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Eine Frauenfreundschaft, die zur Obsession wird.
Tanger 1956: Alice Shipley ist ihrem Mann John nach Marokko gefolgt. Doch während John sich ins Nachtleben stürzt, verkriecht sich Alice in der gemeinsamen Wohnung. Da steht eines Tages Lucy Mason vor ihrer Tür, Alice' Zimmergenossin aus Collegezeiten, die sie seit einem mysteriösen Unfall ein Jahr zuvor nicht mehr gesehen hat.
Bald beschleicht Alice das ihr nur allzu vertraute Gefühl, von Lucys Fürsorge kontrolliert und erstickt zu werden. Als John plötzlich verschwindet, wird Alice von dem Unfall eingeholt und sie fängt an, an Lucys Vertrauenswürdigkeit und ihrem eigenen Verstand zu zweifeln.
Ein spannender Roman über eine komplexe Freundschaft, in der die Grenzen zwischen Gut und Böse, Normalität und Wahnsinn fließend sind.
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Seitenzahl: 466
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das Buch
Tanger 1956: Alice Shipley ist ihrem Mann John von England in das von politischen Unruhen aufgeheizte Marokko gefolgt. Doch die Hitze und die fremde Kultur machen es Alice schwer; während John sich immer mehr ins Nachtleben der pulsierenden Stadt stürzt und kaum mehr zu Hause ist, verkriecht sich Alice in der gemeinsamen Wohnung, gleitet in eine Depression. Da steht eines Tages Lucy Mason vor ihrer Tür, Alice’ Zimmergenossin und Freundin aus Collegezeiten in Vermont, die sie seit einem mysteriösen Unfall ein Jahr zuvor nicht mehr gesehen hat.
Die unabhängige und furchtlose Lucy entdeckt Tanger schnell für sich und versucht, Alice aus ihrer Isolation zu befreien. Doch Alice beschleicht bald das ihr nur allzu vertraute Gefühl, von Lucys Fürsorge kontrolliert und erstickt zu werden. Als John plötzlich verschwindet, wird Alice von dem Unfall in Vermont eingeholt, und sie fängt an, an Lucys Vertrauenswürdigkeit und ihrem eigenen Verstand zu zweifeln …
Ein vielschichtiger, spannender, psychologisch tiefgründiger Roman, erzählt aus zwei Ich-Perspektiven, die den Leser bestricken und verstricken in eine komplexe Freundschaft, in der die Grenzen zwischen Gut und Böse, Normalität und Wahnsinn fließend sind.
Die Autorin
Christine Mangan, geboren 1982, hat Creative Writing studiert und am University College Dublin zur Gothic Literature promoviert. Nacht über Tanger ist ihr erster Roman, der sich in 19 Länder verkauft hat. Die Filmrechte gingen an die Produktionsfirma von George Clooney. Christine Mangan lebt in Brooklyn, New York, und schreibt an ihrem zweiten Roman.
Christine Mangan
NACHT ÜBER
TANGER
AUS DEM AMERIKANISCHEN
VON IRENE EISENHUT
BLESSING
Originaltitel: Tangerine
Originalverlag: Ecco, An Imprint of HarperCollins Publishers, New York
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Copyright © 2018 by Christine Mangan
Copyright © 2018 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring Grafikdesign GbR
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN: 978-3-641-21779-2V001
www.blessing-verlag.de
PROLOG
SPANIEN
Drei Männer sind nötig, um die Leiche aus dem Wasser zu ziehen.
Es ist ein Mann – so viel können sie erkennen, viel mehr aber nicht. Die Vögel waren bereits da, vielleicht hat der glänzende silberne Streifen auf seiner Krawatte sie angelockt. Die Männer heben ihn hoch, erstaunt von seinem Gewicht. Wiegen Tote mehr?, fragt einer laut. Gemeinsam warten sie auf die Polizei und versuchen, möglichst nicht nach unten zu sehen in die leeren Augenhöhlen des Toten. Die drei Männer kennen sich nicht, doch jetzt verbindet sie etwas miteinander, das tiefer ist als ein verwandtschaftliches Verhältnis.
Natürlich stimmt an dieser Geschichte nur der Anfang – den Rest habe ich erfunden. Dafür habe ich jetzt Zeit, während ich hier sitze und durch das Zimmer zum Fenster hinausstarre. Die Landschaft verändert sich, aber sonst nichts. Manche würden es beobachten nennen, doch da würde ich widersprechen: Das eine hat mit dem anderen genauso wenig zu tun wie tagträumen mit denken.
Es ist warm, der Sommer steht vor der Tür. Die Sonne verblasst allmählich, der Himmel ist eigenartig gelb geworden, am Horizont kündigt sich ein Gewitter an. Wenn es so schwül und heiß ist, bedrohlich, und ich einatme und die Augen schließe, habe ich wieder den Duft von Tanger in der Nase. Es ist der Duft, den ein Ofen verströmt, der Duft nach etwas Warmem, aber nicht Verbranntem. Fast so wie der Duft von Marshmallows, nur nicht so süß. Ein Hauch von Gewürzen liegt darin, irgendwie vertraut, Zimt, Nelke, sogar Kardamom, und doch ganz fremd. Ein tröstlicher Duft, wie eine Kindheitserinnerung, die uns umhüllt, wärmt und ein Happy-End verspricht, so wie im Märchen. Doch so ist es natürlich nicht. Denn unter diesem Duft, unter diesem Trost, schwirren Fliegen, krabbeln Kakerlaken, lauern böse hungrige Katzen auf jede einzelne unserer Bewegungen.
Meist erscheint mir die Erinnerung an die Stadt wie ein Fiebertraum, wie ein funkelndes Trugbild, und es gelingt mir kaum, mich davon zu überzeugen, dass sie einmal existiert hat. Dass ich einmal dort gewesen bin und dass die Menschen und die Orte, an die ich mich erinnere, real waren und keine durchsichtigen Geister, die meiner Fantasie entsprungen sind. Die Zeit vergeht schnell, habe ich festgestellt. Zuerst verwandelt sie Menschen und Orte in Geschichte und dann in Geschichten. Es fällt mir schwer, den Unterschied zu erkennen, denn mein Verstand spielt mir mittlerweile oft Streiche. Schlimmstenfalls – bestenfalls – vergesse ich sie. Vergesse ich, was passiert ist. Das ist seltsam, denn sie ist stets da und lauert hinter der Fassade, droht hervorzubrechen. Dann wiederum kann ich mich nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern, weshalb ich begonnen habe, ihn auf jedes noch so kleine Stück Papier zu schreiben, das ich finden kann. Nachts, wenn die Krankenschwestern nicht da sind, murmle ich ihn vor mich hin, wie ein Gebet, das ich als Kind gelernt habe. Als würde die ständige Wiederholung meine Erinnerung stärken und mich vor dem Vergessen bewahren – denn ich darf nie vergessen, ermahne ich mich selbst.
Es klopft an der Tür, und eine junge, rothaarige Frau betritt den Raum. Sie hält ein Tablett mit Essen in der Hand. Ihre Unterarme sind voller Sommersprossen, winzige braune Flecken, die ihre Haut fast völlig bedecken.
Ich frage mich, ob sie je versucht hat, sie zu zählen.
Mein Blick wandert zum Nachttisch, und ich entdecke ein Stück Papier, auf dem ein Name gekritzelt steht. Der Name beschäftigt mich, denn obwohl es nicht mein eigener ist, habe ich das Gefühl, er sei wichtig. Als hätte er mit einer Sache zu tun, an die ich mich erinnern sollte. Ich erlaube meinem Verstand, sich zu entspannen. Das ist praktisch, habe ich herausgefunden: Während ich mich bemühe, nicht nachzudenken, denke ich insgeheim jedoch so intensiv wie möglich nach.
Doch es passiert nichts.
»Bereit zum Frühstück?«
Ich blicke auf, verwirrt davon, dass eine fremde junge Frau mit dunkelrotem Haar direkt vor mir steht. Sie sieht nicht aus, als wäre sie älter als dreißig. Damit dürfte der Altersunterschied zwischen uns nur gering sein. Rothaarige Menschen bringen Unglück, geht es mir durch den Kopf. Heißt es nicht, dass man Rothaarigen aus dem Weg gehen soll, wenn man eine Schiffsreise unternehmen will? Wahrscheinlich bin ich schon bald auf dem Meer – auf dem Weg nach Tanger. Ich bin nervös, dieses rothaarige, schlechte Omen soll mein Zimmer verlassen. »Was wollen Sie überhaupt hier?«, frage ich, verärgert darüber, dass sie es nicht einmal für nötig gehalten hat anzuklopfen.
