N-Stoff - Dirk Rühmann - E-Book

N-Stoff E-Book

Dirk Rühmann

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Beschreibung

In der Nähe des Oderteiches verschwindet ein kleiner Junge spurlos. Der Heimatpfleger von Bad Harzburg hat Luftaufnahmen der Briten vom Ende des Zweiten Weltkriegs erhalten, auf denen Lüftungsschächte und eine vergessene Bahnlinie zu sehen sind. Er überredet den pensionierten Hauptkommissar Rolf Benneis, gemeinsam mit ihm das Gebiet abzusuchen, da er den Verdacht hegt, dass der Junge in einen solchen Lüftungsschacht gefallen sein könnte. Wenig später wird der Heimatpfleger ermordet, die Luftaufnahmen entwendet. Benneis begibt sich auf Spurensuche und trägt immer mehr Puzzlesteine zusammen, die als Ganzes ein Bild des Grauens ergeben. Nördlich des Oderteiches muss sich ein gigantischer Nazi-Stollen befunden haben, in dem die SS in den letzten Kriegswochen eine schreckliche Chemiewaffe eingelagert hat: N-Stoff. Für den interessieren sich scheinbar ausländische Investoren eines Staates mit einer als sehr zweifelhaft geltenden Regierung. Aber Benneis kämpft auf verlorenem Posten, da ihm niemand glaubt.

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Dirk Rühmann

HARZKRIMI

Impressum

N-Stoff: Tödliches Erbe

ISBN 978-3-96901-075-4

ePub Edition

V1.0 (06/2023)

© 2023 by Dirk Rühmann

Abbildungsnachweise:

Umschlag © Covermotiv © pierluigi1956 | #237257478 | depositphotos.com

Porträt des Autors © Ania Schulz | as-fotografie.com

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Schauplätze dieses Romans sind (bis auf wenige Ausnahmen wie Leuterspring oder die Kneipe Achtermann) reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

Titelseite

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Fake

Fakt

Über das Buch

Danksagung

Über den Autor

Mehr von Dirk Rühmann

Eine kleine Bitte

Prolog

Die Erde hat längst nicht wieder alles von dem ans Licht gebracht, das Menschen ihr einst zumuteten und in ihr vergruben. So weisen uns sogenannte Lost Places zuweilen den Weg in Abgründe der Vergangenheit, die von Forscherteams gern nach Überresten aus längst vergangenen, aber nie vergessenen Zeiten abgesucht werden wie von Tauchenden der Meeresboden nach Schiffswracks. Nicht jedes verschlossene Tor jedoch zu ebenso fantastischen wie schrecklichen Unterwelten lässt sich einfach öffnen. Manches Geheimnis konnte bis heute nicht gelüftet werden.

Niemand von uns weiß ganz genau, was wo vielleicht noch im Erdreich vor sich hin schlummert und unter Umständen eine tickende Zeitbombe darstellt.

Der Harz steckt voll von Unterwelten der Menschheit aus unmenschlichen Zeitepochen. Manche werden heute noch genutzt, andere wurden teilweise oder ganz verfüllt und wieder andere vielleicht bis heute nicht entdeckt. Alles zusammengenommen reicht, um eine Ahnung von den menschlichen Tragödien zu bekommen, die sich einst in den unterirdischen Höllen abspielten.

Kapitel 1

Es handelte sich um keine Feuerwalze, die über den Harz hinweggerollt war. Der Feind kam von innen und schien klein und unbedeutend. Nur in der Masse konnte der Borkenkäfer zu dieser tödlichen Gefahr für den Tannenwald unseres Mittelgebirges werden. So verwandelten sich die immergrünen Nadelbäume, die so prägend für das Bild des westlichen Harzes gewesen waren, in ein Meer aus Baumskeletten. Unheilschwanger präsentierte sich das Mittelgebirge, das den Krieg gegen den Käfer und andere schädliche Umwelteinflüsse verloren hatte. Grausam zeigte die Natur auch dem Menschen die kalte Schulter, der in seiner Unfähigkeit, in Rückkopplungen zu denken, auf die Monokultur gesetzt und nicht begriffen hatte, dass nur Diversität am Ende Überleben garantieren konnte.

Weite Teile des Harzes waren zum Entsetzen seiner Besucher einfach abgestorben. Sein Tod war allgegenwärtig. Er wirkte wie ein Spiegel, in dem der Mensch seine eigenen grenzenlosen Sünden betrachten konnte.

