Nachrichten von Micah - Alison McGhee - E-Book

Nachrichten von Micah E-Book

Alison McGhee

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Beschreibung

Eine Geschichte vom Überleben Sesame und Micah sind verliebt und die besten Freunde. Sie hüten ihre Geheimnisse und teilen ihre Träume. Nie zweifeln sie daran, sich die gemeinsame Zukunft aufbauen zu können, die sie sich wünschen. Bis Micah verschwindet. Verschleppt, zusammen mit seinen Eltern und weiteren Mitgliedern einer Gruppe um einen selbst ernannten Propheten. Sesame erspürt die Gefahr, in der Micah schwebt. Noch nie hat sie sich so verlassen gefühlt, noch nie hat Micah sie so sehr gebraucht wie jetzt. Aber ihr Vertrauen ineinander und ihre Verbundenheit sind unerschütterlich. Doch reicht das, um Micah zu retten?

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Alison McGhee

Nachrichten von Micah

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

Für Aria Williams Dominguez

Wie es passiert ist:

Sie sind meine Eltern. Ich liebe sie. Ich machte mir Sorgen um sie. Ich dachte, wenn ich bei ihnen bleibe, passiert ihnen nichts. Versetz dich doch mal in meine Lage – das einzige Kind von Eltern, die mich immer vergöttert haben, die sich um mich sorgten und alles taten, damit mir nichts passierte. So war das in unserer Familie.

Noch einmal von vorn. Wie so etwas passiert.

Alles ziemlich verwirrend.

Oder ich selbst bin verwirrt. Ich hab eine Art Nebel im Kopf.

Versuch’s mal so: Sieh dich um und sag irgendetwas, was objektiv wahr ist. Ich weiß nicht, wo du gerade bist, aber vielleicht ist es da heiß, bei hoher Luftfeuchtigkeit. Vielleicht ist es der heißeste, schwülste Tag dieses Sommers. Sag laut: »Heute ist es heiß und schwül.« Stimmt ja auch, oder?

Jetzt ändere den Satz ab. Nur ein kleines bisschen, so zum Beispiel: Heute ist es heiß und trocken. Sprich dir diesen Satz im Kopf vor.

Jetzt sprich ihn laut. »Mann, ist das heiß und trocken heute!«

Sag dir selbst, dass es heiß ist (was stimmt) und trocken (was nicht stimmt). Zwing dich, es so zu sagen, als wäre es wahr. Streng dein Gehirn an. Press es aus. Platzier eine kleine Quetsche irgendwo in deinem ganz persönlichen Labyrinth aus Neuronen und Synapsen, und dann drück zu, so fest du kannst. Geh gegen dein eigenes Ich an, gegen alles, wovon dein Ich weiß, dass es wahr ist. Heute ist es heiß und trocken, Micah. Es ist heiß, heiß, heiß und trocken, trocken, trocken. Sag dir selbst, dass du nicht schwitzt. Sag, dass dein T-Shirt nicht klamm und feucht ist und dir nicht am Rücken klebt, dass deine Lungen sich nicht mit dampfend heißer Luft füllen. Sag, dass die Luft viel zu trocken ist für solchen Quatsch.

Sag dir selbst andauernd irgendwelche Sachen, die nicht wahr sind, von denen dein Körper weiß, dass sie nicht wahr sind, und dann schau, was passiert. Vielleicht meinst du, das würdest du niemals schaffen, dich selbst von etwas zu überzeugen, wovon du weißt, dass es nicht stimmt. Vielleicht glaubst du, dass du gegen so etwas immun bist.

Wer immer du bist und wo immer du gerade stehst an diesem heißesten, schwülsten Tag des Jahres, klatschnass geschwitzt – vielleicht denkst du gerade: Wer glaubt, es sei nicht schwül, obwohl es der verdammt heißeste Tag des Jahres ist und alle, die dir begegnen, ob Frau, Mann, Kind, Hund, Katze oder Vogel, halb tot sind von der feuchten Luft, der hat schlichtweg den Verstand verloren.

Dann: Willkommen im Südkomplex.

Genau so passiert es.

1Micah

Als es klopfte, machten meine Eltern sich gerade oben bettfertig, also bin ich an die Tür gegangen. Es war seltsam, Deeson, den obersten Akoluthen, außerhalb der Andachten zu sehen. Noch seltsamer aber war es, ihn in einem schwarzen Hoodie zu sehen. Er war überhaupt nicht der Typ dafür. Eigentlich ist Deeson sogar das komplette Gegenteil von Leuten, die in schwarzen Hoodies rumlaufen. Im Ernst, er hatte die Kordel unterm Kinn geknotet. Aber auf jeden Fall stand er da, reckte mir das bleiche Gesicht unter der Kapuze entgegen und musterte mich.

»Gesegnet sei das Kind, Akoluth Deeson«, sagte ich. So grüßten – grüßen – sich die Mitglieder des Lebenden Lichts.

»Hol deine Eltern und eure Taschen, und dann kommt mit«, sagte er. »Zum Südkomplex. Wir haben den Ruf erhalten.«

Ist dir aufgefallen, dass er mich nicht als Akoluth Stone angeredet hat? Typisch Deeson. Ein Mann mit toten Augen. Einmal, während der Andacht, hat der Prophet Deesons Augen gerühmt, angeblich spräche aus ihnen die Reinheit seiner Absichten. Aber was waren denn seine Absichten? Das hätte ich gerne gefragt. Doch während der Andachten stellte ich keine Fragen, ebenso wenig wie die anderen. Heute, am ersten Tag unseres Lebens im Untergrund, denke ich darüber nach. Wieso keiner von uns den Propheten oder das, was er sagte, je infrage stellte.