Sie geht auf meine Frage nicht ein. »Haben Sie heute keinen Hunger?« In ihrer Hand hält sie einen Löffel mit einer grauen Substanz, deren Name mir partout nicht einfallen will. Jetzt bin ich wütend und schiebe den Löffel weg. Stattdessen zeige ich auf den kleinen Papierschnipsel neben meinem Bett. »Werfen Sie das in den Papierkorb!«, sage ich zu ihr. »Ständig hinterlässt mir jemand Zettel, auf denen nichts als Unsinn steht.«
Ich lehne mich zurück und ziehe die Bettdecke bis zum Kinn hoch.
Es ist Sommer, glaube ich, doch in meinem Zimmer kommt es mir plötzlich so kalt vor wie im Winter.
I
TANGER 1956
1
ALICE
Dienstag war Markttag.
Nicht nur für mich, sondern für die gesamte Stadt. Zuerst kamen die Frauen aus dem Rif-Gebirge. Ihre Körbe und Karren waren prall gefüllt mit Obst und Gemüse, neben ihnen her trotteten Esel. Tanger erwachte binnen weniger Minuten zum Leben: Menschenmassen strömten herbei, in den Straßen drängten sich Männer und Frauen, sowohl Fremde als auch Einheimische, zeigten auf die gewünschten Waren, diskutierten und feilschten. Münzen wechselten den Besitzer für dieses und jenes. Die Sonne schien an jenen Tagen heller zu leuchten, heißer zu sein, und sie brannte sengend auf meinen Nacken.
Als ich am Fenster stand und auf die immer größer werdende Menge hinabblickte, wünschte ich, es wäre noch Montag. Doch war mir klar, dass der Montag immer nur eine trügerische Hoffnung war, ein trügerischer Trost. Denn der Dienstag, an dem ich in diesem Chaos bestehen müsste, würde unweigerlich kommen. Den beeindruckenden, herausgeputzten Frauen aus dem Rif-Gebirge gegenüber, die in ihren farbenprächtigen Kleidern um Aufmerksamkeit buhlten und mein tristes, gewöhnliches Kleid musterten, das mit ihrer farbenfrohen Tracht nicht mithalten konnte. Unbehagen würde in mir aufsteigen – Unbehagen darüber, dass ich viel zu viel für die Waren bezahlen würde, ohne es zu merken. Unbehagen darüber, dass ich die falsche Münze geben und etwas Falsches sagen würde. Unbehagen darüber, dass ich einen Narren aus mir machen würde und alle lachen würden und so offen zutage treten würde, wie töricht es von mir war hierherzukommen.
Marokko. Der Name des Landes beschwor in mir Bilder eines riesigen, öden Nichts und einer stechenden roten Sonne herauf. Als John ihn zum ersten Mal erwähnte, verschluckte ich mich an dem Drink, den er mir in die Hand gedrückt hatte, und musste husten. Wir hatten uns im Ritz in der Piccadilly Street getroffen, aber auch das nur auf Drängen von Tante Maude – einem Drängen, das mir in den Wochen nach meiner Rückkehr aus Bennington Kopfschmerzen verursachte, die ich nie ganz loswurde. Ich war erst vor wenigen Monaten nach England zurückgekehrt, und John kannte ich noch nicht einmal so lang. Doch in jenem Augenblick war ich mir sicher, sie zu spüren – seine Begeisterung und seine Tatkraft erfüllten den Raum und durchdrangen die warme Sommerluft. Begierig, danach zu greifen, es zu fassen zu bekommen und etwas davon in mich aufzunehmen, beugte ich mich zu ihm und ließ die Vorstellung Gestalt annehmen. Afrika. Marokko. Ein paar Wochen zuvor hätte ich mich noch gescheut, eine Woche später vielleicht nur darüber gelacht – doch an jenem Tag, in jenem Moment, als ich seinen Worten lauschte, seinen Versprechungen, seinen Träumen, kamen sie mir so real vor, so erreichbar. Zum ersten Mal seit Vermont, so wurde mir bewusst, wollte ich etwas – ich wusste nicht genau, was, und selbst in jenem Moment hatte ich den Verdacht, dass es womöglich noch nicht einmal der Mann war, der da vor mir saß, trotzdem aber wollte ich etwas. Ich nahm einen Schluck von dem Cocktail, den John mir bestellt hatte. Der Champagner war bereits warm und schal, und ich spürte die Säure auf meiner Zunge und im Magen. Ehe ich es mir noch einmal anders überlegen konnte, beugte ich mich zu ihm und umklammerte seine Hand.
Auch wenn John McAllister nicht der Mann war, den ich mir einmal erträumt hatte – er war laut, gesellig, dreist und häufig unbesonnen –, hatte ich begonnen, an der Möglichkeit Gefallen zu finden, die er mir aufgezeigt hatte: an der Möglichkeit, zu vergessen und die Vergangenheit hinter mir zu lassen.
An der Möglichkeit, nicht jede einzelne Sekunde des Tages an das zu denken, was in den kalten, winterlichen Green Mountains von Vermont geschehen war.
Inzwischen war mehr als ein Jahr vergangen, und noch immer war das Labyrinth von einem Nebelschleier überzogen, der es mir unmöglich zu machen schien, meinen Weg zu finden, egal, wie lange ich herumirrte. Es ist besser so, hatte meine Tante gesagt, nachdem ich ihr von den glänzenden Schwaden erzählt hatte, die sich über meine Erinnerungen gelegt hatten, und davon, dass ich mich nicht mehr an die Einzelheiten jener schrecklichen Nacht und der Tage danach erinnern könnte. Lass die Vergangenheit ruhen, hatte sie gedrängt. Als wären meine Erinnerungen Gegenstände, die man sicher in Kisten packen konnte, die ihre Geheimnisse nie preisgeben würden.
Und irgendwie hatte ich das auch getan, ich hatte den Blick von der Vergangenheit abgewandt – und ihn stattdessen auf John, Tanger und die sengende Sonne Marokkos gerichtet. Offen für das Abenteuer, das er versprochen hatte – verbunden mit einem Heiratsantrag und einem angemessenen Ring, jedoch ohne richtige Feier, nur ein unterschriebenes Stück Papier.
»Aber wir können doch nicht heiraten«, hatte ich zuerst protestiert. »Wir kennen uns doch kaum.«
»Natürlich können wir heiraten«, hatte er mir versichert. »Unsere Familien sind praktisch miteinander verwandt. Wenn überhaupt, dann kennen wir uns vielleicht zu gut«, hatte er lachend hinzugefügt und mich dabei schelmisch angegrinst. Meinen Namen würde ich nicht ändern – diesbezüglich war ich unerbittlich. Irgendwie schien es mir wichtig, einen Teil meines Selbst, meiner Familie, zu bewahren, nach allem, was geschehen war. Aber es ging mir auch noch um etwas anderes, etwas, das ich weniger gut erklären konnte, nicht einmal mir selbst. Obwohl die Vormundschaft meiner Tante durch meine Heirat praktisch erlöschen würde, würde sie weiterhin treuhänderisch über mein Vermögen verfügen, bis ich einundzwanzig war; dann würde der Nachlass meiner Eltern auf mich übergehen. Die Vorstellung, doppelt abgedeckt zu sein, schüchterte mich viel zu sehr ein, und deswegen stand in meinem Pass immer noch »Alice Shipley«.
Anfangs sagte ich mir, Tanger würde gar nicht so schrecklich werden. Ich malte mir aus, wie ich meine Tage damit verbringen würde, unter der heißen, marokkanischen Sonne Tennis zu spielen, umgeben von einer kleinen Heerschar von Angestellten, die uns von vorne bis hinten bediente, als Mitglieder der diversen Privatklubs der Stadt. Ich wusste, dass das Leben schlimmer sein könnte. Doch dann wollte John das wahre Marokko und das wahre Tanger erleben. Während seine Kollegen billige, marokkanische Haushaltshilfen einstellten und ihre Frauen die Tage damit verbrachten, sich am Pool zu vergnügen oder Partys zu planen, verzichtete er auf all das. Stattdessen vergnügten er und sein Freund sich in der Stadt, verbrachten Stunden im Hamam oder auf den Märkten und rauchten Kif in den Hinterzimmern der Cafés, stets bemüht, sich eher bei den Einheimischen beliebt zu machen als bei ihren Arbeitskollegen und Landsleuten. Charlie hatte John überhaupt erst dazu überredet, nach Tanger zu kommen. Er hatte ihn so lange mit Geschichten über das Land bestürmt – über seine Schönheit und Gesetzlosigkeit –, bis John sich mehr oder weniger in einen Ort verliebt hatte, den er gar nicht kannte. Anfangs gab ich mir alle Mühe, ihn zu den Möbelflohmärkten zu begleiten und in den Suks für das Abendessen einzukaufen. Ich saß im Café neben ihm, nippte an meinem Café au lait und versuchte, meine Zukunft in dieser heißen, staubigen Stadt neu zu schreiben, in die er sich auf den ersten Blick verliebt hatte, die sich mir jedoch weiterhin entzog.
