Nachhilfe - Helga Franziska Noack - E-Book

Nachhilfe E-Book

Helga Franziska Noack

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Beschreibung

Sophies Leben ist an einem Tiefpunkt angelangt. Doch für Unbeteiligte fühlt es sich wie ein Leben im Bilderbuch an, wären da nicht die Probleme, die man von außen nicht sieht: Da sind ihre Eltern, die weder Zeit noch Verständnis für sie haben und deren Ehe auseinanderzudriften scheint. Da ist der Unfalltod ihres Großvaters, der in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielte. Auch in der Schule klappt nichts mehr. Ihre Leistungen sind mehr als bedenklich. Ihre beste Freundin Maike, die auch Klassenbeste ist, darf ihr wegen ihrer sozialen Herkunft nicht helfen. So schickt sie ihr Vater zu einem Nachhilfelehrer, der aber nicht nur mit ihr Französisch lernen will und auch nicht nur zweideutige Bemerkungen macht. Als sie sich deshalb hilfesuchend an ihre Eltern wendet, wird sie barsch abgewiesen. Irgendwann weiß sie nicht mehr weiter. Alles scheint ausweglos. Ein Sturz mit dem Fahrrad bringt für Sophie nicht nur Schürfwunden. Durch Moritz schmeckt ihr Leben für kurze Momente immer wieder nach Glück und Stracciatella Eis, bis sich Angst und Scham von Neuem wie Zecken auf der Haut festkrallen. Hält eine Freundschaft auch dann, wenn sie plötzlich auf eine harte Probe gestellt wird? Nachhilfe ist ein Roman über übergriffiges Verhalten, Macht und Ohnmacht, aber auch über Freundschaft und Liebe so weich wie das Fell eines Hundebabys.

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Seitenzahl: 401

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Helga Franziska Noack

 

Nachhilfe

 

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nachhilfe

Helga Franziska Noack

 

© 2020 Chiara-Verlag im vss-verlag, 60389Frankfurt

[email protected]

Covergestaltung: Sabrina Gleichmann unter Verwendung eines Fotos von Pixabay

Lektorat: Annemarie Werner

 

 

 

1

 

„Was soll das?“, fragt eine Stimme in mir. Trotzdem radle ich weiter wie eine Blöde. Ich weiß nur, dass ich hin muss. Und dann? Keine Ahnung. Irgendwie treibt mich eine unbekannte Kraft voran. Nur weg, weg.

Ich trete in die Pedale, verbissen wie ewig nicht mehr. Solange ich fahre ist alles besser. Bewegung setzt Gedanken frei. Das bilde ich mir wenigstens ein. Ich will zu seinem Boot, einfach so. Nein, nicht einfach so. Ich muss. In mir ist alles aufgewühlt. Ich brauche einen Ort, an dem ich zur Ruhe komme, an dem ich ihm nahe bin.

Die ganzen Monate fehlte mir der Mut, mich seinem Boot zu nähern. Heute fahre ich hin. So schnell, als käme ich zu spät zur Verabredung auf der vereinsamten Eya-Eya. Ich atme schnell. Es sticht in meinen Bronchien.

Es ist, als erinnere sich mein Fahrrad automatisch an den Weg, den es so oft mit mir gefahren ist. Zum Platz am See, an dem ich geborgen bin. So stelle ich es mir zumindest vor.

Zu Hause? Streit oder beklemmendes Schweigen. Sonst nichts. Ich würde sagen, das Schweigen ist schlimmer. Keiner meiner Eltern will wissen, was ich im Herzen mit mir rumschleppe. Es ist schwer zu ertragen, sich zu fühlen, als wäre man überhaupt nicht da. Unsichtbar. Nichtbeachtung tut weh. Ist so schmerzhaft wie Schläge. Warum ist das so gekommen? Durch meinen Kopf schwirren viele unbeantwortete Fragen.

Wie schnell muss ich fahren, um die Stimmen in mir endlich zum Schweigen zu bringen? Ich kann das Band nicht stoppen. Das läuft und läuft. Dauermodus.

Es gibt Menschen, die immer wissen, was sie tun müssen und wo es lang geht. Ich habe keine Ahnung, wo und wie es bei mir lang gehen soll. Nicht mehr. Seit dem Anruf im letzten Oktober überhaupt nicht mehr. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre im selben Auto gesessen.

Ich höre ihn sagen: “Man muss sich nur ein paar Schritte vom Problem entfernen, schon wird alles einfacher.“ Nur ein paar Schritte? Aber wie groß müssen die denn sein?

Sein Boot liegt in einem Clubgelände am See. Es ist ein kleiner Segelverein, aber mit einem großen Blick zum See, zum Schloss und auf die Stadt, in der ich so gern lebe. Auf dem Gelände stehen alte Buchen. Am Seeufer sind es viele Weiden, die gebückt wie alte, abgerackerte Frauen in den See schauen, als wollten sie unter Wasser nach etwas suchen. Am Rand des Grundstücks beginnt ein sumpfiges Gelände. Es ist nicht zu bebauen und deshalb Rückzugsgebiet für allerlei Tiere. Im Sommer gibt es hier leider auch jede Menge Mücken. Aber noch ist nicht Sommer. An warmen Tagen kommen viele Leute an den See. Und heute ist so ein warmer Tag. Jogger, Skater, Radfahrer, Spaziergänger, die halbe Stadt ist scheinbar gerade auf dem Franzosenweg unterwegs.

Die alten Buchen haben ihre Wurzeln wie dicke Schläuche unter den geteerten Weg geschoben und schon so manchen Skater in Schwierigkeiten gebracht.

Vor mir spaziert eine Frau mit einem schwarzweißen Mischlingshund an der Leine. Beide mitten auf der Straße. Das grelle, rot-gelbe Licht der Sonne blendet mich. Ich kneife die Augen zusammen, klingle und setze mit Speed zum Überholen an.

„Mensch, pass doch …“, höre ich eine Stimme, gleichzeitig ein schleifendes Bremsgeräusch und – ich weiß nicht warum –  ich ziehe die Vorderbremse, segle vom Rad und lande im Gras neben dem Weg. Dann sehe ich erst einmal eine Menge kleiner Sterne über mir. Ich denke, dass mir gleich schwindlig wird. Und es wird mir schwindlig. Keine Ahnung, ob ich kurz ohnmächtig war oder nicht. Auf alle Fälle höre ich den Hund so laut bellen, dass ich ohnehin aus der tiefsten Ohnmacht gleich wieder aufgewacht wäre. Seine Besitzerin, die alte Frau, mit den viel zu roten Lippen, bellt auch. Etwas von: „So eine Raserei,... Recht geschehen,... ohne Rücksicht,... diese jungen Dinger...“. In die Wortfetzen hinein taucht über mir aus den Sternen immer deutlicher ein Gesicht auf. Ein Gesicht, umrahmt mit dunkelblonden Haaren.

„Alles okay?“, fragt die Stimme. Was soll die Floskel? Will der nur höflich sein oder will er wirklich checken wie es mir geht? Nichts ist okay. Ich versuche aufzustehen.

„Alles okay“, lüge ich und gebe mir Mühe, meine peinliche Situation zu überspielen. Mein Knie brennt und vom Ellenbogen tropft Blut ins Gras. Am liebsten würde ich laut losheulen. Reiß dich zusammen, ermahne ich mich stumm.

„Mensch, du warst ja wirklich mit einem Affenzahn unterwegs.“

Ich rapple mich auf. „Ja, ich weiß, ich wollte schnell mal...“. Weiter sage ich nichts.

