Nächte des Zorns - Anna Tell - E-Book
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Nächte des Zorns E-Book

Anna Tell

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Beschreibung

Zwei Jahre sind vergangen, seit Unterhändlerin Amanda Lund aus Afghanistan nach Stockholm zurückgekehrt ist. Nach dem Mutterschutz arbeitet sie wieder beim schwedischen Sondereinsatzkommando, doch sie zweifelt an ihren Fähigkeiten. Als ein auf dem Balkan stationierter schwedischer Polizist verschwindet, scheint dessen Vorgesetzter kein Interesse daran zu haben, den Fall zu melden, erst spät erfahren die schwedischen Behörden von der Entführung. Amanda, die bereits in der Region im Einsatz war, übernimmt die Ermittlungen vor Ort. Obwohl inzwischen wertvolle Zeit verstrichen ist, gelingt es ihr, Kontakt zu den Entführern herzustellen. Zur gleichen Zeit untersuchen Amandas Stockholmer Kollegen den Hintergrund des Entführungsopfers. Was hat den Polizisten zur Zielscheibe gemacht? Schon bald stellt sich heraus, dass es um weit mehr geht als schnell erbeutetes Geld, die Gründe sind weit komplizierter und persönlicher: Es geht um Rache. Unterdessen geraten die Verhandlungen in Sarajevo ins Stocken, die Situation droht außer Kontrolle zu geraten. Amandas Fähigkeiten und Nerven werden auf eine harte Probe gestellt. Und es steht weit mehr auf dem Spiel als nur ihre Karriere ...

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Anna Tell

Nächte des Zorns

Thriller

Aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann

Über dieses Buch

Zwei Jahre sind vergangen, seit Unterhändlerin Amanda Lund aus Afghanistan nach Stockholm zurückgekehrt ist. Nach dem Mutterschutz arbeitet sie wieder beim schwedischen Sondereinsatzkommando, doch sie zweifelt an ihren Fähigkeiten.

Als ein auf dem Balkan stationierter schwedischer Polizist verschwindet, scheint dessen Vorgesetzter kein Interesse daran zu haben, den Fall zu melden, erst spät erfahren die schwedischen Behörden von der Entführung. Amanda, die bereits in der Region im Einsatz war, übernimmt die Ermittlungen vor Ort. Obwohl inzwischen wertvolle Zeit verstrichen ist, gelingt es ihr, Kontakt zu den Entführern herzustellen.

Zur gleichen Zeit untersuchen Amandas Stockholmer Kollegen den Hintergrund des Entführungsopfers. Was hat den Polizisten zur Zielscheibe gemacht? Schon bald stellt sich heraus, dass es um weit mehr geht als schnell erbeutetes Geld, die Gründe sind weit komplizierter und persönlicher: Es geht um Rache.

Unterdessen geraten die Verhandlungen in Sarajevo ins Stocken, die Situation droht außer Kontrolle zu geraten. Amandas Fähigkeiten und Nerven werden auf eine harte Probe gestellt. Und es steht weit mehr auf dem Spiel als nur ihre Karriere ...

Vita

Anna Tell lebt in Stockholm und ist Politologin und Kriminalkommissarin. Sie verfügt über zwanzig Jahre Polizei- und Militärerfahrung und war sowohl in Schweden als auch im Ausland im Einsatz. «Vier Tage in Kabul» ist ihr Debütroman und Auftakt zu einer Reihe um die schwedische Unterhändlerin Amanda Lund.

Für Alice, Sigrid, Miryam, Selma und Astrid.

When you are writing the story of your life,

don’t let anyone else hold the pen.

Prolog

Auf der Sergelgatan herrschte das übliche Gedränge. Er bahnte sich einen Weg zwischen shoppenden Stockholmern und Touristen hindurch. Je näher er der Platte kam, wie der Sergels torg im Volksmund genannt wurde, umso mehr Drogenabhängige sah er. Das Foto war einige Jahre alt, aber er wusste, dass sich die blonden Haare und die Lachgrübchen nicht verändert hatten.

Schon auf der Rolltreppe schlug ihm Uringestank entgegen. Eine Gruppe Jugendlicher starrte ihn finster an, als er auf sie zutrat. Er zückte das Foto und suchte Blickkontakt. Ein paar schüttelten den Kopf, andere drehten sich wortlos um und verschwanden. Wahrscheinlich hielten sie ihn für einen Zivilbullen. Ein paar Afrikaner – er nahm an, dass sie aus Gambia stammten – ließen ihn nicht aus den Augen, als er die Tickethalle des Hauptbahnhofs durchquerte. Er sei auf der Suche nach einer vermissten Person, erklärte er. Keiner der Männer hatte die Person auf dem Bild gesehen.

Jedenfalls behaupteten sie das.

Zwei patrouillierende Polizeibeamte näherten sich, aber auf die Hilfe der Ordnungshüter konnte er verzichten. Sie hatten ihm in all den Jahren nicht geholfen. Doch im Gegensatz zu der Gesellschaft, die schon vor langer Zeit den Mut verloren zu haben schien, gab er die Hoffnung nicht auf. Er setzte seine übliche Runde in Richtung Åhléns fort und fuhr mit der Rolltreppe zum Klarabergsviadukt hinauf. Vor den Schaufenstern des Kaufhauses standen zahlreiche Passanten. Er hielt das Foto in die Höhe. Eine Bettlerin winkte ihn heran, doch nachdem sie das Bild betrachtet hatte, schüttelte auch sie den Kopf und hielt ihm ihren Pappbecher hin, in dem ein paar Münzen lagen. Er steckte einen Zwanzigkronenschein hinein und wandte sich in Richtung Systembolaget.

Dort zog er zum letzten Mal das Foto aus der Tasche und zeigte es ein paar Männern in Malermontur mit Dosenbier in der Hand. Jemand erkundigte sich nach dem Namen, doch kein Zeichen des Wiedererkennens.

