in den Gängen war, würde sich schnell verlaufen. Es brauchte schon eine gewisse Zeit der Eingewöhnung, bis jeder Winkel in Fleisch und Blut überging.
Müde schleppte Patrick sich durch die Flure. Er hatte nur ein Ziel, nämlich in seine privaten Räume zu gelangen und sich in die weichen Kissen fallen zu lassen. Er hatte es im letzten Augenblick geschafft, vor Sonnenaufgang die privaten Räume zu erreichen. Was für ein Glück! So hatte er es vermieden, einen Sonnenbrand zu bekommen. Als jahrhundertalter Vampir verbrannt er sich zwar nur leicht, wenn er den Sonnenstrahlen minimal ausgesetzt war. Das Ergebnis war bloß eine rote, juckende Haut. Bei längerem Kontakt könnte es allerdings lebensbedrohlich werden, vor allem in seinem geschwächten Zustand.
Der enorme Blutverlust beim Kampf hatte ihn sehr entkräftet, auch wenn er das nie zugeben würde. Zumindest hatte die Aufnahme von Billianas Blut ihm einen Energieschub gegeben. Und was für einen! Nur leider reichte es nicht, seinen Bedarf zu decken.
Als er an der nächsten Biegung rechts abbog, kam ihm einer seiner Freunde mit einem Schokoriegel im Mund und weiteren Dickmachern in den Händen entgegen. Der Wutdämon Jack war immer am Essen. Ein echter Vielfraß! Es war ein Wunder, dass er trotz der vielen Kalorien, die er regelmäßig in sich hineinstopfte, körperlich durchtrainiert war.
Patrick hatte so sehr gehofft, unbemerkt in sein Zimmer zu gelangen.
Weit gefehlt.
„Hey Rick! Bist gerade erst reingekommen, was? Sahst auch schon mal besser aus.“ Sein Kamerad nuschelte und ihm fielen ein paar Krümel aus dem Mund.
„Hallo Jack! Ja, war eine lange Nacht heute.“
„Hab es schon gehört. Es gab einen Zwischenfall mit einer Gruppe von Abtrünnigen. Da ging wohl richtig die Post ab bei dir. Schade, dass ich dir nicht Gesellschaft leisten konnte.
Aber du verstehst bestimmt, dass ich auf meine Zuckerwerte achtgeben musste.“ Der nächste Riegel verschwand im Handumdrehen.
„Klar verstehe ich das. Wir wollen schließlich nicht, dass du uns vor Hunger umfällst.“ Patrick huschte ein Grinsen über die Lippen.
„So, jetzt muss ich aber wieder los. In der Küche warten bereits ein Schinkensandwich und ein Stück Schokoladentorte auf mich.“ Jack sprintete los. „Schlaf gut, Rick.“
Patrick sah Jack kopfschüttelnd hinterher und setzte den Weg in seine Räumlichkeiten fort. Als er die Tür hinter sich schloss, entließ er erleichtert Luft aus seinen Lungen. Er durchquerte sein kleines Wohnzimmer, gelangte ins Schlafzimmer und steuerte direkt sein Badezimmer an.
Unterweges streifte er Jacke, T-Shirt und Schuhe ab. Den Rest seiner Kleidung entfernte Rick im Bad. Achtlos und ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, warf er sie in die nächste Ecke. Er betrat die in Stein gehauene offene Marmordusche und ließ das heiße Wasser über seine verspannten Muskeln gleiten. Das heiße Nass war eine Wohltat nach so einer Nacht. In Gedanken ließ er das Geschehene noch einmal Revue passieren. Eine Erinnerung stach besonders hervor, und zwar, wie sich eine anmutige Frau an ihn geschmiegt hatte. Der Duft von Erdbeeren und Rosen lag noch immer in seiner Nase. Und erst der Geschmack ihres kostbaren Blutes auf seiner Zunge. Es hatte ihn Sterne sehen lassen! Die Aromen explodierten regelrecht.
So etwas Exquisites hatte Patrick noch nie gekostet. Und das wollte in seinem Alter schon etwas heißen. Es kam ihn vor, als sei alles, was er davor getrunken hatte, nur billiger Wein gewesen. Er gierte noch immer danach.
Patrick schmeckte einen Hauch seines eigenen Blutes. Seine Fangzähne waren voll ausgefahren und hatten ihm die Lippen zerbissen. Er war so weggetreten gewesen, dass er sogar die Hände zu Fäusten geballt hatte. Seine ausgefahrenen Krallen schnitten in seine Handinnenfläche. Sein Blick ging nach unten. Dort stand sein bestes Stück kerzengerade. Mit tiefen Atemzügen versuchte er sich zu beruhigen und das kräftige Verlangen nach Billianas kostbarem Lebenssaft und ihrem herrlichen Duft zu verdrängen.
