Nach Feuer schmeckt die Nacht - Rainer Popp - E-Book

Nach Feuer schmeckt die Nacht E-Book

Rainer Popp

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Beschreibung

In diesem Roman über die kriminellen Verstrickungen von demokratisch legitimierter Staatsmacht beschreibt Rainer Popp das Unheil, das uns Bürger bedroht, wenn ein deutscher Spitzenpolitiker mit dem Verlust seiner Selbstbestimmung zum Spielball von Erpressern wird. Der Hauptdarsteller in dieser Geschichte ist Schulabbrecher und selbstverliebter Prahlhans, ist linker Revolutionär, ist vielfacher Ehemann, ist Kämpfernatur, ist Anführer einer politischen Bewegung, ist umstritten, ist angefeindet, ist verschrien und umjubelt zugleich, und er wird aufsteigen vom Hilfsarbeiter zur schillernden Figur auf dem europäischen Parkett. Er ist klug, ist stürmisch und er ist ehrgeizig bis zum Stehkragen und er will, wie seine Weggefährten ihm nachsagen, sogar Bundeskanzler werden. Dieses Buch, als Parabel inszeniert, ist ein erschütterndes Beispiel dafür, wie Verantwortung, vom Wähler als Mandat verliehen, zu Eigennutz verludert und nur dem Erhalt der persönlichen Macht und der eigenen Selbstdarstellung dient. Der in Köln lebende und als freier Journalist und Schriftsteller arbeitende Rainer Popp ist Verfasser von mehr als einem Dutzend Büchern. Tätigkeiten in verantwortlichen Positionen bei namhaften Zeitungen, beim Hörfunk und bei TV-Sendern, schärften seinen Blick für die 'andere' Welt der Politik und deren Ränkespiele. In seinen Romanen bringt der diese Erfahrungen schonungslos und literarisch wertvoll ein.

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Rainer Popp

Nach Feuer schmeckt die Nacht

Rainer Popp

Nach Feuer schmeckt die Nacht

Roman

Die Handlung und die handelnden

Personen sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits

verstorbenen Personen ist zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2022

ISBN 978-3-96438-038-8

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzungen, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen.

© 2022 Südwestbuch Verlag

SWB Media Entertainment, Sommenhardter Weg 7, 75365 Calw

Printed in EU

Foto des Autors: GAP, Köln

Umschlaggestaltung: Dieter Borrmann

Lektorat: I. Nehren, Köln

Satz: Julia Karl / www.juka-satzschmie.de

Druck und Bindung: Custom Printing PL

Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.

www.suedwestbuch.de

Wenn ihr eure Augen nicht gebraucht,

um zu sehen,

werdet ihr sie brauchen,

um zu weinen.

Jean-Paul Sartre

Französischer Schriftsteller, Nobelpreisträger,

Dramatiker und Philosoph (1905 – 1980)

*

Je weiter sich eine Gesellschaft

von der Wahrheit entfernt,

desto mehr wird sie jene hassen,

die sie aussprechen.

George Orwell

Britischer Schriftsteller, Essayist und Journalist

(1903-1950)

DER AUTOR

Rainer Popp, geboren am 24. März 1946 in Staßfurt (Sachsen-Anhalt), lebt und arbeitet seit Anfang 1990 als Schriftsteller und Journalist in Köln. Er ist Autor von mehr als einem Dutzend Büchern; darunter neun Romane.

Zu Beginn der Sommerferien 1951 flüchtete seine Familie nach politischer Verfolgung seines Vaters, der als Oberstudiendirektor am heimatlichen Gymnasium Deutsch, Geschichte und Geographie lehrte, aus der damaligen DDR in den freien Teil Deutschlands; zunächst nach Bad Harzburg, dann nach Goslar. Dort, am Rande des Harzes, verbrachte er seine Kindheit. In der Kaiserstadt verlebte er auch den Großteil seiner Jugend.

Bereits im Alter von fünfzehn begann Rainer Popp Gedichte und Kurzgeschichten zu schreiben. Erste Veröffentlichungen folgten drei Jahre später. Als Unterprimaner war er Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS).

Im Anschluss an sein zweijähriges Volontariat bei der Goslarschen Zeitung ging er im Januar 1971 als Chefreporter zum Donau-Kurier nach Ingolstadt und 1975 als politischer Redakteur und Ressortleiter Zeitgeschehen in die Düsseldorfer Zentralredaktion der Westdeutschen Zeitung. Er war von 1979 an Hauptstadt-Korrespondent der Nachrichtenagentur Deutscher Depeschen-Dienst (ddp) in Bonn und – ab 1984 in Doppelfunktion – Chefredakteur von RTL-Hörfunk und RTL-Fernsehen sowie mit Beginn des Jahres 1988 Direktor des deutschen Programms von Radio Luxemburg und zugleich Begründer und Leiter des Frühstücksfernsehens von RTL.

Nach mehr als fünfeinhalb Jahren im Großherzogtum verließ er den Sender aus eigenem Wunsch – gegen den ausdrücklichen Willen des damaligen CLT-Generaldirektors Gust Graas. Weitere berufliche Stationen von Rainer Popp: München, Wien, Budapest und Frankfurt am Main.

Er war Herausgeber der vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) hergestellten und bundesweit ausgestrahlten politischen Satiresendung »Hurra Deutschland« und ausführender Produzent der RTL-Nachtshow; außerdem Geschäftsführer der Tele Veronika GmbH und Vorsitzender des Verwaltungsrats der börsennotierten Aktiengesellschaft Prime Beteiligungen AG, Appenzell/Innerrhoden.

Er ist Mitglied der gegen Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus 1990 gegründeten Charta Europa, der auch der inzwischen verstorbene tschechische Staatspräsident Vaclav Havel angehörte; ebenso der Schriftsteller Johannes Mario Simmel (1924-2009) und der Jugendbuch-Bestsellerautor Michael Ende (1929-1995). Ein anderer Unterzeichner der Charta ist, von insgesamt hundert Mitwirkenden, der poetische Liedermacher Konstantin Wecker; ebenso der Schauspieler Heiner Lauterbach.

www.RainerPopp.de

INHALT

I. Kapitel

Gleichermaßen verteilt:

Freunde und Feinde im Überfluss.