Doch die grausamen Spuren, die der Homo sapiens hinterlassen hatte, befanden sich keineswegs nur an der Oberfläche wie auf den Bergkuppen. Der Mensch hatte es geschafft, eines der ältesten Gebirge dieses Planeten in weiten Teilen auszuhöhlen und gigantische Stollen ins Erdreich zu treiben. Dort bastelte er unter menschenverachtenden Bedingungen an der Mondrakete, ließ in bombensicherer Tiefe schreckliche Waffen herstellen und baute die größte Sprengstofffabrik des Deutschen Reiches mitten im idyllischen Mittelgebirge.

Später wurde eine unüberwindliche Grenze quer durch den Harz gezogen, ganze Baumlandschaften abgeholzt und Tretminen verlegt.

Gegen das, was der Mensch der Neuzeit im Harz veranstaltet hatte, mochten die schrecklichen Hexenverbrennungen aus dem Mittelalter verklärend befremdlich anmuten.

Der fremde Mann mit dem Hut auf dem Kopf und dem Schal um den Hals über dem langen Stoffmantel stand vor der Fußgängerzone von Bad Harzburg an einem Andenkenladen und hielt eine Brockenhexe in der Hand, die traditionsgemäß auf einem Besen ritt. Er grinste in sich hinein und legte das Mitbringsel für Touristen einfach in jenen Korb zurück, aus dem er es in die Hand genommen hatte.

»Möchten Sie sie nicht mitnehmen?«, fragte die freundliche Verkäuferin hinter dem Ladentisch. »Eine Hexe ist eine Frau, die keinen Mann abbekommen hat. Deshalb hat sie als Ersatz den Besen zwischen den Beinen. Ihr letztes kleines Vergnügen, bevor sie wegen Sex mit dem Teufel verbrannt wurde. Wussten Sie das?«

Der Fremde ging einfach des Weges und ließ die Verkäuferin ratlos zurück, die ihm mehr kopfschüttelnd als fragend hinterhersah.

Schnell geriet der seltsame Mann wieder in Vergessenheit. Doch gar nicht weit von hier hatte er sich in ein Hotel eingemietet. Er würde bald wieder in Erscheinung treten. Aber sein wahres Interesse galt keineswegs Brockenhexen. Dieser Fremde hatte anderes im Sinn.

Kapitel 2

Seit seiner Pensionierung spielte sich im Leben des Kriminalkommissars Rolf Benneis aus Bad Harzburg nur noch wenig Aufregendes ab, weswegen er kurze Zeit nach seiner Versetzung in den Ruhestand zunächst dankbar eine Art Rentnerjob bei der Polizei angenommen hatte, bei dem er ungeklärte Fälle bearbeiten sollte. Nachdem er dieses Dienstverhältnis wieder beendet hatte, kehrte jene für ihn so bedrohlich wirkende Monotonie in sein Leben zurück, die er bereits vor der Aufnahme der Nebentätigkeit schon zu spüren bekommen hatte.

Obwohl Benneis anfänglich froh darüber gewesen war, noch ein wenig für seinen ehemaligen Dienstherrn tätig sein zu dürfen, schied er nach der Versetzung des jungen Hauptkommissars Leon Färber nach Hannover wieder aus, da er sich mit der neuen Hauptkommissarin, die Färbers Stelle und damit seinen früheren Posten eingenommen hatte, nicht sonderlich gut verstand. Persönliche Querelen hatte es in seinem gesamten Arbeitsleben genug gegeben, sodass der Pensionär keine Lust mehr verspürte, sich mit unliebsamen Kollegen oder Kolleginnen herumschlagen zu müssen, wenn er das nicht mehr nötig hatte. So bevorzugte er letztlich den Ruhestand, obwohl ihm die Zeit seines Unruhestandes nicht schlecht bekommen war. Benneis musste nur aufpassen, nicht hinter der Fensterscheibe seiner Küche zu versauern, durch die er jeden Tag gelangweilt nach draußen blickte und immer dieselben Menschen aus der Nachbarschaft vorbeigehen sah. Zumeist handelte es sich um ältere Herrschaften wie ihn, die jedoch im Gegensatz zu ihm bereits geübt darin waren, den Tag mit irgendwelchen, vermutlich unwichtigen Besorgungen zu verbringen, um ihm auf diese Weise eine Struktur zu verleihen. Oftmals legten die Menschen aus der Nachbarschaft ihre Wege zu Fuß zurück. So schlugen sie Zeit tot, blieben immer in Bewegung und konnten jederzeit stehen bleiben, wenn sie einen anderen trafen, um mit ihm über Gott und die Welt zu plaudern.