Auch heute nicht.

1

So lautlos, wie sie sich genähert hatten, nahmen sie aufs Knie gestützt die Sturmgewehre in den Anschlag. Mit dem Blick suchten sie die Umgebung ab. Bald würde die Sonne aufgehen. Der Hubschrauber hatte sie vor zwei Stunden in der Dunkelheit abgesetzt. Die Riemen des Rucksacks scheuerten an ihren Schultern. Jede Faser ihres Körpers schmerzte und schrie nach Erholung.

«Das Gebäude liegt zweihundert Meter vor uns, wir gehen weiter», befahl der Einsatzleiter leise über Funk. In lang gezogener Formation setzten sie sich wieder in Bewegung. Nur das Knirschen des Sandes unter ihren Stiefeln unterbrach die Stille. Kurz darauf hob jemand die Hand und zeigte auf ein Gebüsch. Dort sollten sie ihre Rucksäcke ablegen. Die bevorstehende Kampfhandlung erforderte Beweglichkeit.

Sie löste die kleine Ausrüstungstasche von ihrem großen Rucksack. Ihre kältestarren Finger arbeiteten langsam; mechanisch nahm sie ein Paket Sprengstoff heraus und bereitete die Sprengkapsel vor. Ein zehn Zentimeter dicker Plastiksprengstoffstreifen sollte die Holztür zerstören und ihnen das nötige Überraschungsmoment verschaffen. Und das war ihre Aufgabe.

Der Trupp näherte sich dem Gebäude. Umrisse nahmen Kontur an. In wenigen Augenblicken würden die Einsatzbeamten an der Hauswand in Position gehen und auf das Zeichen zum Zugriff warten. Amanda spürte, wie ihr jemand dreimal auf die Schulter tippte.

Es war so weit.

Das hier konnte sie.

Sie hatte es trainiert, bei Dunkelheit und auf Zeit. Unzählige Male.

Der Rest der Einheit machte sich bereit, das Gebäude zu stürmen. Die Männer richteten ihre Waffen nach oben und zur Seite, um die Fenster und das Nachbarhaus zu sichern.

Rasch rannte sie die letzten Meter zur Tür. Der Ablauf – jede Bewegung, jeder einzelne Handgriff – war ihr blind vertraut. Sie schob ihre Sig Sauer, die sie bis zu diesem Moment zu ihrem Schutz in der Hand gehalten hatte, ins Beinholster. Für ihre Aufgabe benötigte sie beide Hände.

Amanda hielt den Sprengsatz in der linken Hand und tastete mit der rechten nach einer Stelle an der Tür, um ihn anzubringen.

Die Tür war kalt und glatt.

Verdammt!

Eine Eisentür mit einem modernen Schloss, vermutlich eine Sicherheitstür. Ohne sichtbare Scharniere, an denen sie die Sprengladung hätte befestigen können.

Amanda schluckte, atmete durch die Nase ein und ließ die Luft langsam entweichen. Ihr Atem dampfte in der Kälte.

Das hier würde nicht funktionieren. Die Tür war zu massiv. Ihren Informationen zufolge hätte sie aus Holz sein müssen.

In Windeseile kalkulierte sie die erforderliche Sprengstoffmenge. Ihr war klar, was auf dem Spiel stand, wenn sie die Tür nicht aufbekam.

Kostbare Sekunden verstrichen.

In der kleinen Ausrüstungstasche auf ihrem Rücken befanden sich weitere vorbereitete Sprengstoffpakete. Sie hatten Pentylzünder, waren sehr viel stärker als der weiche, formbare Plastiksprengstoff. Amanda zerrte die Tasche vom Rücken, und einen Moment später hielt sie einen neuen Sprengsatz in der Hand.

Sie musste die Tür aufbekommen, eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Ihr Puls raste. Das hier durfte nicht schiefgehen.

Routiniert befestigte Amanda die Sprengladung mit doppelseitigem Klebeband an der Stelle, an der sie das oberste Türscharnier vermutete. Dann kniete sie sich hin und wiederholte den Vorgang auf Höhe des unteren Scharniers. Ihr Knieschutz verrutschte, und die kalte Steintreppe drückte gegen ihre Kniescheibe.

Ihre Finger arbeiteten schnell und präzise. Als sie den unteren Teil der Tür präpariert hatte, verlagerte sie ihr Körpergewicht in Richtung Klinke und montierte die letzte Sprengladung am Schloss. Sie spürte die fragenden Blicke der anderen im Nacken.

Sie hatte lange gebraucht, und aus Sekunden waren Minuten geworden. Sie befestigte noch eine Sprengkapsel am freien Ende des Zünders. Dann gab sie dem Trupp das Zeichen zurückzuweichen und zischte in ihr Funkgerät: «Wir müssen den Sicherheitsabstand erhöhen, die Ladung ist stärker als geplant.»

Amanda zog den Zünddraht aus einer Tasche ihrer Kampfweste, brachte sich hinter einem Betonpfeiler in Deckung und verband den Draht mit dem Zünder.

Sie signalisierte den anderen, dass sie so weit war, und wartete angespannt, den Blick fest auf die Tür geheftet.

Hoffentlich hatte sie alles richtig gemacht. Der Erfolg der Operation lag in ihren Händen. Dies war der einzige Weg ins Haus.

Der Truppenchef befahl einem zweiten Einsatzleiter, der mit seiner Einheit in einiger Entfernung auf Anweisungen wartete, sich bereitzuhalten. Die Bestätigung folgte sofort.

Als Amanda den Zünder drückte, nahm sie in einem der Fenster des Nachbarhauses eine Bewegung wahr. Sie riss ihre Sig Sauer aus dem Holster und schrie so laut sie konnte: «Feind auf drei Uhr!» Ihre Stimme ging im Lärm der Explosion unter. Der Boden bebte, und der ohrenbetäubende Knall hallte zwischen den Gebäuden wider.