II. Kapitel

Das Schicksal der Weggefährten:

der eine frisst Dreck, der andere Kaviar.

III. Kapitel

Das Bein in der Pfütze:

so hingesegelt, als wäre es ein Bumerang.

IV. Kapitel

Im Feuerauge der Macht:

Vollidioten, Freunde, ein dunkler Raum.

V. Kapitel

Bei Ölgestank und Hunger:

der Glaube an sich und die Vorsehung.

VI. Kapitel

Ein Herr von Staat:

Huren, Fahnen, Nadelstreifen.

VII. Kapitel

Schlachten im Maisfeld:

Bomben, Pferde, Pflastersteine.

VIII. Kapitel

Raketen und Eitelkeiten:

als Ehrerbietung in die Sonne geschickt.

IX. Kapitel

Heimsuchung und mehr:

Arschgesichter, Mensa, Sex im Rudel.

X. Kapitel

Kein gutes Haar dran:

er betet an, was er bekämpft.

XI. Kapitel

Der Blick ins Fenster:

sechs Schüsse und ein Phantom.

XII. Kapitel

Jongleur mit sich selbst:

Kriegsgewinne und ein Tennisschuh.

XIII. Kapitel

Zwei am Nachbartisch:

der Bursche kann noch was werden.

XIV. Kapitel

Feuerhaken im Vergessen:

warten, bis Gras über die Sache wächst.

XV. Kapitel

Unter blühenden Zitronen:

der lange Atem für die Stunde X.

XVI. Kapitel

Beim besten Willen:

Erinnerungslücken hier und da.

XVII. Kapitel

Die Hügel rauf und runter:

ein Stirnband und die roten Schuhe.

XVIII. Kapitel

Eine schmerzliche Feststellung:

aus scharfkantig wurde windschlüpfrig.

Gleichermaßen verteilt: Freunde und Feinde im Überfluss.

I. KAPITEL

Die Angst war es, die ihn gebissen hatte – ins Gesicht, in den Bauch, zwischen die Augen, mitten ins Herz. Es war die Angst, die ihn schüttelte hin und her, wie es ein Wolf auf Beutejagd macht mit einem zuckenden Hasen. Es war die Angst davor, dass in letzter Minute doch noch alles herauskam, wofür er sich schuldig fühlte seit mehr als zwei Jahrzehnten. Und es war die Angst, die ihn quälte bis aufs Blut, dass er kurz vor seinem ersehnten Ziel, für das er sogar seinen eigenen Tod in Kauf genommen hätte, doch noch seinen Plan beerdigen musste und sogar das Gefängnis auf ihn wartete.

Seit Stunden lag er wach. Seit Stunden wälzte er sich in seinem Bett. Er schwitzte. Ihm wurde heiß. Ihm wurde kalt. Er starrte an die Decke. Er trank warme Mich. Er trank einen Scotch pur und noch einen und noch einen. Er las ein paar Seiten in einer Biografie über Sören Kierkegaard, einem Vordenker der europäischen Existentialphilosophie. Er schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit der Nacht. Er kam nicht zur Ruhe und er fand keinen Schlaf, von dem er in den vergangenen Tagen ohnehin nur wenig abbekommen hatte.

Das Datum des neuen Tages, das zeigten die roten Zeiger bereits an, als er im ersten glimmenden Morgengrauen aufstand und ins Bad ging. Er duschte und er fragte sich, als ihm der Schaum des Shampoos um kurz nach 6 Uhr über Brust und Rücken lief, warum er an diesem Tag nicht euphorisch war und nicht fröhlich gestimmt, stattdessen aber voller Zweifel und voll von furchtbaren Ahnungen. Es ist das Ereignis, auf das ich mein ganzes Streben konzentriert habe. Es ist der Höhepunkt meines Daseins, der mir noch an diesem Vormittag bevorsteht. Und es ist der Höhepunkt dessen, was ich mir vorgestellt habe, ich zu leisten jemals in der Lage sein werde, sagte er sich.

Aus welchem Grund er dennoch befürchtete, dass er gerade jetzt mit seinem Doppelleben auffliegen und in aller Öffentlichkeit angeprangert werden würde, dafür gab es keinen konkreten Anlass. Vielleicht ist meine depressive Gefühlslage, in der ich mich derzeit befinde, der unterbewusste Hinweis auf ein schlechtes Omen, das sich womöglich als real erweisen wird – früher oder später, überlegte er.

Er putzte sich bemüht lange die Zähne. Er spülte anhaltend mit Mundwasser nach. Er rasierte sich, zupfte sich ein paar Nasenhaare aus, cremte sich Stirn und Wangen ein und er überprüfte die Länge und die Sauberkeit seiner Fingernägel. Zum Schluss seiner Morgentoilette besprühte er sich die Brust mit einem Eau de Parfüm aus britischer Herstellung. Dann ein letzter kritischer Blick von ihm in den Spiegel. Ein Lächeln aber, das ihm galt, das sah er nicht in seinem herausgeputzten Ebenbild.

Der 50 Jahre alte nackte Mann, der ein paar Kniebeugen absolvierte und sich dann in einem Extra-Raum anzukleiden begann, der hieß Marc Nenndorf. Er war berühmt in Stadt und Land. Im europäischen Ausland und in Übersee hatte er ebenfalls einen großen Wiedererkennungswert in gebildeten Kreisen. Er war eine herausragende Persönlichkeit, die 89 Prozent aller Deutschen mit Namen zu nennen wussten. 83 Befragte von hundert (m/w/d), die vermochten seinen Beruf zu sagen 77 Prozent sogar seine Amtstitel aufzählen. Und die Mehrheit war informiert über die bemerkenswert hohe Anzahl seiner Ehen, wobei die Ziffer zwischen vier und sieben schwankte. Dass er einst mit Brandflaschen hantierte und Zaunlatten schwang gegen Ordnungshüter, dass er, sehr geschliffen in seiner Rhetorik, seine Gegner mit Fäkalwörtern beschimpfte, dieses Wissen war breiten Bevölkerungskreisen ebenso bekannt. Dieser Mann, der hatte Freunde und Feinde im Überfluss – gleichermaßen verteilt in beiden Lagern des politischen Spektrums.

