Nachtbeeren - Elina Penner - E-Book
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Nachtbeeren E-Book

Elina Penner

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Beschreibung

Manchmal ist der einzige Ausweg die Flucht nach vorn, oder?

In ihrem Debütroman erzählt Elina Penner von Nelli, die als kleines Mädchen als Russlanddeutsche nach Minden kommt. Sie spricht Plautdietsch und isst Tweeback und versucht, in der Provinz und dem neuen deutschen Leben anzukommen. Aber die Geschichten über ihr früheres Leben lassen sie nicht los, und als ihre geliebte Oma stirbt, gerät in Nelli etwas durcheinander. Ihr Mann Kornelius eröffnet ihr, sie für eine andere zu verlassen. Und Nelli ist sich am nächsten Morgen nicht sicher, ob sie ihn nicht aus Versehen umgebracht hat...

Elina Penner erzählt mit Komik und dunklem Humor von einer Gemeinschaft von Menschen, die aneinander festhalten, weil sie nichts anderes haben. Mittendrin eine junge Frau, die zusammenbricht – und ihren eigenen Weg sucht.

»Mit Sprachwitz und Sinn fürs Absurde erzählt Elina Penner von der Suche einer Russlanddeutschen nach ihren Wurzeln.« Brigitte.

»Ein Roman über eine junge Frau, die ihren eigenen Weg geht – schräg, dunkel und so gut.« Laura Karasek.

»Immer lustig und gefährlich zugleich. Elina Penner hält uns in stetiger Spannung, was als nächstes passiert, immer zwischen Schock, Lachen und tiefer Rührung. Ein bittersüßes Debüt.« Christian Dittloff.

»Elina Penner erzählt unfassbar witzig und klug die spannendste Familiengeschichte, die ich seit langem gelesen habe.« Ninia LaGrande Binias.

»Der Roman des Jahres.« Kareen Dannhauer.

»In einem umwerfenden Stakkato aus kurzen, klaren Sätzen setzt Erzählerin Nelli ein. Elina Penner erschafft eine starke Frauenfigur, der man gern zuhört und auf unbekanntes Terrain folgt.« Börsenblatt.

»Ein ungewöhnliches Debüt. Sie schafft unvergessliche Charaktere und unvergleichliche Szenen, fein austariert zwischen zarter Tragik und dunkler Komik.« Emotion.

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Seitenzahl: 230

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Über das Buch

In ihrem Debütroman erzählt Elina Penner von Nelli, die als kleines Mädchen als Russlanddeutsche mit ihrer mennonitischen Familie nach Minden kommt. Sie spricht Plautdietsch, isst Tweeback und Nachtbeeren und versucht, in der Provinz und dem neuen deutschen Leben anzukommen. Aber die Geschichten über ihr früheres Leben lassen sie nicht los. Als ihre geliebte Oma stirbt, gerät in Nelli etwas durcheinander. Ihr Mann Kornelius eröffnet ihr, sie für eine andere zu verlassen. Und Nelli ist sich am nächsten Morgen nicht sicher, ob sie ihn nicht versehentlich umgebracht hat… In »Nachtbeeren« erzählt Elina Penner mit Komik und dunklem Humor von einer Gemeinschaft von Menschen, die aneinander festhalten, weil sie nichts anderes haben. Mittendrin eine junge Frau, die und unter dem Druck, ihrer Familie und dem Glauben gerecht zu werden, zusammenbricht – und ihren eigenen Weg sucht.

Über Elina Penner

Elina Penner wurde 1987 als mennonitische Deutsche in der ehemaligen Sowjetunion geboren und kam 1991 nach Deutschland. Plautdietsch ist ihre Muttersprache. Nach Jahren in Berlin und in den USA lebt sie mit ihrer Familie in Ostwestfalen. „Nachtbeeren“ ist ihr Debütroman.