„Sehr schnell sogar!“, der Junge lacht. „Wo wolltest du denn hin auf deinem Rad mit dem Schnellfahrgummi?“

Ich überhöre seine Frage. Einem Fremden, noch dazu einem Jungen, meine Verzweiflungsraserei zu erklären, das geht gar nicht. Auf keinen Fall. Und jetzt schon gar nicht. Obwohl ich gerade jetzt schon gerne jemanden gehabt hätte, dem ich meine Sorgen  hätte erzählen können. Meine Knie zittern und der aufgeschürfte Arm schmerzt als er seine Hand nach mir ausstreckt und mich hochzieht.  

„Geht´s?“

Ich reibe mir das Knie. „Ja, alles okay. Danke.“

„Tut mir leid, dass ich im falschen Augenblick an der falschen Stelle war.“ Er weiß noch nicht, dass er genau im richtigen Moment gekommen ist.  

„Jetzt sag doch, wo wolltest du in dem Affenzahn hin?“ Er gibt nicht auf.

„Weiß nicht“, lüge ich ein zweites Mal und spüre meinen trockenen Mund.

„So, so.“, er lacht. „Aber jetzt brauchst du erst einmal ein paar Pflaster für deine Verletzungen. Komm, wir fahren zurück in Richtung Stadt und besorgen etwas in der Drogerie.“

„Nicht nötig“, sage ich. „Ich kehr` sowieso um und dann bin ich auch gleich zu Hause.“ Mensch, der tut ja so, als wäre er mein Kindermädchen, denke ich. Mit einem kurzen „Na, denn Tschüss“ will ich los. Als ich auf das Rad steige, merke ich, wie mein Knie schmerzt. Fahren geht nicht, wirklich nicht. Warum habe ich auch bloß heute die Bermudas angezogen?

„Aha, musst doch besser schieben“, stellt er fest. „Wenn du willst, begleite ich dich, ich wollte sowieso in die Richtung“. Und so ganz nebenbei streckt er mir ein Tempo entgegen. Erst starrt er mein Knie an, so als wolle er mit der Kraft seiner Gedanken die abgeschürfte Haut wieder heil machen. Dann schielt er mich von der Seite an. Ich sage nichts. Ich schäme mich. Es ist schon peinlich, wenn man so jämmerlich vor einem Typen steht. Will ich so dastehen?

Wenn ich nichts sage, haut er ab, denke ich. Dann sagt er was. „Moritz.“

„Wie, Moritz?“ Ich stelle mich doof.

„Meine Güte, ich bin der Moritz und du, wie heißt du?“

Ich sage wieder nichts und drücke das Tempo auf die Verletzung am Ellbogen. Er bleibt hartnäckig wie mein Hund, wenn er ein Leckerli will.  

„Lass mich raten? Pippi Langstrumpf, wegen der schönen roten Zöpfe?“.

„Sehr witzig!“, sage ich, verdrehe die Augen und ziehe die Augenbrauen hoch.

Dann versuche ich es noch einmal mit dem Losfahren. Nein, fahren geht wirklich nicht, das Knie brennt wie blöd. Also schieben. Es ist mir furchtbar peinlich, halb lahm durch die Gegend zu humpeln. Und er? Er schiebt sein Rad knapp neben meinem her. Er hat es sich wohl zur Aufgabe gemacht, meinen leibhaftigen Schutzengel zu spielen. Eigentlich nett. Nein, fürsorglich sogar.

Ein Jogger dreht sich im Vorbeilaufen um und lächelt. Kinder vom nahegelegenen Kindergarten, Hand in Hand in Zweierreihen, kommen uns schnatternd entgegen. Wortfetzen über Wortfetzen aus ihren kleinen Mündern, sinnvolle Zusammenhänge kann ich daraus nicht reimen.  

Am Himmel ziehen ein paar weiße Wolken wie Wattebäusche im Konvoi vorbei, zielgerichtet, als hätten sie im Osten einen Termin. Der Spätfrühling fühlt sich sommerlich an. Wir schieben an einigen Bänken am Ufer des Sees vorbei. Auf einer sitzt ein jüngerer Mann in Malermontur. Neben ihm sitzt wie ein schwarzer Hund sein Rucksack, davor eine Flasche Bier.

„Der sitzt jeden Morgen, wenn ich zur Schule fahre, auch hier“, sagt Moritz.

„Interessant.“ Ich tue als, würde mich sein Geschwätz nicht tangieren. Aber meine Stimme klingt nicht einmal halb so schnippisch, wie ich es vorgehabt habe. Die Augen verdrehe ich diesmal auch nicht.

„Das ist nicht interessant, das ist traurig.“

„Wie, traurig?“ Ich habe ganz vergessen, dass ich unser Gespräch nicht vertiefen wollte.

„Traurig eben. Der hat keine Arbeit und fährt trotzdem jeden Morgen zur Arbeit.“

„Aha.“ Ich gebe mich unbeeindruckt, obwohl ich es bemerkenswert finde, dass ein Junge so viel Einfühlungsvermögen hat. Ich bleibe kurz stehen und tupfe nochmals erst meinen Ellenbogen und dann das Knie mit dem Tempo ab. Beim Aufrichten schaue ich zur Seite und betrachte mir den Knaben aus den Augenwinkeln genauer. Siebzehn, plus, taxiere ich. Groß, schlank, dunkelblonde Haare. Ich mag große, schlanke Jungs mit dunkelblonden Haaren.

„Du hast ja noch den halben Rasen an deinem Lenker.“

Er grinst und popelt die Moosteilchen weg. Ich nicke. Er grinst wieder. Blödmann. Ich werde rot, bis hinter die Zöpfe, die sind ja schon rot. Es ist unangenehm, wenn man weiß, dass man bei der kleinsten Kleinigkeit rot wird. Es ist schon gemein, wie wenig unser Körper manche Emotionen verheimlicht. Bei mir ist es wenigstens so. Kaum spüre ich eine Gefühlsbewegung, schon steigt mir das Blut in den Kopf, ohne dass ich es verhindern kann.

„Süß.“ Moritz lacht und die Sonne verwandelt seine Augen in tiefblaues Glas.  

„Na und?“

„Was und?“ Ich gebe zu, ich bin in diesem Moment mehr auf den Sprecher als auf das Gesprochene fixiert.

„Na, verrätst du mir jetzt deinen Namen?“, er grinst wie Bradley Cooper. „Oder soll ich bei Pippi Langstrumpf bleiben?“

Er lacht wieder, es klingt echt und irgendwie sympathisch.

„Sehr, sehr witzig!“ Ich mache wieder auf genervt, obwohl ich mich mittlerweile ganz wohl bei dem Geplänkel fühle.

„Sag, schon. Komm.“

„Sophie.“

„Na, also. Geht doch.“

Ich will etwas antworten, aber es fällt mir nichts ein. Nichts Witziges, nichts Kluges, überhaupt nichts. Totale Leere im Kopf, alle Energie fürs Herzklopfen. Pochpochpoch! Also zucke ich nur mit den Schultern und schaue auf den Boden. Da sind unzählige und hochinteressante Sandkörnchen, die ich noch nie gesehen habe. Für die brauche ich jetzt meine ganze Aufmerksamkeit.

„Und du so?“, fragt er.

„Wie, so?“

„Ja, was machst du so?“

„Ich schiebe Rad. Siehst du ja“, lache ich.

„Richtig, hätte ich jetzt gar nicht gemerkt.“

Plötzlich finde ich es schön, mit ihm herumzualbern. Tut richtig gut und lenkt mich ab. Moritz greift in die Gesäßtasche seiner Jeans.