Dem besonderen würdigen Anlass angemessen, der ihn heute feierlich erwartete, zog er sich standesgemäß an: dunkelblaue Unterwäsche, anthrazitfarbene Kniestümpfe, die er mit Wadenstrapsen befestigte, weißes Oberhemd, dazu eine silbergraue Krawatte und Manschettenknöpfe mit Aquamarin-Steinen in Platin gefasst. Der fast schwarze Anzug spannte ihm wie eine Wurstpelle um den aufgedunsenen Leib.

Wie schade, dachte er, dass ich nach der schweren Plackerei an gymnastischen Übungen noch immer nicht all meine Pfunde losgeworden bin. Kann mich noch immer nicht schamfrei sehen lassen in aller Öffentlichkeit. Den Bauch, die fette Wampe einziehen und das Doppelkinn kaschieren, das ist jetzt besonders notwendig. Wenn ich mich auf Fotos sehe, wird mir richtig übel.

Er blickte immer wieder auf seine Armbanduhr und vergewisserte sich, dass ihm noch Zeit blieb, bevor sein Fahrer vor der Tür stand. Nenndorf erledigte noch ein paar Telefonanrufe, und er schälte sich einen Apfel, den er mit nur zwei großen Bissen verschlang. Es war seine einzige Nahrung, die er zum Frühstück zu sich nahm.

Keine Sekunde zu früh und keine zu spät klingelte es zweimal kurz und zweimal lang an der Tür. Die Limousine stand bereit, und sein Fahrer Timm ebenfalls. Ihm hatte Nenndorf seine fanatisch-krankhafte Lust auf absolute Pünktlichkeit eingebläut. Von anderen verlange er sie unerbittlich, bei sich selbst war diese Tugend nur in geringen Portionen vorhanden.

»Dann wollen wir mal vordringen in die Höhle des Löwens«, sagte er belustigt, als er im Auto Platz genommen hatte. »Los geht’s … drück auf die Tube und gib Gas ins größte Abenteuer meines Lebens … das mir jetzt bevorsteht.« Mit quietschenden Reifen brauste der Wagen in hohem Tempo durch die kalte, grieselnde Morgendämmerung. Und mit ihm der Verlauf des Schicksals dieses Mannes, der seine Hände zu Fäusten ballte. Er fror an allen Gliedern und er spürte zugleich warmen Schweiß auf seiner Stirn und er spürte wiederum diese verfluchte Angst in ihm.

Das Schicksal der Weggefährten: der eine frisst Dreck, der andere Kaviar.

II. KAPITEL

Der Strahl von geballten Gefühlen, der ihn als tosender, mit der Klanggewalt von Hunderten von Geigen und Posaunen begleitete, auf goldenen Stelzen daherkommender Feuerfluss von Funken und Blitzen durchzuckte, dieser unsichtbare Schweif, der heiß in ihm toste, der war so himmelschreiend köstlich und so unglaublich berauschend – so wie all die Glückssekunden zusammen, die er jemals in seinem Leben empfunden hatte. Er fühlte, wie seine Knie zu vibrieren begannen. Und seine Zunge, die lag gefasst und ausgestreckt in seiner nässenden Mundhöhle.

»So wahr mir Gott helfe«, hörte er sich klar und deutlich und mit lauter Stimme sprechen und er registrierte, wie er seinen erhobenen rechten Arm zurücknahm an die Hosennaht. Er spürte, dass seine Unterlippe leicht zitterte und ein noch nie in dieser Intensität empfundener Schauer, den er wie einen vielfach komprimierten, erstickenden Lustschrei aufnahm, in mehreren warmen Wellen über Brust und Rücken und den Nacken hinauf bis zum Ansatz seiner gescheitelten Haare hüpfte.

Marc Nenndorf, der sich nicht anmerken ließ, dass er kurz davor war, die Besinnung zu verlieren und kopfüber in Ohnmacht zu fallen, drückte die hingestreckte Hand des Parlamentspräsidenten, wobei er nur dessen Fingerspitzen zu fassen bekam, und murmelte kaum hörbar »Vielen Dank … Ich danke sehr«, nachdem ihm Oskar Lietke, ein altgedienter linker Sozialdemokrat den Amtseid abgenommen und ihm »Allzeit eine glückliche Hand für Ihre neue Aufgabe« gewünscht hatte.

Einen Wimpernschlag später empfing Nenndorf die Beifallsstürme der beiden Koalitionsfraktionen, als dröhnten ihm Fanfarensignale direkt in die Ohren. Er streckte sein Kreuz durch, nahm den Kopf hoch, schob das Kinn vor und ging mit steifen, langsamen Schritten von der Empore zurück zu seinem Platz auf der Regierungsbank; getragen von der Sänfte des Applauses, der noch einmal anschwoll, als Nenndorf sich, wie er es mehrfach in seinem Badezimmer geübt hatte, in der Pose gebieterischer Demut vor dem Hohen Hause in würdevoller Ergebenheit verbeugte.

Diese zackig-huldvoll inszenierte Geste, so war es seine Absicht, sollte demonstrativ zum Ausdruck bringen, dass hier kein Kutscher einen Diener macht, dem sein adeliger Herr zur Belohnung einen aus Silber geprägten Dukaten zugeworfen hat, sondern dass er, der direkt gewählte Volksvertreter mit seiner geneigten Körperhaltung dem obersten Souverän des Staates die Ehre erweist. Hoffentlich sieht es nicht zu militärisch aus, überlegte Nenndorf.