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Elina Penner

Nachtbeeren

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Motto

Prolog

Beerdigen — Nelli Neufeld Sonntagnachmittag, 10. Mai 2020

Essen — Nelli Neufeld Sonntagnachmittag, 10. Mai 2020

Trinken — Nelli Neufeld Sonntagnachmittag, 10. Mai 2020

Einfrieren — Jakob Neufeld Montagmorgen, 11. Mai 2020

Einkaufen — Nelli Neufeld Sonntagnachmittag, 10. Mai 2020

Rollen — Nelli Neufeld Sonntagnachmittag, 10. Mai 2020

Töten — Jakob Neufeld Montagmorgen, 11. Mai 2020

Sterben — Eugen Epp Donnerstag, 20. Mai 2010

Bekehren — Eugen Epp Donnerstag, 20. Mai 2010

Büßen — Eugen Epp Donnerstag, 20. Mai 2010

Leben — Nelli Neufeld Sonntagnachmittag, 10. Mai 2020

Heiraten — Nelli Neufeld Sonntagnachmittag, 10. Mai 2020

Erinnern — Nelli Neufeld Sonntagnachmittag, 10. Mai 2020

Glauben — Nelli Neufeld Sonntagnachmittag, 10. Mai 2020

Fluchen — Eugen Epp Montagmorgen, 11. Mai 2020

Haben — Nelli Neufeld Sonntagabend, 10. Mai 2020

Suchen — Nelli Neufeld Sonntagabend, 10. Mai 2020

Arbeiten — Jakob Neufeld Montagmorgen, 11. Mai 2020

Plinsen — Nelli Neufeld Sonntagabend, 10. Mai 2020

Labern — Eugen Epp Montagmorgen, 11. Mai 2020

Schlagen — Nelli Neufeld Sonntagnacht, 10. Mai 2020

Bluten — Jakob Neufeld Montagvormittag, 11. Mai 2020

Wohnen — Nelli Neufeld Montagvormittag, 11. Mai 2020

Heißen — Nelli Neufeld Montagvormittag, 11. Mai 2020

Lieben — Eugen Epp Montagvormittag, 11. Mai 2020

Ruhen — Nelli Neufeld Montagvormittag, 11. Mai 2020

Süßen — Nelli Neufeld Montagvormittag, 11. Mai 2020

Erden — Jakob Neufeld Montagvormittag, 11. Mai 2020

Lügen — Nelli Neufeld Mittwoch, 20. Mai 2020

Nachtbeeren — Nelli Neufeld Sonntag, 1. November 2020

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

I make believe That you are here It’s the only way I see clear.

Britney Spears, Everytime

Prolog

Nachtbeeren sind giftig. Mennoniten essen sie trotzdem. Man braucht viel Zucker für Nachtbeeren.

Man macht Plautz mit ihnen oder Wreneces. Das sind plautdietsche Wareniki. Man kann sie auch mit Gloms füllen. Dann muss man keinen Zucker mehr drüberstreuen, nur reichlich Schmaund Faht.

Nachtbeeren sind sehr dunkel, fast schwarz, klein und bitter. Wenn Tiere zu viele Nachtbeeren essen, schmeckt ihre Milch bitter. Gorka würden die Russen sagen und anstoßen und sich küssen und hoffen, dass der süße Kuss die Bitterkeit verschwinden lässt.

Die unreifen Früchte können zu Vergiftungen führen, aber außer kleinen Kindern und dummen Hühnern isst sowieso niemand unreife Früchte.

Manche kriegen Angst, können nicht mehr atmen, sich bewegen vor Krämpfen. Man kann dran sterben, sagen die Bücher.

In den Büchern heißen Nachtbeeren auch Schwarzer Nachtschatten. Entweder wegen der schwarzen Beeren oder durch die Wirkung, denn Schatten kann auch als Schaden verstanden werden.

Wonderberry nennen die Amerikaner sie. Nachtschaat, Nachtigaal, Tag- und Nachtkraut, Krällekesdreck, Tintenbeer, Tenteknerzcher, Schwartebobbelkrut, Giftblome, Giftkraut, Giftbeer, Teufelskraut, Düvelskiesche, Deiwelskersche, Teufelsdreck, Teufelskrall, Juddekersch, Katzenbeere, Saukraut, Sautod, Hühnertod, Schitbeeren, Scheißkraut, Morellenkraut, Alpkraut, Poschitschkebeere, Barbenkraut und wilde Kartoffel.

Man gibt ihnen all diese Namen, aber alle meinen doch dasselbe Kraut, das selbst in Berlin durch den Zement des Bodens wächst. So gut angepasst, dass sie nur Wasser und Sonne brauchen, also wachsen sie da am besten, wo keiner guckt, am Rand.

Kein Mensch weiß, woher Nachtbeeren ursprünglich kommen. Eurasien, sagen die Bücher. Ursprungsgebiet unbekannt und überall eingeschleppt, heißt es.

Nachtbeeren wachsen büschelweise. Ganz viele kleine Beeren, dichtgedrängt beieinander. Es gibt sie in der Gruppe, sie lassen einander nicht allein.