Amanda feuerte mehrere Schüsse auf das Fenster ab und suchte erneut Deckung. Dann folgte ein Schusswechsel, und Stimmen waren zu hören.

Falls sich der Feind in den Nachbarhäusern verschanzt hatte, würde er sie aus mehreren Richtungen unter Beschuss nehmen.

Sie musste die Gefahrenzone verlassen.

Wenn sie es bis zur nächsten Hauswand schaffen würde, wäre sie in Sicherheit und ihr Schusswinkel besser. Aber dafür brauchte sie Feuerschutz. Amanda funkte den Einsatzleiter an und machte sich bereit. Ihre Hände waren schweißnass. Sie hatte Mühe, die Waffe festzuhalten. Sie verfluchte die unhandliche Größe der Sig Sauer. Niemand hatte daran gedacht, ein kleineres Modell für sie zu bestellen.

Wie oft hatte sie überhaupt gerade geschossen? Sie hatte nicht mitgezählt. So einen Fehler machten nur Anfänger, keine erfahrenen Beamten wie sie. Sicherheitshalber ging sie hinter dem Betonpfeiler in Deckung und wechselte das Magazin.

Ein neuerlicher Schuss in ihre Richtung.

Sie musste weg. Auf der Stelle.

Sie hatte keine Wahl. Sie konnte nicht länger auf Unterstützung warten.

Amanda schob die Sig Sauer ins Beinholster zurück und umklammerte ihr Sturmgewehr. Nur fünf, sechs Schritte, dann würde sie im Schutz der Mauer stehen, könnte sich neu positionieren und die Situation unter Kontrolle bringen.

Feuer und Bewegung.

So gewann man im Gefecht die Oberhand.

Amanda strich mit der freien Hand über die Kampfweste.

Sämtliche Taschen waren verschlossen. Sie nahm alle Kraft zusammen, stieß sich ab und rannte los. Als sie sich ins nasse gelbe Laub auf die Erde warf, spürte sie einen brennenden Schmerz im Oberschenkel.

Amanda nahm gerade noch wahr, dass sich ihr Hosenbein dunkel verfärbte. Dann tauchte am Rand ihres Blickfelds ein undeutlicher Gegenstand auf und schlug mit voller Wucht gegen ihren Kopf.

2

«Ich glaube, du warst kurz bewusstlos, Amanda. Bist du in Ordnung?», fragte Per, einer der Übungseinsatzleiter. Er reichte ihr eine Wasserflasche und half ihr, sich an der Hauswand aufzusetzen.

«Mhm», murmelte Amanda und tastete ihre Schläfe ab. Ihr Kopf dröhnte, als wollte er jeden Moment zerspringen.

«Lasse hat dir einen ziemlichen Schlag verpasst. Er hat wohl geglaubt, du wärst vorbereitet.»

Ein Nahkampfszenario mit einem Angreifer im Vollschutzanzug war eigentlich nichts, wovor Amanda sonst zurückschreckte. Doch diesmal hatte sie ihn nicht einmal kommen sehen.

«Ich hätte ihn bemerken müssen.»

«Dein Trefferbild ist akzeptabel. Allerdings reagierst du zu langsam. Man merkt, dass du eine Weile weg warst. Wann bist du noch mal in den Mutterschaftsurlaub gegangen?»

«Vor achtzehn Monaten – und es heißt Elternzeit», erwiderte sie. Sie betrachtete den blauen Farbfleck, den die FX-Munition auf ihrem Oberschenkel hinterlassen hatte.

Bei FX-Munition handelte es sich um Farbprojektile, wie sie auch beim Paintball eingesetzt wurden, nur dass sie bei den Trainingseinheiten ihre eigenen Waffen und ihre eigene Ausrüstung benutzten. Dort wo sie den Treffer kassiert hatte, würde sich garantiert ein stattlicher Bluterguss bilden. Doch ihr steifer, schmerzender Nacken bereitete ihr größere Probleme.

«Eine lange Zeit, aber bei Zwillingen ist das wahrscheinlich notwendig?»

«Ja, vermutlich», erwiderte sie und hoffte, dass sie nicht wieder mit Fragen zu Mirjams und Linneas Vater gelöchert würde.

Außer ihrem engsten Kollegen Bill Ekman hatte niemand von ihrer Beziehung mit André gewusst. Weil sie inzwischen ohnehin keinen Kontakt mehr hatten, sah sie keinen Grund, warum sie ihn erwähnen sollte. Sie nahm an, die übrigen Kollegen im Torpet mutmaßten, sie hätte in Dänemark eine In-vitro-Fertilisation durchführen lassen.

«Trink einen Schluck Wasser und ruh dich aus. Dann machen wir eine kurze Auswertung. Ich sehe mal in meinem Kalender nach, wann wir den nächsten Termin vereinbaren können. Noch ein paar Einsatzübungen, und du bist wieder in Topform.»

«Danke. Wann findet eigentlich der Konditionstest statt?», fragte Amanda. Bei ihren gegenwärtigen Kampf- und Schießfertigkeiten war Per gewiss nicht der einzige Übungsleiter, der Termine in seinem Kalender für sie freihalten musste.

«Mitte Dezember. Aber da mach dir mal keine Gedanken.»

Amanda nickte und lächelte schief. In acht Wochen. Wäre sie ein Mann und hätte ihre Elternzeit wie die ihrer ausschließlich männlichen Kollegen beim Sondereinsatzkommando nur sechs Monate gedauert, würde ihr der Konditionstest jetzt keine schlaflosen Nächte bereiten. Aber nach der Schwangerschaft und der achtzehnmonatigen Auszeit konnte von Topform keine Rede sein. Und sie fühlte sich auch nicht mehr unbedingt wie eine der kompetentesten Unterhändlerinnen Schwedens.