Bevor er sich setzen konnte, was er sich in diesem Augenblick an diesem frühen Novemberabend nicht sehnlicher wünschte, weil ihm das Blut in die Beine gesackt und ihm schwindlig geworden war, wurde er von einem Pulk mehrerer Dutzend Abgeordneter umringt, die ihn umarmten, die ihm auf die Schultern klopften und ihm von allen Seiten zuriefen: »Endlich! Hurra! Wir haben es geschafft!« und »Eine Sternstunde für unser Land« oder »Darauf haben wir alle sehnsüchtig fast zwei Jahrzehnte gewartet.«

Nenndorf selbst war sich nicht bewusst, was in den zurückliegenden Minuten mit ihm geschehen war. Die Jubelrufe, die ihm galten und die Anerkennung, die ihm freudestrahlend zugesprochen wurde, ließen ihm keine Ruhe und keine Zeit für eine klare Analyse und eine nüchterne Bestandsaufnahme. Er sollte erst Stunden später darüber nachdenken und diesen bis dahin wichtigsten und verheißungsvollsten Tag in seinem Leben begreifen lernen, als er, wie so oft in den vergangenen Jahren, den täglichen Anruf kurz vor Mitternacht bekam über das Sonder-Handy, dessen Nummer nur einer Stelle bekannt war.

Dreihundertachtzig Kilometer entfernt saß zur selben Zeit Klaus-Joachim Gerbert vor dem Fernseher und verfolgte, nachdem die Essensausgabe von Teewurstbroten und Kartoffelsalat abgeschlossen war, die Übertragung über die Vereidigung des neuen Kabinetts. Der 46jährige war ein Weggefährte Nenndorfs aus frühen Tagen, als beide, Mitglieder einer selbsternannten Revolutionären Kampfgruppe, mit Pflastersteinen, Bleirohren und Brandflaschen gegen Polizisten vorgegangen waren und sich geschworen hatten, so lange zu kämpfen, bis die Gewalt des Staates und des Großkapitals gebrochen und die demokratisch verfasste Gesellschaftsordnung umgestürzt ist. Das Grundgesetz, so war es ihr Ziel, das würde nach ihren Maßgaben umgeschrieben werden und zur unwiderruflichen Machtergreifung der verelendeten Massen führen.

Während Nenndorf sich nach Abschluss der Sondersitzung der Abgeordnetenkammer mit Freunden in die Restaurant-Bar »Rabelais« zurückzog und die Beteiligung seiner Partei an der Regierung auf Bundesebene mit uraltem Calvados und teuerstem Chianti feierte, fühlte Gerbert, der sich auf seine Pritsche gelegt hatte und die Decke seiner Zelle anstarrte, wie sich ein eiserner Ring um seinen Körper legte und ihm im Anflug von Tränen die Atemwege abschnürte.

Immer wieder fragte er sich, und heute mehr und schmerzhafter denn je, wie und warum es geschehen konnte, dass er nach Auffassung des Haftrichters als Terrorist galt und der Beteiligung des dreifachen Mordes dringend tatverdächtig, Nenndorf hingegen, mit dem er gemeinsam Häuser besetzt, Ordnungshüter verprügelt, nächtelang über die philosophischen Theorien von Marx und Heidegger und Husserl debattiert, vielen Mädchen von vorn und von hinten beigeschlafen und Bücher geklaut hatte, in höchste Staatsämter aufgestiegen war und von seinen Gefolgsleuten wie ein Popstar und politischer Heilsbringer gefeiert wurde.

Er hatte, seit ihn Zielfahnder in seinem Versteck in Frankreich aufgestöbert und in einem Hochsicherheitstrakt weggeschlossen hatten, mehrfach an Selbstmord gedacht; in Kenntnis seiner Tat und in tiefer Verachtung des Rechtssystems, dem er sich hilflos ausgeliefert fühlte, ahnte er, dass er am Ende des bevorstehenden Prozesses zu lebenslanger Haft verurteilt würde; Marc Nenndorf aber, so überlegte er in einer Mischung aus Verzweiflung, Neid, Eifersucht und Wut, wird wahrscheinlich noch weiter aufsteigen und eine Karriere hinlegen, die bislang schon ohne Beispiel ist in diesem Land. Er wird an Festtafeln schlemmen, von gekrönten Häuptern empfangen werden und in teuren Anzügen gut parfümiert herumlaufen, überlegte er. Und ich im Gegensatz zu ihm? Ich werde in meinem Alter bis zum Rest meines Lebens im Knast dahinsiechen. Vielleicht wird es Nenndorf sein, der mich, nachdem ich fünfzehn Jahre abgesessen habe, als Freund begnadigt – im Amt des Staatsoberhauptes eines Volkes, dessen Verfassung er zerstören wollte. Diesen Posten traue ich ihm auch noch zu. Er ist geradezu besessen von Macht, die ihm gehört.

Wie hat der das bloß geschafft, der olle Marc? fragte sich Gerbert, der sich zwang, unterstützt vom schnellen, mehrmaligen Schnipsen von Daumen und Mittelfinger, seinen flatternden Atem zu beruhigen. Wer hat ihm geholfen bei seiner Karriere? Warum ist er nicht gestrauchelt, obwohl er, bis wir uns getrennt haben, genauso viel wie ich auf seinem Strafkonto hatte? Im Gefängnis war er ebenfalls wegen schweren Landfriedensbruchs. Und der Staatsschutz, der hat ihn, ebenso wie mich, über mehrere Jahre hindurch observiert.

Gerbert fühlte, wie seine Erregung über sein zerschmettertes Schicksal im Angesicht des Triumphs seines gleichaltrigen Kampfgenossen nachließ und seine Trauer über seine verpfuschte Existenz allmählich abnahm. Die Bilder, die das öffentlich-rechtliche Fernsehen in einer Sondersendung ausgestrahlt hatte, verblassten nach und nach in den schwach beleuchteten Pappkulissen seines beschränkten, zur Debilität neigenden Vorstellungsvermögens. Dass er nicht das Schießpulver erfunden hat und er für die Langatmigkeit des Denkens berüchtigt ist, das wussten bereits seine Kumpane aus der Latzhosen-Ära der aufflammenden, über die Motorhauben von gepanzerten Polizei-Einsatzfahrzeugen zerfließenden, fauchend auflodernden Molotow-Cocktails.