Unsere Taschen warteten fertig gepackt am Treppenabsatz, mit der weißen Unterwäsche und den weißen Gewändern, die wir alle schon vor Monaten bekommen hatten, einem großen Wasserkanister, dem Andachtsbuch, das der Prophet geschrieben und selbst vervielfältigt hatte und das die Lebenden Lichter anstelle einer Bibel benutzen, dazu Kamm oder Haarbürste.

Als ich meinen Eltern sagte, dass Deeson gekommen sei, dass die Zeit gekommen sei, zum Südkomplex zu gehen, dass wir unsere Taschen nehmen und ihm folgen sollten, da schauten sie nur kurz auf vom Waschbecken, wo sie sich nebeneinander die Zähne putzten – das machten sie immer gleichzeitig. Sie stellten keine Fragen. Sie nickten nur. Auch darüber denke ich jetzt nach. Sie spülten, spuckten noch einmal aus, dann packten wir drei unsere Zahnbürsten in die Reisetaschen und gingen nach unten, wo Deeson uns an der Tür erwartete.

»Gesegnet sei das Kind, Akoluth Stone, Akoluthin Stone« – siehst du, meine Eltern redete er so an. »Habt ihr vergangene Woche das Entschuldigungsschreiben an die Schule geschickt, entsprechend den Anweisungen?«

Mein Vater nickte.

»Hm? Was für eine Entschuldigung?«, wollte ich wissen.

»Wegen einer familiären Unternehmung bist du ab morgen bis zum Ende der Winterferien vom Unterricht befreit«, sagte Deeson. »Ganz im Einklang mit den Vorschriften der Schulbehörde von Minneapolis zum Thema Schulbesuch.«

Ich sah meine Eltern groß an, doch sie wichen meinem Blick aus. Was, verdammt noch mal, sollte das? Mit mir hatte kein Mensch darüber gesprochen. Es war Mittwochabend, bis zum Beginn der Winterferien war es noch eine Woche hin. Die Vorschriften interessierten mich nicht, aber ich durfte unmöglich so viel Unterricht versäumen, schon gar nicht in meinem Junior-Jahr. Und was war das für eine familiäre Unternehmung? Tief in meinem Inneren ging ein Alarm los, unüberhörbar und beharrlich. Der noch lauter wurde, als Deeson weitersprach.

»Handys«, sagte er und zeigte auf den Küchentresen.

Moment mal – Handys?

Das gehörte nicht zu Sesames und meinem Plan. Der Prophet hatte in letzter Zeit Andeutungen gemacht, dass für die Lebenden Lichter die Zeit bald gekommen sein würde, um mit Phase Zwei des Projekts zu beginnen. Von dem Geld, das er bei seinen Anhängern eingesammelt hatte, habe er ein verlassenes, leer stehendes Gebäude irgendwo im Süden von Minneapolis gekauft, wo genau, wusste keiner. Daraus solle eine Art Einkehrzentrum für die Lebenden Lichter werden.

Phase Eins: Kauf des Gebäudes, dem der Prophet den Namen Südkomplex gegeben hatte.

Phase Zwei: Gemeinsames Training aller Gemeindemitglieder für das Leben im Einkehrzentrum.

Phase Drei: Eröffnung des Zentrums.

Phase Vier: Übernahme der Weltherrschaft? Ernennung des Propheten zum göttlichen Herrscher? Ach, Quatsch, was weiß ich. Sobald er mit seinen Predigten anfängt, schalte ich nach höchstens fünf Minuten ab.

Egal.

Für den Fall, dass wir wirklich abgeholt würden, sah unser Plan, also der von Sesame und mir, so aus: Sobald wir im Südkomplex angekommen wären und ich wüsste, wo genau wir sind, würde ich ihr eine Nachricht aufs Handy schicken.

Als es um die Telefone ging, hatte ich zum ersten Mal ein ungutes Gefühl. Ein richtig ungutes, nicht einfach so, wie wenn Sesame und ich Witze machten über die Lebenden Lichter und was da so ablief oder wenn wir uns vorstellten, was für eine tolle Geschichte das irgendwann abgäbe. Ohne mein Handy, ohne ausreichenden Empfang oder auch nur ohne die Möglichkeit, es zu laden, wäre ich allein, könnte ich mit niemandem Kontakt aufnehmen, weder mit Sesame noch mit sonst jemandem. Wieso hatten wir nicht daran gedacht? Warum hatten wir das Ganze nicht gründlich analysiert? Warum hatten wir die Sache nicht ernst genommen?

Korrektur: Warum hatte ich die Sache nicht ernst genommen?

Sesame hatte das nämlich sehr wohl, von Anfang an.

Das Hello-Kitty-Notizbuch, das mir Vong geschenkt hat, der Zweitklässler von der Greenway Elementary, dem sie Nachhilfe gibt, lag in meiner Reisetasche, zusammen mit dem Hello-Kitty-Bleistift, auch ein Geschenk von Vong. Beides hatte ich ganz unten versteckt, in einem der weißen Gewänder. Ob weise Voraussicht oder einfach Schwein gehabt, jedenfalls war das Notizbuch dabei. Vielleicht könnte ich Ses schreiben, eine kurze Nachricht auf einer Seite von diesem Notizbuch, von dort, wo wir hinführen, wo immer das war. Aber wie sollte die Nachricht zu ihr gelangen? Ich habe keine Briefmarke und auch keine Adresse von ihr. Die beiden James würden ihr meine Nachricht mit Sicherheit geben, aber auch von denen habe ich keine Adresse.

Hey, Ses, kannst du mich hören? Kannst du meine Gedanken lesen? Ich schicke sie dir aus dem Waschkeller vom Südkomplex, wo ich im Arrest sitze. Ja, du hast richtig gelesen. Einen Tag bin ich erst hier, und schon hab ich Arrest. Ich sitze ganz hinten in einer Ecke, um nicht von den weißen Gewändern nass getropft zu werden, und schreibe in das kleine Hello-Kitty-Notizbuch.