Er dachte jetzt an seine vor noch nicht allzu langer Zeit verstorbene Frau Patricia, mit der er nach seiner Pensionierung so viel hatte erleben wollen. Um die gemeinsame Zeit zusammen mit ihr fühlte er sich betrogen. Ein Buch war ihm erst kürzlich in die Hände gefallen. Es trug den Titel Veränderungen im Leben durch den Menschen, der neben einem fehlt. Kurz entschlossen hatte er es gekauft, dann jedoch den Entschluss gefasst, es lieber nicht zu lesen.

Seine Tageszeitung wollte er anfangs abbestellen. Aber über diesen Gedanken war er schnell hinweggekommen. Durch sie wusste er wenigstens, welcher Wochentag angebrochen war. Im Ruhestand glich schnell ein Tag dem anderen, sodass auf den inneren Kalender plötzlich kein Verlass mehr zu sein schien. Außerdem blieb er dadurch auch auf dem Laufenden darüber, was sich um ihn herum in Bad Harzburg alles ereignete. Zuweilen handelte es sich bei diesen Tagesmeldungen um die üblichen Provinzpossen, die meistens das Papier nicht wert waren, auf dem sie gedruckt wurden. Allerdings war es keineswegs nur so, dass Belanglosigkeiten die Schlagzeilen füllten. Mit großer Spannung verfolgte Benneis die Berichterstattung über das seit Tagen spurlos verschwundene Kind, das seinen Eltern bei einem Sonntagsausflug in den Harz auf einem Parkplatz in der Nähe des Oderteiches abhandengekommen war. Mutter und Vater hatten angegeben, für kurze Zeit abgelenkt gewesen zu sein und nicht auf ihren fünfjährigen Jungen geachtet zu haben. Die Erziehungsberechtigten hatten nach eigenem Bekunden sofort das gesamte Umfeld des Parkplatzes vergeblich abgesucht, nachdem sie das Verschwinden ihres Sohnes bemerkt hatten.

Benneis konnte mit Sicherheit davon ausgehen, dass die neuen Kolleginnen mit der Suchaktion betraut waren, und er fragte sich, wie es möglich sein konnte, dass sie darin so erfolglos blieben. Wohin könnte sich der kleine Junge verirrt haben? Da er nun schon über eine Woche unauffindbar geblieben war, wurde es immer wahrscheinlicher, ihn nur noch tot oder gar nicht mehr zu finden. Die Chancen, als kleines Kind allein im Wald zu überleben, sanken mit jedem neuen Tag, der anbrach.

Der ehemalige Polizist konnte unmöglich ahnen, in welcher Weise ihn dieser Fall noch beschäftigen würde. So legte er zunächst die Zeitung beiseite und beschloss, an die frische Luft zu gehen. Vielleicht gelang es ihm ja, Anschluss an die benachbarten Ruheständler zu finden, um mit ihnen gemeinsam die viele freie Zeit zu verbringen, die sich nun vor Benneis auftat. Davor hatte er immer Angst verspürt, nachdem seine Frau verstorben war. Ein Gefühl von Nutzlosigkeit breitete sich in ihm aus und er wusste, dass er sich irgendwelche Ziele setzen musste, um sein Leben als lebenswert zu erhalten und nicht im Schatten einer Depression vor sich hinzudämmern.

Kapitel 3

Jessica Herbst arbeitete erst seit kurzer Zeit in der Polizeidienststelle von Bad Harzburg. Für sie kam die Versetzung ihres Kollegen Leon Färber nach Hannover recht überraschend. Der Nachfolger des pensionierten Benneis hatte die neue Kollegin unwissend über seine Bewerbung auf die höher dotierte Stelle gelassen. Somit gab es für die beiden auch kaum eine Gelegenheit, irgendwie gebührend voneinander Abschied zu nehmen, als er den positiven Bescheid in den Händen hielt. Geräuschlos war der Personalwechsel über die Bühne gegangen und so saß von einem auf den anderen Tag nicht mehr der relativ junge Mann, sondern eine wesentlich ältere Frau auf dem Schreibtischstuhl, den bislang nur das männliche Geschlecht besetzt gehalten hatte.