Der Anfall von Selbstmitleid und Depression, der ihn beim Betrachten der Reportage über die Vereidigung Nenndorfs unvermittelt angesprungen hatte wie ein zähnefletschender Köter, war überraschend in ihm hochgestiegen und, im Stahlmantel seiner Kaltschnäuzigkeit, völlig ungewohnt über ihn hergefallen. Der Berufsterrorist, der schon als Teenager gelernt hatte, bei jedem Wind und jedem Wetter auf der Straße und später im Untergrund zu überleben, bekam sich, indem er ein paar Dutzend Liegestütze pumpte, allmählich wieder in den Griff.

Er keuchte, als er sich, flach ausgestreckt, auf dem Zellenboden ausruhte. Bloß keine Schwäche zeigen, warnte er sich. Ja nicht weich werden und flennen wie die Weiber, auch wenn meine Zukunft schlimmer ist als der durch Gedärm und Maul kotzende Ekel, den ein Knacki beim Fressen seiner eigenen Kacke empfindet.

Kann sein, dass ich ihn, den Herrn Minister, sogar vor dem Schwurgericht sehe bei meinem Prozess, dass er dort als Zeuge offiziell aussagen muss, wie eng er mit mir zusammen war und ob er als Mitwisser oder gar Mittäter infrage kommt, grübelte Gerbert, der sich das mit Kaffee-Flecken und Soßenresten bekleckerte Bettdeck bis ans Kinn zog und sich schläfrig in der Illusion verlor, damit eingehüllt zu sein in eine feuerfeste und Schuss sichere Schutzplane, die so widerstandsfähig ist, dass ihm niemand etwas anhaben kann – auch nicht der ihm drohende Urteilsspruch, dem er, was seine Verteidiger längst wussten, nicht entkommen konnte.

Als Gerbert einschlief und sich auf die Seite rollte, aber diesmal keinen Traum empfing, der ihn, in bunte Sequenzen verpackt von tropischen Inseln und nach Rosenblättern duftenden, blonden Huren, kurzzeitig aus der Realität seiner aussichtslosen Lage in eine paradiesische Welt mitnahm, orderte Nenndorf, dessen Schlips aufgezogen und dessen Kragen aufgeknöpft war, gegen 22 Uhr seinen sechsten Schoppen Wein.

»Trinkt Freunde. Trinkt. Lasst uns nochmals anstoßen auf den Sieg … den verdammt guten«, rief er in die Männer-Runde, neun an der Zahl, die um ihn herum am Tisch saß. »Wir machen heute einen drauf, bis die Schwarte kracht«, grölte er hinterher. »Langt feste zu, der Kaviar wird nicht besser, wenn das Eis geschmolzen ist. So schnell wird es einen solchen Tag wie heute nicht mehr geben«, setzte er nach und prostete mit der Bemerkung »Dir habe ich das auch … und vor allen anderen zu verdanken« Donald Klier-Breuer zu, seinem Busenfreund und Kampfkumpel, mit dem er alles geteilt hatte: die Mädchen in der Wohngemeinschaft, das letzte Stück Brot, den in der Zwei-Liter-Flasche übrig gebliebenen Fingerhut-Schluck der Marke Römertopf, die beide in einem Papierkorb entdeckten, zerdrückten Flugblätter, die zum Widerstand gegen Immobilien-Spekulanten und zur Besetzung leerstehender Häuser in Frankfurt am Main aufriefen.

»Do«, wie ihn Marc Nenndorf nannte, war Abgeordneter im Europa-Parlament und, ebenso wie er selbst, Mitglied im »Bündnis 28«. Der Name war gewählt worden, weil bei der Versammlung zur Parteigründung Mitte der 70er Jahre achtundzwanzig Mitglieder ihren Beitritt erklärten.

»Wie fühlst du dich jetzt … in diesem Augenblick?« wollte Klier-Breuer wissen. »Bist du nun am Ziel angekommen?«

»Ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht. War ein sehr harter Tag für mich, so voll mit Terminen und Interviews. Und dann die Vereidigung. Die hat mich geschafft. Hatte nicht geglaubt, dass mich dieser feierliche Akt emotional so mitnehmen würde. Mir war zum Heulen zumute vor Rührung.«

»Wie meinst du das?«

»Mir wurde richtig schwindlig. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich glaubte für einige Sekunden, die Besinnung zu verlieren.«

»Jetzt muss ich aber lachen. Du und Gefühle. Du … gerührt und emotional aufgeladen. Das ist neu. Du, der keinem Polizeiknüppel aus dem Weg gegangen ist … du, der sich mal schnell das Blut mit dem Handrücken vom Gesicht abgewischt hat … und nun diese Ergriffenheit, da du alles erreicht hast und wir als Partei davon profitieren werden. Ich versteh’ das nicht so ganz. Erklär’s mir … bitte.«

»Es gibt keine Erklärung. Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht ist mir in diesem Augenblick auch klar geworden, was alles auf mich zukommt … in den nächsten vier Jahren Regierungsarbeit mit den schwierigen Reformvor …«

»Das machst du doch mit links«, unterbrach er ihn. »Die Menschen, die mögen dich und die Presse, die nicht weniger. Das ist besonders wichtig. Du weißt das besser als ich. Hast ja auf dem Klavier virtuos gespielt. Wenn du die Journalisten auf deiner Seite hast, dann kann dir nichts passieren. Also: Immer schön vorne liegen in den Beliebtheitsumfragen«, sagte Klier-Breuer und zündete sich eine Zigarette an. »Achte aber darauf, dass du nicht zu weit vor Köhler liegst. Der kann das ganz und gar nicht vertragen als Regierungschef, wenn du ihn überflügelst. Der ist auch Widder, und diese Tierkreistypen, wie du weißt, die mögen es überhaupt nicht, wenn einer besser ist als sie selbst. Der denkt noch, du willst seinen Platz einnehmen … eines Tages. Bei der Anzahl eurer Ehefrauen hast du ja schon mit ihm gleichgezogen. Jetzt habt ihr beide einen Platz im Guinness Buch der Rekorde«, grinste er.