„Möchtest du einen Kaugummi?“ Er hält mir einen Silberstreifen unter die Nase. Erst zögere ich, dann greife ich zu und stecke ihn in den Mund. Ich mache eine Kaugummiblase und lasse sie platzen. Dann ist es wieder still. Nur vom nahen Tennisplatz fliegt das monotone „Plopplop“ der Bälle zu uns auf die Straße, man kann es bis zur Kreuzung hören. Da bleibe ich stehen und zeige nach links. „Hier muss ich  weg“, sage ich.

„Ich komme noch ein Stück mit, wenn´s recht ist “, sagt Moritz.

„Okay!“, erwidere ich. Er kommt noch ein Stück mit? Mensch, das ist sogar okay im Quadrat, denke ich. Wir gehen nebeneinander. Ab und zu kommt ein Auto die schmale Straße entlang. Dann müssen wir hintereinander schieben. Doch schnell ist Moritz wieder neben mir und schaut mehr zu mir, als auf die Straße. Es kommt mir kurz wie ein Wimpernschlag vor, als wir auf das Kopfsteinpflaster in unsere Straße einbiegen. Die Häuser in unserer Gegend sind größtenteils Backsteinvillen mit weißen oder grauen Fenstern und Haustüren. Die meisten Gärten sind geschmackvoll mit Stauden und Sträuchern angelegt. Bei manchen führt eine gepflegte Buxhecke zur Eingangstür. Moritz begleitet mich schiebender Weise bis zu unserem Gartentor. Die Verletzung habe ich fast vergessen. Statt das Tor aufzumachen, bleibe ich stehen. Darauf hat Moritz scheinbar gewartet. Er lehnt sein Fahrrad an den Gartenzaun. Da huscht Rambo, der schielende, weiße Nachbarskater aus der Buchenhecke. Während Moritz „Miez-Miez!“ ruft und der Katze hinterherschaut, lasse ich den Rucksack von meiner Schulter gleiten. Ich krame nach dem Toröffner, durchwühle den raschelnden Inhalt. Nichts. In der rechten Außentasche vielleicht? Nein. In der linken? Auch nicht. Irgendwie bin ich ein wenig durch den Wind. Nochmals ein Versuch im Inneren des Rucksacks. Da ist er doch. Moritz grinst. Oder ist es doch kein Grinsen? Egal. Ich warte, dass er etwas sagt. Stattdessen greift er in die Hosentasche. Er holt sein Handy heraus.

„Gibst du mir deine Nummer?“, fragt er. Dabei mustert er mich für meinen Geschmack etwas zu lange.

„Iss was?“

„Will dich auswendig lernen.“

„Sehr witzig“, sage ich und untersuche meine Haarspitzen, dann diktiere ich meine Nummer. Das Handy noch in der Hand, fragt er und sieht mich dabei erwartungsvoll an:  

„Und jetzt?“

„Jetzt?“, frage ich zurück.

„Wir könnten noch auf ein Sprite gehen? Hast du Lust?“

Ich habe Lust, aber: „Ähm, ich kann nicht“, stottere ich.

„Warum?“

Obwohl ich meine Blessuren ganz vergessen habe, zeige ich auf Knie und Ellenbogen. „Verletzung. Und außerdem: Ich muss noch was tun.“

„Wofür?“

„Wofür wohl? Für die Schule.“

Das stimmt und ist trotzdem gelogen. Ich müsste immer was tun für die Schule. Aber wenn ich ehrlich bin, ist mir die Schule seit einiger Zeit sowieso egal. Von mir aus könnte sie sich in Luft auflösen.

Moritz lacht. „Ich müsste auch. Übermorgen ein Referat.“

Ich druckse rum. Bin hin- und hergerissen. Die Richtung geht eindeutig zu Nichtlernen und Sprite trinken. Trotzdem sage ich: „Nee, geht nicht. Leider.“

Moritz schaut über unseren Gartenzaun hinweg zum Nachbarhaus.

„Du, da lehnt eine Frau am Fenster und belauert uns“, sagt er. Ich weiß, ohne hinzuschauen, wer das ist.

„Ach, die Peschke, die hat nichts anderes zu tun.“

„Ach, so“, lacht Moritz und wechselt das Thema.

„Was ist jetzt, doch Lust?“

„Geht nicht, glaub mir.“

„Na, gut, dann ein anderes Mal, versprochen?“

Ich zucke mit den Schultern, sage nichts. Stehe da.

„Na, denn … also.“ Er streckt seine Hand aus, lächelt. Jetzt umarmt er mich, denke ich. Tut er nicht.

„Na, denn tschüss!“, sagt es,  schwingt sich mit einem Lächeln wie die Morgensonne auf sein blaugelbes Morrison Rad, winkt und fährt weg. Ohne alles. Nur „tschüss“ und nix!  Ich bleibe noch einen Moment stehen, den Türdrücker in der Hand und schaue ihm nach. Er und sein Fahrrad werden kleiner und kleiner. Dann biegt er ab und ist weg. Ich warte noch eine Weile auf etwas, das nicht kommt. Trotzdem. Während ich noch so dastehe, sehe ich wie einer unserer Nachbarn mit seiner kleinen Tochter  kommt. Das Kind sagt etwas und der Vater nimmt es einfach auf den Arm und trägt es durch das Gartentor. Ich erinnere mich an das glückliche, unbefangene kleine Mädchen, das ich einmal war.

Dann öffne ich das Garagentor, nehme mein Rad und schiebe es hinein.

Ich setze mich noch ein wenig auf unsere Terrasse. Kein Mensch zu Hause. Gott sei Dank. Nur Lili, Fast-Mensch, Labrador-und-sonst-noch-was-Mix. Als sie mich entdeckt, setzt sie zu einem Freudengebell an, wuselt um meine Beine herum und wedelt begeistert mit dem Schwanz. Es ist schon sonderbar, denke ich, mit diesem Schwanzwedeln kann ein Hund mehr Gefühl ausdrücken als mancher Mensch. Dabei denke ich an meine Eltern. Ich streichle Lili und male die nicht stattgefundene Wunschverabschiedung von Moritz in allen Einzelheiten in ihr schwarzes Fell. Lili ist für mich wie ein kleines Kind. Genau wie ein Kind wird sie versorgt. Aber genau wie ein Kind muss sie auch gehorchen und ist von den Launen der Erwachsenen abhängig.

Ich gehe in die Küche, hole mir einen Joghurt mit Honig aus dem Kühlschrank. Während ich ihn auslöffle, spiele ich auf meinem Handy herum. Lili sitzt erwartungsvoll neben mir: Sie verfolgt jeden Löffel, den ich in den Mund schiebe und wartet, bis sie die Reste im Becher endlich auslecken darf.

Als ich später in den ersten Stock in mein Zimmer gehe, schläft sie bereits in ihrem Korb unter der Treppe. Ihr Lieblingsplatz. Hier hat man alles im Blick, die Haustüre, die Diele, auch das Wohnzimmer, wenn die Schiebetüre offen ist und ganz wichtig: Die Küche. Sie atmet tief. Zuckt mit den Pfoten, macht Kaubewegungen. Wahrscheinlich träumt sie von nie endenden Leckerlis.

Ich schlafe zwar nicht, aber ich träume auch. Nicht von Leckerlis.

Moritz..., ein cooler, gechillter Typ. Das Schönste an ihm sind seine Augen. Die sind so blau und so tief wie das Meer. Komisch, ein einziger Blick hat genügt, dass ich jetzt immer an ihn denken muss. Obwohl ich erst wortkarg und pampig war, hat er nicht locker gelassen. Komisch, je mehr er redete, umso mehr entspannte ich mich.

Im Moment geht es mir gut. Und wenn es einem gut geht, versinken die Sorgen in ein tiefes, tiefes Loch und Deckel drauf.