«Übrigens soll ich dir von Bill ausrichten, dass ihr heute Nachmittag eine Besprechung im Torpet habt.»

Der Torpet war das Hauptquartier des Nationalen Sondereinsatzkommandos in Sörentorp.

«Mit wem?»

Was hatte Bill sich dabei gedacht? Er sollte sie inzwischen gut genug kennen, um zu wissen, dass ihr derzeit nicht der Sinn nach einer Besprechung stand. Sie brauchte Zeit für sich, um sich wieder einzugewöhnen, um ihre Ausrüstung durchzugehen und auf Stand zu bringen, damit sie jederzeit einsatzbereit wäre. Außerdem hatte sie noch allein auf dem Schießstand trainieren wollen. Sie musste endlich wieder auf der Linie stehen – ohne einen Ausbilder im Nacken, der ihr Trefferbild und ihr Reaktionsvermögen auswertete.

«Da musst du ihn fragen. Ich nehme an, er hätte es mir gesagt, wenn er gewollt hätte, dass ich es weiß.»

Amanda nickte. Das war das übliche Prozedere. Informationen über laufende oder bevorstehende Einsätze erhielten nur diejenigen, die damit betraut wurden.

Sie griff nach ihrem Handy, und auf dem Display leuchtete das Hintergrundbild auf: die Zwillinge, wie sie ihren ersten Geburtstag mit einer Schokoladentorte feierten. Zwei lachende Blondschöpfe mit Pausbäckchen.

Amanda warf einen Blick auf die Uhr. Alva würde sie bald wecken und ihnen die Fläschchen machen. In ein paar Stunden wäre sie wieder bei ihnen zu Hause, und sie würden an ihrem Hals hängen, Mama rufen und ihr abwechselnd feuchte Babyküsse aufdrücken. Sie war froh, dass die beiden einen Platz in der Kita am Kronobergspark bekommen hatten – keine hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt.

Amanda schluckte und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, als Bill sich meldete.

«Seid ihr immer noch in Kungsängen?»

«Ja, auf der Trainingsanlage. Ich lecke meine Wunden und warte auf die Auswertung», antwortete sie und schob sich die Stöpsel ihres Headsets in die Ohren.

«Wie ist es gelaufen?»

«Insgesamt okay, glaube ich. Nur meine Leistung … war leider alles andere als gut.»

Kalte Luft drang in ihren Halsausschnitt und unter ihre Schutzweste. Sie fröstelte und bereute, nicht ihre neue Funktionsunterwäsche aus Merinowolle angezogen zu haben, die besser isolierte und Feuchtigkeit ableitete.

«Sei nicht so hart zu dir. Du bist gerade mal knapp eine Woche wieder dabei. Was hast du erwartet?»

«Bill, ich glaube, du verstehst nicht, was für eine Herkulesaufgabe das ist. Ich habe seit dem Entführungsfall in Kabul keine Waffe mehr in der Hand gehalten, und meine Kondition ist absolut im Keller.»

«Ich war nach meiner Elternzeit mit Elvira und Emanuel auch ein bisschen eingerostet. Das ist ganz normal.»

Amanda holte tief Luft und seufzte. Bills Frau Sofia war eine Ewigkeit mit den Kindern zu Hause geblieben und hatte danach nur noch Teilzeit gearbeitet. Wenn nicht einmal Bill verstand, dass ihr Selbstvertrauen auf dem Tiefpunkt war, würde es auch niemand anders in der Truppe tun.

Mit der freien Hand tastete sie nach den Voltaren-Tabletten, die in einer Tasche ihrer Kampfweste steckten. Vor der Übung hatte sie in weiser Voraussicht zwei genommen. Ihr Körper war stundenlanges Marschieren in voller Einsatzausrüstung inklusive Rucksack nicht mehr gewohnt. Sie hatte geahnt, dass sie Schmerzen haben würde, aber sie hatte nicht damit gerechnet, in Ohnmacht zu fallen und sich obendrein um ein Haar eine Gehirnerschütterung zuzuziehen.

«Kommst du bitte auf dem schnellsten Weg in den Torpet? Tore hat einen merkwürdigen Fall reingekriegt, den er mit uns besprechen will.»

«Tore?»

«Ja, Tore. Lass die Auswertung sausen und komm hierher.»

Verlockend, dachte Amanda; auf diese Weise würde sie sich die Kommentare ihrer Kollegen ersparen, dass die erhöhte Sprengladung zwar gut gewesen sei, aber ihr mangelndes Reaktionsvermögen im Anschluss dem ganzen Team Probleme bereitet hatte.

«Es geht also um einen Fall, bei dem ein Unterhändler benötigt wird?»

Wenn Tore die Sache anstieß, war ziemlich klar, um welche Art Auftrag es sich handelte. Zum Glück gab es pro Jahr nur eine Handvoll Fälle, in denen schwedische Staatsbürger als Geiseln genommen wurden, aber die waren zeitaufwendig, und nur ein sehr kleiner Personenkreis wurde damit betraut. Tore arbeitete, solange Amanda denken konnte, in der Abteilung für Kapitalverbrechen innerhalb der NOA und schien nicht die geringste Absicht zu haben, in Rente zu gehen.

«Sieht ganz danach aus.»

«Warum ich?», fragte Amanda, drückte zwei gelbe Tabletten aus dem Blister und schluckte sie mit etwas Wasser hinunter.

«Weil du unsere beste Unterhändlerin bist und den Balkan am besten kennst.»