Gestern Abend trat Deeson aus unserer Tür, schaute nach rechts und nach links und winkte uns dann hinaus. Bevor mein Vater das Haus verließ, hat er noch den Thermostat runtergestellt, und schon ging der stumme Alarm in mir wieder los. Deeson nahm meiner Mutter die Schlüssel aus der Hand und schloss die Haustür ab. Meine Gedanken überschlugen sich vor lauter Schreck. Genauer gesagt, vor Angst. Angst vor dem, was kommen würde. Beim Anblick unserer Telefone, die dicht an dicht neben dem Toaster lagen, wie kleine, rechteckige Särge, bekam ich Panik. Wir gingen hinaus in die eisige Dezembernacht. Der weiße Kleinbus des Propheten stand an der Straße. Kein Mensch war zu sehen. Warum sollte auch jemand draußen herumlaufen? Nicht einmal Hunde zieht es an so einem Abend hinaus.

»Akoluth Deeson«, sagte ich, »Moment noch. Ich muss mal.«

Meine Eltern stiegen schon ein, ihre Reisetaschen über der Schulter. Eine Hand streckte sich meiner Mutter entgegen und nahm ihr die Tasche ab. Es war dunkel im Wagen, man konnte unmöglich mehr als Schatten erkennen, aber es war klar, dass bereits andere Mitglieder des Lebenden Lichts im Wagen saßen.

»Es ist nicht weit bis zum Südkomplex«, sagte er. »So lang hältst du’s aus.«

»Ich glaube nicht«, sagte ich und trat von einem Bein aufs andere, so wie kleine Kinder es machen. »Es ist dringend.«

Er schaute unwillig drein, gab mir aber den Schlüssel, zeigte mit dem Daumen auf unsere Haustür, und ich rannte los. Schnappte mir mein Telefon, schob es unter meine Unterwäsche und schrieb dann für alle Fälle noch eine Nachricht für Sesame auf unsere Tafel. So wie ich sie kenne, kommt sie her, sobald ihr klar wird, dass ich verschwunden bin.

Hello Kitty,

versuch bitte, mein GPS zu orten.

Vermutlich irgendwo in der Nähe.

Kuss

Dann rannte ich, ohne zu pinkeln, wieder raus. Dabei musste ich tatsächlich, aber jetzt war es zu spät. Deeson wartete auf mich an der Tür, mit diesem typischen Deeson-Blick. Er nahm beide Hände hoch, so als wollte er sich ergeben, was ich seltsam fand, doch dann fing er an, mich von oben bis unten abzutasten, so als sei er von der Flughafen-Security und ich hätte einen Alarm ausgelöst. Scheiße. Griff mir sogar zwischen die Beine, dieser Dreckskerl.

»Handy her!«, forderte er mit triumphierender Stimme.

»Das brauche ich«, antwortete ich. »Für … Hausaufgaben. Um Referate zu schreiben. Ich kann es mir nicht leisten, nicht mitzukommen, ich bin im Junior-Jahr.«

Als ob das für ihn irgendeine Bedeutung hätte, Junior-Jahr, dieses wichtige Jahr vor der Bewerbung fürs College.

»Handy raus, oder ich hol’s mir selber«, sagte Deeson.

Er zwang mich, es zurück ins Haus zu bringen, ließ mich nicht aus den Augen, während ich es neben die Geräte meiner Eltern auf den Tresen legte, und nahm mir den Schlüssel ab, als ich abgeschlossen hatte. Meine Eltern saßen auf einer Sitzbank im Kleinbus – es gab Bänke wie in einer Kirche, keine Einzelsitze –, und ich quetschte mich neben sie, ganz an den Rand. Sie sagten kein Wort, sahen mich nur missbilligend an. Auch von den anderen im Bus sagte kein Einziger etwas. Deeson setzte sich hinters Steuer, und sobald er losfuhr, senkte sich vor uns ein undurchsichtiger Vorhang von der Decke und schloss uns alle ein. Es war dunkel, Ses, dunkler als in der dunkelsten aller dunklen Nächte bei dir zu Hause.

Wir fuhren los.

Wir fuhren und fuhren und fuhren, Stunden müssen vergangen sein, denn irgendwann bin ich eingeschlafen, an die kalte Metallwand des Busses gelehnt. Ich bin eingeschlafen und mit einem Ruck hochgefahren, eingeschlafen und wieder hochgefahren. Ich musste so dringend. Deeson hatte gelogen, als er sagte, der Südkomplex sei ganz in der Nähe. Der Prophet hatte gelogen, als er behauptete, er habe ein verlassenes Gebäude im Süden von Minneapolis gekauft. Wir sind alles andere als in der Nähe von Süd-Minneapolis. Meine Nachricht auf der Tafel ist sinnlos.

Ich weiß nicht, wo wir sind.

Ich weiß nicht, wo wir sind, Sesame.

Bist du schon bei mir zu Hause gewesen? War dir gleich klar, dass es so weit war und ich verschwunden bin? Hast du dich an den künstlichen Stein erinnert? War er von Schnee bedeckt?

Ich kann dir meine Koordinaten nicht schicken, Sesame, weil ich nicht weiß, wo ich bin.

Ich habe Mist gebaut, Ses. Ganz großen Mist.