Pling! Ich habe mein Handy gerade auf den Schreibtisch gelegt um doch ein Pflaster auf den abgeschürften Ellbogen zu kleben, da kommt eine Nachricht. Von Moritz. Mein Herz klopft bis zum Hals. Ich streiche hastig über das Display und lese kurz rein. Gefühlte 100-mal.

Hi, Sophie. Wann sehen wir uns wieder?

 

Schlicht und unromantisch stehen die schönsten Worte auf dem blauen Display: Wann sehen wir uns wieder? Moritz will mich daten. Wie cool ist das denn? Wenn ich jetzt behaupten würde, die Whatsapp sei mir egal, wäre das so was von gelogen. Doch ich antworte nicht. Dafür halte ich das Handy eine gefühlte Ewigkeit fest umklammert, streichle mit den Fingern über die Wörter, die er mir geschickt hat. Küsse sie. Innerhalb der nächsten Stunde kommen noch zwei weitere Nachrichten.

Wann? Und nochmals: Wann?

Dann kommt Maike.

Ich erkenne es am Klingeln. Dreimal. Ich humple runter und öffne ihr. Wir verschwinden auf mein Zimmer und machen es uns auf dem Sofa gemütlich, schlürfen Cola und essen Chips.

Man meint immer, alle Leute aus der Königsberger Straße seien asozial. Bis man Maike kennengelernt hat. Manchmal nenne ich sie Mimmi, nach dem uralten Motto: Ohne Krimi geht die Mimmi nie ins Bett. Man muss wissen, Maike hat einen speziellen Hang zu Krimis, nein, eigentlich zu allen Büchern. Sie ist ein Lesefreak. Maike ist meine einzige Freundin und die beste dazu. Richtig streiten tun wir nie. Wir sticheln, gehen uns manchmal auf die Nerven, sind mal anderer Meinung. Aber welche beste Freundinnen sind nicht auch hin und wieder anderer Ansicht? Maike schreibt nur Topnoten, langweilig ist sie trotzdem nicht. Streberin schon gar nicht. Sie weiß nur alles. Maike ist durch und durch nett. Gut, sie mag es gerne mehr wissenschaftlich und liebt Fremdwörter.

„Damit kompensiert sie ihre soziale Herkunft“, hat mein Vater festgestellt, nachdem er mit ihr ausnahmsweise einmal mehr Worte als nur ein „Guten Tag!“ gewechselt hat.

Im Umgang mit Jungs ist Maike sehr schüchtern. Wenn sie was sagt, ist das in meinen Augen  überlegt und klug. Zu klug, manchmal. Damit stößt sie die Boys oft vor den Kopf. Natürlich auch deshalb, weil sie lernmäßig alles schneller checkt. Doch keiner der Kerle in unserer Klasse hat es je gewagt, sie blöd anzumachen oder zu mobben. Sie halten sich mit ihren Bemerkungen schlauerweise total zurück. Man kann ja Maike gut gebrauchen, bei Hausaufgaben oder bei Schulaufgaben. Da ist ihre Hilfe immer nützlich. Sie erklärt bereitwillig, lässt abschreiben, notiert bei Schulaufgaben schon mal ein paar Lösungen auf einen Zettel und schiebt sie weiter. So jemand Praktischer darf dann schon mal ein wenig dicker sein. Denn Maike hat eine lebensbejahende Figur, um nicht zu sagen, sie ist ziemlich kräftig gebaut. Sie sagt, dass in ihrer ganzen Familie schon immer alle rund waren und dass sie deshalb dagegen nichts machen könne. Genetisch bedingt, schlechte Verwerterin und Erbsubstanz, quasi vorprogrammiert, meint sie. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass Maike auch eine recht gute Esserin ist. Während ich mit Müh` und Not  zum Beispiel  meine Tüte Pommes in der Mittagspause gerade mal bis zur Hälfte gegessen habe, hat sie ihre schon leer geputzt. Dann greift sie gerne auch mal zu meiner Tüte und sagt:

„Du, ich helfe dir noch ein wenig, oder Sophie?“ Na, klar.

Ich weiß nicht genau, ob Maike unter ihrer Figur oder ihrer Herkunft leidet. Neulich war da mal eine kleine Andeutung:

„Wenn ich einmal fertig bin mit dem Studium, verdiene ich so viel Geld, dass ich mir eine schicke Wohnung und einen Ernährungsberater leisten kann.“

Sie lachte und ihre kirschgroßen braunen Augen verschwanden hinter den kugelrunden Wangen. Bis es so weit ist, nehme ich an, tarnt sie sich weiter mit preiswerten, schwarzen Hosen und weiten, bunt bedruckten T-Shirts.  

Preiswert einkaufen brauche ich nicht. Bei uns spielt Geld keine große Rolle. Ich muss höllisch aufpassen, das in Maikes Gegenwart nicht zu vergessen. Für sie ist es nicht selbstverständlich, etwas zu kaufen und nicht auf den Preis zu schauen. Dass ihre Eltern wenig Geld haben, dafür kann sie genauso wenig wie ich, dass meine Eltern viel Geld haben. Trotzdem mache ich mir um ihre Zukunft keine Sorgen: sie ist nicht nur körperlich gut gepolstert, ihr Wille ist es auch.

Ich war noch nie bei Maike zu Hause. Nie gibt sie eine Fete oder lädt mich einfach so zu sich ein. Als wäre es eine Schande, wenn ich sehen würde, wie einfach sie und ihre Eltern leben. Dass sie bescheiden lebt, dafür muss sie sich doch nicht schämen. Dass sie trotzdem so gut, so intelligent ist, das verstärkt nur meine Zuneigung zu ihr.

Jetzt sitzen wir auf meinem weißen Sofa, quatschen über alles Mögliche und greifen nach den Chips, die auf dem Glastischchen davor stehen. Ich zeige ihr natürlich meine Blessuren und erzähle ihr die verkürzte Version meines Sturzes: Von der Alten und ihrem Hund. Von der Begegnung mit Moritz erzähle ich nicht. Noch nicht. Deshalb bin ich heute ausnahmsweise froh, als sie nach einer Stunde nach Hause muss. Danach liege ich noch lange da und denke über Moritz nach. Moritz..., sein Name zergeht auf meiner Zunge wie Vanilleeis. Moritz. Ich glaube, er hat so etwas Starkes und so etwas Weiches an sich. Das klingt jetzt irgendwie bescheuert. Aber es ist so.  

Es klingt auch bescheuert, dass mir bei dem Gedanken an ihn, innerlich warm wird. Aber das ist auch so. Und dann sind da noch die blauen Augen. Die hören nicht auf, mich anzulächeln, bis ich einschlafe.

 

2

 

Ich brauche Bücher wie der Alkoholiker seinen Schnaps und der Junkie seine Drogen. Wenn ich nichts zu lesen habe, werde ich kribbelig. Lesen ist für mich wie atmen. Obwohl mir bei der Lektüre oft der Atem wegbleibt. Ich konnte schon immer total in die Geschichte, die ich gerade lese, eintauchen. Es ist dann, als wäre ich in einer anderen Welt.

So sitze ich bei Kommissar Wallander im Auto, wenn er in Ystadt durch die Mariagatan mit den roten Häuserzeilen fährt. Oder ich bin mit seiner Tochter Linda total geschockt, wenn sie bei einer Lkw-Kontrolle einem entsetzlichen Verbrechen begegnet. Dann sinniere ich mit ihr über die Motive der möglichen Täter. Manchmal lese ich auch nur, um wegzutauchen, mich hinter dem Buchdeckel zu verstecken. Ist ja auch wahr. Was bin ich denn? Ein Hefeteig auf zwei Beinen, der von Tag zu Tag mehr aufgeht unter der Decke seines T-Shirts.