»Ist mir egal, was der denkt von mir. Eine Liebesheirat sind wir ohnehin nicht eingegangen. Der braucht uns, und wir brauchen ihn. Allein … da kann sich niemand von uns an der Macht halten«, stellte Nenndorf nachdenklich fest. »Ich hoffe nur, dass wir die ersten hundert Tage keinen allzu großen Mist bauen. Das ist auch eine deiner Aufgaben. Du musst jetzt noch fester zu mir stehen. Aber vor allen Dingen: halt die Trampolin-Tussie klein … ganz klein. Stell sie kalt und sorge dafür, dass wir sie nicht mehr mit ihrer kreischenden Stimme auf der Mattscheibe sehen. Und noch etwas: Halte mir auch die Basis vom Hals. Halte engen Kontakt zum Parteirat, dass der ja nicht in einer anderen Spur läuft. Der soll vor allen Dingen nicht in jedes Mikrophon quatschen, das ihm irgendein Arschgeigen-Reporter vor die Fresse hält. Und die Landesverbände, die dürfen ebenfalls nicht querschießen. Wir sitzen im grellen Scheinwerferlicht auf dem Präsentierteller. Wir tragen jetzt politische Verantwortung und wir labern nicht nur ’rum. Wir müssen machen, was in unserer Rolle als Juniorpartner machbar ist und wir dürfen nicht nur darüber reden, was wir uns in unserem grünen Baumhaus alles an idealistischem Trallala wünschen. Der Weihnachtsmann, der mit dem Gebimmel von glücklichen Kühen auf Birkenstock-Latschen daherkommt und der unsere schöne Erde vor den bösen Abgasen und den Müllbergen schützt, dieser Ruten-Fritze mit der weißen Bommel an der Mütze, der ist tot … mausetot. Du erinnerst dich: vor allem soll die hohe Zahl der Arbeitslosen verringert werden, und bei diesen komplizierten Bemühungen, bei denen wir die Wirtschaft und die Gewerkschaften in unser Boot hieven müssen, sind überzogene Forderungen nach teuren Umweltschutzmaßnahmen und pingelige Auflagen für die Industrie völlig kontraproduktiv«, betonte Nenndorf und fügte nach einer kurzen Pause des Nachdenkens hinzu: »Ist schon spät. Werde bald gehen und mich mal richtig ausschlafen. Täte dir auch ganz gut, so wie du aussiehst … mit den dicken, schwarzen Ringen unter den Augen.«

»Guck’ dich doch an. Hast fürchterlich viel Fett angesetzt, du graumelierter Dickwanst. Man könnte ja meinen, du bist schwanger. Schätze, dass du in vier Tagen niederkommst … mit Drillingen.«

»Ich weiß. Ich weiß. Werde schon sehr bald anfangen, noch mehr abzuspecken. Will viel häufiger joggen und viel mehr Sport treiben: Hier und da mal ’n Fußballspiel, ab und zu ’n paar Bahnen schwimmen.«

»Du solltest aufpassen, dass du nicht tot umfällst bei dem Stress, der jetzt auf dich zukommt … und dann diese Massen von Menschenfleisch an deinem Körper, wenn man das, was du da mit dir rumschleppst, überhaupt noch so nennen kann«, gab Klier-Breuer grinsend zu bedenken. »Wie findet dich eigentlich deine Frau … als ächzende Wabbel-Schlabber-Mischung aus Nilpferd, Pudding und röchelndem Mastschwein?«

»Für die hab’ ich mich längst in ein Monster verwandelt …. nicht nur optisch. Wenn ich zu Hause bin, was selten vorkommt, dann bin ich genervt und brülle rum. Wir haben schon seit Jahresanfang getrennte Schlafzimmer. Sie kann mein Schnarchen nicht ertragen und mein Gewicht auf sich nicht aushalten und meine Stimme nicht mehr hören und … Aber was erzähl’ ich dir. Ist nur mein privater Kram, und der, der geht dich eigentlich nichts an.«

»Na hör’ mal. Ich kenne Inge fast genauso gut wie du. Und dich kenne ich besser als mich selbst«, entgegnete er. »Außerdem ist es auch von politischer Bedeutung, ob und wie deine Ehe funktioniert. Du brauchst, gerade jetzt, jemanden an deiner Seite, bei dem du emotional auftanken und dich entspannen kannst. Hast du schon mal an Scheidung gedacht?«

»Ich nicht, aber sie … sie hat mir damit gedroht.«

»Und?«

»Abwarten. Die beruhigt sich schon wieder. Werde sie auf einige offizielle Reisen mitnehmen und ihr ein bisschen die große weite Welt zeigen«, antwortete Nenndorf, der spürte, dass sich eine Hand auf seine Schulter legte und der hörte, wie jemand hinter ihm sagte: »Hey Marc, was habt ihr beiden da Geheimnisvolles zu bereden. Ihr steckt die ganze Zeit die Köpfe zusammen und tuschelt euch wie ein Liebespaar Zärtlichkeiten zu. Oder spielt ihr mal wieder Stühle absägen?«

Marc Nenndorf drehte sich um und sah in das gerötete, angetrunkene Gesicht von Hottie Kluge, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Bündnis-28-Fraktion.