Amanda holte tief Luft. Augenblicklich verspürte sie das ambivalente Gefühl der Hassliebe. Als Offizierin der aus Schweden entsandten Streitkräfte auf gemeinsamen Auslandsmissionen hatte sie vor einigen Jahren jedes noch so kleine Dorf in Bosnien und Herzegowina sowie im Kosovo besucht. Sie hatte die Arbeit geliebt, und tatsächlich kannte niemand den Balkan besser als sie. Deshalb hatte man ihr vor sechs Jahren auch die Verhandlungsführung in Pristina übertragen, obwohl sie damals gerade erst ihre Ausbildung beendet und über keine nennenswerte Einsatzerfahrung verfügt hatte.

«Möglicherweise, aber das ist inzwischen einige Jahre her», antwortete sie zögernd.

«Denkst du … Ich meine … Denkst du noch oft daran, was damals passiert ist?»

«Jeden Tag. Jede Nacht. Du nicht?»

«Nicht mehr. Vielleicht würde es dir guttun, dorthin zurückzukehren. Meinst du, du könntest dich für ein paar Tage von den Zwillingen trennen?»

Amanda betrachtete das Handybild von Mirjam und Linnea. Ihr schnürte sich der Hals zu. Erst nach einer Weile fragte sie: «Es wird also jemand vermisst?»

Sie hörte, wie Bill am anderen Ende seufzte.

«Einer von uns.»

«Was meinst du damit?»

«Ein Polizist.»

3

Amanda betrat den Umkleideraum und ließ ihre Tasche auf den gekachelten Fußboden fallen. Das Reinigungspersonal musste gerade erst da gewesen sein. Es roch nach Putzmitteln und Desinfektionsspray; nirgends ein verschwitztes Kleidungsstück. Man hatte fast den Eindruck, in der Umkleide eines Fitnessstudios zu stehen. Doch sobald ihre Kollegen zurückkämen, würde der Zitronenduft innerhalb weniger Minuten durch den Geruch von Schweiß und getragenen Kampfwesten ersetzt – vermischt mit dem Duft von Laub, Tannennadeln und Moos. Und vor den hohen Spinden würden sich Uniformen, Thermounterwäsche und Stiefel türmen.

Amanda ging in den abgetrennten Bereich der Umkleide, der eigens für sie eingerichtet worden war – für die einzige Frau bei der Sondereinsatztruppe. Sie sprang unter die Dusche und betrachtete den faustgroßen blauen Fleck auf ihrem Oberschenkel, der bereits dunkelviolett schillerte. Sie hätte ihn mit einem Eisbeutel kühlen sollen.

Anschließend schickte sie Bill eine SMS: «Machst du Kaffee? Bin in fünf Minuten da.»

Noch ehe sie das Telefon aus der Hand gelegt hatte, kam seine Antwort: «Schon fertig.»

Amanda lächelte. Das hatte sie vermisst. Die Umkleide. Den Muskelkater. Bei einer Tasse Kaffee über einen möglichen neuen Fall zu diskutieren – einen Fall, der ihre Hilfe erforderte. Jemand zu sein, der einen Beitrag leistete.

Als sie am Fitnessraum vorbeikam, warf sie einen Blick durch die Glasscheibe. Zwei Kollegen machten mit Gewichtswesten bekleidet Klimmzüge an der Stange. Das Bild wiederholte sich jeden Herbst, wenn der alljährliche Konditionstest näher rückte. Pull-ups und Chin-ups wurden mit zusätzlichen Gewichten am Körper trainiert, genau wie die Dips für die Brust- und Trizepsmuskulatur – um für den Ernstfall gerüstet zu sein, bei dem man sich in schwerer Kampfausrüstung bewegen musste.

Das Kletterseil hing einsatzbereit von der Decke. Daneben stand eine Dose Magnesium auf dem Boden. Je später die Kletterübungen am Tag des Konditionstests stattfanden, umso schwieriger wurde die Aufgabe. Da konnte man sich die Handflächen noch so sehr mit Magnesium einreiben; wenn man bei den anderen Disziplinen sein Bestes gegeben hatte, war die Milchsäure bereits zwangsläufig in die Armmuskulatur geschossen.

Vor der Anschlagtafel im Flur blieb Amanda stehen und ging die einzelnen Disziplinen Punkt für Punkt durch. Der Cooper-Test sollte ihr keine Probleme bereiten. Sie war gelenkig und schnell. Hindernisse überwand sie rascher als die meisten anderen, ganz gleich, ob sie sie übersprang oder unter ihnen hindurchkroch. Das Laufen in voller Einsatzausrüstung würde dieses Jahr eine größere Herausforderung darstellen. Ihre Joggingrunden mit dem Kinderwagen um Kungsholmen in allen Ehren, aber ein Dreikilometerlauf mitsamt Kampfweste, Stiefeln und Waffe erforderte wesentlich mehr Kraft und Ausdauer.

Als sie sich der Treppe näherte, hörte sie Tores monotone Stimme aus der Küche. Bill klapperte mit Bechern und schenkte Kaffee ein. Bei ihrem letzten gemeinsamen Auftrag hatte Amanda auf der Suche nach zwei entführten schwedischen Diplomaten ganz Afghanistan durchkämmt, während Bill und Tore parallel in einem Mordfall in Stockholm ermittelt hatten. Dabei hatten sie dem Außenministerium nahezu täglich über Amandas Fortschritte in Kabul Bericht erstatten müssen. Obwohl ihre Arbeit sowohl in Afghanistan als auch in Schweden von höchsten Regierungskreisen behindert worden war, hatten sie die beiden Diplomaten am Ende lebend befreien können. Die Aufklärung des Falls hatte weitreichende politische Folgen gehabt: Ein Staatssekretär war von seinem Amt zurückgetreten, und ein geplanter Staatsbesuch des afghanischen Präsidenten war abgesagt worden.

«Amanda, du hast mir gefehlt!», rief Tore überschwänglich, als sie den Pausenraum betrat.

«Du mir auch», erwiderte sie und schloss ihn in die Arme.