Bestimmt hat man sie schon oft gesehen, ohne zu wissen, was sie sind, denn erkennen kann man nicht, was man nicht kennt. Vielleicht wollen sie auch gar nicht erkannt, lieber in Ruhe gelassen werden. Sie sind da. Sie sind nicht kaputt zu kriegen, und sie kommen immer wieder.

Sie heißen Nachtbeeren.

Beerdigen

Nelli Neufeld Sonntagnachmittag, 10. Mai 2020

Ich werde euch alle beerdigen.

Ich sitze am Tisch bei Öma und blicke in die vollgestopften Münder meiner Brüder. Auf die Narben in ihren Gesichtern und auf ihre Hände, übersät von grünlich verblichenen Tätowierungen. Einzelne kyrillische Buchstaben, zusammengesetzt aus Nadelstichpunkten. Ein Punkt, ein Stich. Viele Sonnen. Wäre mein Mann jetzt hier, er wäre der Einzige ohne Tätowierungen und der Einzige, der das Fleisch nicht nur aufspießen, sondern Stücke davon abschneiden würde. Selbst neben seinen vier Schwagern, die Kornelius seit 15 Jahren kennt, würde er sich so verhalten, als wäre er bei einem geschäftlichen Mittagessen mit Hiesigen. Ich habe ihn schon anders essen sehen, er soll sich nicht so haben. Aber er ist ja gar nicht da.

Es ist Sonntagnachmittag, und mein Kopf ist schwer. Diese Woche ist rum, aber morgen geht es wieder los. Und dann wieder, immer wieder. Es hört nicht auf, immer wieder kommt ein Montag mit einer neuen Woche. Nur sonntags steht die Zeit still, wenn ich hier sitze, zwischen all den Menschen, die ich ohnse nenne. Sie sind von uns.

Ich höre nur das Wort Putin und stehe auf, um noch einmal aufs Klo zu gehen. Wenn ich gleich zurück bin, sind sie entweder bei Jelzin oder Hitler. Beide nennen sie scherzhaft, aber liebevoll Opa.

Der Flur ist so dunkel, dass ich das Licht anmachen müsste, um den Lichtschalter fürs Bad zu finden. Ich lasse es. Der Schalter ist ja doch an der gleichen Stelle seit fast dreißig Jahren. Die paar Schritte bis zum Bad kann ich auch im Dunkeln gehen.

Im Bad muss ich Licht anmachen. Tageslichtbad stand letztens im Mindener Tageblatt bei den Wohnungsanzeigen, wie etwas Besonderes und Wichtiges, das man betonen muss, als ob man bei Sonnenlicht besser kacken könnte.

Ich sitze auf dem Klo in diesem kleinen Bad und beobachte die Spinne in der Badewanne. Sie versucht hochzuklettern und rutscht immer wieder ab. Die Badewanne ist so weiß und sauber, die Spinne so groß und dünn. Wie heißen die Tiere? Nachtjäger? Webermann? Weberknecht? Die mit den langen dünnen Beinen. Sind das überhaupt Spinnentiere? Schneider können fliegen. Ist das ein verletzter Schneider und gar keine Spinne? Stellt die sich deshalb so dämlich an?

Ich blicke auf die Waschmaschine vor mir. Wenn ich den Arm ausstrecke, kann ich den Stoff des Schonüberzugs berühren. Links steht die zwanzig Jahre alte Kartonbox von Ariel, die immer neu aufgefüllt wird. Wahrscheinlich liegt ganz unten noch das Waschmittel vom ersten Einkauf in Deutschland. Ich kann die Perlen und den künstlichen Geruch von Sauberkeit riechen. Rechts daneben steht die gehäkelte Frau mit dem Klopapierrock. Einmal war ich bei einer hiesigen Freundin im Garten zum Spielen, und wir liefen rüber zum Nachbargrundstück, das ihrer Oma gehörte. Die trank Kaffee mit ihren Freundinnen und hatte feines Geschirr. Festes Porzellan mit dunkelgrünen Blättern und hellrosa Blumen. Ganz leise waren die Frauen, und für mich waren sie reiche Damen. Sie hatten Sachen an, die fein aussahen, und Tücher um den Hals, nicht auf dem Kopf, wie bei uns. Der Kuchen war vom Bäcker. Das habe ich sofort gesehen. Bienenstich. Die feinen Damen haben uns Kuchen angeboten, aber erst Hände waschen. Auf dem Klo habe ich dann eine gehäkelte Klofrau entdeckt. Sie war nicht neonpink und gelb wie unsere, aber sie war eine Klofrau, und ich glaube wirklich, dass es das erste Mal war, dass ich dachte, meine Freundin und ich haben etwas gemeinsam. Bienenstich mag ich bis heute nicht, aber ich habe nichts gesagt und ihn einfach gegessen, den trockenen Kuchen.