Und jetzt steck ich mittendrin in einem größeren Sumpf, als ich mir je hätte vorstellen können, und komme da nicht mehr raus. Jetzt sitz ich hier im Waschkeller im sogenannten Arrest. Mein Versuch, das Telefon hier reinzuschmuggeln, war ein Regelverstoß, und so etwas wird hier ganz großgeschrieben. Der Waschkeller ist meine Strafe. Ein Stück unterhalb der niedrigen Zimmerdecke ist ein Gitter in der Wand. Dahinter ist es völlig dunkel, kann sein, dass da ein Kriechraum ist, keine Ahnung. Aber es kann nicht weit sein bis nach draußen, denn letzte Nacht, als ich nicht schlafen konnte, hörte ich ganz schwach Geräusche aus der Außenwelt. Von Zeit zu Zeit Sirenengeheul, Polizei oder Rettungswagen, was weiß ich. Ab und zu bellte ein Hund. Daher weiß ich, dass es die Außenwelt noch gibt.

2Sesame

»Was ist los, Shaolin?«, sagt Sebastian, als ich in den Besprechungsraum der Bibliothek trete. »Warum diese SOS-Miene?«

Inky sieht ihn streng an.

»Hör auf«, sagt sie. »Es ist ernst, Sebastian.«

Ein Blick, und Inky weiß, was los ist. So ist das mit wahren Freunden. Da musst du nicht viel sagen. Sie sind geübt darin, die urzeitlichen Instinkte der Kategorisierung, die die Menschheit im Kampf ums Überleben immer feiner ausgeprägt hat, sinnvoll zu nutzen. Sie nutzen sie, um dich zu lesen – dein wahres Ich, dein eigentliches Ich –, und allein schon an der Art, wie du den Besprechungsraum der Walker Library betrittst, sehen sie, was Sache ist. An der Southwest High School ist der Unterricht für heute zu Ende, und beide haben Spätschicht. Meine Schule ist die New World Online Academy, eine Schule ohne Wände, deswegen treffen wir uns meist nachmittags.

»Ich weiß«, sagt Sebastian. »Aber wenn’s ernst wird, finden die Shaolin-Mönche die größte Kraft in sich.«

Er hob die Hände wie zum Gebet und legte beide Zeigefinger an die Stirn, als ahmte er eine Yogahaltung nach. Sebastian liebt die Shaolin-Mönche. Er schaut sich YouTube-Videos über sie an, informiert sich über ihre Lebensgewohnheiten, ihr Shaolin Kung-Fu, ihre Ernährung. Gerade so wie Micah sich alles über Fire Spinning, also das Jonglieren mit Feuer, beibringt. Weil die Mönche Vegetarier sind, ist Sebastian es auch. Als er ein kleiner Junge war, hat seine Mutter ihm ein winziges orangefarbenes Gewand gekauft, so eins, wie die Kindermönche tragen. Das hängt jetzt wie ein Kunstwerk an einer Wand in seinem Zimmer.

»Die Zeit ist gekommen, dass unsere persönliche Shaolin ihre ureigensten Ressourcen findet und in die richtigen Bahnen lenkt«, sagt er, und sofort schnellt Inkys Hand vor und verpasst ihm einen Knuff auf die Brust. »He, Inky, was soll das?«

»Halt einfach mal die Klappe«, fordert sie ihn auf.

»Schluss jetzt, ihr zwei«, sage ich. »Micah ist verschwunden. Wir waren gestern Abend verabredet, aber er ist nicht gekommen.«

»Und hat auch nicht geschrieben?«, fragt Sebastian, und ich schüttele den Kopf.

»Er steckt in Schwierigkeiten«, sage ich. »Ich spür’s.«

Jetzt richten die beiden sich hoch auf und sehen mich aufmerksam an. Inky und Sebastian kennen Micah nicht besonders gut, aber sie kennen meine Vorahnungen und haben schon erlebt, dass ich recht damit hatte. Zwei Jahre ist es her, da waren wir drei auch hier, in genau diesem Besprechungszimmer, als mein Handy plötzlich blinkte, weil ich einen Anruf hatte. Die beiden sahen, wie meine Miene erstarrte, noch bevor ich den Anruf annahm, und bekamen mit, wie mir jemand am anderen Ende der Leitung mitteilte, dass meine Großmutter zusammengebrochen und ins Krankenhaus gebracht worden sei. Beide legten die Arme um mich, und so, quasi als Drillinge, verließen wir damals den Besprechungsraum und die Bibliothek, traten auf die Straße und gingen hinüber zur Bushaltestelle. Im Bus rahmten sie mich ein, und jeder hielt mir eine Hand.

Auch bei der Trauerfeier standen sie rechts und links von mir, jedenfalls haben sie mir das später erzählt. Meine eigene Erinnerung an die Beerdigung liegt wie in einem Nebel.

»Okay«, sagt Inky jetzt. »Womit fangen wir an?«

»Wir geben eine Vermisstenanzeige auf«, sage ich.

»Muss jemand nicht mindestens vierundzwanzig Stunden vermisst sein, bevor man das kann?«, fragt sie.

»Von gestern Abend bis jetzt sind es schon bald vierundzwanzig Stunden.«

»Hast du’s bei seinen Eltern versucht?«, fragt Sebastian, und ich nicke.

»Ich hab versucht, sie auf ihren Handys anzurufen, aber bei beiden meldete sich nur der Anrufbeantworter.«

»Hast du in der Schule angerufen?«

»Ja, aber da geht keiner ran. Ich versuch’s morgen wieder.«

Nur krieg ich da vermutlich keine Auskunft, Datenschutz und so.

»Ich geh morgen selbst ins Sekretariat«, sagt Sebastian, der anscheinend meine Gedanken gelesen hat. »Vielleicht kann ich ja ein paar Infos ausgraben.«

Alle lieben Sebastian, vor allem Frauen, die alt genug sind, um seine Mutter zu sein, und das gilt für die meisten, die an der Southwest arbeiten. Natürlich geben die eher Auskunft, wenn er persönlich hingeht, als wenn eine anonyme Stimme sich am Telefon nach einem der Schüler erkundigt.