»Keine Angst, alter Junge«, sagte er. »Dein Kopf, der ist dir noch sicher. Do und ich, wir haben nur über alte Zeiten gequatscht und über Frauen und Wein und Rennpferde und über Mastschweine, wie ich eins bin … und dann ein Fitzelchen über Politik, wie du dir denken kannst. Ich muss jetzt aber gehen. Sei so gut und treib’ meinen Fahrer auf. Der sitzt hier irgendwo rum. Der soll die Kutsche betriebsbereit machen und in drei Minuten vor dem Eingang auf mich warten. Und sag’ ihm, er soll die Heizung voll aufdrehen. Mir ist irgendwie saumäßig kalt.«

Nenndorf stand auf, zog sich seine doppelreihige Anzugsjacke über, sagte zu Do »Mach’s gut, Alter«, wobei er ihm mit der Außenseite seiner Hand über das rotblonde Haar strich; er nickte den anderen Männern zu, die ihn anlächelten, raunte ein »Bis die Tage« in die Runde und verschwand mit schnellen, weiten Schritten in der schummrigen Dunkelheit des Raumes. »Die Rechnung für alles, die geht an mich privat«, rief er Lothar Hermes zu, der hinter dem Schanktresen Gläser spülte. »Mach’s gut. Dank’ dir sehr für die gute Bewirtung. Der Malossol … echt, der war wieder große Spitzenklasse.«

Hermes, ebenfalls aktives Mitglied in der Revolutionären Kampfgruppe, war frühzeitig aus der Halbwelt herausgeklettert und hatte als gelernter Koch das heruntergekommene Lokal übernommen und daraus das stadtbekannte »Rabelais« gemacht, in dem vor allem Journalisten, Politiker, Freiberufler und finanziell gut betuchte Künstler verkehrten.

Auf der Toilette wusch sich Nenndorf die Hände und kämmte sich die Haare über. Verflucht mies, wie ich aussehe, dachte er und betrachtete sich, den Oberkörper weit vorgebeugt, im fahlen Dimmlicht des indirekt beleuchteten Spiegels. Richtig aufgedunsen. Und dieses furchtbare Doppelkinn. Komme mir vor wie ein Metzgermeister, der aus sämtlichen Nähten platzt. Muss auch schleunigst mit dem Trinken aufhören, sagte er sich und testete, indem er einige Sekunden mit geschlossenen Augen bewegungslos verharrte, die Höhe seines Alkoholpegels. Mittelschwerer Schwips, stellte er fest.

Es war kurz vor 22 Uhr 30, als er auf seine goldene Armbanduhr sah, die ein schwarzes Kroko-Armband an seinem Handgelenk festhielt.

»Direkt nach Haus?« fragte Dieter Timm und öffnete die rechte hintere Wagentür.

»Du hast es erraten«, gab Nenndorf zur Antwort. »Gib Gas, aber bitte … heute keinen Kamikaze-Flug.«

Er ließ sich mit einem schwachen Seufzer in die Lederpolster fallen und verschränkte die Arme über dem wie aufgeblasen sich wölbenden Bauch.

»Willst du über deinen Tag reden?« fragte Timm, mit dem er zur Schule gegangen war.

»Nein«, antwortete Nenndorf. »Erzähl’ mir, welche Bedeutung Frauen für dich haben … im allgemeinen.«

»Wie kommst du jetzt darauf?«

»Nur so. Das lenkt mich ab … und vielleicht lerne ich was. Ich hätt’ dich aber auch fragen können, was du grundsätzlich vom Geschmack einer angefaulten Zwiebel hältst oder wie du das Gebiss von Piranhas einstufst.«

»Mit Frauen … mit denen hab’ nicht viel Erfahrung. Ein knappes halbes Dutzend vielleicht, so viele hab’ ich gehabt bisher … mehr oder weniger gehabt.«

»Es kommt nicht darauf an, wie viele man hatte, sondern wie intensiv es gewesen ist«, warf Nenndorf ein.

»Kann schon sein«, erwiderte Timm. »Ohne eine Frau jedenfalls kann ich mir mein Leben gar nicht vorstellen. Ich brauch’ ihre Anwesenheit … brauche ihre Fähigkeiten, mich zu versorgen … und den Sex, den natürlich … den brauch ich auch. Wenn man mit einer zusammenlebt, dann hat man die Speisekammer, die mit gut riechendem, weichem Fleisch gefüllt ist, das man mag, immer bei der Hand. Du verstehst, was ich meine. Hast du Appetit auf eine kurze Runde Beischlaf, langst du neben dich und kannst dich bedienen«, sagte er mit einem glucksenden Lachen in der Stimme. »Ich erinner’ mich noch an meine Sturm- und Drangzeit. Du kennst das ja selber. Jeden Abend da war Fick-Notstand. Wir sausten von einer Kneipe zur anderen, um ein Mädel abzuschleppen. Das Resultat: nur selten hatten wir Glück. Einmal im Monat vielleicht … wenn alles gut lief. War auf Dauer zu anstrengend und zu frustrierend.«

»Ist deine Ehe in Ordnung?« fragte Nenndorf und spielte nervös an seinem mit einem blauen Stein gefassten Siegelring.

»Nicht besser und nicht schlechter als sonst wo. Wir verstehen uns und wir zanken uns auch mal. Aber eine andere als Frau … als Ehefrau, die möchte ich nicht haben.«

»Kannst mich hier an der Ecke absetzen. Ich möchte noch ein paar Schritte zu Fuß gehen. Ab morgen früh ist das ja endgültig vorbei. Dann sind uns die Leute von der Sicherheit ewig auf den Fersen. Ein Auto voraus und eins hintendran«, sagte Nenndorf. »Hol’ mich ab um 8 Uhr. Wir müssen ins Ministerium zur Amtsübergabe.« Er öffnete die Tür, als der Wagen noch nicht ganz zum Stillstand gekommen war und sprang, steif und unbeholfen, mit einem Hechtsprung hinaus in die Kälte.

»Achte darauf, dass du dir nicht die Knochen brichst«, rief ihm Timm nach. »Wäre der absolut falsche Zeitpunkt. Gute Nacht, Herr Staatsminister. Schlafen Sie gut.«

Die Straße, in der er wohnte, war auf beiden Seiten mit hohen Birken bewachsen, deren Zweigengeflecht im Licht der Laternen wie die Gewebe von Spinnen aussahen. Der Nachthimmel war sternenklar, die Temperatur um die drei Grad. Die neblige Luft, die ein leichter Wind in kurzen Böen aufwirbelte, roch nach benzindampfender Großstadt und duftete voraus nach heraufziehendem Schneefall.