Ich greife instinktiv nach links und drehe mich leicht zum Unterbau vom Waschbecken. Da, auf der Ecke, steht das hellgelbe Kamillenklopapier. Ich rieche daran wie jedes Mal, bevor ich es benutze.

Beim Händewaschen überlege ich, ob ich der Spinne helfen soll.

Wenn die Onkel die Kinder erschrecken wollten, erzählten sie davon, wie sie in Russland die Katzenbabys in Säcke gepackt und dann gegen die Wand geschleudert haben. Bis es keinen Mucks mehr gab. Was sollten sie mit all den Katzen? Sie waren überall. Jeder tötete den Katzennachwuchs, und gegen die Wand schmettern war vielleicht sogar noch die humanste Art, sie loszuwerden. Sie mussten weg. Ob das grausam war? Klar war das grausam. Als die Onkel noch Jungs waren, hatten sie sich nicht viel dabei gedacht, es einfach gemacht, wenn es gemacht werden musste.

Manchmal gab es einen Jungen, bei dem sie wussten, dass er nicht ganz gleichgültig bei der Sache war. Wenn das ein Bruder oder ein Cousin war, dann hat man es ihm erspart. Wenn es einer aus dem Nachbardorf war, den man nicht mochte, und man wusste, dem wird übel, wenn er die Katzen schreien hört, dann war es manchmal schöner, ihm einen Sack Katzen zuzuwerfen, als ihm die Fresse zu polieren.

Ich könnte die Spinne einfangen, irgendwie nach draußen bringen und aussetzen. Aber wozu. Damit sie dort in den nächsten Stunden stirbt? Wie alt werden Spinnen überhaupt? Manchmal denke ich, alle Insekten sterben nach einem Tag. Sie schlüpfen, fressen, vermehren sich. Statt zu schlafen, sterben sie. Alles an einem Tag. Tags drauf geht es für ihre Nachkommen weiter, es hört nie auf.

Wenn ich jetzt mit dieser Spinne an allen vorbei zum Balkon laufen würde, gäbe ich ihnen für die nächsten Monate, wenn nicht Jahre, Stoff zum Erzählen. Meine Spinnenrettung würde eine weitere Geschichte werden, die sie sich gegenseitig auf Beerdigungen und Hochzeiten erzählen. Wahrscheinlich jedes Mal, wenn sie eine Spinne sehen würden. Das ist es nicht wert.

Plötzlich ist die Spinne weg. Woher soll ich jetzt wissen, ob sie wirklich da war? So müde, wie ich bin, vielleicht war da nur ein Schatten. In letzter Zeit denke ich immer wieder, etwas gesehen zu haben, oder noch schlimmer, gehört zu haben. Ich höre andauernd Kindergeschrei oder Öma, wie sie mich in unserem Haus ruft, auch wenn ich weiß, sie ist nicht da. Ich wache auf, mitten am Tag, und habe keine Ahnung, wann ich eingeschlafen bin.

Ich will noch einmal in den Spiegel sehen, bevor ich zurück ins Wohnzimmer gehe, und mache das Flurlicht an. Über der Kommode hängt das kleine Bild der spanischen Flamencotänzerinnen in ihren pinken Kleidern, und ich strecke meine Hand aus, um über das Acrylrelief zu wischen, aber mein Finger spürt nichts. Wie in dem Gemälde, diesem berühmten von Michelangelo, mit Gott und dem nackten Mann, so kurz vor einer Berührung, die Fingerkuppen sind fast da, beim anderen, aber nicht ganz. So ist das bei mir auch. Ich komme nicht weiter, auch wenn ich die Sachen anfasse, ich spüre sie nicht. Ich spüre nur das Verlangen, endlich wieder etwas berühren zu können. Ich wünschte, ich könnte die kantige Struktur des Bildes in die Stelle meines Fingers rammen, die nur noch Hornhaut ist, und wieder etwas spüren. Als Kinder haben wir uns Stecknadeln durch die Hornhaut gezogen, um die Kleinen zu erschrecken. Da haben wir ja auch nichts gespürt. Und irgendwann habe ich angefangen, die Nagelhaut abzubeißen, fest zwischen die Zähne zu packen und dann sanft zu ziehen, ganz langsam, bis sie abgeht. Wenn man das zu oft macht, ist irgendwann keine Hornhaut mehr da. Dann muss man die kleinen Hautfetzen am Nagelbett nehmen, aber das tut weh und führt zu nichts. Es macht alles nur noch schlimmer.