„Du musst dich erst selbst schön finden, bevor dich andere schön finden.“, sagt ein schlauer Ratgeber. Ich finde mich aber nicht schön, Herr Gott noch mal! Ich bin potthässlich und mit null Ausstrahlung.Was soll das bringen, wenn ich jedes mal in den Spiegel hauche: Ich bin schön, ich bin schön. So ein Quatsch! Was soll ich an mir schön finden? Kann mir das mal einer mitteilen? Ich hasse mein Äußeres. Mein Körper? Eine einzige Krisenregion. Der Gott der Gewichtsvergabe verteilt die Kilos wohl leichtfertig und ohne auch nur ein wenig auf Gerechtigkeit zu achten. Warum muss ich rumlaufen wie die Kellnerin in einem bayerischen Dorfwirtshaus? Ich spiele zwar voll, als mache mir das nichts aus. Aber sag mir mal einer, welches Mädchen mit fünfzehn will nicht schlank sein? Will nicht wahrgenommen und bewundert werden? Tut aber keiner. Also hülle ich meine Kilos in Schlappertarnklamotten und verkrieche mich mit meinem Gesicht am liebsten hinter einem dicken Buchdeckel.

Und Sophie? Unglaublich. Es klingt ein bisschen neidisch, ist es aber nicht. Sie ist vom Leben reich beschenkt. Bis auf die Katastrophe mit ihrem Opa. Als er starb, brach eine Welt für sie zusammen. Und das tut mir auch total leid. Zwischen den Beiden war ein enges Band geknüpft. Sie sind zusammen oft auf´s Wasser und ich weiß, dass sie viel Spaß miteinander hatten. Trotzdem ist sie immer noch reich beschenkt:

Sie sieht toll aus, gut proportioniert und ihre Taille ist so schlank, dass sie sie mit ihren beiden Händen umfassen kann. Sie hat vermögende Eltern und eine Menge Verehrer. Nur in der Schule hapert es in letzter Zeit bei ihr. In Sachen Noten bin ich die Quotenqueen. Aber, was hab ich davon? Mein Intellekt hat total viel im Griff, nur den Umgang mit meinem Körper nicht. In Indien soll es jemanden geben, der sich nur von Sonnenlicht ernährt. Wie der das schafft? Gut, man kann nicht alles erklären. Aber ich schaffe nicht einmal, mich etwas bewusster zu ernähren. Ich bin wahrscheinlich noch nicht eitel genug, um mir den ganzen Kalorienstress anzutun. Im Gegenteil, wenn es mir schlecht geht, esse ich eine Tafel Schokolade nach der anderen. Und wenn keine da ist? Dann, dann, löffle ich Nutella oder stopfe Gummibärchen in mich hinein. Schöne kontraproduktive Ernährung. Kein Wunder, dass die Waage bei mir immer in die falsche Richtung ausschlägt.

Schönheit kommt von innen, sagt man. Schön gesagt, aber wie kommt sie da hinein? Kann mir das einer erklären?

Warum sollen meine Augen strahlen, wenn ich täglich erlebe, dass Sophie stets die Aufmerksamkeit auf sich zieht und ich schleiche als Nebendarstellerin hinterher. Ich muss ja nicht gleich in den Beautycharts ganz oben stehen. Aber, wenn ich ab und zu auch von einem Jungen wahrgenommen würde, wäre das schön. Doch ich, ich werde übersehen, obwohl ich nicht zu übersehen wäre. Die Boys, ja, die  ignorieren mich nicht einmal. Unsichtbar! Damit muss man erst einmal zurechtkommen. Beachtet werden ist doch ein seelisches Grundnahrungsmittel. Wer übersehen wird, verhungert – innerlich. Meine Seele hat Hunger. Das ist mein Problem.

Was sagt die Gazelle (oder wer?) im König der Löwen?

Hakuma matata. Soll heißen: Es gibt keine Probleme.

Soweit wie du, möchte ich auch schon sein, liebe Gazelle!

 

3

 

Eine Amsel weckt mich mit einem schmetternden Lied. Nur noch die Schule hinter mich bringen, dann ist unser erstes Date.

Am Tag nach unserem Zusammentreffen,klingelt nach der Schule mein Handy. Es ist Moritz, sein Name strahlt mir vom Display entgegen.

„Ja?“, melde ich mich, tue ein wenig überrascht. Obwohl ich gleichzeitig das Gefühl habe, mein Herzklopfen kann man am anderen Ende der Leitung hören.

„Hi, Sophie. Wie geht’s? Alles klar bei dir?“

„Alles okay“, erwidere ich nicht ganz wahrheitsgemäß.

„Hast du meine Nachrichten nicht gelesen?“ fragt er.

„Doch.“

„ Und? Jetzt sag mal, sehen wir uns endlich?“, fragt er.

Ich halte die Luft an. Kurz. Endlich hat er gesagt?

„Von mir aus“, erwidere ich und meine Knie beginnen zu zittern.

„Ich könnte heute um 17 Uhr.“

Juhu, schreit es in mir. „Ich auch“, flöte ich in den Hörer.

„Bei der Schlossbrücke?“

„Okay.“

„Ich freu´ mich.“

„Ich mich auch“, hauche ich ins Handy und küsse es, ehe ich es auf den Tisch lege. Moritz und ich, wir treffen uns. Ich und Moritz. Wie das klingt. Die Aussicht, ihn heute schon wiederzusehen, verwandelt die Dunkelheit um mich in die buntesten Farben. Zu Hause angekommen, überlege ich hin und her, was ich anziehen könnte. Es ist zwar sehr warm heute, ich entscheide mich dann doch für die „blaue Luise“, meine neue Hilfiger Jeans. Dazu das weiße Einschultertop, es schaut gut aus auf meiner leicht gebräunten Haut. Jetzt fehlt noch der passende Gürtel. Ich liebe Gürtel und habe einige im Schrank hängen. Ich wähle das dunkelblaue Lederteil mit der Silberspange. Und ausnahmsweise bin ich ganz zufrieden mit meiner Erscheinung. Am liebsten würde ich jetzt gleich losdüsen, aber ich beschließe doch noch ein paar Hausaufgaben zu machen.

Zumindest Mathe und Englisch, die sind heute vom Zeitaufwand überschaubar. Trotzdem dauert es, weil ich mit meinen Gedanken ständig auswandere. Immer wieder schaue ich auf die Uhr. Die Zeiger scheinen eingeschlafen zu sein. Um halb Fünf  lasse ich alles liegen und stehen, werfe noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Noch ein paar Bürstenstriche durch das offene Haar und dann mache ich mich auf den Weg. Zeit genug. Ich fahre ganz langsam, obwohl ich vor Ungeduld fliegen möchte. Beim Überqueren der Lenné-Straße bremst ein weißer Audi und sein Fahrer, ein junger Mann mit gegeltem Haar und stylischer Hornbrille, fährt langsam an mir vorbei. Er pfeift mir aus dem geöffneten Fenster zu und lacht:

„Der Hammer! Ich wollte nur sehen, ob du von vorn genauso geil aussiehst, wie von hinten.“ Ich schüttle genervt den Kopf. Freuen tut es mich trotzdem.