Nenndorf registrierte, als er auf sein Haus zuging, drei unterschiedliche Wahrnehmungen: zunächst das Knistern des trockenen Laubes unter seinen Schuhsohlen, dann die Tatsache, dass sämtliche Fenster im Parterre und im ersten Stock nicht beleuchtet waren und danach eine Spur von Enttäuschung, die sich mit Ärger und feinfühliger Wut vermischte. Sie ist immer noch nicht da, dachte er. Gerade heute, an diesem Tag, der ein, nein mehr noch, der der größte und wichtigste Höhepunkt in meinem Leben ist, bleibt sie demonstrativ weg und lässt es zu, dass ich in ein leeres Haus komme, in dem niemand auf mich wartet und mich mit einer warmen Nachtmahlzeit empfängt, die aus drei fingerdicken, handtellergroßen Filets besteht, aus einer Lore Bratkartoffeln und einem Fuder goldgelb gedünsteter Zwiebelringe. Soll sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst, beruhigte er sich und tippte die acht Zahlen und die zwei Buchstaben des Sicherheitscodes in die mit einer Plexiglashaube überdachte Tastatur ein, die ihm mit einem Summton und einem grünen Blinklicht die Tür öffnete.

Im Flur knipste er das Licht an und ging sofort über die mit einem Wollteppich ausgelegte Wendeltreppe in sein Arbeitszimmer. Er fröstelte und drehte, nachdem er den Schalter seiner Schreibtischlampe gedrückt hatte, die sechs Heizkörper bis zum Anschlag auf. Typisch für sie, sagte er sich. Lässt mich in meinen eigenen vier Wänden frieren.

Der Raum, mit schwarzen Unikat-Ledermöbeln eingerichtet und mit schwarzen Regalen ausgestattet, die, gefüllt mit mehreren tausend Büchern, bis zur Decke reichten, war so groß und so lang wie ein Tiefkühl-Laster. Der aus Massivholz nach Nenndorfs Wünschen angefertigte Schreibtisch, der die Fläche einer Tischtennis-platte einnahm, stand, glänzend schwarz lasiert, an der Stirnseite des Zimmers; der teerfarbene Barschrank, ein Meisterstück des Empire, aus dem er sich mit einem doppelten Cognac bediente, stand rechts neben seinem wuchtigen Chefsessel, der die Leuchtkraft von Ofenruß besaß. Die breite, bis auf den Boden freigehaltene Fensterfront, die einen Blick in die Dunkelheit des Parks zuließ, befand sich, wenn er telefonierte und Briefe unterzeichnete, auf seiner linken Seite.

Nachdem er sich ein zweites Mal nachgeschenkt und den seifigen Geschmack des gebrannten, zwei Jahrzehnte gelagerten Weines mit verwöhnter Kennerzunge erneut genussvoll probiert hatte, sah er wieder auf seine Armbanduhr. 23 Uhr 17, sagte ihm der Stand der Zeiger.

Um diese Zeit, als Marc Nenndorf die erste Tafel seiner Lieblingsschokolade Rum-Rosine-Nuss verzehrt hatte, schreckte Klaus-Joachim Gerbert, wie abgespritzt mit Schauern von kaltem Schweiß, aus dem Schlaf hoch; er hatte geträumt, er würde nach Syrien ausgeliefert, dort öffentlich hingerichtet und zur Abschreckung der Bevölkerung im Zentrum von Damaskus in der Mitte einer Verkehrsinsel mit abgeschlagenem Kopf und nackt mit einer Drahtschlinge zwischen den Achselhöhlen aufgehängt, die an einer Bogenlampe befestigt ist.

Gerbert richtete sich auf und holte mehrmals tief Luft. Ihm war übel, sein Atem schwach, seine Stirn kalt. Sein Puls raste, und der verkrampfte Muskel seines Herzens gab den hämmernden, sich überschlagenden Rhythmus der Blutzirkulation vor.

Unterdessen nahm Nenndorf mit übereinander geschlagenen Beinen, die er schräg über der Kante seines Schreibtisches auf Wadenbreite abgestützt hatte, den massigen Körper in den Sessel gelehnt, den Kopf nach hinten gebeugt und seine abgeschalteten Sehnerven ins Leere gerichtet, die Stille ganz in sich auf, die ihn umgab. Kein Laut war zu hören: nicht der Motor eines Autos, nicht der Piep eines Vogels, nicht das Bellen eines Hundes, keine Schritte von Passanten, keine Tür, die jemand zuschlug.

In der Erinnerung an seine Kindheit, die ihm in der Abfolge der Geschehnisse so nah war wie seine Haut, überlegte er, während die zerlaufene Süße seines Speichels vom Schmelz der Schokolade nachschmeckte, wie er sich fühlen solle in diesen Sekunden am Ende eines für ihn so außerordentlich erfolgreichen Tages.

Muss ich mich erst selbst kneifen, damit ich es spüre, dieses sogenannte traumhafte Erlebnis gewonnener Macht? Bin ich wirklich schon am Ziel meines Strebens? fragte er sich. Was erwartet mich noch von meinem Schicksal, das mir vorkommt, als schriebe es jede Woche einen neuen, fesselnden Roman über mich? Komme ich heil davon? Warum ich? Warum nicht ein anderer an meiner Stelle?

Der kurze Glücksrausch, der ihn erfasst hatte, als er unter dem scheunentorgroßen Wappen des schwarzen Aluminium-Adlers seinen Eid ablegte, das Wohl und den Nutzen seines Volkes zu mehren sowie Gerechtigkeit zu üben gegen jedermann, war längst verflogen. Stattdessen hatten Beklemmung und Angst den Platz der anfänglichen, nur winzige Bruchteile von Zeit dauernden Euphorie eingenommen, und die empfundene Ohnmacht, die dem unvergleichlichen Schwall von Glück beinahe gefolgt wäre, beschlich ihn jetzt ohne den geringsten Anspruch auf innere Befriedigung.