Ob die Flamencotänzerinnen auf dem Bild auch schon mal ihre Nagelhaut gegessen haben? Das Bild ist nicht als Deko aufgehängt worden, vielleicht ging es einfach nur darum, dass Öma und Öpa ein Schlüsselboard brauchten, und das hier ist es dann geworden. Unter den Tänzerinnen hängen alle Schlüssel, für den Keller, das Auto, den Briefkasten. Ich glaube, dass Öma und Öpa noch nie in Spanien waren, irgendwer wird es ihnen mitgebracht haben, oder sie haben es im 1-Euro-Laden gekauft.

Spanien, was ist Spanien, würden sie sagen. Sie waren ja doch schon überall, würden sie sagen und lachen. So oft am Schwarzen Meer, in Karlsbad, an der Nordsee, da mal nach China, und Berlin, überhaupt Berlin!

Ein ewiges langes Leben nur unterwegs.

Neben dem großen Spiegel über der Kommode hängt der aus Plastikfäden gestrickte Eulenkopf, der da auch schon immer hing. Scheren sind drin, Gummibänder und ein Labello. Überall sind Dinge in den Schalen, in den Schubladen, kleine Teile, viele Mützen, selbstgestrickt, und Jacken über Jacken, aber hier leben doch nur zwei Menschen. Ich möchte alles anfassen, ich möchte den Spiegel in meine Hände nehmen und noch einmal an dem Glas riechen, aber es geht nicht. Ich stehe da und sehe mich an.

Der lange schmale Flur wird vom Licht des Wohnzimmers erleuchtet. Die Türen links zum Schlafzimmer und zum kleinen Zimmer sind geschlossen, sowie die eine Tür rechts zum Bad. Über dem Eingang zum Wohnzimmer hängt nur ein großes Bild von einem hellblauen Haus ohne rosa Rittersporn, dafür mit dem weißen Lattenzaun. Aber ich weiß, dass der rosa Rittersporn da ist, man muss es sich nur vorstellen. Er ist auf jedem anderen Bild von diesem Haus. Überall muss er gewachsen sein, der rosa Rittersporn, riesig und unwirklich bunt. Hochgiftig.

Die Klamotten meiner Verwandten aus der Vergangenheit wirken gar nicht so verrückt neben dieser knalligen Blume. So viele, viele Fotos von den letzten Jahren in Russland und der ersten Zeit in Deutschland. Alles haben sie fotografiert, aber vor allen Dingen sich gegenseitig. So viele bunte Kleider, Blusen, Blousons und Jogginganzüge. Immer wieder lila und rosa und Lachen.

Dieses Bild, das da im Flur hängt, ist zur Hälfte von einem weißen Lattenzaun eingenommen. In der Mitte stehen drei kahle Bäume, und der Himmel ist grau. Das hellblaue Haus mit den weißen Fensterrahmen ist ganz im Hintergrund, und sonst ist da nichts, keine Knospe, kein Gesicht und kein Buchstabe, der sagen könnte, wo wir sind und wann das war. Waren die vielleicht stolz auf den Zaun? Oder auf das Dahinter? Das Haus, das ihnen gehört. Auf dem Land, das sie Anfang der 90er verkaufen werden, um in ein Land zu fahren, das sie ihres nennen, ohne dass sie dort irgendjemand haben wollte. Von einer unendlichen Weite ohne Freiheit in ein 12-Quadratmeter-Zimmer mit Fernseher.

Ich hebe die Hand, weil ich das Bild streicheln will, bevor ich zurück ins Wohnzimmer gehe, aber was für eine bescheuerte Idee, es würde doch nur runterfallen. Schnell zieh ich die Hand weg. Ich weiß, dass ich das Haus kenne, ich weiß, dass ich in dem Haus war, aber ich erkenne nur das Bild, nicht meine Vergangenheit. Könnte es nicht auch ein Abschiedsbild sein? Vielleicht ein letzter Schnappschuss, bevor sie wirklich abgereist sind?