»Und du bist dir ganz sicher, dass irgendwas nicht stimmt?«, sagt Inky. »Du bist sicher, sie sind nicht einfach … frühzeitig in den Winterurlaub gefahren oder so?«

»Ganz sicher. Micah hätte mir das gesagt.«

Die Sache ist die: Micahs Eltern haben beide vor einem halben Jahr ihre Stellen gekündigt. Außerdem haben sie ihr Auto verkauft. Das war in der Anfangsphase des Lebenden Lichts und des Plans des Propheten. Während dieser Phase sollten alle Gemeindemitglieder ihr Geld einbringen im Interesse einer besseren »Gemeinschaft« (Anführungszeichen durchaus beabsichtigt). Gestern Abend wollte Micah zu mir kommen, sobald seine Eltern eingeschlafen wären, aber er kam nicht. Mit dem Telefon in der Hand bin ich eingeschlafen, weil ich auf eine Nachricht von ihm wartete. Als ich aufwachte und nichts da war, keine Nachricht, kein Anruf, kein Micah, da wusste ich, irgendetwas stimmte da nicht. Das konnte nur mit dem Propheten zu tun haben, schon seit Monaten hatte er angedroht, die Gemeinde werde sich in den Südkomplex zurückziehen. Phase Zwei des Projekts sei angebrochen und so weiter und so weiter. Die Polizei wollte ich eigentlich nicht einschalten – ich hasse es, Aufmerksamkeit auf mich zu lenken –, aber jetzt würde ich es tun. Für Micah würde ich es tun.

»Was glaubst du, wo er ist?«, sagt Sebastian, und wir beide schauen ihn stumm an. »Jetzt guckt nicht so finster. Ich meinte, hast du irgendeine Ahnung, wo sie sein könnten? Hat der Prophet je irgendwelche Andeutungen darüber fallen lassen, wo dieser Südkomplex sein soll?«

Ich versuche, meine Gedanken zusammenzuhalten. Atme tief ein und langsam wieder aus. Versuche die Panik in Zaum zu halten.

»Laut Micah soll es sich um ein leer stehendes Gebäude irgendwo im Süden von Minneapolis handeln«, sage ich. »Der Prophet hat es mit dem Geld gekauft, das die Leute ihm gegeben haben. Er will es für sein Projekt benutzen – für das Lebende Licht.«

»Und was genau soll das sein?«

»So eine Art Firma. Sie wollen einwöchige Einkehrzeiten anbieten, in denen man neues Denken einübt. So beschreibt er es jedenfalls.«

»Das klingt … sehr seltsam«, sagt Inky nach einer Pause. »Ich meine, neues Denken einüben? Ist das nicht so was wie … Gehirnwäsche?«

Ich nicke. Gehirnwäsche, das trifft es. Oder auch Gedankenkontrolle.

»Wer macht denn freiwillig bei so was mit?«, fragt Sebastian.

»Micahs Eltern, aber auch ein Haufen anderer Leute. Ich vermute mal, dass der Prophet plant, sie als unbezahlte Arbeitskräfte zu benutzen, während er selbst fleißig das Geld einstreicht. Dafür muss er sie nur erst alle unter Kontrolle kriegen. Nach dem Prinzip funktionieren viele Sekten.«

»Bist du neuerdings unsere hauseigene Sektenexpertin?« Sebastian klingt skeptisch. Aber er weiß auch nicht, wie viel ich schon recherchiert habe, seit der Prophet von alldem angefangen hat, von seinem Plan mit den Lebenden Lichtern und dem Südkomplex.

Inky schaut Sebastian vorwurfsvoll an.

»Wenn das stimmt, dann ist das ein verdammt abgefucktes Ding«, sagt sie. »Gleichzeitig aber auch verdammt raffiniert, wenn man mal länger drüber nachdenkt.«

»Raffiniert, wenn man ein Interesse an Gedankenkontrolle hat«, sage ich.

»Aber wieso sollte Micah da mitgehen?«

»Ich weiß es doch auch nicht«, sage ich und spüre wieder, wie Panik in mir aufsteigt. STOPP. ATMEN.

»Vielleicht hatte er keine Wahl«, sagt Inky.

Der Gedanke macht mir Angst. So langsam begreife ich. Micah ist verschwunden, er ist in den Händen des Propheten, ich habe keine Ahnung, wo der Südkomplex sein könnte, und sie müssen ihm das Handy weggenommen haben, denn er schreibt nicht und geht nicht ans Telefon und –

»Was auch immer passiert ist, wir sollten mal loslegen«, sagt Inky und holt mich damit wieder auf die Erde zurück. »Ses, du gibst die Vermisstenanzeige auf. Sebastian, du kümmerst dich morgen um die Schule.«

»Ich mach Flugblätter: VERMISST WIRD …«, sage ich, »und häng sie überall auf.«

»Die altmodische Methode«, sagt Inky und nickt. »Gefällt mir. Gibt’s noch etwas, was wir sofort tun können?«

»Was ist mit sozialen Medien?«

Ich mache nichts mit sozialen Medien und Micah auch nicht, aber Inky und Sebastian sind da ganz aktiv.

»Genau. Sollen wir uns auf die Gegend hier beschränken? Oder gleich landesweit suchen?«

»Das ist nämlich ein großer Unterschied«, erklärt Sebastian hilfreich.

»Du lieber Himmel, Sebastian.« Inky hebt schon eine Hand, als wollte sie ihm wieder einen Stoß verpassen, aber bevor einer von beiden sich bewegen kann, halte ich erst Inkys Hand fest und dann auch Sebastians.

»Bitte«, sage ich. »Bitte bitte bitte.«

Mehr muss man nicht sagen, wenn man Freunde hat, die einen so kennen wie die beiden mich, dann bedeutet bitte bitte bitte bitte so viel wie: Verplempert nicht die Zeit mit solchem Gezicke. Das hilft uns nicht dabei, Micah zu finden.