Hauptkommissarin Miriam Schönian zählte bereits 58 Jahre und hatte den Dienstort Bad Harzburg gewählt, weil sie sich gemeinsam mit ihrem aus Altersgründen in den Ruhestand versetzten Mann eine Eigentumswohnung in der Kurstadt gekauft hatte. Somit schien sie ihre neue Dienststelle als eine Art Alterssitz zu betrachten. Vielleicht glaubte die Frau, die auf ein langes Berufsleben zurückblicken konnte, auch irgendwelchen Klischees, nach denen Bad Harzburg als ein Wartezimmer Gottes betrachtet wurde und Polizeibedienstete hier eine ruhige Kugel schieben könnten.

Doch in den wenigen Wochen, in denen die beiden Frauen jetzt zusammenarbeiteten, hatte Miriam Schönian mit abstrusen Mutmaßungen über den Wunsch ihres Dienstortes aufgeräumt. Sie entpuppte sich als Pragmatikerin, die kein großes Federlesen veranstaltete und offenbar zupacken konnte.

Im Laufe der Jahre hatte sie aufgehört, sich täglich zu wiegen und kontrolliert Buch darüber zu führen, ob sich ein Kilogramm zu viel bei ihr angesammelt hatte. Entsprechend war sie ein wenig rundlicher geworden. Bei ihrer Frisur hingegen hatte sie die Eitelkeit nicht an den Nagel gehängt. Mit Regelmäßigkeit suchte sie einen Frisör auf und ließ sich eine Dauerwelle machen und das Haar schwarz färben.

Zwischen ihr und Benneis aber stimmte die Chemie vom ersten Tage an nicht. Obwohl er aus freien Stücken ganz von selbst gegangen war und seine genehmigte Altersnebentätigkeit bei der Polizei aufgegeben hatte, konnte sich Jessica Herbst des Eindrucks nicht erwehren, dass die Neue ihn aus dem Rentnerjob gedrängt hatte. Vielleicht lag es aber einfach an der persönlichen Situation des pensionierten Hauptkommissars. Miriam Schönian befand sich grob im Alter von Benneis’ verstorbener Frau. Dabei schien es sich noch immer um dessen wunden Punkt zu handeln, weil er seine Frau verloren hatte. Jedenfalls mussten Miriam Schönian und die Mitte dreißigjährige Jessica Herbst nun ihren Dienst allein in dieser Abteilung des Polizeireviers bestreiten.

Sie waren dabei, sich aneinander zu gewöhnen, als sie die Eltern des verschwundenen fünfjährigen Jungen ein weiteres Mal zu sich gebeten hatten, um sie nun getrennt voneinander vernehmen zu können. Durften sich die Erziehungsberechtigten anfänglich der sorgenvollen Unterstützung der ganzen Bevölkerung gewiss sein, drohte die Stimmung nun allmählich zu kippen. Das Mitleid mit ihnen verwandelte sich in einen Verdacht gegen sie. Da kein Schuldiger gefunden wurde, aber das verschwundene Kind partout nicht wieder auftauchte und sich die Eltern immer mehr in Widersprüche verstrickten, fragte sich die Öffentlichkeit inzwischen, ob sie nicht ganz bewusst von den Erziehungsberechtigten getäuscht worden war, weil diese damit von ihrer Schuld geschickt ablenken wollten.

Es gelang dem etwas verwirrt wirkenden Elternpaar, auch die beiden Hauptkommissarinnen zu entzweien. Während Jessica Herbst noch immer die Opfer in ihnen zu sehen bereit war, glaubte Miriam Schönian viel stärker, sie als verantwortungslos einstufen zu können. Die beiden hatten ihr Kind einfach sich selbst überlassen, da sie die Austragung ihres persönlichen Streits auf dem Parkplatz am Oderteich offenbar wichtiger nahmen.

Was den Kriminalistinnen jedoch nicht verborgen blieb, war das Bild einer zerbrochenen Ehe. Hauptkommissarin Herbst versuchte das eine vom anderen zu trennen. Die Abkoppelung vom Ehepartner musste nicht zwangsläufig mit der Vernachlässigung der gemeinsamen Aufsichtspflicht für den Nachwuchs einhergehen.