Doch dann geschah dieser Vorfall auf dem Flohmarkt.
In einem wilden Durcheinander aus Verkäufern, Ständen und wahllos nebeneinandergestapelten Antiquitäten und Trödel drehte ich mich um und stellte fest, dass John weg war. Fremde schoben sich an mir vorbei, stießen mich herum, und meine Hände begannen feucht zu werden von der mir bereits so vertrauten Panik. Schatten tauchten vor mir auf, am Rand meines Sichtfelds – jene seltsamen flüchtigen Erscheinungen, die die Ärzte in raunendem Ton nur als Wahnvorstellungen diagnostiziert hatten. Doch sie kamen mir real vor, gegenständlich, greifbar, schienen zu wachsen, bis ich nichts mehr sehen konnte als ihre dunklen Gestalten. In dem Moment wurde mir schlagartig bewusst, wie weit ich von zu Hause und dem Leben entfernt war, das ich mir einmal vorgestellt hatte.
John lachte später darüber und bestand darauf, dass er nur einen Moment lang weg gewesen wäre. Doch als er mich das nächste Mal fragte, ob ich ihn begleiten würde, schüttelte ich den Kopf. Und danach fand ich eine andere Ausrede. Ich verbrachte stattdessen Stunden damit – lange, einsame, ermüdende Stunden –, Tanger von unserer Wohnung aus zu erkunden, dem Ort, an dem ich mich sicher fühlte. Nach der ersten Woche wusste ich, wie viele Schritte ich vom einen Ende bis zum anderen Ende brauchte – fünfundvierzig, manchmal mehr, je nachdem, wie groß die Schritte waren.
Schließlich begann ich, Johns Bedauern zu spüren. Es ragte über uns auf und wuchs beständig. Unsere Gespräche beschränkten sich auf praktische Dinge, auf finanzielle Angelegenheiten, auf den Unterhalt, den ich bezog und der unsere Haupteinnahmequelle war. John konnte nicht gut mit Geld umgehen, das hatte er mir mit einem Grinsen im Gesicht verraten. Ich hatte gelächelt und gedacht, das bedeute, dass er sich nichts aus Geld machte. Doch wie ich bald herausfand, bedeutete es vielmehr, dass das Vermögen seiner Familie fast aufgebraucht war und der Rest gerade noch dazu reichte, ihn gut genug zu kleiden, um den Wohlstand vorzutäuschen, den er einmal besessen hatte. Den Wohlstand, in den er hineingeboren worden war und von dem er noch immer glaubte, dass er ihm rechtmäßig zustand. Eine Illusion, wie ich bald begriff. Und so übergab ich ihm jede Woche mein Geld, ohne mir ernsthaft Gedanken darüber zu machen oder echtes Interesse daran zu zeigen, wohin es letztlich verschwand.
Und so wie mein Geld verschwand auch John weiterhin in diese rätselhafte Stadt, die er mit einer Leidenschaft liebte, die ich nicht verstand, und deren Geheimnisse er allein erforschte, während ich drinnen blieb – als Geiselnehmerin und Geisel in einer Person.
Jetzt blickte ich zur Uhr und runzelte die Stirn. Als ich das das letzte Mal getan hatte, war es erst halb neun gewesen. Der Zeiger bewegte sich mittlerweile auf Mittag zu. Ich fluchte und trat zum Bett, auf dem ich mir morgens meine Kleider zurechtgelegt hatte, bevor ich das Zeitgefühl verloren hatte. Denn ich hatte John versprochen, dass ich heute zum Markt gehen würde; ich hatte mir selbst versprochen, dass ich es heute versuchen würde. Und so betrachtete ich die Kleidung, die dort lag – Strümpfe, Schuhe und ein Kleid, das ich in England gekauft hatte, kurz bevor ich nach Tanger gezogen war – und den Anschein einer ganz normalen Frau erweckte, die gleich den Wocheneinkauf erledigen würde.
Als ich das Kleid über den Kopf zog, bemerkte ich einen kleinen Riss auf der Vorderseite, am Rand des Spitzenkragens. Ich runzelte die Stirn und zog den Kragen näher an mein Gesicht, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Dabei unterdrückte ich ein Zittern und sagte mir, dass das weder ein Zeichen noch ein schlechtes Omen war, sondern rein gar nichts bedeutete.
Das Zimmer kam mir mittlerweile stickig vor, und um seiner Enge zu entkommen, trat ich auf den Balkon. Ich schloss die Augen und wartete sehnsüchtig auf einen Lufthauch. Doch außer der trockenen, drückenden Hitze Tangers spürte ich nichts.
Eine Minute verstrich und dann noch eine, und in der Stille lauschte ich dem Geräusch meines Atems, und mich beschlich das eigenartige Gefühl, dass ich beobachtet wurde. Ich öffnete die Augen und warf hastig einen Blick zur Straße, auf der aber niemand zu sehen war. Nur ein paar Einheimische gingen mit eiligen Schritten zum Markt, der schon bald schließen würde. »Reiß dich zusammen!«, flüsterte ich und trat zurück in die geschützte Wohnung. Trotzdem schloss ich die Balkontür fest zu, mit pochendem Herzen. Ich warf einen Blick zur Uhr und stellte fest, dass es mittlerweile halb zwei war. Der Markt konnte warten, sagte ich mir.
Ich wusste, dass er warten musste, und zog mit zitternden Händen die Vorhänge zu, sodass nicht der Hauch eines Sonnenstrahls hindurchgelangen konnte.
2
LUCY
Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, als ich mich gegen die Reling lehnte. Ich spürte, wie das Schaukeln unter mir stärker wurde und sich mir der Magen umdrehte, als die Fähre schwerfällig, ruckartig und zentimeterweise auf ihr Ziel zusteuerte: Marokko. Ich griff hastig nach meinem Koffer. Die vergangenen Monate waren von Träumen prachtvoller, beeindruckender maurischer Architektur, verschachtelter, lebendiger Suks, bunter Mosaiken und hell gestrichener Gassen geprägt gewesen. Als ich mich in die Schlange stellte, die sich bereits gebildet hatte, reckte ich ungeduldig den Hals, um einen ersten richtigen Blick auf Afrika zu werfen. Doch man konnte es bereits riechen – das Versprechen auf etwas Unbekanntes, das Versprechen auf etwas, das unendlich viel tiefer und reichhaltiger war als alles, was ich in den kalten Straßen New Yorks erlebt hatte.
Auch Alice war hier, irgendwo in dieser pulsierenden Stadt.
Als ich auf die Anlegebrücke trat, suchte ich die Menge nach ihrem Gesicht ab. Ich hatte es geschafft, mir während der Überfahrt, die nur wenige Stunden dauerte, einzureden, dass sie vielleicht da war, um mich in Empfang zu nehmen, trotz allem, was passiert war. Doch da war niemand. Ich sah kein einziges vertrautes Gesicht. Nur Dutzende von Einheimischen – junge Burschen und alte Männer –, die versuchten, mich und all die anderen Touristen, die das Schiff verließen, mit ihren Diensten zu locken. »Ich bin kein Fremdenführer – nur ein Einheimischer, den jeder kennt. Ich werde Sie zu Orten führen, von denen andere Fremdenführer noch nie etwas gehört haben.« Wenn das nicht funktionierte, wurden Waren gezeigt. »Braucht Madame vielleicht eine Handtasche?«, fragten sie mich. Und den Herrn hinter mir: »Braucht Monsieur vielleicht einen Gürtel?« Mäntel wurden geöffnet und andere Gegenstände hervorgezogen, um sie der Schar unbedarfter Neuankömmlinge zu präsentieren. Schmuck, kleine Holzschnitzereien und seltsame, fremdartig aussehende Musikinstrumente. Ich machte eine wegwerfende, unwirsche Handbewegung, so wie alle anderen, die gerade vom Boot gestiegen waren.