Tore sah noch durchtrainierter aus, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Er war gerade aus einem Florida-Urlaub zurückgekehrt und schien die freien Tage mit seiner Frau Lena für Trainingseinheiten am Strand genutzt zu haben.

«Achtzig Prozent Kaffee und zwanzig Prozent Milch für dich», sagte Bill und reichte ihr einen granitgrauen Becher mit dem Emblem des Sondereinsatzkommandos: drei goldgelben Kronen über einem sich aufbäumenden, feuerspeienden Panther. Bill trank wie immer aus seinem eigenen Becher, dem mit dem Foto seiner beiden Kinder. Obwohl er ihn grundsätzlich mit der Hand spülte, war das Bild inzwischen verblasst.

«Wir kommen besser sofort zur Sache, möglicherweise muss es schnell gehen», sagte Tore und zog eine dicke rote Mappe aus seiner Tasche, auf der der Name Åke Jönsson stand.

Typisch Tore, dachte Amanda. Organisiert und vorbereitet wie immer, um Bill und ihr die Arbeit zu erleichtern. Ganz bestimmt hatten seine Mappen je nach Art des Falls auch unterschiedliche Farben.

«Wer hat Jönsson als vermisst gemeldet?», fragte Bill, kratzte sich am Bart und setzte sich aufs Pausensofa.

«Seine Frau Magdalena», antwortete Tore, zog eine Vermisstenanzeige aus der Mappe und legte sie so auf den Tisch, dass sie sie zu dritt einsehen konnten.

Amanda überflog den knappen Bericht, der lediglich geschrieben worden war, um den Formalanforderungen für die Voruntersuchung zu genügen. Er enthielt Personalien und Meldeadresse sowie Zeitpunkt und Ort des Tatbestands. Die wesentlichen Informationen würde sie den Befragungsprotokollen entnehmen.

Aus der Anzeige ging hervor, dass Åke Jönsson sechsundfünfzig Jahre alt war, in der Nähe von Ella gård in Täby wohnte und zum Zeitpunkt seines Verschwindens als entsandter schwedischer Polizist Dienst in Pristina geleistet hatte.

«Was sagt die Ehefrau?», fragte Amanda.

«Sie ist außer sich vor Sorge. Wir müssen zu ihr fahren und mit ihr sprechen. So etwas sei noch nie vorgekommen, sagt sie, aber in letzter Zeit seien in der Nähe ihres Hauses merkwürdige Dinge vor sich gegangen.»

«Zum Beispiel?»

«Sie hat sich beobachtet gefühlt und glaubt, fremde Männer in ihrem Garten gesehen zu haben … Ich weiß nicht, es klang ziemlich wirr.»

«Warum hat sie ihren Mann denn erst nach drei Tagen vermisst gemeldet?» Amanda tippte auf den Anfang des Berichts.

«Wenn ich sie richtig verstanden habe, kommt Jönsson jedes zweite oder dritte Wochenende auf Heimatbesuch nach Stockholm. Er war erst in der vergangenen Woche hier, und da war alles wie immer. Wenn Jönsson in Pristina ist, telefonieren sie abends. Als er sich nicht gemeldet hat, schob sie es zunächst auf die Arbeitsbelastung», antwortete Tore und krempelte die Hemdsärmel hoch, sodass seine gebräunten Arme zum Vorschein kamen.

«Das erklärt immer noch nicht, warum sie drei Tage gewartet hat», erwiderte Amanda und las weiter.

«Vielleicht hielt sie es für ein bisschen zu dramatisch, sofort die Polizei einzuschalten, solange sie sich nicht ganz sicher war, dass er tatsächlich verschwunden ist», mutmaßte Tore.

«Wie lautet deine Hypothese?», fragte Bill.

«Ich habe mit Martin Blom gesprochen, Jönssons Vorgesetzten in Pristina, und denke, wir sollten ihn so schnell wie möglich vor Ort befragen», gab Tore zurück und nahm einen Becher Blaubeerquark aus dem Seitenfach seines Rucksacks. Er löste den Plastiklöffel vom Rand und zog den Deckel ab. Amanda musste gar nicht erst auf die Uhr sehen, um zu wissen, dass es Punkt neun war – die übliche Zeit für Tores zweites Frühstück.

«Weshalb?», fragte Bill.

«Weil seine Geschichte unwahrscheinlich klingt. Wenn Jönsson zwei, drei Tage nicht zur Arbeit erscheint, sollte man doch erwarten, dass Blom in irgendeiner Form hellhörig wird. Blom ist Jönssons direkter Vorgesetzter und außerdem Kontingentchef für sämtliche schwedischen Kräfte im Rahmen der EULEX-Mission», erklärte Tore in seinem typisch monotonen Tonfall.

Die nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Jahr 2008 von der EU ins Leben gerufene EULEX-Mission unterstützte die kosovarischen Behörden beim Aufbau eines rechtsstaatlichen Polizei-, Justiz- und Zollwesens. Außerdem befassten sich die Mitarbeiter mit Dingen, mit denen man die örtlichen Behörden nicht betrauen wollte, wie der Aufklärung von Kriegsverbrechen und der Bekämpfung der Korruption.

«Könnte Jönsson aus freien Stücken verschwunden, also untergetaucht sein?», fragte Amanda.

Tore zuckte mit den Schultern und löffelte seinen Quark. «Wir sollten erst mal ganz unvoreingenommen an die Sache herangehen. Die NOA will, dass so wenige Informationen wie möglich nach außen dringen. Sollte sich das Ganze als Bagatelle erweisen, wäre das für das Vertrauen der Öffentlichkeit in die schwedische Polizei nicht gerade förderlich. Und falls wir es mit einer Entführung zu tun haben, ist die Angelegenheit ohnehin unter Verschluss.»

«Warum sollte jemand auf dem Balkan einen schwedischen Polizisten entführen? Jeder weiß, dass nach einem Polizeibeamten mit Hochdruck gesucht wird», wandte Amanda ein.