Als ich den Schlosspark erreiche, steigt meine ohnehin gute Laune um tausend Punkte. Mein Herz springt vor Vorfreude fast aus dem Körper. Obwohl das Radfahren hier verboten ist, nehme ich trotzdem die Abkürzung über eine der drei Kanalbrücken. Wird schon kein Parkguide kommen, denke ich. Wenn ja, mache ich auf Doofchen und entschuldige mich:

„Was, verboten? Tut mir leid, das wusste ich jetzt wirklich nicht!“

Um diese Zeit ist hier immer einiges los. Besonders bei schönem Wetter, wie heute. Touristen mit Kameras, Kinderwagen schiebende Mütter, junge und alte Radfahrer, Jogger und Hundebesitzer mit ihren großen und kleinen Vierbeinern. Alle genießen den herrlichen Park. Von weitem schon erkenne ich sein blaugelbes Rad, das an der Schlossbrücke lehnt. Moritz wartet daneben. Er trägt ein hellblaues Shirt, beide Hände in der dunkelblauen Jeans, steht er am schmiedeeisernen Geländer. Er sieht großartig aus, stelle ich per Ferndiagnose fest. Ich winke, sofort erkennt er mich, winkt mit beiden Armen zurück und geht mir entgegen. Als erstes sehe ich seine blauen Augen, seinen Blick. Sofort wird die Entfernung zwischen uns beiden aufgelöst. Dann stehen wir uns gegenüber.

„Hallo Sophie“, er breitet die Arme aus und wir umarmen uns, als würden wir uns schon seit dem Kindergarten kennen. Und obwohl sich unsere Körper nur leicht berühren, breiten sich klitzekleine Wellen in mir aus, wie bei einem kleinen Stein, den man ins Wasser wirft. Moritz strahlt mich an. „Süß siehst du aus.“  

„Danke“, hauche ich und spüre wie ich rot werde. Er ist der erste Junge, den ich mit meinem Herz zündeln lasse.

„Ich hab mich so auf dich gefreut“, sagt er und schaut mich an mit seinen Augen, die so blau sind wie der Enzian in Omas bayerischen Bergen.

„Ich mich auch!“, flüstere ich ein wenig verlegen, stelle mein Rad neben seines und schließe es ab. Moritz nimmt seinen Rucksack vom Lenker und hängt ihn sich über die Schulter. Er dreht sich um, wir sehen uns an. Moritz scheint kurz zu zögern, dann legt er seinen Arm um meine Schulter. Langsam, fast vorsichtig hebt er seine Hand und streicht mir behutsam die Haare aus der Stirn. Als ich seine weichen Lippen auf meinen spüre, weiß ich nicht, ob ich ihn jetzt wegschieben soll. Ich tu´s nicht. Und so landet auf meinen Lippen ein zarter Kuss. So zart wie Lübecker Marzipan. Ich stehe zu Holz erstarrt da. Bin baff, einfach nur baff. Mein erster Kuss. Ich frage mich: Ist das nun ein echter Kuss oder nur so eine Freundschaftsgeste? Sicher nicht. Noch vor kurzem hätte ich es keinem erlaubt, mich zu küssen. Warum reagiere ich so ungewohnt? Vielleicht liegt es an meiner Stimmung, an meinen Bedürfnissen mich an jemanden anzulehnen.

Auf alle Fälle: Jetzt ist alles anders. Es ist so schön, in seiner Nähe zu sein. Moritz legt seinen Arm um mich und fragt:

„Und? Was machen wir?“ Ich denke, weiter küssen.

„Egal“, sage ich und zucke mit den Schultern.  

„Na, denn los.“ Moritz greift nach meiner Hand und wir spazieren am Kanal entlang.

Es ist so neu, so mit ihm nebeneinander zugehen.

Wir reden Belanglosigkeiten. Aber Reden ist nicht so wichtig. Es geht nur um unsere beiden Hände, die sich halten und und unsere Herzen verbinden.

Die Enten watscheln in Zweierpaaren um uns herum und die Seerosen im Wasser grüßen uns mit ihren rosa Blüten. Wir setzen uns auf eine der weißen Bänke. Einige von ihnen sind in letzter Zeit von Sprayern aufgesucht worden. Schade, jetzt sind sie in grässlichem Pink mit noch grässlicheren Hieroglyphen verunstaltet. Um uns herum Vogelmusik und die Maisonne scheint aus einem wolkenlosen Himmel auf uns herab. Wir sitzen ganz nah beisammen. Ich denke an vorhin, an meinen ersten Kuss und frage mich, warum man beim Küssen die Augen schließt. Vielleicht damit man ihn intensiver genießen kann? In meine Gedanken hinein berührt mich sein Oberschenkel. Es ist, als würden tausend Funken durch meinen Körper sprühen. Wir schweigen. Jeder scheint in seinem Universum versunken zu sein. Eine Amsel eilt auf uns zu. Bleibt stehen, schaut uns an und kehrt um. Eine zweite pickt im Gras, fliegt aber auf, als Moritz zu rascheln beginnt. Er hat seinen Rucksack auf die Bank gestellt und kramt jetzt darin.

„Tataratam!“ Stolz zeigt er mir einen Becher mit Erdbeeren.

Er nimmt die Folie ab, hält die Schale hoch und lässt mich riechen.

„Nicht selbst gepflückt, aber selbst gekauft“, sagt er und greift nach einer der großen Früchte. Er teilt sie und hält mir eine Hälfte hin.

„Gewaschen und für dich.“ Ich lache und verbessere:

„Für uns“. Obwohl ich normalerweise auf Erdbeeren allergisch reagiere, sage ich nichts und lasse mir eine in den Mund stecken. Ich bin mir so was von sicher, dass ich von diesen Früchten keinen Ausschlag bekomme. Hundertpro.  

Sie schmecken zuckersüß und nach Glück.

Da fällt mir ein Witz ein, den ich neulich im Fernsehen gehört habe und ich frage Moritz: „Was ist eine Erdbeere?“

Er überlegt, dann lacht er und sagt: „Ich sag mal,... eine Frucht“.

„Fast, richtig.... Eine Kirsche mit Pickeln!“ Wir lachen.

„Du bist ja heute richtig locker“, flachst er und gibt mir einen zarten Ellenbogenstupser. Dann ein weiterer Kuss, der den ersten noch toppt. Ich bin glücklich und weiß auch warum. Das Glück ist eine geteilte Erdbeere.

Ein warmer Wind weht durch das junge Laub der Buche über uns. Als die Erdbeeren verputzt sind, nimmt Moritz seinen iPod aus der Tasche.  Er wischt durch seinen Musikordner, wir teilen uns die Ohrstöpsel und hören verschiedene Bands. Mit jedem Song werde ich noch entspannter. Wir wippen im Takt der Musik, die in unseren Ohren klingt. Ab und zu greift Moritz nach meiner Hand, drückt sie fest und ruft:

„Hör mal, hör mal! Ist das nicht cool?“

Er legt seinen Arm um mich und trommelt mit den Fingern den Takt in meine Schultern. Die Musik fließt in meinen Körper. Hach, tut das gut. Ich glaube, bei mir hat es richtig Bumm gemacht.  

In diesem Moment habe ich alles vergessen, was in unserer Familie momentan nicht gut ist. Denn jetzt ist das alles nicht da. Ich lege meinen Kopf auf seine Schultern. Da zieht Moritz den Kopfhörer aus meinem Ohr und sieht mich lange an: „Sophie?“

„Ja?“

„Du, was mich immer noch interessiert: Wo wolltest du gestern eigentlich hin, du Radler-Rambolette?“

Was soll das jetzt, gerade jetzt, denke ich.  

„Sag schon, was war denn da los?“

Ich schweige. Radler-Rambolette. Eigentlich nett. Er stupst mich und versucht mich nochmals auf witzige Art und Weise aus meinen Gedanken zu holen:

„Ich glaube, du hast mich gesucht?“

Ich lächele, schweige lange. Versuche die Gedanken, die in diesem Moment auftauchen in die Tiefe zurückzuschupsen, aus der sie immer so schnell hochkommen.