Es gab mehrere Reiseführer, doch ich hatte mir sämtliche Bücher zu Tanger besorgt, die ich hatte finden können, und jede Zeile über die Stadt verschlungen, die ich schon bald mein Zuhause nennen würde, wenn auch nur vorübergehend. Ich hatte Wharton und Twain gelesen und einmal, aus Verzweiflung, ein paar Seiten von Hans Christian Andersen. Er hatte sich, ziemlich überraschend, als die hilfreichste Quelle entpuppt, um mich auf diesen Ansturm eifriger Fremdenführer vorzubereiten. Auf diese krachende Welle aus Gesichtern, die über den Hafen hereinbrach, sobald die Boote anlegten, um dem ahnungslosen, unerfahrenen Reisenden ihre Dienste anzubieten. Ich konnte zwar durchaus als unerfahren bezeichnet werden, aber bestimmt nicht als ahnungslos. Ich fühlte mich gewappnet, hatte mich vorbereitet, mich mit Worten bewaffnet und mir Kenntnisse über das Land angeeignet, um mich vor dem Chaos zu schützen. Ich wusste genau, was mich erwartete, als ich von Bord der sicheren und verhältnismäßig ruhigen Fähre ging. Und trotzdem hatte mich nichts auf das vorbereiten können, was da bei meiner Ankunft auf mich einstürmte. Die Worte von Wharton, Twain und selbst die von Andersen – als Schwerter und Schutzschilde versagten sie letztlich.
Jetzt versuchte ich, den Straßenhändlern zu entkommen, einen Stadtplan fest umklammert in der Hand, als wollte ich meine Entschlossenheit beweisen. Ein Kopfschütteln, dann ein gemurmeltes französisches Non, merci, gefolgt von einem spanischen No, gracias, und schließlich, aus Verdruss, La Choukran – Nein danke. Die wenigen Brocken Arabisch, die ich vor meiner Reise gelernt hatte. Nichts half. Ich schob mich weiter an den Händlern vorbei, entschlossen, mir meinen Weg aus dem Hafen zu bahnen, hinein in die Medina. Die meisten blieben zurück, doch ein paar folgten mir hartnäckig vom Ufer hin zum Weg, der sich hinauf in die Altstadt schlängelte. »Haben Sie sich verlaufen? Brauchen Sie Hilfe?« Schließlich blieb nur noch ein einziger Mann übrig, der sich weigerte zu gehen. Anfangs war er unaufdringlich, bestand darauf, mir langsam zu folgen, und passte seinen Schritt an meinen an, sodass immer derselbe Abstand zwischen uns blieb. Seine Englischkenntnisse waren besser als die der anderen, und er setzte sie gut ein, redete drauflos, welche Orte er mir alle zeigen würde – Orte, die noch nie ein Tourist zuvor gesehen habe.
Ich versuchte, ihn zu ignorieren, versuchte, die erdrückende Hitze, die meine Wangen bereits erhitzt und gerötet hatte, gelassen hinzunehmen und meinen Blick von den Schwärmen von Fliegen abzuwenden, die auf meinem Weg durch die verwinkelte Altstadt in jeder Ecke zu lauern schienen. Doch dann, nach ein paar Minuten, überholte er mich und versperrte mir den Weg, sodass ich verwirrt stehen blieb und nach der einzigen Tasche griff, die ich dabeihatte. Ich versuchte, mich an ihm vorbeizudrängen, doch er blieb beharrlich stehen.
»Ja«, sagte er lächelnd. »Ich bin eine Fliege, ich weiß.« Er beugte sich vor, sodass ich seinen heißen, feuchten Atem in meinem Gesicht spüren konnte. »Aber hören Sie, junge Dame. Es ist immer besser, eine Fliege bei sich zu haben. Und wissen Sie, warum?« Er hielt inne, als würde er auf eine Antwort warten. »Eine Fliege hält Ihnen all die anderen Fliegen vom Leib«, erklärte er lächelnd, warf den Kopf in den Nacken und lachte. Das schrille, unerwartete Geräusch hallte zurück von den Wänden, die uns mittlerweile umgaben, und ließ mich zusammenzucken. Ich stolperte, sodass meine Tasche auf den Boden fiel und ich mir das Knie auf dem harten, staubigen Weg aufschlug.
Ich stieß einen gellenden Schrei aus und beugte mich vor, um die Verletzung zu begutachten, während ich gleichzeitig vor der ausgestreckten Hand der Fliege zurückzuckte. Meine neuen taupefarbenen Strümpfe – für die ich einen ganzen Dollar und fünfzig Cent bezahlt hatte, nachdem die Verkäuferin darauf bestanden hatte, dass ihre Qualität absolut erstklassig sei – waren kaputt. Oberhalb des Knies war ein Riss entstanden, und eine Laufmasche zog nach unten. Mit noch größerer Bestürzung bemerkte ich dann eine rote Schürfwunde. Sie sah entzündet aus und schien gleich anzufangen zu bluten. »Auch das noch!«, murmelte ich.
Die Fliege beugte sich noch näher zu mir, als würde er mein Unbehagen, meine Besorgnis spüren. »Sie sehen verloren aus«, flüsterte er, die Stimme plötzlich leise und eindringlich, als würde meine kniende Haltung eine derartige Theatralik nötig machen. »Wissen Sie, wonach Sie suchen, Mademoiselle?«
Ich hielt kurz inne – nur einen Augenblick – und fragte mich, was ich eigentlich in diesem merkwürdigen, fremden Land machte. Diesem Land, von dem ich so oft geträumt hatte, dass es in meiner Vorstellung bereits eine schimmernde, unwirkliche Form angenommen hatte. Sodass es mir selbst jetzt, als ich seinen harten Boden als einen Beweis seiner Existenz unter mir spürte, noch immer unwirklich vorkam. Mein Atem stockte, doch dann war es da: ein verschwommenes Bild von ihr, direkt vor mir.
Mehr brauchte ich nicht, um wieder ich selbst zu sein.
»Ja«, erklärte ich ihm, der Fliege, und meine Stimme klang fest und entschlossen. Ich stand unvermittelt auf und drängte mich an ihm vorbei. Unsere Schultern prallten aneinander, sodass er den Stoß und das Gewicht meines Körpers deutlich spürte. Ich sah in sein schockiertes Gesicht. »Ja, ich weiß ganz genau, wonach ich suche.«
Die Fliege zuckte kurz mit den Achseln und trottete schließlich davon.
Affinität. Ich hatte den Begriff in einem Wörterbuch nachgesehen während meines ersten Jahres am Bennington College – jener außergewöhnlichen kleinen Ansammlung von Gebäuden, die, zumindest schien es so, versteckt im Herzen von Vermont lag, in den Green Mountains. Eine spontane oder natürliche Vorliebe oder Zuneigung für etwas verspüren. Eine Gemeinsamkeit von Eigenschaften, die eine Beziehung andeuten. Ich begann, nach anderen, sinnverwandten Wörtern zu suchen. Similarität, Faible. Ich schrieb sie alle in mein Notizbuch, das ich immer dabeihatte, wenn ich von der Bibliothek in den Vorlesungssaal und wieder zurück in die Bibliothek ging. Ich umklammerte den blauen, abgewetzten Ledereinband und drückte ihn an die Brust, passte gut auf ihn auf, um ihn ja nicht irgendwo zu vergessen: meinen Schatz aus gefundenen kostbaren Worten. Ich las mir die Begriffe häufig durch – morgens vor der Vorlesung, und abends vor dem Einschlafen. Ich murmelte sie vor mich hin, als wollte ich sie mir einprägen, als würde ich später abgefragt werden – als wären sie unerlässlich für mein Studium und mein Überleben am College.
Ich war auf dieses besondere Wort – Affinität – wenige Wochen, nachdem ich Alice kennengelernt hatte, gestoßen. Ein einschneidender Moment – eine Definition für etwas, von dem ich bisher gar nicht gewusst hatte, dass ich je nach einer Definition dafür suchen würde. Die Beziehung, die Alice und ich innerhalb nur weniger Wochen aufbauten, die gegenseitige Sympathie, die wir empfanden – sie ging über jegliche vernünftige Definition hinaus. Und so kam ich zu dem Schluss, dass es Affinität fürs Erste gut traf.
Wir lernten uns an unserem ersten Tag im College kennen. Alice stand im Flur des Wohnheims, das uns zugewiesen worden war – jedes der Häuser hatte zwei Etagen mit jeweils einem Dutzend Zimmer und einem Gemeinschaftsraum mit Kamin im Erdgeschoss –, und suchte unser Zimmer. Ein Stapel Bücher klemmte unter ihrem Arm, und sie sah aus, als würde sie sich am liebsten in Luft auflösen. Und das tat sie dann auch fast – ihr Oberkörper und ihr Gesicht waren fast völlig hinter den Büchern versteckt, die offensichtlich zu schwer für sie waren. Ich wusste bereits, dass sie meine Zimmergenossin war, denn wir hatten uns zuvor verabredet. Vor Beginn des Semesters hatten wir uns mehrfach geschrieben und Fotos beigefügt, damit wir uns bei unserem ersten Treffen erkennen würden – trotzdem schindete ich Zeit, um den Moment so lange wie möglich hinauszuzögern. Ich wollte nicht auf sie zugehen, ihr helfen und mich vorstellen – noch nicht.