Hauptkommissarin Schönian sah das völlig anders. Für sie rückte immer mehr die Tatsache in den Fokus, dass das Kind unauffindbar blieb. Konnte es nicht sein, dass die Eltern ihre Streitigkeiten auf den Jungen übertragen hatten oder dass der Kleine zum Auslöser für die Eheprobleme geworden war? Für diesen nicht ganz unwahrscheinlichen Fall hatten sie ihn möglicherweise ungewollt getötet und die kleine Leiche verschwinden lassen, um ihre Legende basteln zu können.

Fakt war, dass sich keine der Theorien beweisen ließ und die Hauptkommissarinnen die Eltern wieder gehen lassen mussten. Sie spürten, wie ihnen die Zeit unter den Fingern zerrann und davonlief. Als das Schrecklichste empfanden sie ihre Ohnmacht, die ihnen binnen kürzester Zeit von der Presse als Unfähigkeit ausgelegt werden würde.

Das Kind blieb verschollen. Doch sein mysteriöses Verschwinden warf Fragen auf, die sich nicht beantworten ließen. Wie war es möglich? Warum wurde es nicht gefunden? Weshalb konnte es einfach so vom Erdboden verschluckt worden sein?

Längst hatten Polizeitaucher den gesamten Grund des Oderteiches abgetaucht und nichts entdeckt. Das musste nicht heißen, dass es doch irgendwo in dem See ertrunken sein konnte. Auch die Hundertschaft, die das Gebiet rund um das Gewässer durchkämmt hatte, war erfolglos geblieben. Selbst die vielen Augen einer derart großen Suchtruppe konnten unmöglich alles erblicken, was sich in den Unwägbarkeiten abseits liegender Landschaften verstecken mochte.

Aufrufe in den sozialen Medien konnten nicht zur gewünschten Aufklärung des Vermisstenfalls beitragen. Alles blieb völlig rätselhaft und je unwahrscheinlicher es wurde, den kleinen Jungen noch zu finden, desto mehr erhärtete sich der Verdacht gegen die Eltern. Ein Verdacht, der immer schlimmer wurde!

Kapitel 4

Rolf Benneis hatte sich bereits im Jogginganzug aufs Sofa gesetzt und den Fernseher angestellt, als es überraschend an der Tür klingelte. Ein wenig verwundert darüber, wer zu solch fortgeschrittener Stunde noch etwas von ihm wollen könnte, stand er wieder auf und ging nachschauen.

Günter Beiersdorf stand vor seinem Haus und schien hereingebeten werden zu wollen. Rolf Benneis entschuldigte sich kurz dafür, dass er schon etwas leger gekleidet war, da er mit niemandem mehr gerechnet hatte. Beiersdorf war es gleichgültig, welche Garderobe Benneis angelegt hatte, und er folgte seiner Aufforderung, ihn in sein Haus zu begleiten, gern.

Der späte Gast hatte locker zwanzig Jahre mehr auf dem Buckel als der kürzlich in den Ruhestand verabschiedete Kriminalbeamte. Die achtzig musste er längst hinter sich gelassen haben. Dafür sah er noch recht gut aus und zeigte keinerlei Bewegungseinschränkungen. Sein volles Haar war weiß wie Schnee. Das schwarze Gestell seiner Brille bildete einen auffälligen Kontrast. Beiersdorf war von der kommunalen Politik vor mehr als einem Vierteljahrhundert zum Heimatpfleger der Stadt Bad Harzburg bestellt worden. Dieses Ehrenamt übte er mit Begeisterung aus und an ein Ende seiner Amtszeit war aus seiner Sicht noch lange nicht zu denken.

Das Alter hatte ihn allmählich milde gestimmt und zu einem allgemein gern gesehenen Menschen gemacht. In jüngeren Jahren konnte er aufbrausend sein und manchmal in politischen Diskussionen sehr lautstark mit einer Portion Fanatismus durchsetzt rechte Thesen vertreten und sie gegen linke Argumente ohne jede Toleranz verteidigen. Dass er als politisch Rechter seinerzeit zum Heimatpfleger auserkoren worden war, entsprang dem Zeitgeist, dass die Liebe zur Heimat eher Menschen des konservativen, vielleicht nationalen Spektrums zuzuschreiben war. Allerdings haftete solchen Gedanken inzwischen etwas Klischeehaftes an. Längst hatte sich Heimatverbundenheit anderen politischen Ausrichtungen geöffnet und Beiersdorf selbst verfolgte nunmehr eine eher liberale Linie, was ihn sympathischer auftreten ließ, sodass der Kreis seiner Befürworter sich entsprechend vergrößert hatte. Mit Benneis verband ihn eine lange, aber eher oberflächliche Freundschaft. Der Kriminalbeamte im Ruhestand hatte Beiersdorfs Einsatz für die Heimat immer geschätzt und er mochte seine Führungen durch Stadt und Land mit den oft markigen Anmerkungen und seiner provokanten historischen Betrachtungsweise, für die er nicht immer Beifall geerntet hatte.