»Und deine Tante, hat die keine Idee?«, sagt Inky, und automatisch schüttele ich den Kopf. Nachdem meine Großmutter vor über zwei Jahren gestorben ist (da war ich fünfzehn), hab ich ihnen erzählt, dass ich bei einer Tante lebe, die extra nach Minneapolis gezogen sei, um sich um mich zu kümmern. Inzwischen rede ich schon so lange davon – meine Tante dies und meine Tante das –, dass es mir selbst so vorkommt, als gäbe es sie tatsächlich. Inky und Sebastian haben diese Tante nie kennengelernt, ich hab immer gesagt, sie sei schüchtern, direkt menschenscheu, und möchte nicht, dass ich Besuch mitbringe. In dieser Hinsicht sei sie ganz wie meine Großmutter.

Die beiden wissen nicht, dass es diese Tante in Wirklichkeit gar nicht gibt. Außer Micah weiß das niemand.

Seit ich endlich volljährig bin – letzten Monat bin ich achtzehn geworden –, müsste ich vermutlich nicht mehr so vorsichtig sein. Aber alte Gewohnheiten legt man nur schwer ab.

»Ich guck auch in sein Schließfach«, sagt Sebastian.

»Gut«, sage ich. »Ihr übernehmt die sozialen Medien und die Schule, ich kümmere mich um die Welt da draußen.« Dann kommt mir eine Idee. »Ich kann ja auch Flugblätter in meine Lyrikboxen legen. Da schauen viele Leute rein.«

Die Lyrikboxen – wie soll ich die erklären? Eine Art Briefkästen für Gedichte? Als meine Großmutter gestorben ist, konnte ich lange nicht aufhören zu weinen. Bestimmt wochenlang. Was mich damals am Leben hielt, zum Teil jedenfalls, das waren Gedichte, Gedichte von Ada Limon und Mary Oliver und Danez Smith und Yeats und Warsan Shire und Ocean Vuong und Hunderte andere. Gedichte, die von Furchtlosigkeit handeln, von Liebe und von Verlust. Ich hab sie mir laut vorgelesen, spätabends, wenn ich nicht einschlafen konnte. Dann habe ich angefangen, sie auswendig zu lernen, und irgendwann dachte ich, vielleicht gibt es da draußen noch andere, denen ständig nach Weinen zumute ist. Da ging das los mit den Lyrikboxen. Ich hab mich immer mehr reingekniet, und so wurde das Ganze zu einer Art Projekt. Micah und ich nennen es das Lyrikprojekt.

Bisher besteht es nur aus kleinen Holzkästchen, die ich selbst gebaut und im Süden von Minneapolis hier und da an Bäumen angebracht habe. Mit alten Scrabble-Buchstaben habe ich daran geschrieben:

Je mehr von diesen Kästen ich aufgehängt habe, umso weniger habe ich geweint. Inzwischen drucke ich meine Lieblingsgedichte in der Bibliothek aus, rolle sie auf und lege sie in die Kästen. Du würdest dich wundern, wie viele Leute Gedichte brauchen, zumindest wenn man danach geht, wie oft ich diese Kästen wieder auffüllen muss. Für mich ist das wie ein kleiner unbezahlter Teilzeitjob neben meinen anderen, bezahlten.

»Sollten wir vielleicht versuchen, irgendwelche Verwandten von Micah ausfindig zu machen, und sie kontaktieren?«, fragt Sebastian. »Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie weggezogen sind oder so?«

»Ihre einzigen Verwandten sind entfernte Cousins ihres Vaters, und die wohnen in Hongkong«, sage ich. »Micah hat sie nie kennengelernt. Seine Mutter war auch Einzelkind, und ihre Eltern sind noch vor Micahs Geburt gestorben. Da gibt’s niemanden.«

Beide ziehen erstaunt die Augenbrauen hoch, so als wäre ein Mensch ohne Verwandte schwer vorstellbar. Vielleicht weil sie selbst jede Menge davon haben. Tanten und Onkel und Großeltern, Cousins und Cousinen, und alle leben in der Nähe, sodass es bei beiden an Feiertagen stets ein volles Haus gibt, mit viel Lärm und viel Essen. Micahs Familie ist ganz anders, und meine auch. Der einzige Mensch, den ich hatte, war meine Großmutter, und sie war anderen Menschen gegenüber immer misstrauisch. Auf der Hut. Und mir hat sie beigebracht, genauso zu sein. Sei wachsam, hat sie immer gesagt. Wenn du willst, dass sich etwas ändert, dann kümmer dich selbst. Verlass dich nur auf dich selbst. Bitte niemanden um Hilfe.

»Ses«, sagt Sebastian, »bist du wirklich sicher, dass« –, aber ich falle ihm ins Wort, bevor er seinen Satz beenden kann.

»Hört zu«, sage ich. »Die sind nicht weggezogen. Die sind entführt worden. Die stecken in irgendeinem Gebäude hier in Minneapolis mit einer Menge anderer Anhänger unter der Führung eines Verrückten.«

Die beiden starren mich groß an. Vielleicht war da was mit meiner Stimme. So laut ausgesprochen klingt es sogar für mich selbst verrückt, aber das ist es ja auch. Warum habe ich die Sache nicht ernster genommen? Warum habe ich Micah nicht gezwungen, sie ernster zu nehmen? Aber es war alles so lächerlich – eine Sekte? Ich meine, im Ernst –, doch manchmal fangen Dinge lächerlich an und werden mit der Zeit gefährlich. Jemand wie meine Großmutter hätte das von Anfang an gesehen. Nimm dich in Acht, Mädchen, hätte sie gesagt. Sei vorsichtig.