Und so wartete ich. Und beobachtete.
Ihre Fuß- und Handgelenke waren das Zierlichste, was ich je gesehen hatte. Der Sommer war noch nicht vorbei, sodass der bauschige, tutuartige Rock, der ihre Waden umspielte, und das dünne, kurzärmelige Jäckchen beides in erstaunlicher Deutlichkeit offenbarten. Sie hatte langes, blondes, gelocktes Haar, doch wirkten ihre Locken eher künstlich als natürlich. Schließlich trat sie auf mich zu, und mir fielen ihre zartrosa lackierten Fingernägel auf, deren Farbe fast zu dezent war, um bemerkt zu werden. Das Gleiche galt für ihr Make-up. Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob sie überhaupt geschminkt war. Doch das war sie, stellte ich fest. Kaum erkennbar zwar, aber sie war geschminkt. Sie war nett zurechtgemacht, doch sollte das nicht auffallen. An ihrer Erscheinung heischte nichts nach Aufmerksamkeit, verlangte nichts danach, gesehen zu werden, und aus exakt diesem Grund fiel sie auf.
Und daran erkannte ich, dass sie es gewohnt war, betrachtet zu werden. Dass sie es gewohnt war, sich präsentieren zu müssen. Und dass sie noch nie das Geld für die Miete hatte zusammenkratzen müssen. Dass sie sich noch nie um die Vorräte in den Küchenschränken hatte Gedanken machen müssen und ob deren Inhalt für eine Woche oder doch nur für einen oder zwei Tage reichen würde. Trotzdem lehnte ich sie nicht in einer Weise ab, wie ich einige der anderen Mädchen ablehnte, die ich bereits kennengelernt hatte. Sie wirkte nicht hämisch oder verwöhnt, sie hatte nichts an sich, was eine Art von Überlegenheit ausdrückte. Die anderen Mädchen am College waren stets bemüht, sich gegenseitig zu beweisen, dass sie besser waren als die anderen. Sie prahlten mit ihren Urlauben oder ließen Namen fallen, von denen sie wussten, dass sie bei den anderen Furcht und Ehrfurcht auslösten. Ich sollte schon bald feststellen, dass Alice überhaupt nicht so war. Während die anderen Studentinnen ihre Nasen rümpften über die Stippis – ihre Bezeichnung für Stipendiatinnen –, behandelte Alice mich ebenbürtig. Mich, die aus der nächstgelegenen Stadt kam und Stipendiatin war. Als ich sie an jenem Tag betrachtete, noch bevor wir uns begrüßt hatten, fand ich, dass sie nett aussah, sogar etwas einsam.
Dann trat ich schnell auf sie zu, aus Angst, sie an jemand anderen zu verlieren, wenn ich noch länger wartete. »Ich bin Lucy Mason«, sagte ich und streckte ihr meine Hand entgegen. Ich hatte das Gefühl, als würde jedes einzelne Wort, das ich sagen wollte, in dieser einen kleinen Geste stecken, sodass alles – die gesamte Zukunft – davon abhinge. Ich wartete eine gefühlte Ewigkeit, doch wahrscheinlich war es nur ein kurzer Augenblick, in dem ich mich fragte, ob sie meine ausgestreckte Hand ergreifen würde, wohin sie uns führen und wie sich unsere gemeinsame Reise entwickeln würde.
In ihrem Gesicht erschien augenblicklich ein Lächeln. »Ich hatte schon Angst, dass du unsere Verabredung vielleicht vergessen hast«, sagte sie und errötete. Ihr Akzent war sehr britisch und vornehm. »Ich bin Alice. Alice Shipley.«
Ihre Hand war warm. »Schön, dich kennenzulernen, Alice Shipley.«
Am nächsten Morgen zog ich mich sorgfältig an.
Ich hatte mir in der vergangenen Nacht ein Zimmer in einem Riad genommen – einem typischen marokkanischen Haus mit Innenhof –, da ich mich nach der Reise umziehen, frischmachen und nicht mit zerrissenen Strümpfen und zerzaustem Haar vor Alice’ Tür stehen wollte, und suchte nun meine Habseligkeiten zusammen. Ich vergewisserte mich erst einmal und dann noch ein zweites Mal, dass ich nichts in dem Zimmer liegen gelassen hatte, bevor ich zufrieden die Tür hinter mir schloss.
In der Medina wartete ich in einer Schlange vor einem der Stände und bestellte Frühstück – einen mit Sesam bestreuten Zopf, den ich nicht kannte und dessen Füllung nach Datteln schmeckte. Ich lehnte mich gegen eine Wand und spürte die seltsame Konsistenz des nach nichts schmeckenden Teigs, der auf meiner Zunge und in meinen Backen klebte. Ab und zu trank ich einen Schluck von dem Milchkaffee, den ich mir ebenfalls bestellt hatte, während mein Blick über die Straße wanderte.
Ich sah den Touristen in den Cafés dabei zu, wie sie ihren Pfefferminztee nippten, und einer Gruppe von Einheimischen, die gerade Waren von Eseln luden und in Läden transportierten, bis sich schließlich unsere Blicke trafen.
Er saß ein paar Meter entfernt in einem der zahlreichen Cafés, die den Platz säumten. Eine große, dunkle Erscheinung, doch er war nicht so gut aussehend wie andere Männer. Ich vermutete, dass es ein Einheimischer war, wenngleich ich mir nicht ganz sicher sein konnte. Er trug einen Fedora, den er tief ins Gesicht gezogen hatte und um dessen Krone ein leuchtendes violettes Band am unteren Rand verlief. Ich blieb noch eine kurze Weile stehen, spürte seinen Blick auf mir und fragte mich, was er sah, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Ich hatte mir an diesem Morgen in der Tat besonders viel Mühe gegeben und das einzige ordentliche Kleid angezogen, das ich vor meiner Reise über den Atlantik gekauft und das mich meine wenigen Ersparnisse gekostet hatte. Ich strich den Rock mit der linken Hand glatt, trank den Kaffee aus und entfernte mich von der Medina und dem mich neugierig anstarrenden Mann.
Ich ging fast eine Stunde herum und kam dabei einmal, zweimal und noch ein drittes Mal an demselben Restaurant vorbei. Die Kellner – selbst in der glühenden Hitze förmlich gekleidet, in Anzügen und schmalen Krawatten – grinsten süffisant, was ich ignorierte. Ich glaubte schon fast, dass buchstäblich alle Straßen zum Place Petit Socco führen würden, doch dann fand ich sie. Alice’ Wohnung lag hinter der Medina und östlich der Kasbah, unmittelbar neben dem chaotischen Gassengewirr, in dem ich zuerst gelandet war. Der Stadtteil hieß Quartier Marshan, wie mir mein Reiseführer verriet. Ich spürte die seltsame Veränderung, lange bevor sie in mein Bewusstsein drang. Die Umgebung war grüner, Bäume säumten die Straßen, wenn auch noch immer nicht zahlreich und meinem Auge völlig unbekannt. Mich erfasste ein Gefühl von Leichtigkeit, als würde die Anspannung in meinen Schultern, besser gesagt zwischen den Schulterblättern, sich langsam auflösen. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass ich mich ihr näherte, dachte ich. Dann blieb ich stehen, um meine Tasche auf den Boden zu stellen und kurz Luft zu holen.
Das Haus selbst war unscheinbar und fügte sich problemlos zwischen die restlichen Häuser ein: Es hätte nach Paris gepasst, fand ich, ein heller Steinbau, verschönert mit schmiedeeisernen Balkonen und großen Fenstern. Damit hätte ich rechnen müssen, doch merkte ich, wie sich unwillkürlich ein Gefühl der Enttäuschung in mir ausbreitete. Es hatte mich so viel Zeit gekostet, an diesen Punkt zu gelangen – monatelanges Planen und Sparen, viele Stunden auf Schiffen, in Zügen und schließlich noch eine Überfahrt. Meine Kleider waren schmutzig, mein Geist war müde und erschöpft von der Erkundung dieses neuen Landes. Ich hatte erwartet, dass etwas anderes am Ende meiner Reise stehen würde – eine glitzernde Tür, ein prachtvoller Palast, etwas, das mir eindrucksvoll und entschieden entgegenrief: Das ist deine Belohnung – du hast endlich dein Ziel gefunden. Ich drückte auf die Klingel.