Wir werden oft gefragt, ob wir nicht manchmal zurückwollen, ob wir es vermissen, wann wir es besuchen wollen, das Heimatland. Die meisten von uns sagen, wir sind in unserem Heimatland, wir haben unser Heimatland vermisst, also haben wir das Exil verlassen, um in die Heimat zurückzukehren. Es klingt vielleicht ein bisschen biblisch oder übertrieben, aber so war das für uns. Das war das Gefühl. Niemand verlässt ein Land, nimmt alles mit, fängt neu an, nur weil was Besseres warten könnte. Nein, man muss auch etwas fühlen dabei.

Ich weiß, dass es dens ehr Hus in Russland war, aber ich kann mich nicht daran erinnern, so wie ich mich nicht an mein Elternhaus erinnern kann.

Ich versuche, mich an unser Haus in Russland zu erinnern, und alle lachen. Ich versuche, mich an unser Leben dort zu erinnern, und es fällt mir schwer. Ich erinnere mich an den Zug und die Hitze und den Bus. Ich erinnere mich an Hühner und eine Kuh und viele Kühe, die eine Dorfstraße hochgetrieben werden. Ganz langsam. Es ist immer Sommer. Die Leute denken, dass es in Russland so kalt ist und andauernd viel Schnee liegt, aber ich erinnere mich nur an den Sommer. Ich glaube, dass meine Eltern meinen Bruder Eugen und mich angezogen haben und zum Bahnhof gefahren sind und gesagt haben, dass wir einen Ausflug machen. Und dann saßen wir drei Tage in einem Zug und dann in einem Flugzeug und dann in einem Bus und wachten in einem Auffanglager zwischen Tausenden Menschen auf. Aber davon weiß ich nichts. Ich kenne nur die Fotos.

Essen

Nelli Neufeld Sonntagnachmittag, 10. Mai 2020

Aus dem dunklen Flur ins helle Wohnzimmer knallt die Sonne so heftig rein, dass ich die Augen zukneifen und halbblind zu meinem Stuhl zurückfinden muss. Ich sehe fast nichts vor schwarzem Feuerwerk. Augen zu, Augen auf. Alle sitzen dichtgedrängt um diesen riesigen Tisch, und alles ist hell. Das helle Sofa, der helle Vitrinenschrank mit dem Kristall, der helle Teppich, sie fließen ineinander, in einen Teich von einem ganz hellen Braun bis Beige. Wie ein riesiger Tweeback-Teig. Das helle Holz glänzt ohne Kratzer, wie neu gekauft. Ich setze mich hin und gucke meine Brüder an. Die Bilder im Wohnzimmer hängen so hoch, dass man den Kopf in den Nacken legen muss. Während ich das Familienporträt aus den späten 90ern angucke, höre ich eine Männerstimme von ganz weit weg.

Wo ist dein Mann?

Wo soll er schon sein. Wenn er nicht hier ist, ist er bestimmt arbeiten. Rudy könnte sich die Frage sparen, er fragt nur, um gefragt zu haben. Er wird in fünf Minuten sowieso vergessen haben, dass er überhaupt gefragt hat. Vor allen Dingen, weil es ihn nicht interessiert, aber auch, weil er seit heute Morgen am Trinken ist. Ich kann sehen, dass er nicht da ist. Sein Kopf schwankt ganz leicht von einer Seite auf die andere, fast unmerklich. Die Augen sind glasig, die Nase rot, die Haare fettig, der Blick geht an mir vorbei. Wir versuchen beide, uns anzugucken, aber wir sehen nichts. Schon gar nicht einander.

Rudys älteste Kinder sind ein bisschen jünger als ich. Für ihn war ich nur ein weiteres schreiendes Balg, das mal bei ihm zu Hause war, und nicht seine kleine Schwester, seine Worte.

Jetzt haben wir Sonntagnachmittag, und ich habe Kornelius seit Donnerstagabend nicht gesehen. Wir haben uns noch zusammen schlafen gelegt, nach dem Streit, der eigentlich keiner war, schließlich streiten wir ja nicht. Keiner von uns beiden schreit, vielleicht sehen wir uns nicht genug, um zu streiten. Es war eher eine Beichte, wobei auch das nicht ganz stimmt. Ich glaube, dass es ihm nicht einmal leidtut, deswegen kann es keine Beichte sein, wenn er nicht bereut.

Am Donnerstagmorgen sagte er mir, wie die letzten Monate für ihn waren, eigentlich die letzten Jahre. Er musste immer funktionieren, wenn ich es nicht konnte. Seine Müdigkeit zählte nicht. Dass das ständige Unterwegssein ihn anstrengte, die Reisen mit den Hiesigen, bei denen er immer der fröhliche Kasper war, wo er nicht einknicken konnte, und dass es ihm immer schwerer fiel, im Glauben standhaft zu bleiben.