Nach wenigen Minuten hatte Patrick seine Gliedmaßen wieder einigermaßen unter Kontrolle und er verließ die Dusche. Er schlang ein Handtuch um seine Hüften, nahm ein weiteres, um sich damit die Haare trockenzurubbeln, und betrat wieder sein Schlafzimmer. Dort warf er die Handtücher in den nächsten Wäschekorb und fiel nackt, wie er war, in die weichen Federn. Augenblicklich schlief er ein.
Nach einem unruhigen Tag wachte Rick völlig gerädert auf.
Er lag auf dem Rücken und starrte finster die Decke an.
Während er geschlafen hatte, war ihm unaufhörlich der gleiche Traum erschienen. Im Mittelpunkt eine blauäugige Schönheit mit kastanienrotem Haar. Der Kampf lief wie eine Endlosschleife in seinem Kopf ab. Erst da war Patrick aufgefallen, dass sie Billiana nicht überfallen, sondern verschleppen wollten. Also blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als der Sache nachzugehen. Und das lag nicht daran, dass er Billiana wiedersehen wollte. Das versuchte er sich zumindest einzureden.
Schwermütig stand er auf, trat an seinen Kleiderschrank und zog schnell eine dunkelblaue Jeans, ein schwarzes T-Shirt, Socken und Stiefel über. Ehe er sein Apartment verließ, schlüpfte er in seine dunkle Lederjacke.
Damit seine Gedanken eine andere Richtung einnahmen, schlug Patrick direkt den Weg zum Schießraum ein. Da es noch früher Nachmittag war, traf er niemanden an. Die Patrouillen waren so festgelegt, dass tageslicht empfindliche Clanmitglieder wie er während dieser Zeit im sicheren Hafen des Hauptquartiers verweilten.
Patrick wollte gerade um die nächste Kurve biegen, als eine zierliche Frau in ihn hineinrannte. Sein Blick traf auf zwei whiskyfarbene Augen.
„Entschuldige, Rick. Ich habe dich leider nicht gesehen und ich bin etwas in Eile“, sagte seine Freundin Aitana in einem Tempo, dass Patrick der Kopf schwirrte.
„Kein Problem, Aitana. Ist schließlich nichts passiert. Warum hast du es denn so eilig?“
„Logan hat doch in ein paar Tagen Geburtstag und ich muss noch einen Einkauf tätigen, damit das Wochenende perfekt wird, wenn wir die Hütte besuchen, die uns Darius zur Verfügung stellt!“ Schon wollte die quirlige Fee wieder zum Sprung ansetzen.
„Ahh. Und das soll natürlich ein besonderes Geschenk für deinen Gefährten werden. Stimmts?“
Aitana wurde rot wie eine Tomate und senkte verlegen den Kopf.
„Logan kann sich glücklich schätzen.“
„Danke. Oh Mist, ich muss los. In zehn Minuten treffe ich mich mit Emma.“ Aitana schaute bestürzt auf ihre Uhr. „Sie will mir helfen, das passende Outfit zu finden.“ Aitana wirbelte um Rick herum, sodass ihre schwarze Löwenmähne in der Luft herumflog. Dabei geriet sie aus dem Gleichgewicht und drohte zu stürzen. Patrick fing sie blitzartig auf, ehe sie den Boden küsste.
„Langsam mit den jungen Pferden. Wir wollen doch nicht, dass das schöne Wochenende ins Wasser fällt.“
„Verzeihung. Ich bin nur etwas aufgeregt.“
„Das sehe ich.“ Patrick konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Er stellte sie auf die Beine und sie stürmte abermals los. Dabei wäre sie fast ein zweites Mal gestürzt.
„Nichts passiert.“ Aitana runzelte Stirn. „Ist bei dir alles in Ordnung?“
„Bei mir ist alles bestens. Warum?“
„Deine Aura sieht heute anders aus. Normalerweise ist sie dunkelblau, fast schwarz, aber jetzt kommt sie mir heller vor und es hat sich ein leichter gelber, leuchtender Rand gebildet.
Wie eine Art Saum, der ihren Inhalt schützen möchte.“
Patrick konnte sie nur sprachlos ansehen. Er wusste, dass sich durch die Aufnahme von Billianas Blut etwas verändern würde. Aber er hätte nie gedacht, dass es so schnell geschah und dass jemand es bemerkte. Aitana war eine Fee und besaß die Fähigkeit, Auren von jedem Lebewesen zu lesen. Für Aitana sahen sie aus wie Schemen in unterschiedlichen Farben. Eine Änderung des Farbtones trat ein, wenn bei der betroffenen Person ein Wandel passiert. So, wie es aussah, traf er bei Patrick früher ein als gedacht.