Ein paar Augenblicke lang geschah nichts. Mein Herzschlag beschleunigte sich – war sie vielleicht auf das europäische Festland zurückgekehrt? Oder hatte ich womöglich die falsche Adresse? Ich sah auf das Stück Papier, das ich in der Hand hielt. Das Gekritzel war vom vielen Auseinander- und Zusammenfalten verblasst. Ich stellte mir vor, umdrehen und zum Hafen zurückkehren zu müssen. Sah mich eine weitere Fahrkarte kaufen, sah mich auf dem Weg zurück über das Meer – dieses Mal schwer geschlagen –, den Hohn und das Gelächter der Männer, die mich gerade mit der Fähre hierhergebracht hatten, ignorierend. Ich schüttelte den Kopf. Nein, das war ausgeschlossen. Der Gedanke an New York, der Gedanke an einen weiteren öden grauen Winter, der Gedanke an die winzigen Zimmer, die ich in den verschiedenen, über die Stadt verteilten Pensionen gemietet hatte, der Gedanke an die Geräusche Dutzender von Frauen, deren Absätze auf den Fluren klackerten, war unerträglich. Und dann noch dieser Geruch. Er ließ mich sogar in der nachmittäglichen Hitze erschaudern. Dieser seltsame Geruch schweren Parfums, der hinter all diesen Frauen herzuziehen schien und in der Gemeinschaftstoilette am stärksten war. Diesem beißenden, unangenehmen Duft haftete stets eine übertriebene Süße an, wie dem Geruch von Fäulnis. Ich verzog das Gesicht. Nein. Ich würde nicht zurückfahren, egal, was passierte.
»Ja?«
Ich hörte sie, bevor ich sie sah. Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben, doch die Sonne blendete mich. Schützend hob ich die Hand, sodass ich den grellen Schein teilweise abschirmen und schließlich ihre von leuchtenden Strahlen überzogene Gestalt ausmachen konnte.
»Alice«, rief ich, ohne meine Stimme zu heben, und erfreute mich kurz am Klang ihres Namens. »Ich bin’s.«
Sie war so weit weg, dass ich mir nicht ganz sicher sein konnte, doch ich glaubte zu hören, wie sie nach Luft schnappte. Ich bemühte mich, meine Freude im Zaum zu halten, und war glücklich, es geschafft zu haben, sie zu überraschen. »Na?«, sagte ich schließlich und hob die Stimme leicht an. »Muss ich die Wand hinaufklettern?«
Ein verunsichert wirkendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Nein, nein, natürlich nicht.« Sie stand hinter einem Eisengeländer, das bis zur Mitte ihres Oberkörpers reichte und dessen verschlungenes Muster einer Art Efeu ähnelte. Ihre Hände schnellten zum Hals, wie immer, wenn sie nervös war. »Nur einen Augenblick. Ich bin gleich unten.«
Während ich auf sie wartete, bemerkte ich ein Flattern in meinem Ohr. Als Kind hatte ich unter schrecklichen Ohrenschmerzen gelitten, und in meiner Jugend hatte es stets eine Jahreszeit gegeben, in der dieser Schmerz zurückgekehrt war, sodass ich von einem Arzt zum nächsten rannte. Doch egal, wie oft ich sie konsultierte, sie lächelten mich immer nur an, schüttelten den Kopf und versicherten mir: Alles völlig in Ordnung, während sie mich zur Tür drängten. Einer von ihnen jedoch zögerte und zeigte mir, wie ich meine Finger an das Ohrläppchen legen und sanft daran ziehen sollte. Wenn Sie jetzt Schmerzen spüren, sagte er, dann liegt eine Entzündung vor. Ansonsten ist es nur … Er verstummte und ließ den Satz unvollendet. Später deutete er an, dass er eine Reihe von Patienten mit ähnlichen Symptomen habe, nervös bedingte Beschwerden, unter denen nur seine intelligentere Patientenschaft litte – allerdings vermutete ich, dass er das nur gesagt hatte, um sich selbst zu schmeicheln und die von ihm erfundene Methode zu belegen, nicht, weil es ihm ein Anliegen war, mir zu helfen. Trotzdem machte ich genau das, wozu er mir geraten hatte, als ich vor Alice’ Tür stand und darauf wartete, dass sie die Treppe herunterkam. Ich zog an meinem Ohrläppchen, um zu prüfen, ob es irgendeine Schmerzquelle, irgendeinen Hinweis auf eine mögliche Entzündung gab. Doch da war nichts. Das Flattern dauerte dennoch an.
Als Alice in der Tür erschien, war sie ein wenig außer Atem. Zwei hellrosa Flecken überzogen ihre Wangen, und an ihrem Halsansatz hatte sich von der Hitze Ausschlag gebildet. Sie hatte stets dazu geneigt, an dieser einen Stelle zu reiben, wenn sie aufgeregt war – dort, wo die beiden Schlüsselbeine sich trafen. Ich fragte mich, ob sie das vor oder nach meinem Eintreffen getan hatte oder ob die gerötete Stelle wirklich nur von der drückenden Mittagshitze stammte.
Sie sah genauso aus wie in meiner Erinnerung. Auch wenn nur ein Jahr vergangen war, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, war doch so viel geschehen, dass es einem vorkam, als wäre es in einem völlig anderen Leben gewesen. Sie war noch immer so schmal – ich wusste, dass sie das Wort zierlich hasste –, doch es gab keinen anderen Begriff, um sie zu beschreiben. Sie war klein und blond und hatte noch immer die Gestalt eines jungen Mädchens. Eine Tatsache, die Alice häufig beklagt hatte. Sie trug eine Perlenkette, die bis kurz oberhalb des Schlüsselbeins herabhing und in dieser Umgebung auf mich irgendwie unpassend wirkte, deplatziert. Ich widerstand dem plötzlichen, seltsamen Verlangen, die Hand auszustrecken, nach der Kette zu greifen, sie herunterzureißen und dabei zuzusehen, wie die Perlen auf den Boden fielen und in jede Ecke und jeden Winkel der Straße rollten.
»Du siehst großartig aus«, sagte ich, beugte mich vor und küsste sie rechts und links auf die Wange. »Wir haben uns schon viel zu lange nicht mehr gesehen.«
»Ja«, murmelte sie mit leuchtendem, aber distanziertem Blick. »Ja, das stimmt.«
Ich fühlte ihre spitzen Knochen unter meinen Händen. Alice machte einen Schritt zurück hinter die Türschwelle. Ihre Bewegungen verrieten, dass sie aufgeregt war, was sie lieber nicht offenbart hätte, vermutete ich. Sie deutete mir mit einer Handbewegung an, ihr zu folgen. Wir stiegen eine enge Treppe hinauf, sie machte mich währenddessen darauf aufmerksam, bei welchen Stufen ich besonders vorsichtig sein sollte, und schob schnell eine Entschuldigung hinterher, für den Zustand des Hauses. Sie hatte schon immer dazu geneigt, ins Plappern zu geraten, wenn sie nervös war. »Natürlich ist das Haus wunderschön, nur muss es hier und da unbedingt renoviert werden. Ich habe John schon mehrfach darauf hingewiesen, doch er scheint mir nicht zuzuhören. Ich glaube sogar, es gefällt ihm. Er sagt, dass hier die ganzen Künstler wohnen. Schriftsteller scheinbar. Er hat mir schon tausendmal gesagt, wie sie heißen, doch ich kann mir ihre Namen einfach nicht merken. Na ja, Literatur ist ja auch eher dein Gebiet. Wir werden ihn nach den Namen fragen müssen, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt.«
John. Der Mann, den Alice kennengelernt hatte, nachdem sie Bennington verlassen hatte. Der Mann, der für ihren Umzug nach Marokko verantwortlich war, wie ich erst vor Kurzem erfahren hatte.
»Ist er zu Hause?«, fragte ich.
»Wer?« Alice runzelte die Stirn. »Oh, John. Nein, nein. Er ist in der Arbeit.«
»Und wie geht es ihm?«, fragte ich, als wären ihr Mann und ich alte Freunde. Doch ich merkte, wie hohl die Worte klangen, und so beeilte ich mich hinterherzuschieben: »Und dir? Wie geht es dir?«
»Gut. Es geht uns beiden ganz gut.« Die Worte sprudelten aus ihrem Mund, während sie stoßartig atmete. »Und wie geht’s dir?«
»Ich freue mich, hier in Tanger zu sein«, antwortete ich lächelnd. Bei dir.
Die letzten Worte sprach ich nicht aus, obwohl sie gleichmäßig in meiner Brust schlugen. Ein Teil von mir war sich sogar sicher, dass auch Alice sie gehört hatte – und wenn nicht gehört, dann vielleicht gespürt.