Ich stand mit dem Einkauf in der Küche, und er saß einfach nur da, auf diesem Stuhl, diesem dämlichen Freischwinger, auf den er bestanden hat, und machte keine Anstalten, mir zu helfen. Ich packte langsam aus, es schien ihn nicht zu stören. Ich sah ihn reden, aber ich war abgelenkt. Es war Donnerstag, das hieß, die Papiertonne musste abends noch auf die Straße gestellt werden, und ich musste die Mülleimer im Haus noch leeren und ihn bitten, auch den Mülleimer in seinem Arbeitszimmer zu leeren. Hätte ich in das Zimmer reingedurft, hätte ich den Mülleimer selber geleert. Doch einmal im Monat, immer wenn die Papiertonne fällig war, diskutierten wir deswegen.

Ich dachte weiter an den vollen Papierkorb in seinem Arbeitszimmer, während er redete.

»Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie das ist, mit dir zu leben?«

Nein, aber ich wusste, dass er zu spät kommen würde, wenn er nicht bald losfuhr.

»Ich bin noch so jung. Ich könnte noch, alles könnte ich noch! Kinder! Ich könnte jetzt noch Vater werden. Wie viele werden mit Mitte 30 zum ersten Mal Vater. Es ist noch nicht vorbei, und es muss nicht vorbei sein. Ich könnte noch einmal ganz von vorne anfangen, würdest du mir das nicht auch wünschen? Für mich?«

»Der Müll. Der Papiermüll, hast du ihn leer gemacht?«

»Der was?«

»Es ist Donnerstag.«

»Nelli, wirklich, kann irgendwas an dir normal sein? Einfach normal? Kann irgendwas an dieser Familie normal sein? Ich scheiß auf den Müll! Hörst du mir überhaupt zu? Ich habe 15 Jahre mit dir gelebt, aber es ist zu anstrengend. Ich will anstrengend nicht mehr. Ich will einfach! Ich will Liebe!«

Ich packte den Einkauf weg und spürte, wie Kornelius mich nur noch anguckte, aber was sollte ich jetzt machen, das Eis schmelzen lassen, nur weil Kornelius guckte? Kornelius schien fertig zu sein mit seinem Monolog. Eigentlich hätte er schon längst auf der Arbeit sein sollen, doch er saß dort in seiner guten Jeans und diesem Polohemd, das seinen Bauch betonte. Alles war ein bisschen zu eng. Die hellblonden Haare kurzgeschoren, kleine blaue Augen, er hätte einen guten Russen abgeben können, fehlte nur das Goldkettchen. Früher hatte er das gern getragen, irgendwann hat er es abgelegt. Gut hat er ausgesehen, kann man nicht anders sagen. Richtig gut. Also besser als viele.

Komm doch mal nach Hause und lach, meinte er dann, nahm den Schlüssel und fuhr zur Arbeit.

Am Abend, als er zurück war, erzählte er dann endlich, was er getan hatte. Er saß da, ich hockte neben ihm, machte ihm mit einem Ohrreiniger die Ohren sauber, und er sagt, er ist in eine andere Frau verliebt, und ich verletze ihn aus Versehen mit dem Ohrreiniger. Ich tat es unabsichtlich, Kornelius wusste genau, was er machte, als er es erzählte.

Aber ob er jetzt wirklich arbeiten ist oder bei dieser anderen Frau, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er weg ist, richtig weg.

Ich will Rudy nicht anlügen, außerdem ist es ihm eh egal. Ich lache also verlegen und ziehe die Schultern hoch, spielt keine Rolle, was ich sagen würde, es wäre gelogen, also sage ich nichts. Kornelius ist fast immer unterwegs, oder er arbeitet viel, es ist nicht ungewöhnlich, dass ich ohne ihn zum sonntäglichen Kaffeetrinken komme.

Du isst ja nichts.

Ich habe gegessen. Habe ich das laut gesagt? Oder nur gedacht? Mein Ton grenzt an Ungehorsam. Innerlich bereite ich mich auf das vor, was noch kommen könnte, aber niemand sagt etwas. Diesmal kriege ich keine Konsequenzen für einen dummen Spruch. Meine Anspannung löst sich, aber ich weiß, bei der nächsten Gelegenheit wird wieder jemand etwas sagen.

Ich werde euch alle beerdigen.