«Vielleicht hatten die Entführer keine Ahnung, dass Jönsson Polizist ist. Er sieht nicht unbedingt wie ein Vertreter der Ordnungsmacht aus», erwiderte Bill und zeigte auf ein Foto von Jönsson.

Vielleicht nicht von Bills Warte aus, dachte Amanda und schmunzelte. Der Mann auf dem Foto hatte große blaue Augen und eine beginnende Glatze. Er lachte in die Kamera und wirkte eher wie ein Dorfpolizist, der Kindern und alten Leuten über die Straße half, als wie ein Ermittler, der auf dem Balkan die Organisierte Kriminalität bekämpft.

«Das Wahrscheinlichste ist, dass er einen Unfall hatte. Oder dass er in irgendeiner Spelunke in einen Streit geraten ist und weggesperrt wurde», sagte Amanda und blätterte durch die Unterlagen in Tores Mappe.

Sie überflog ein EULEX-Dokument, das den Auftrag der Mission in Pristina skizzierte. Jönsson arbeitete seit dem 1. März 2016 als Berater eines albanischen Polizeichefs und war für zwölf Monate entsandt.

«Wie lange soll die EULEX im Kosovo denn noch tätig sein? Ich dachte, der Auslandseinsatz neigt sich allmählich dem Ende zu?», fragte Bill.

«Das Mandat läuft noch bis 2018. Momentan sind ungefähr achthundert Mitarbeiter aus sämtlichen EU-Mitgliedsstaaten vor Ort», antwortete Tore.

«Und wie viele Schweden?», erkundigte sich Amanda, während sie weiterlas.

Der vermisste Åke Jönsson wohnte wie die meisten entsandten Polizisten im oberhalb von Pristina gelegenen Stadtteil Dragodan, in dem Botschaften und Luxusvillen das Straßenbild beherrschten. Dort lebten die, die Geld hatten.

«Zurzeit zwölf – zwei davon in leitender Position», erklärte Tore. «Ich habe mich erst heute Morgen auf den letzten Stand bringen lassen.»

«Wo stehen wir insgesamt?» Bill schenkte ihnen Kaffee nach. «Ich nehme an, die Sache hat Priorität?»

«Allerdings. Das Letzte, was die schwedische Polizei angesichts all der Kritik an der Neuorganisation gebrauchen kann, ist ein entführter Kollege. Der NOA-Chef hat heute Morgen angeordnet, dass umgehend geeignete Beamte nach Pristina geschickt werden sollen.»

«Welche Konstellation schwebt dir vor?», fragte Bill. Er sah zu Amanda, als wäre er gespannt, wie sie reagieren würde.

«Amanda und ich fliegen nach Pristina», sagte Tore. «Falls sich herausstellt, dass wir es mit einem Entführungsfall zu tun haben und ein Verhandlungsführer gebraucht wird, ist sie bereits vor Ort. Bill, kannst du mit Jönssons Frau sprechen und unser Ansprechpartner in Stockholm sein? Wäre das in Ordnung für euch?»

Balkan. Kosovo. Pristina.

Der Ort, den sie mit einem beruflichen Versagen verknüpfte, das sie bis heute in ihren Träumen heimsuchte.

Amanda griff nach ihrem Handy. Alva, das Kindermädchen der Zwillinge, das inzwischen bei ihnen in der Parkgatan im Gästezimmer wohnte, hatte ihr eine SMS geschrieben: «Der Morgen lief gut. Nur als ich sie zur Kita gebracht habe, gab es kurz Tränen. Soll ich sie um 15 Uhr abholen?» Amanda lächelte, als sie das Foto sah, das Alva angehängt hatte: Mirjam und Linnea auf dem Weg zur Kita, dick eingemummelt in ihrem Kinderwagen. Inzwischen waren sie keine Babys mehr und würden ein paar Nächte ohne sie auskommen, das wusste sie. Alva war keine Partygängerin und kümmerte sich gern um Kinder, während ihre Kommilitonen das Studentenleben auskosteten. Sie schrieb zurück: «Ich bräuchte für ein paar Tage Vollzeit-Hilfe mit den Zwillingen. Kannst du?»

Unterdessen hatte Bill seinen Kalender konsultiert. «Von meiner Seite gibt es keine Einwände. Sofia veranstaltet am kommenden Wochenende bei uns zu Hause ein Yoga-Retreat für ihre Freundinnen. Ich bleibe also im trauten Heim, kümmere mich um die Kinder und spiele Mädchen für alles.»

Amanda warf einen Blick auf Bills Kalender. Fast allabendlich Treffen der Anonymen Alkoholiker. Tagsüber Freizeitaktivitäten von Elvira und Emanuel. Dann Sofias Yoga-Kurse. Familie Ekman schien inzwischen ein geregeltes Leben zu führen. Und sie lebten es gemeinsam.

«Und, kannst du fliegen?» Bill musterte Amanda.

Amanda nickte langsam und hörte sich sagen: «Ich muss nur vorher für ein paar Stunden nach Hause.»

«Schaffst du es bis sechzehn Uhr heute Nachmittag? Da ginge ein SAS-Direktflug nach Pristina», erwiderte Tore, der die Flugverbindungen schon gegoogelt hatte.

«Dann landen wir um kurz nach sieben, oder?», fragte Amanda, als im selben Moment ihr Handy summte.

Alva. «Kein Problem, ich muss nicht mal zur Uni, sondern für eine Prüfung lernen.»

«Gut, dann können wir Blom noch heute Abend befragen und uns einen Überblick verschaffen. Ist das für dich machbar?», hakte Tore nach.

Amanda nickte. Sie würde Alva zum Dank ein Geschenk mitbringen.