Ich bemerkte, dass wir bereits in ihrer Wohnung angekommen waren. Genauer gesagt in der Diele, auf deren Holzboden ein aufwendig gemusterter Teppich lag. Ich hatte noch immer den schweren Koffer in der Hand und wunderte mich, dass Alice noch nicht danach gegriffen und mir das Gästezimmer gezeigt hatte, damit wir uns hinsetzen, entspannen und Geschichten erzählen konnten, so wie in alten Zeiten. Ich wusste, dass ich mir vielleicht zu viel erhoffte, doch ich konnte nicht anders. Es war mein sehnlichster Wunsch, dass alles wieder so war wie früher, vor dieser schrecklichen Nacht. Diese Hoffnung lebte noch immer in mir, wenn auch verborgen in meinem leeren Herzen. Doch ihre Körperhaltung, ihre Art, sich zu bewegen – wie ein verängstigter, eingesperrter Vogel, fand ich –, machten mich stutzig, und ich fragte mich, ob das Problem gar nicht die Geheimnisse waren, die wir teilten, sondern vielmehr etwas völlig anderes.
Alice’ Entscheidung, nach Tanger zu ziehen, hatte mich von Anfang an verwundert. Ich erinnerte mich an die alte, zerfledderte Landkarte über meinem Bett in Bennington. Wir hatten uns in den Jahren einen Spaß daraus gemacht, Reißzwecken in die Wand zu drücken, was dank deren billiger weißer Plastikköpfe leicht zu bewerkstelligen war, um die Orte festzulegen, an die wir nach Abschluss unseres Studiums reisen und wo wir gemeinsam Abenteuer erleben würden. Alice’ Wahl fiel auf Paris oder, an Tagen, an denen sie besonders mutig war, auf Budapest. Aber nie auf Tanger. Meine eigenen Reißzwecken befanden sich weiter weg: Sie markierten Städte wie Kairo, Istanbul und Athen. Orte, die mir einmal sehr weit entfernt und unerreichbar erschienen waren, doch jetzt nicht mehr. Nicht mit Alice an meiner Seite.
Nach dem Studium nehme ich dich mit nach Paris, sagte sie eines Abends, nur wenige Wochen, nachdem wir uns kennengelernt hatten. Wir saßen versteckt am Ende der Welt, jenem Fleckchen Erde am Rand des großen Gemeinschaftsrasens, wo der Boden abrupt abzusacken schien – wenn man aufstand, bemerkte man die sanfte, hügelige Landschaft, die sich dahinter erstreckte. Das Ende der Welt war eine Art Fata Morgana. Ein Trugbild. Die Nacht war schon hereingebrochen, und die Feuchtigkeit des Grases drang durch den Baumwollstoff der Decke, auf der wir saßen. Trotzdem blieben wir sitzen und ließen uns durch nichts die Freude an diesem Abend verderben.
Als Antwort drückte ich ihre Hand. Damals wusste ich bereits von dem Fonds, der auf ihren Namen lautete, und von dem monatlichen Betrag, den sie erhielt – Schecks, auf denen ihr vollständiger Name stand, Alice Elizabeth Shipley, in sorgfältiger, altmodischer Schrift, und die stets am Monatsanfang eintrafen – dennoch widersprach es jeder mir bekannten Logik, einem Mädchen, das man erst vor wenigen Wochen kennengelernt hatte, ein solches Angebot zu machen, ihm gegenüber eine solche Einladung auszusprechen. Mein Herz zog sich zusammen, als wollte es sich weigern zu glauben, dass in anderen Menschen so viel Großzügigkeit und Warmherzigkeit wohnten. Mein Leben hatte mich bisher anderes gelehrt. Ich war in einer kleinen Stadt in Vermont geboren worden, nur wenige Meilen vom College entfernt, und hatte sie stets als einen Ort empfunden, den man schnell hinter sich ließ, auf der Durchreise in einen anderen Ort, an dem es sehr viel besser war. Ein Stipendium machte es mir möglich, genau das zu tun, und befreite mich aus der Enge einer muffigen Wohnung, die über einer Autowerkstatt lag. Zwar lag der Ort, an den es mich brachte, nur wenige Meilen entfernt, doch hätte er genauso gut eine ganz andere Welt sein können.
Diese Reise nach Paris hatte allerdings nie stattgefunden.
Stattdessen war Alice nach Tanger gezogen. Einen Ort, den sie nie mit einer Reißzwecke auf unserer Landkarte markiert hatte. Und das ohne mich.
»Was machst du eigentlich hier in Tanger, Lucy?«, fragte Alice und riss mich aus meinen Gedanken.
Ich blinzelte, aufgeschreckt von ihren Worten. »Ich bin natürlich hier, um dich zu sehen«, erwiderte ich lächelnd. Meine Stimme überschlug sich, während ich mich bemühte, die Gefühle, die in mir aufstiegen, zu verbergen.
Dann sah ich Alice an – richtig an –, zum ersten Mal. Sie war, wie ich bereits vorher festgestellt hatte, schlanker als bei unserer letzten Begegnung – und auch blasser, was mir angesichts des Klimas merkwürdig erschien. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, als hätte sie seit geraumer Zeit nicht mehr richtig geschlafen. Sie nestelte nervös an dieser einen Stelle am Schlüsselbein herum, wodurch diese einen noch bedrohlicheren Farbton als bei meiner Ankunft angenommen hatte. Trotz der Tageszeit trug sie einen gelben Hausmantel, der bis zu den Knöcheln reichte und den ein einfacher Gürtel um ihre Taille zusammenhielt. Alice war ungeschminkt, nicht die geringste Spur von Farbe war in ihrem Gesicht zu sehen. Und ihre Haare – ihre einst so dichten, glänzenden, goldenen Locken – waren mittlerweile kürzer. Sie hingen schlaff herunter und mussten gewaschen werden, wie ihre matte Farbe verriet.
»Ist alles in Ordnung, Alice?«, fragte ich, rückte näher und stellte den Koffer auf dem Boden ab.
»Natürlich, aber natürlich.« Wieder diese gehetzten Worte.
»Du würdest es mir doch erzählen, oder? Also, wenn etwas nicht stimmen würde? Wenn du und John …«
Sie zuckte zusammen. »Nein, nein. Alles in Ordnung. Wirklich. Ich bin einfach nur erstaunt, dich zu sehen. Mehr nicht«, antwortete sie lächelnd, wenngleich ihre Stimme leicht gereizt klang – spitz, stählern.
Doch dann schienen sich ihre Schultern zu entspannen, sie lächelte nicht mehr so angespannt und schien mich zum ersten Mal richtig wahrzunehmen: meine neue, hochtoupierte Frisur, die nur von reichlich Haarspray zusammengehalten wurde – auch wenn die Haare sich in der Hitze schon langsam zu kräuseln begannen, wie ich verdrießlich feststellte –, und das neue dunkle Hemdblusenkleid mit Gürtel, das mich so viel gekostet hatte wie eine Monatsmiete. Ich wusste, dass mein Erscheinungsbild sich von dem aus unseren Collegetagen deutlich unterschied. Doch da mir bewusst gewesen war, dass ich Alice nach fast einem Jahr zum ersten Mal wiedersehen würde, hatte ich deutlich machen wollen, wie gut es mir ergangen war – aber nicht auf diese hämische Weise, wie die anderen Mädchen es taten, die ihren Erfolg zur Schau stellten, nur um alle anderen vor Neid erblassen zu lassen. Nein, ich wollte Alice lediglich zeigen, dass unsere gemeinsame Zeit, diese Tage und Nächte, mir sehr viel bedeutet hatten und dass das Träumen von der Zukunft nicht nur ein versponnener Zeitvertreib gewesen war. Nein, ich hatte alles so gemeint, jedes einzelne Wort. Das war es, was ich ihr zeigen wollte. Nichts davon war gelogen gewesen, ungeachtet dessen, was zwischen uns geschehen war.
»Du siehst gut aus, Lucy«, stellte sie fest, doch mir kam ihre Äußerung so vor, als würde sie Nachsicht üben. Als wären ihr die Worte trotz meines Äußeren und nicht wegen meines Äußeren über die Lippen gekommen.
»Du auch«, sagte ich, da ich ihr Kompliment unbedingt erwidern wollte – egal, ob leicht erteilt oder nicht –, obwohl wir beide wussten, dass unsere Worte eine reine Höflichkeit waren.