»Aber Micah hat schon auch dabei mitgemacht, oder? Jedenfalls erinnere ich mich nicht, dass er sich größere Sorgen gemacht hätte«, sagt Sebastian nach kurzer Pause. »Ich meine, er hat immer gelacht, wenn er davon erzählt hat, wie langweilig dieser Prophet ist und dass er bei den Vorträgen immer fast einschläft.«

Es sollte wohl so klingen, als wäre das alles nicht so schlimm, eher wie eine langweilige Unterrichtsstunde.

»Doch, er hat sich Sorgen gemacht«, sage ich. »Es ist ja schon gruselig, wenn deine Eltern sich plötzlich einer Sekte anschließen, das wollte er ein bisschen runterspielen.«

»Aber warum sollte er dann mitgehen?«

»Vielleicht hatte er keine Wahl. Oder er wollte ein Auge auf sie haben. Sie beschützen.«

»Das ist so verdreht«, sagt Inky. »Ich meine, unsere Eltern sollten doch uns beschützen, nicht andersrum.«

»Ja. Aber so läuft es nicht immer. Hört zu, könnt ihr mir einen Gefallen tun? Ich meine, jetzt gleich?«, sage ich, und beide nicken.

»Was du willst«, sagt Inky, und Sebastian sagt: »Natürlich. Was?«

»Kommt mit mir zu ihm nach Hause.«

 

Das kleine Haus von Micahs Familie ist leuchtend grün gestrichen und liegt am nördlichen Ende der schmalen Gasse zwischen der Garfield und der Harriet Avenue. Micah ist aufgewachsen mit dem Geräusch von Autos auf dem Weg zu oder von ihren Garagen. Den ganzen Tag lang und oft auch nachts ging das so. Mein Haus steht auch in so einer schmalen Gasse, und das Knirschen von Reifen im Schnee oder ihr Summen auf Asphalt sind Geräusche, die Micah und ich beide lieben. Genau wie den Winter. Manchmal, wenn wir allein sind, trage ich ihm ein Gedicht vor, das ich sehr mag. Es ist von Mike White und heißt »Alley in Winter«. Es handelt von der Schönheit einer Feuerleiter, die nach einem Brand von Eis überzogen ist. Das kommt davon, wenn man in einer Stadt wie Minneapolis lebt. Man lernt, eine andere Art von Schönheit zu sehen, eine Schönheit, die sich erst herausbildet, wenn etwas ganz Gewöhnliches wie zum Beispiel Wasser zu etwas ganz Erstaunlichem wird.

»Müssen wir einbrechen?«, fragt Sebastian, als wir vor der Haustür stehen.

Der Gedanke gefällt ihm, das merkt man. Schon dreht er den Kopf hin und her auf der Suche nach einem Kellerfenster, das er aufhebeln könnte. Vielleicht sieht er sich aber auch um, ob irgendwo Polizei zu sehen ist. Teenager + Schulschluss + verschlossene Türen + verdächtiges Verhalten = Polizei, möglicherweise jedenfalls. Doch ich schüttele den Kopf. Ich weiß, wo die Stones einen Schlüssel versteckt haben. Richtig, die Familie heißt Stone mit Nachnamen, und ihren Sohn haben sie Micah genannt. Keine Ahnung, ob sie damals wussten, dass Micah eine Steinart ist. Aber meine Großmutter hat mich schließlich auch Sesame genannt. Sie hat mir erzählt, dass sie von klein auf immer »Sesam, öffne dich!« gesagt hat, wenn sie sich wünschte, dass etwas Gutes geschah. Und mich zu adoptieren, das sei das Beste überhaupt gewesen, was ihr in diesem Leben geschehen sei.

Ich schüttele also den Kopf und mache mich gleich links neben den Eingangsstufen daran, mit den Händen im Schnee zu graben.

»Echt jetzt?«, sagt Inky, als ich den Dekostein ausgebuddelt habe und gerade vom Schnee befreie. »Da käme ja wohl jeder sofort darauf, dass da ein Schlüssel versteckt ist.«

Doch, wirklich, die Stones bewahren ihren Ersatzschlüssel in einem Dekostein auf, dazu noch einem von der Sorte, die total gefaked aussieht. Im Grunde passt das genau zu Micahs Eltern: Wenn sie nicht sehen, wie künstlich ihr künstlicher Stein ist, dann können sie auch einen falschen Propheten nicht von einem echten unterscheiden. Das heißt – gibt es überhaupt echte Propheten? Oder sind das alles bloß Leute, die sich selbst für klüger als andere halten?

Sebastian sieht enttäuscht aus. Vielleicht ist er gefrustet, weil wir nicht einbrechen müssen. Oder er denkt gerade dasselbe über den künstlichen Stein wie ich. Ich stecke den tiefgefrorenen Schlüssel ins Schloss und drehe ihn um, dann stoße ich die Tür weit auf. Still ist es im Haus, kalt und leer. Man spürt immer sofort, wenn ein Haus nicht bewohnt ist. Frag mich jetzt nicht, woher ich das weiß – das erzähl ich dir ein anderes Mal. Aber es ist so. Ich werfe einen Blick auf den Thermostat neben der Tür. Er steht auf zwölf Grad. Das macht man doch nur, wenn man weiß, dass man längere Zeit nicht nach Hause kommt. Das Wohnzimmer ist makellos sauber und aufgeräumt, so als würden Gäste erwartet.

In der Küche öffne ich den Kühlschrank. Alles darin trägt eindeutig Micahs Handschrift: durchsichtige Glasbehälter, beschriftet und mit Datum versehen: Spinatlasagne, Schälrippchen, Pound Cake, Hühnersuppe mit Nudeln, Kimchi und gegrillte Rote Bete. Es gibt kein Gericht, dass Micah nicht zubereiten könnte. Er kocht für Menschen, die er liebt. Für seine Eltern. Für mich.