Er führte seine Aktentasche mit sich, aus der er zusammengefaltete Blätter im DIN-A3-Format herausnahm, die er auf Benneis’ Wohnzimmertisch ausbreitete. Fotokopien von Luftaufnahmen waren darauf zu sehen.

»Die habe ich aus dem Rathaus bekommen. Die Engländer haben sie jetzt endlich freigegeben. Es handelt sich um Luftaufnahmen aus den letzten Kriegstagen«, erzählte er mit stolzgeschwellter Brust. »Doch hat wohl niemand so recht etwas damit anzufangen gewusst nach so vielen Jahren. Ich kenne da jemanden aus dem Amt ganz gut und da der weiß, dass ich mich für all so was interessiere, hat er mir die Kopien dieser Aufnahmen geschenkt.«

Benneis verstand nicht so ganz, was er ihm damit eigentlich sagen wollte.

»Schau dir das mal genau an!«, forderte sein Gast ihn nun auf.

Benneis holte seine Lesebrille. Doch auch durch sie hindurch konnte er nicht mehr erkennen als zuvor.

»Was soll das denn sein?«, fragte er seinen Besucher achselzuckend.

Ein durch Bäume gut getarntes Wegenetz wurde dort mit viel Fantasie sichtbar. Teilweise waren die Baumkronen unter Netzen regelrecht zusammengebunden worden, um den Blick nach unten unmöglich zu machen. Deshalb konnte man nicht viel auf den Bildern erkennen. Das Dach eines Gebäudes war deutlich zu sehen sowie eine weniger gut getarnte Gleisanlage.

»Wo soll das sein?«, stellte Benneis eine zweite Frage an seinen Besucher.

»Gar nicht weit weg vom Oderteich. In der Nähe vom Bruchberg.«

»Weshalb zeigst du mir das?«

»Ich habe einen Bekannten, Albert Schliefstein. Wohnt auch hier in Bad Harzburg. Der ist inzwischen Mitte neunzig, aber noch voll bei Verstand. Der war 1945 bei der SS. Und dieser Mann hat von einem riesengroßen unterirdischen Lager unweit vom Oderteich entfernt gesprochen. Da sind 500 Meter lange Güterzüge noch in den letzten Kriegswochen abgefahren und angekommen.«

»Aber das müsste doch irgendjemand wissen.«

»Eben nicht! Bis heute ist nicht hundertprozentig erforscht, wo die Nazis überall gigantische Stollen ins Erdreich getrieben haben. Ein derartiges Beispiel ist das KZ an der Gusen in Österreich in der Nähe von Linz, wo sich vermutlich auf fünf Ebenen Häftlinge in einer Tiefe bis zu 90 Metern zu Tode schuften mussten. Von diesem vielleicht größten und mörderischsten KZ des Dritten Reiches hat man bis vor Kurzem so gut wie gar nichts gewusst. Man kennt nur das nahe gelegene Mauthausen. Heute noch gibt es lediglich Indizien, dass hier möglicherweise die geheimste Unterwelt der SS angelegt worden war. Alle dorthin verschleppten Zwangsarbeiter wurden vermutlich ermordet, sofern sie nicht an Erschöpfung und Misshandlung zu Grunde gegangen waren, sodass es keine Zeugen für die grauenvolle Arbeit unter Tage gegeben hat. Der Harz ist damals zur Festung erklärt worden. Wer weiß, was die da alles angestellt haben! Wir kennen Mittelbau-Dora in Nordhausen. Auch im Nordharz bei Blankenburg hat es neben anderen eine gigantische Stollenanlage gegeben. Heute ist dort die größte unterirdische Apotheke der Welt untergebracht. Zu DDR-Zeiten nutzte die Volksarmee die Anlage und inzwischen die Bundeswehr. Immer noch bestens abgeschottet und bewacht. Fotografieren bei Androhung von Konsequenzen strengstens verboten. Warum also soll eine solche Anlage nicht auch bei uns existiert haben?«

Benneis spürte, wie ihn das Gerede seines Besuchers in den Bann zog. Das Blut stieg ihm zu Kopfe und er zeigte sich angetan von diesen Schilderungen mit ihren Möglichkeiten, die sich daraus ergaben. Der Heimatpfleger war dabei, den pensionierten Hauptkommissar anzustecken mit seinem Interesse an geheimen Bunkeranlagen und das alles ließ sich in Benneis’ Augen mit einem einzigen Wort umschreiben: Abenteuer.