Sie lächelte wieder dieses in sich gekehrte Lächeln, das ich in den ersten Tagen am College bemerkt hatte, als sie so schüchtern und ihrer selbst so unsicher gewesen war. Am Ende unserer vier gemeinsamen Jahre hatte sie fast alle dieser sich selbst herabsetzenden Eigenschaften abgelegt. Doch hier waren sie plötzlich, allesamt wieder da. »Ich würde dir gern einen Tee anbieten, aber leider hat John mal wieder vergessen, eine Gasflasche zu besorgen«, sagte sie, bemüht, jede Lücke in unserem Gespräch sofort zu füllen, um kein Schweigen aufkommen zu lassen. »Ich werde erst wieder Wasser kochen können, wenn er eine neue Gasflasche mitgebracht hat. Aber lass uns doch ins Wohnzimmer gehen. Da kann ich dir ein anderes Getränk machen«, schlug sie vor und griff nach meinem Koffer.
Ich hielt sie auf und bestand darauf, ihn selbst zu tragen, da ich befürchtete, dass sie unter der Last zusammenbrechen würde. Als sie sich umdrehte, betrachtete ich ihre Schultern. Der Stoff ihres Hausmantels war dünn, sodass sich darunter die Knochen abzeichneten. Ich bemerkte ihre eingefallenen Wangen, die spitzen Ellenbogen, das fast unmerkliche, aber noch immer vorhandene Zittern ihrer Hände.
»Ich kann es kaum glauben, wie lange es her ist«, sagte ich, folgte ihr durch den Flur und bemerkte, wie vollgestellt die Wohnung war, sodass man sich kaum bewegen konnte, ohne gegen ein Stuhlbein oder ein Sitzkissen zu stoßen. Nicht einmal die Wände waren sicher, stellte ich bald fest, denn die diversen Farbschichten überzog eine weitere Schicht, eine aus allerlei Schnickschnack. Teller schienen ihre Leidenschaft zu sein. Silberne, kupferne, porzellanene, manche bemalt, manche nicht – ein bestimmtes Muster konnte ich allerdings nicht ausmachen. Sie waren einfach Reihe um Reihe an die bunten Wände angebracht worden.
»Ich weiß«, erwiderte sie schließlich. »Es kommt einem vor, als wäre Bennington eine Ewigkeit her.«
Wir betraten das Wohnzimmer, und ich stellte meinen Koffer auf dem Teppich ab. Ein paar Sekunden vergingen. Wir sahen uns in dem Zimmer um, als sei der Weg, der uns wieder zueinander führen und es uns ermöglichen würde, an die Zeit am College anzuknüpfen, hier in einem Spalt verborgen, hier in Tanger, in dieser fremden Stadt.
»Ich hole schnell unsere Getränke«, sagte sie und ging zielstrebig zur Tür.
»Danke, Alice.« Ich streckte die Hand aus, um die ihre zu berühren. Sie zuckte zusammen, und ich spürte diese kleine Bewegung auf meiner Haut. »Alice, bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte ich und dämpfte meine Stimme zu einem Flüstern.
Zuerst wollte sie mich nicht ansehen, doch dann hob sie langsam ihr schmales, spitzes Gesicht, die Augen noch immer hell und leuchtend. »Aber natürlich, Lucy.« Sie machte eine schnelle Bewegung weg von mir und trat in den Flur. »Es ist alles wunderbar.«
Später dachte ich über die Tatsache nach, dass sie den Unfall nicht erwähnt hatte.
Ich aber auch nicht.
Ich verbrachte ein paar Minuten im Bad, ein Handtuch gegen das Gesicht gepresst, um die Röte von meinen Wangen zu vertreiben. Als ich wieder hinaustrat, klebte mir das Haar noch immer in meinem verschwitzten Gesicht. Vor der Tür entdeckte ich einen Stapel übermäßig gestärkter rosa Handtücher, auf denen muschelförmige Seifen lagen. In der Küche hörte ich Alice singen.
Ich ging an den Handtüchern vorbei durch den Flur, folgte in Gedanken dem Text und lächelte in mich hinein, während ich mein Haar zurechtzurücken versuchte. Ich kannte das Lied aus dem Radio. In der Pension, in der ich zuletzt gewohnt hatte, hatten die anderen Mädchen sich ein creme- und goldfarbenes Silvertone-Radio gekauft. Zuerst hatten sie es abwechselnd in ihre Zimmer gestellt, jedoch eher, um damit anzugeben, als tatsächlich Radio zu hören, bis es schließlich, weitgehend vergessen, unten im Gemeinschaftsraum landete und zum festen Bestandteil des Inventars wurde.
Ich summte die Melodie vor mich hin. »Scheinbar kannst du immer noch nicht singen«, neckte ich sie und hob meine Stimme leicht, damit sich mich besser verstand.
Aus der Küche kam Gelächter – es klang nicht mehr ganz so zurückhaltend, fiel mir auf. »Setz dich doch schon mal hin! Ich bin gleich da.«
Ich ging zurück ins Wohnzimmer und nahm den Raum zum ersten Mal näher in Augenschein. Er war, ähnlich wie die anderen Zimmer, mit dunklen Böden und Ledermöbeln ausgestattet – die in der Nachmittagshitze einen süßlichen, muffigen Geruch verströmten, der die Luft durchdrang. Ein paar Dutzend Bücher lagen verstreut im Zimmer herum. Mein Blick fiel auf eines von Charles Dickens. Ein anderes stammte von einem russischen Autor, dessen Namen ich noch nie vorher gehört hatte. Ich wusste, dass Alice keine große Leserin war. In den vier Jahren, in denen wir Zimmergenossinnen gewesen waren, hatte ich versucht, sie zum Lesen zu ermutigen. Doch sosehr ich mich auch bemühte, ihr Interesse für Bücher zu wecken, sie rümpfte die Nase. Sie sind einfach alle so ernst, klagte sie. Jede andere Person hätte ich für einen solchen Kommentar verachtet, aus Alice’ Mund schien es mir stimmig. Dass sie ihre Nase in ein dickes Buch steckte, passte nicht – Alice schien wie aus Licht und Luft gemacht und deswegen eher dafür geschaffen zu sein, ihr eigenes Leben zu entdecken als das anderer in Büchern. Ich hatte ihr das einmal gesagt, aber sie hatte nur gelacht und eine wegwerfende Handbewegung gemacht. Doch so war es. Alice weckte mich frühmorgens, wenn es draußen noch dunkel war, zerrte mich aus dem Bett, schleifte mich zu den Adirondack-Stühlen auf dem großen Gemeinschaftsrasen und ließ die Decken, die sie sich unter den Arm geklemmt hatte, auf das taubedeckte Gras fallen. Sie bestand darauf, dass wir als Erste dort waren, um den Sonnenaufgang zu sehen. In diesen stillen Augenblicken, in denen mein Atem große weiße Wolken in der Luft bildete, staunte ich stets darüber, dass wir einander gefunden hatten. Dass Alice’ Mutter, eine Amerikanerin, die später über den großen Teich gezogen war und einen Briten geheiratet hatte, Absolventin unseres winzigen Colleges in Vermont gewesen war und das in Alice wiederum den Wunsch geweckt hatte, im Andenken an ihre Mutter ebenfalls hier zu studieren. Dass Alice es mit ihrem zurückhaltenden Lächeln irgendwie geschafft hatte, mich aus der Behaglichkeit meines Verstecks in der Bibliothek zu locken, mich den Stimmen der Toten zu entreißen und in die Welt der Lebenden zu drängen. Ich wickelte mich fester in die Decke ein und rückte näher an ihren warmen Körper heran. Ich wünschte mir, diese Momente würden ewig dauern.
Ich strich mit dem Finger über den Schnitt einiger Bücher und stellte verwundert fest, dass die Seiten noch nicht durchtrennt worden waren. Ein Bild des Mannes, den Alice geheiratet hatte, begann, in meinem Kopf Gestalt anzunehmen.
»Warst du überrascht, als ich heute Morgen vor deiner Tür gestanden habe?«, rief ich, setzte mich auf das Ledersofa, und auf meiner Haut bildete sich augenblicklich ein dünner Schweißfilm.
Aus der Küche drang nur Stille.
»Alice?«, rief ich noch einmal und runzelte die Stirn. Ich rutschte auf der Couch hin und her, um die Körperpartien, die das Leder berührten, abwechselnd anzuheben und so zu vermeiden, dass sich Schweißflecke auf meinem Kleid bildeten. Mir war bereits aufgefallen, dass in Tanger kein Lüftchen wehte und die Hitze drückend auf der Stadt zu liegen schien. Träge. Das traf es ziemlich genau, fand ich.
»Äh, ja«, antwortete sie, die Stimme gedämpft, als wäre sie weit weg und nicht gleich nebenan. »Ja, ziemlich.«