„Dir kommt es nur so vor, weil deine Aufregung so groß ist.
Übrigens, sagtest du nicht, dass du los müsstest?“
Aitana schaute ihn skeptisch mit einer tiefen Falte auf der Stirn an. Er las es ihr vom Gesicht ab, dass sie ihm kein einziges Wort glaubte. Doch sie sagte nichts mehr, sondern nahm ihren Weg wieder auf.
Patrick schaute Aitana hinterher und stellte fest, dass sie fast erneut über die eigenen Füße stolperte. Logan hatte eine glückliche Entscheidung getroffen, als er die kleine Fee vor fast zweihundert Jahren zu seiner Gefährtin nahm. Auch wenn sie an manchen Tagen ein Tollpatsch war.
Patrick setzte seinen ursprünglichen Weg fort.
Endlich im Schießraum angekommen, schloss er die Tür hinter sich. Er befand sich in einem Vorraum, in dem die Schusswaffen aufbewahrt wurden. Sie dienten allen Kriegern im Hauptquartier zum Training. An der Wand rechts von ihm schmückte ein langer Tresen, ähnlich wie eine Bartheke, das Zimmer. Die Front- und Seitenwände bestanden aus hochwertigem Nussbaumholz, mit zwei waagerechten, beleuchteten Verbundgläsern und einer schwarzen Granittischplatte. Dahinter waren im selben Holzdekor Hängeschränke angebracht. Die Schusswaffen wurden präsentiert wie Trophäen. Deswegen bestand sein Spezialist für Gewehre und Sprengstoff auch darauf, die Schranktüren mit Glas zu versehen und die Lampen so anzubringen, dass alles schön beleuchtet wurde.
Patrick trat vor den Waffenschrank und holte eine Glock heraus. Auf Patrouille benutzte er seine eigene SigSauer Zeus, aber für das Training und um etwas Dampf abzulassen reichte ihm die Pistole.
Mit flinken Fingern lud er die Schusswaffe, trat in den Raum mit den Schießbahnen und fixierte die Zielscheibe. Er schoss das gesamte Magazin leer. Als er nachladen wollte, öffnete sich die Tür hinter ihm. Alexander, sein Waffen- und Sprengmeister, betrat den Raum. Er sah über Patricks Schulter auf die Scheibe, auf die dieser eben noch geschossen hatte, und hob eine Augenbraue.
„Deine Schießkünste waren auch schon mal besser.“ Alex holte ebenfalls eine Glock aus dem Schrank. Als er zurückkehrte, stellte er sich neben Patrick an die zweite Bahn und schoss. Jeder Schuss traf genau ins Schwarze. Patrick entwich ein frustrierter Seufzer.
Alex drehte sich um, lehnte sich mit der Hüfte an die Waffenablage und schaute Patrick ernst an.
„Was ist los mit dir, Kumpel? Du grübelst doch über irgendwas nach.“
„Zur Zeit gehen mir einfach zu viele Dinge im Kopf herum.“
„Denkst du über den Vorfall von letzter Nacht nach? Derzeit häufen sich die Angriffe in der Stadt.“
Patrick erkannte Sorge in Alexanders Augen. „Du hast recht.
Wir müssen das unbedingt im Auge behalten und die Patrouillen verstärken. Ich werde Leo bitten, allen eine Rundmail zu schicken, damit sie nachher ins Besprechungszimmer kommen und wir die nächsten Schritte besprechen.“
Er nahm seine Glock und legte sie auf den Tisch neben die von Alexander. Patrick wusste, dass Alex sie später gründlich reinigen und an ihrem richtigen Platz deponieren würde. Auf dem Weg zum Ausgang holte er sein Handy aus der Hosentasche und schickte Leonardo eine Nachricht.
Bevor er den Raum verließ, spähte er über seine Schulter zu Alexander. „Wir sehen uns im Meeting!“
Die Patrouillenbesprechung ging länger, als Patrick erwartet hatte. Alle waren sich einig gewesen, die Schichten in der Stadt, um die Bewohner zu beschützen, drastisch zu verstärken. Keiner hatte Einwände gegen die Überarbeitung des Planes eingebracht. Darius war besonders Feuer und Flamme. Das Glühen in seinem Blick hatte Patrick zum Nachdenken gebracht. Er machte sich langsam Sorgen um seinen Stellvertreter und besten Freund. Darius Verhalten grenzte schon an Wahn. Darius kam jetzt häufiger mit Verletzungen nach Hause. Diese befanden sich noch im Rahmen des Normalen, aber sollte der Zustand seines Freundes schlimmer werden, musste er etwas unternehmen.