»Erinnerst du dich noch an den gewaltigen Erdrutsch damals ganz in der Nähe vom Oderteich vor etwa zehn Jahren?«

»Natürlich. Ich war im Einsatz. Sah schrecklich aus.«

»Der alte Zeitzeuge von der SS hat als Einziger einen plausiblen Grund für diese scheinbare Naturkatastrophe liefern können, bei der fünf Menschen in die Tiefe gerissen wurden. Ein unterirdischer Stollen hat nachgegeben und ist eingebrochen. Das aber hat ihm schon damals niemand geglaubt. Doch seine Beschreibungen von den Örtlichkeiten decken sich exakt mit dem, was auf diesen Luftaufnahmen englischer Aufklärungsflieger zu sehen ist.«

»Du glaubst es ihm demnach.«

»Ja, selbstverständlich, Rolf.«

»Mensch Günter!«

Benneis war sich trotz einer gewissen Begeisterung nicht sicher, ob das fortschreitende Alter dabei war, auch seinem langjährigen Bekannten ganz allmählich den Verstand zu rauben und ob er nicht gerade im Begriff war, Zeuge eines solchen tragischen Prozesses zu werden. Er hatte keine Ahnung, wie er den Heimatpfleger schnellstmöglich wieder loswerden konnte, ohne ihn dabei zu verletzen. Allerdings kam ihm das alles nun doch nur noch merkwürdig, ja lächerlich vor. Benneis versuchte, realistisch zu bleiben und nicht solchen Hirngespinsten zum Opfer zu fallen.

»Aber warum bist du ausgerechnet heute zu mir gekommen, um mir das alles zu erzählen?«, wollte er nun von ihm wissen.

»Ist nicht ziemlich genau dort vor einigen Tagen ein kleiner Junge spurlos verschwunden?«

»Was willst du damit sagen?«

»Warum findet ihn denn niemand? Es muss Zugänge oder Eingänge zu diesem Stollen geben. Vielleicht einen Lüftungsschacht, in den er hineingefallen ist.«

»Wie soll man einen solchen Eingang, wenn es ihn gibt, finden?«

»Indem man ihn sucht. Du bist doch jetzt im Ruhestand. Da dachte ich mir, wir beide könnten uns ja mal gemeinsam auf die Suche begeben.«

»Mensch, Günter! In dem gesamten Gebiet hat unlängst eine Hundertschaft von Polizeikräften jeden Grashalm umgedreht und nach dem Kleinen gesucht. Erfolglos, wie du ja weißt.«

»Rolf! Wir beiden verhältnismäßig alten Männer kennen den Harz wie unsere Westentasche. Er ist unsere Heimat. Und wir wissen, wie unübersichtlich er sich an vielen Stellen gibt.«

»Eben drum! Wo sollen wir denn suchen, wenn schon Hunderte meiner ehemaligen Kollegen nichts gefunden haben?«

»Dort, wo die Fotos der britischen Aufklärer entstanden sind«, sagte Beiersdorf demonstrativ.

»Nein! Tut mir leid. Das wäre die Suche nach einem Phantom. Was sollen sie denn damals deiner Meinung nach in diesen Bunkern hergestellt und in Güterzügen abtransportiert haben?«

»Raketenteile für die Vergeltungswaffe 2. Ab nach Fallersleben, wo sie V1-Flugbomben hergestellt haben.«

»Ich weiß nicht. Ist das nicht ein bisschen lächerlich?«

»Die Gleisanlagen! Überleg doch mal. Stillgelegte Trassen sieht man auch nach hundert Jahren noch und kann diese ganz genau erkennen. Wir können vielleicht mal einen Spaziergang zusammen dorthin machen. Unter Umständen finden wir ja den Jungen.«

»Ich möchte meinen Kollegen nicht in die Quere kommen, Günter. Es handelt sich nicht mehr um meinen Job. Das musst du verstehen. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«

»Hier habe ich noch eine handgefertigte Skizze. Ein bisschen vergilbt. Aber könnte ein Bauplan sein.«

»Oder ein Kinderspielplatz, den ein Volksschulkind seinerzeit gemalt hat«, versuchte Benneis abzuwiegeln.