Schon lange spüre ich, wie meine Eltern parallel nebeneinanderher leben.

Seit dem großen Streit, als meine Mutter dann das erste Mal für ein paar Tage abgehauen ist, ist die Mauer, die sie um ihre Gefühle gebaut haben, dick, sehr dick. Es herrscht zwar  momentan eine Art Waffenstillstand zwischen den beiden und manchmal kommt es sogar vor, dass sie in normalem Ton miteinander sprechen. Meistens geht es dabei aber um recht banale Sachen wie Autoinspektion oder Bestellen eines Handwerkers etwa für die Gartenbewässerung. Um die Bestellung eines Tisches in einem Restaurant oder Reservierung von Kinokarten für die beiden, geht es schon lange nicht mehr.

Ich habe Angst vor dem Tag, an dem Mutter wieder heulend mit dem Trolley in der Hand in ihr Auto steigt und dann vielleicht nicht wieder kommt. Manchmal macht sie so komische Andeutungen.

„Hallo, Sophie. Erde an Sophie.“ Moritz reißt mich aus meinen Gedanken. „Was war denn los?“  

„Nichts, war los,“, sage ich und schüttle den Kopf, „gar nichts. Nur so.“

„Nur so? Ui, ui. Das ist mal ´ne Ansage.“ Er lacht. Aber dann schaut er mich an, als wolle er in mein Gehirn vordringen.

„Du bist wirklich so...“ Er sucht nach dem passenden Wort. „So voller Gegensätze.“

Ich runzle die Stirn. „Gegensätze? Wieso?“

„Ja, denn so richtig schlau werde ich nicht aus dir. Einmal bist du ausgelassen und locker und jetzt machst du komplett zu.“

„Komplett zu? Das stimmt doch gar nicht.“

Moritz legt mir die Hand unters Kinn und hebt meinen Kopf etwas hoch.

„Was immer dein hübsches Köpfchen schwirrt, du wirst es nicht vor mir verbergen können.“

Ich schaue ihm in die Augen und ich weiß in diesem Moment, dass ich ihn auch nicht belügen möchte. Anderseits kann  ich ihm meine Sorgen nicht anvertrauen. Nicht jetzt. Nicht jetzt, wo alles gerade so schön begonnen hat. Ich schmiege mich an ihn. Er hält mich, streichelt mich.  

„Gerade hast du ganz schön geflunkert.“

„Ich hab überhaupt nichts gesagt!“

„Das kommt auf´s Gleiche raus.“

Spürt er wirklich, dass ich etwas mit mir herumtrage? Ich drehe mein Gesicht weg. Er drückt mich. Und das tut gut. Ein paar Tränen bahnen sich ohne Vorwarnung über meine Wangen. Ich weiß nicht, sind es Glücksperlen oder Traurigkeitstränen. Ich drehe mich zur Seite und wische sie weg. Moritz hat es doch mitgekriegt. Er legt mir die Hände auf die Schulter und zieht mich mit ehrlicher Besorgnis an sich.

„Irgendetwas bedrückt dich, oder?“

„Blödsinn, nichts bedrückt mich!“ Ich versuche locker zu klingen und stecke meine Nase in seine Haare. Die riechen nach Wind und Luft und was sonst noch, … wunderbar. Aber Moritz lässt nicht locker.

„Jetzt sag schon, was ist dir denn über die Leber gelaufen?“

„Ich weiß es nicht!“ Der Satz klingt wie ein Aufschrei.

Doch seine Frage ist gleichzeitig wie die Landebahn zu meinem Opa, die Stimme, die alles immer ins Lot brachte.

„Komm, sag schon, was ist dir denn über die Leber gelaufen?“

Das hat mich Opa auch immer gefragt, wenn ich eine Schnute gezogen habe. Immer wenn es um seine Sophie ging, war er besonders ruhig und voller Wärme. Ich bin in diesem Augenblick in meiner Kinderhaut, bin verstanden, beschützt. Und ohne es zu bemerken, öffnet sich ein Fenster zu meinem Inneren. Seltsam, es genügen nur diese paar kleinen Worte und ich kann den Vorhang wegziehen. Da soll mir noch einer sagen, magische Worte gibt es nicht! Ich schniefe, hole tief Luft und beginne zu reden. Die Sätze kommen langsam, als sollte jemand genügend Zeit zum Mitschreiben haben. Ich denke, es dauert trotzdem ein wenig, bis Moritz richtig checkt, worum es überhaupt geht.  

Wir sitzen auf der Bank, Moritz schaut mir in die Augen, nicht neugierig sondern einfach nur interessiert und liebevoll. Er unterbricht mich nicht, er lässt mir die Zeit, die ich brauche. Und ich erzähle ihm, dass ich neulich so schnell wie möglich zu Opas Boot wollte. Seit ich denken kann, kenne und liebe ich dieses Boot. Als kleines Mädchen hat es mir immer ein wenig Leid getan, weil es angebunden am Steg liegen musste. Wie ein Hund an der Kette, dachte ich. Und Hunde an der Kette machen mich schon immer traurig. Deshalb wollte ich auch nie einen Vogel oder einen Hamster. Denn ich bin schon immer dagegen, Tiere in Käfige zu sperren.

Ich sehe Opa vor mir. Sein Haar ist ergraut, um seine blauen Augen kreisen unzählige Fältchen. Er hat den warmen Blick und das freundliche Gesicht eines Opas, der stolz auf seine einzige Enkelin ist. Ich glaube, niemand liebte mich so sehr wie Opa. Nicht mal meine Oma.

Für mich war als kleines Kind die Eya-Eya ein schwimmendes Spielzeug, immer in Bewegung. Später ein weißes Haus, das seinen Standort nach Belieben wechseln konnte. Segeln mit meinem Opa gehörte zu meinem Leben wie der Himbeerkuchen von Oma zu meinem Geburtstag. Opa hat mir nach und nach alles Wichtige über das Segeln beigebracht. Wie man die Segel richtig setzt Stärke des Windes richtig einschätzt.

Sobald Opa die Leinen losmachte und ich bei ihm an der Pinne sitzen durfte, wurde es für mich immer abenteuerlich. Er war der Kapitän in seinem blauen Troyer und in seinen abgewetzten Jeans. Ich war sein Leichtmatrose. Und was das Schönste war: Opa gehörte mir alleine. Zumindest als Opa. Er besaß die große Gabe für jedes Problem nach einer Lösung zu suchen. Und er hatte ein Herz, in dem in unerschöpflichen Schränken eine Menge Wärme gelagert war. Wärme, die man mit keinem Thermometer messen kann und die mir so von meinen Eltern fehlt. Nach Opas Tod fiel mir das erst so richtig auf.  

Mein Vater hat sich über Opas Boot immer lustig gemacht.

„Dein Vater und seine Luxusyacht“, hat er einmal zu meiner Mutter gesagt. „Ich lach` mich schief.“

Ich werfe einen prüfenden Blick auf Moritz. Er schaut mich an, sagt nichts, schüttelt nur den Kopf.

„Moritz, mit Opa war alles wunderbar. Bis es aufhörte wunderbar zu sein.“ Ich springe auf und heraus aus der Erinnerung und ziehe Moritz an den Händen hoch. Er sieht mich verwundert an, fragt nicht, noch nicht. Darüber bin ich froh. Moritz schnappt seinen Rucksack und wir gehen los. Nach einer Weile bleibt er stehen.

„Und? Willst du nicht weitererzählen?“

Ich schüttle den Kopf.