Mit diesem Satz schließe ich die Augen und denke mich zurück in ein schwarzes Kleid an einem sonnigen Tag am Nordfriedhof in Minden. Es ist heiß, und ich schwitze, aber ich sehe, wie die mir riesig vorkommenden Särge in die Erde gelassen werden. Der Tag wird kommen. Ich sage das nicht aus Mangel an Liebe gegenüber meinen Brüdern. Ich muss es mir vor Augen führen, weil sie älter sind. Ich werde sie irgendwann beerdigen müssen, und je früher ich mich damit abfinde, desto einfacher wird es an dem Tag werden. Mein Jetzt ist kaum zu ertragen, weil ich weiß, dass es vorbei sein wird, an dem Tag, an dem ich einen nach dem anderen beerdigen muss. Kinder beerdigen ihre Eltern, Enkel ihre Großeltern und Frauen die Männer. So wird es immer sein. Wir werden Särge so groß wie Toilettenhäuschen für diese Ochsen brauchen. Und wer soll die tragen, die Riesensärge? Traditionell tragen die Männer die Särge, das ist ihre Aufgabe als Neffen, Enkel und Söhne. Die Frauen füttern die Trauergäste, aber die Männer tragen die Körper und lassen sie in die Erde hinab. Dann gehen sie in den Keller vom Bethaus und essen Tweeback und Kuchen und Wurst.

Seit wann sind diese drei Männer eigentlich so fett? Ich erinnere mich an magere Gestalten, mit zu großen bunten Hemden im hohen Gras hinter dem Haus mit den Notwohnungen. Wir haben auf dem Boden gesessen, im Kreis um einen Grill, der nicht mal Beine hatte, auf roten Ziegelsteinen gebaut. Die Birken trennten das Rapsfeld von der Wiese, und ich frage mich heute, wer so vorausschauend wusste, dass da eines Tages jede Menge Aussiedler wohnen würden, die beim Anblick der Birken daran denken würden, wie sehr der Russe diese Bäume liebt.

Strahlende Gesichter habe ich im Kopf, wenn ich an diese Zeit denke. Vielleicht, weil sie alle so viel lachen auf den Fotos. Sie schmeißen Kinder in die Luft und trinken billigen Sekt und basteln klebrige Kronen aus Löwenzahn.

Da hatte noch keiner ein Haus, nicht mal eine Wohnung. Vielleicht, vielleicht war das die eine Zeit, in der sie wirklich keine Sorgen hatten. Gelebt haben! Wie dünn sie mal waren. Jetzt sind sie dick und träge, mürrisch, launisch, und nichts ist gut. Sie beschweren sich wegen allem. Ihre Chefs sind Schweine, ihre Arbeitskollegen dumm, und die Politiker schlimmer als in Russland. Korrupter sowieso. Schon immer gewesen! Niemand kann es ihnen recht machen, in einem Land, in dem sie alles haben, kriegen und dürfen. Außer spontane Baumaßnahmen an ihrem Haus. Das nicht. Da muss man erst zum Amt, das war besser in Russland. Du willst weißen Klinker in Russland? Mach weißen Klinker und frag niemanden. Du willst weißen Klinker in Deutschland? Du kriegst Klinker wie deine nicht zugezogenen Nachbarn, die in Häusern von 1871 leben.

Vielleicht sollten sie mal mit in die Kirche kommen. Vielleicht kriegen sie dann bessere Laune. Oder liegt es an der Verfettung? Das wäre meine größte Angst. Ich kann Essen weder ansehen noch spüren, ohne dass ich es mir direkt als Fett an meinem Körper vorstelle. Ich höre schon wieder ein Baby weinen, aber das kann nicht sein. Es hört auch sofort wieder auf. Kein Grund aufzustehen.

Rudy trägt eine Goldkette mit einem kleinen Kreuz aus dünnem Gold. Ich frage mich, wann ich ihn das letzte Mal in der Kirche gesehen habe. Zur Taufe von Öma? Wahrscheinlich. Als Öma sich mit Ende 60 sicher war, dass sie diesen Schritt gehen würde. Sie stand vor dem Chor, aufgereiht mit allen anderen Täuflingen. Die Frauen trugen weiße Blusen und schwarze Röcke, die Männer schwarze Anzüge mit weißen Hemden. Ömas Bluse war durchsichtig, und ich muss immer noch lachen, wenn ich daran denke. Sie stand vor all diesen Leuten quasi im Unterhemd. Wahrscheinlich trug sie eine Glitzerspange im Haar, doch das weiß ich nicht mehr.