»Und was bedeutet das K mit dem Punkt dahinter?«

»Das Kürzel eines Lehrers?«

Beiersdorf spürte die Ablehnung des Ex-Kriminalisten, die ihm entgegenschlug. Wortlos packte er seine Unterlagen sorgsam wieder ein, nur diese Skizze schob er seinem Gegenüber wutentbrannt zu. Nach dieser abfälligen Äußerung schien er das Interesse an ihr verloren zu haben. Benneis ließ das Blatt liegen und berührte es nicht.

Dem Heimatpfleger war deutlich geworden, dass er besser nicht mit diesem Anliegen zu seinem alten Freund von der Polizei gekommen wäre. Nachdem er alles verstaut hatte, verabschiedeten sich die beiden voneinander.

Benneis geleitete seinen unerwarteten Besucher zum Ausgang und blieb noch eine Weile im Türrahmen stehen, um ihm hinterherzusehen. Noch einmal kurz drehte sich der Heimatpfleger um und winkte Benneis zum Abschied zu.

Der hing seinen Gedanken nach. Warum wurde der kleine Junge nicht wiedergefunden? Andere schien das auch zu beschäftigen und sie suchten nach Antworten, nach Erklärungen.

Als er in sein Wohnzimmer zurückkehrte, sah er die vergilbte Skizze dort auf dem Tisch herumliegen und fühlte sich einen Augenblick genötigt, sie einfach in den Papierkorb zu werfen. Doch irgendeiner inneren Eingebung folgend tat er das nicht, sondern faltete sie zusammen und verstaute das Blatt in der Schublade einer Anrichte.

Kapitel 5

Das Hotel Corona war weit über die Grenzen von Bad Harzburg hinaus bekannt für seinen guten Service sowie die ausgezeichnete Qualität. Trotzdem waren seit der Pandemie die Internetbuchungen stark rückläufig. Die Geschäftsleitung führte das darauf zurück, dass der lateinische Begriff für Krone verbrannt zu sein schien. Niemand sah in erster Linie mehr etwas Majestätisches hinter dem Wort, sondern neigte dazu, es mit der bedrohlich ansteckenden Seuche in Zusammenhang zu bringen. Es gab ernsthafte Überlegungen, dem Vier-Sterne-Hotel einen neuen Namen zu verpassen. Doch dabei wurden gleichsam mahnende Gegenstimmen laut. Eine neue Bezeichnung könnte sich schließlich auch als Flop erweisen.

Der Mann mit dem Hut und dem roten Schal um den Hals war ohne Hintergedanken im Corona abgestiegen und hatte dort unter dem Namen Gisbert Fugger ein Einzelzimmer mit Blick auf den Burgberg gebucht. Seit ein paar Tagen wohnte der Mann nun schon hier, der sich als Harztourist ausgab, aber wenig gesprächig erschien.

Fugger lag auf seinem Bett und starrte die Decke an. Schließlich klingelte sein Smartphone, das neben ihm lag. Er griff sofort danach, da der Anruf für ihn nicht unerwartet kam.

»Hallo. Ich bin noch nicht an die fragliche Person herangekommen, weiß aber, dass sie im Besitz der von uns benötigten Unterlagen ist. Sie können das Geschäft jetzt über die Bühne bringen. Mit den entsprechenden Karten werden wir die Pourgonier zufriedenstellen. Wie sie das Zeug aus der Erde holen und außer Landes schaffen wollen, ist nicht mehr unsere Sache. ... Was? Das lassen Sie getrost meine Sorge sein, was ich mit der fraglichen Person machen werde. Meine Devise lautet: So wenig Zeugen wie möglich. Die Liquidierung ist im Preis inbegriffen. Meine Anzahlung von fünfzigtausend habe ich ja als unübersehbares Zeichen der guten Zusammenarbeit dankenswerterweise schon von Ihnen erhalten. Die restlichen fünfzigtausend bitte in kleinen Scheinen in einem Koffer. Ich melde mich wieder bei Ihnen und nenne den Termin und Ort der Geldübergabe. Schönen Tag.«