Der Anblick von Micahs Essen in einem Haus ohne Micah setzt etwas in mir in Bewegung. Zum einen etwas Neues – die Sorge um ihn –, aber auch etwas Altes – den Kummer über den Tod meiner Großmutter, die mir so fehlt. Sie hat auch immer für mich gekocht. Ich schließe den Kühlschrank und will gerade nach oben gehen, als mein Blick auf die Telefone fällt.

Drei kleine Telefone, Seite an Seite neben dem Toaster.

Das von seinem Dad in einer roten Hülle. Das von seiner Mom in einer blauen.

Micahs liegt in der silbernen, die ich ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt habe.

Sie sind also wirklich weg.

»Was?«, fragt Sebastian, als ich völlig entgeistert auf die Handys starre. »Was ist los?«

Dann sehen auch Inky und er die Telefone.

»Mist«, sagt Inky.

Mein Herz klopft wie wild, aber ich zwinge mich, nach oben zu gehen, und die beiden kommen hinter mir her. Im Bad hängen Handtücher zum Trocknen über der Duschstange, aber in den SpongeBob-Haltern fehlen die Bürsten. Am Beckenrand fehlt die Zahnpasta.

Ich denke kurz nach.

Der Ruf muss sie sehr plötzlich erreicht haben. Zu wenig Zeit, um Essensreste einzufrieren, aber genug, um die Zahnbürsten in eine Tasche zu stopfen. Genug Zeit, um die Handys auf den Küchentresen zu legen. Wir gehen wieder hinunter. Beim Anblick der drei Telefone, die ordentlich aufgereiht neben dem Toaster liegen, krampft sich mir der Magen zusammen. Ich greife nach Micahs Handy. Es ist kalt, wie alles in diesem Haus, und ich berge es in meinen Händen. Es ist noch nicht tot. Ich öffne es mit seinem Passwort, das ich auswendig weiß, und klicke mich durch bis zu den Mitteilungen.

Die letzte stammt von mir: ok. Bis gleich b

Ich klicke mich weiter durch bis zur Anrufliste. Nichts.

E-Mails: Nur eine ungelesene, außerdem eine Massenmail von der Southwest High School mit Infos zu den bevorstehenden Winterferien.

»Glaubst du, der Typ, also dieser Prophet, hat sie gezwungen, ihre Handys hierzulassen?«, will Sebastian wissen.

»Natürlich, du Schlauberger«, sagt Inky. »Kein Mensch lässt sein Telefon einfach so liegen.«

Dann höre ich die Stimmen der beiden nur noch wie von ferne. Micah sitzt in der Falle, und er hat kein Telefon. Mein Herz rast noch immer. Der Gedanke macht mich wahnsinnig: Irgendwo da draußen ist Micah – und ich habe keine Ahnung, wo, und keine Möglichkeit, ihn zu erreichen. Panik. Atmen, rede ich mir gut zu, doch es hilft nichts. Dann fällt mein Blick auf die weiße Notiztafel hinten bei der Tür zum Garten. Auf dieser Tafel hinterlassen die Stones einander kurze Mitteilungen. Jetzt steht da nur eine Nachricht, mit schwarzem Marker in Micahs krakeliger Handschrift geschrieben.

Hello Kitty,

versuch bitte, mein GPS zu orten.

Vermutlich irgendwo in der Nähe.

Kuss

»Das ist von Micah«, sage ich und zeige auf die Tafel. Meine Stimme klingt ganz dünn. Gar nicht nach mir. Wann hat er das geschrieben? Haben sie ihm dabei zugesehen? »Eine Nachricht für mich.«

»Micah nennt dich Kitty?«, sagt Inky. »Seltsam.«

»Nein, das soll heißen, dass er sein Hello-Kitty-Notizbuch bei sich hat. Vong hat es ihm geschenkt. Und mit dem GPS meint er sicher, dass ich nach ihm suchen soll. Er hat gewusst, dass ich irgendwann herkommen und seine Nachricht finden würde.«

»Ganz schön kalt hier drin«, sagt Sebastian. »Fühlt sich wie verlassen an, das Haus.«

»Ist es ja auch, du Schlauberger«, sagt Inky. Geduld ist nicht gerade ihre Stärke. »Sollten wir nicht die Nachbarn fragen, ob sie irgendetwas bemerkt haben?«

Aber ich kenne die Nachbarn nicht und überhaupt – so ein kleines Haus am Ende einer engen Gasse hat nicht dieselbe Art von Nachbarn wie eines, das mitten in einer kleinen Siedlung steht. Außerdem rede ich nicht gern mit Leuten, die ich nicht gut kenne. Das ist eine Lektion, die mir von meiner Großmutter geblieben ist.

Also schüttele ich den Kopf. Sebastian und Inky gehen zum Hinterausgang raus, um bei den Müll- und Wertstofftonnen zu checken, ob da irgendetwas Auffälliges ist. Ich schließe vorne ab und vergrabe den künstlichen Stein wieder.

Ich streiche den Schnee glatt, damit man nicht sieht, dass ich an dem Stein war. In dem Moment bekomme ich eine Nachricht aufs Handy. Sie ist von James Eins.

Sesame G, ich bin’s, James Eins

Wie förmlich! Dabei weiß ich doch sowieso, von wem die Nachricht ist, das wird mir schließlich angezeigt, aber James Eins beginnt seine Nachrichten immer so. Als würde er mir auf den AB sprechen.

Unser Büro hat heute früher Feierabend gemacht, deshalb bin ich schon zu Hause und kann selbst mit den Hunden rausgehen. Du hast also heute frei.

Große Erleichterung: So kann ich die Vermisstenanzeige sofort aufgeben. Andererseits sind freie Tage auch Tage ohne Einkommen. Aber James Eins schreibt immer noch weiter.

Natürlich bekommst du deinen normalen Lohn für die ganze Woche. Bis morgen.