„Bitte, wenn ich dich ganz fest bitte?“

„Stopp!“, entfährt es mir unkontrolliert und etwas zu heftig. „Es muss doch erlaubt sein, in dem ganzen Chaos eine Pause zu machen!“

So lieb Moritz ist, aber jetzt setzt er gerade seinen Fuß auf ein geheimes Gebiet in mir. Das erlaube ich nicht.

Moritz schweigt. Dafür spüre ich seine Hand. Sie ist weicher als das Fell von Lili, weicher als das Moos im Wald, seine Hand ist weicher als alles, was ich vorher als weich kennengelernt habe. Moritz verströmt Vertrauen. In meinem Kopf läuft in Zeitlupe wieder ein Film ab. Irgendwo öffnet sich eine Türe. Und weil Moritz mich nicht drängt, beginne ich irgendwann weiter zu erzählen. Dass es ein Tag war wie jeder andere. Nur war es auch der Tag, an dem ich ihn zum letzten Mal gesehen habe.

Durch einen tragischen Unfall stand in der Todesanzeige in der Zeitung.Wie eine Tsunamiwelle hat mich dieses Ereignis erreicht und aus dem normalen Leben gespült.

Opa war mit dem Auto unterwegs. Ein Lastwagen auf der falschen Seite. Er war sofort tot, sagte die Polizei an Omas Haustüre. Das ist eine kurze Erklärung. Tot, einfach tot. Ohne Vorwarnung. Tot. Drei Buchstaben und so eine Tragweite. Einfach von jetzt auf dann aus dem Leben geext. In der Zeitung, ein Polizeibericht unter vielen. Ein Verkehrstoter mehr für die Statistik. Ich wusste nicht, wie endgültig der Tod ist und wünschte mir damals, dass das nur ein böser Traum sei. Doch ich träumte nicht. Ich war wach.

„Weißt du, wie das ist, wenn du aus einem bösen Traum aufwachst?“, frage ich Moritz und rede weiter, ohne seine Antwort abzuwarten.

„Nach einiger Zeit begreifst du, dass alles, das ganze Schreckliche nur ein Albtraum war. Doch das war genau das Gegenteil. Es war kein böser Traum. Es war die Wirklichkeit. Und plötzlich lebst du in einer ganz anderen Welt, als vor einer Stunde.“ Es ist so schwer, dieses Unumkehrbare, Endgültige. Aus. Vorbei. Keine Wiederkehr.

Ich gebe mir Mühe, die Tränen zu unterdrücken. Doch sie lassen sich nicht aufhalten. Moritz bemerkt es und wischt sie mir wortlos von den Wangen.

„Mir fehlt er so sehr, seine Wärme, sein... sein Alles...“.

Ich putze mir die Nase mit dem Tempo, das mir Moritz reicht.  

„Warum ist das Leben so gemein? Warum so eine Strafe?“, habe ich damals Oma gefragt.

„Man kann ned einfach sagn, der Tod is a Strafe“, antwortete mir Oma in ihrer ganzen Tapferkeit und in ihrem melodischen Hochdeutsch der gebürtigen Bayerin, die Bayerin geblieben ist, auch wenn sie schon mehr als die Hälfte ihres Lebens im Norden lebt.

„Keiner weiß, was er is und wie´s weidageht. Wir wissn nur, dass der Tod jemandn abholt.“  

Moritz ist still. So still, dass man nur noch das leichte Rauschen in dem Baum über uns hört. Dann fragt er: „Du trauerst noch sehr um ihn?“

Ich nicke, dann zucke ich mit den Schultern:

„Ich muß daran denken, wie es wäre, wenn Opa noch da wäre. Ich könnte ihn anrufen, mit ihm reden. Er hat immer gewusst, was richtig ist.“

Als Opa beerdigt wurde hat die Sonne geschienen. So als ob der Himmel sich auf ihn freut. Während ich noch den Film ablaufen lasse, geht Moritz schweigend neben mir. Dann bleibt er wieder stehen, nimmt mich in die Arme und drückt mich ganz fest an sich. Ich kuschle meinen Kopf an seine Brust und schließe die Augen. Der wärmste Trost, ganz ohne Worte. Dann gehen wir weiter, kicken Steinchen, lassen uns los, halten uns wieder. Wir stehen am kleinen Kanal und betrachten zwei Stockenten, die den Rand entlang gründeln und uns beim Auftauchen beäugen. Die anderen haben sich im Wasser verteilt und beachten uns nicht. Da beugt sich Moritz, er ist einen Kopf größer als ich, zu mir. Er steckt die Haarsträhne, die mir bisher ins Gesicht hing, hinter mein Ohr. Ich weiß, was jetzt kommt. Und es kommt. Ich spüre durch sein T-Shirt sein Herz schlagen und spüre seinen Kuss. Und es ist schön, das traurige Gefühl weggeküsst zu bekommen.

„Du tust mir so leid.“ Seine Stimme ist watteweich und mitfühlend. Vorsichtig wischt er mir mit dem Handrücken über die Wange. Der Trauerkloß in mir beginnt zu schrumpfen. Ich drücke seine Hand.

„Geht´s dir besser?“, fragt er nach einer Weile. Ich erkenne, wie zugebunden ich war. Trotzdem lasse ich mir Zeit zum Antworten. Moritz fragt nochmals. „Geht´s dir besser?“ Ich glaube, er denkt, ich habe ihn nicht gehört.

„Bscht! Geht mir wieder besser“, sage ich. Mehr bringe ich irgendwie nicht zustande. Dafür umarme ich ihn fest, drücke ihn und denke: Du bist der beste Pannendienst für meine Seele.

„Und jetzt?“, frage ich ihn lächelnd.

„Keine Ahnung. Passt doch so, oder?“  Ja, es passt.

Eng umschlungen gehen wir weiter. Dann lässt er mich los, bleibt stehen, holt sein Handy aus der Tasche und ruft: „Lächeln!“ Klick.

Wir schlendern weiter über die schmale Schlosskanalbrücke, wo die Weiden ihre Astarme im Wasser baden lassen. Zwei Jogger älteren Semesters, verpackt in quietschbunter Gummipelle und Pulsmesser mit GPS-Tracker kommen uns schwer atmend entgegen. Ihr finsterer Blick signalisiert uns, dass es bei ihrem Freizeitsport nicht um Spaß, sondern quasi um Leben und Tod geht. Wir müssen uns kurzzeitig trennen, um sie vorbeizulassen. Nach der schmalen Brücke ist der Blick auf´s Schloss freigegeben. Wir gehen Hand in Hand in Richtung City. Es ist, als wären wir schon immer zusammen, seit unserer Geburt.

„Magst du ein Eis?“  Ich mag. Ich mag sogar gerne.

Wir beschließen es bei Antonio am Moor zu kaufen: Ich Stracciatella und Moritz Himbeere und Schokolade.

„Stracciatella geht auf mich.“

„Nein, zahle ich selber“, sage ich.

„Nein, ich.“ Moritz legt die Hand auf meine Geldbörse.

„Wie jetzt? Machst du das, weil du der Mann bist und so 60-er Jahre-mäßig drauf bist?“

„Nein, weil ich dich einladen möchte.“

Ich lache und denke mir, Kavaliere sind doch was Schönes. Moritz holt seine Geldbörse aus der Jeans und bezahlt. Ich mag es, wenn jemand sein Geld in der Geldbörse aufbewahrt und nicht achtlos in den Hosentaschen rumstecken hat. Das hat sich wahrscheinlich durch Opa so bei mir eingeprägt, der mochte das auch nicht. Er hat immer gesagt:

„Das Geld will gut behandelt werden, sonst läuft es weg!“

Der Verkäufer reicht uns die Tüten. Moritz hält mir sein Eis vor den Mund:

„Magst du probieren?“