«Ich sage Blom Bescheid, damit er uns am Flughafen abholt.» Tore schob seine Unterlagen zusammen und stand auf.

Amanda begann umgehend, eine Packliste zu schreiben. Das hatte sie früher nie gemacht. Beim Sondereinsatzkommando wusste man genau, welche Dinge man mitnehmen und an welcher Stelle jeder einzelne Gegenstand liegen musste. Aber nach achtzehn Monaten Auszeit wollte sie kein Risiko eingehen.

4

Als sie aus dem Flugzeug stiegen, schlug Amanda der gleiche Geruch wie sechs Jahre zuvor entgegen. Aus den Schloten des Kohlekraftwerks vor der Stadt stieg dichter schwarzer Rauch – die schlimmste Umweltsünde im ganzen Kosovo, wenn nicht in ganz Europa.

«Stinkt es hier immer so?» Tore rümpfte die Nase.

«Warte, bis dir der Dreck in den Poren sitzt und dein Taschentuch schwarz wird, wenn du dir die Nase putzt», entgegnete Amanda lächelnd.

In der Ankunftshalle hing Zigarettenrauch wie Nebelschwaden in der Luft. Überquellende Aschenbecher auf sämtlichen Tischen und entlang der Gepäckbänder. Überall schwelten Kippen vor sich hin. In keiner anderen Gegend der Welt schien es so viele Raucher zu geben wie auf dem Balkan.

«Das muss Blom sein», sagte Tore und deutete auf ein paar Wartende hinter der Glasscheibe.

Nur eine Person trug ein hellblaues Popelinehemd und eine schwarze Lederjacke mit der schwedischen Fahne auf dem Oberarm. Bis auf seine zu langen Koteletten schien der Mann Wert auf sein Äußeres zu legen. Er hatte sich frisch rasiert und einen akkuraten Seitenscheitel gezogen. Tore nickte dem Mann zu, der grüßend die Hand hob.

«Wo befragen wir ihn?», wollte Amanda wissen und nahm ihre schwarze Reisetasche vom Gepäckband.

«Das Büro liegt in der Nähe des Krankenhauses an der Ernest Koliqi Street. Blom soll uns direkt dort hinfahren.» Tore angelte seinen Pass hervor.

Amandas Augen brannten vom Zigarettenrauch, und sie sehnte sich danach, an die frische Luft zu kommen. Sie schaltete ihr Handy an und wurde von einem Mobilfunkanbieter in der Republik Kosovo willkommen geheißen. Für manche war der Kosovo nur eine kleine Provinz, für andere eine autonome Republik, von der Fläche nicht größer als das südschwedische Schonen.

In der Ankunftshalle bot sich ihnen das übliche Bild: ein Gewimmel von Menschen, die ohne ersichtlichen Grund am Flughafen zu sein schienen. Cafés, die Cappuccino mit Kakaodekor auf dem Milchschaum servierten, in einer weißen Tasse mit Untertasse, auf der ein Tütchen Zucker und ein Plastikstäbchen zum Umrühren lagen.

«Willkommen in Pristina.»

Martin Blom gab ihnen die Hand. Er hatte tiefe Falten um die Augen. Amanda schätzte ihn auf Anfang, Mitte fünfzig. Er trug eine protzige Armbanduhr, und an seinem Mittelfinger funkelte der goldene UN-Missionsring. Das Schmuckstück wurde auch Puzzlering genannt und bestand aus mehreren dünneren Ringen, die zu einem breiteren zusammengefügt wurden – je breiter, umso mehr UN-Missionen hatte sein Träger absolviert. Bloms Ring reichte bis übers Mittelgelenk.

«Haben Sie etwas gehört?», fragte Amanda, justierte die Schultergurte ihrer Tasche und schwang sie sich auf den Rücken.

«Keinen Mucks. Aber ich habe ein paar Köder ausgelegt.»

«Köder?» Amanda sah ihn entgeistert an.

Hatte dieser UN-Veteran vollends den Verstand verloren? Welcher Polizist «legte Köder aus», wenn ein Kollege vermisst wurde?

«Ich meine … Ich habe mich ein bisschen umgehört, ob jemandem etwas zu Ohren gekommen ist», erwiderte Blom und drückte einen eingehenden Anruf auf seinem Handy weg.

«Ich denke, es wäre besser, wenn niemand erfährt, dass ein schwedischer Polizist vermisst wird», entgegnete Amanda und steuerte den Ausgang an.

Ein riesiges Ölgemälde des kosovarischen Präsidenten Hashim Thaçi hing an der ansonsten kahlen Wand. Er hatte dichtes, grau meliertes Haar, und in seinem Gesicht zeichneten sich die charakteristischen tiefen Augenringe ab. Vom Guerillakämpfer zum Staatsmann – kein übler Werdegang, dachte Amanda.

Draußen war die Dunkelheit hereingebrochen, doch anders als sechs Jahre zuvor funktionierte die Außenbeleuchtung am Flughafen.

«Ja, natürlich. Ich meinte eher … allgemein.»

«Was ist Ihrer Meinung nach passiert? Haben wir es mit einem Verbrechen oder mit einem Unfall zu tun?», fragte Tore, als sie den Flughafen verlassen hatten.

Trotz des Gestanks vom Kohlekraftwerk war es eine Erleichterung, ins Freie zu kommen. Die Mülltonnen quollen noch immer von bunten Plastiktüten über. Amanda musste an ihren allerersten Landeanflug in Mazedonien denken – in einer Hercules. Damals hatte sie die bunten Plastiktüten für im Wind wehende Blumen gehalten. Erst nach der Landung war ihr klargeworden, dass es sich schlichtweg um Müll handelte. Ein solcher Anblick bot sich in der gesamten Region. Die sogenannten Balkanblumen blühten überall.

«Weiß der Himmel. Es ist mir ein Rätsel, wie er einfach so verschwinden konnte. Bei ihm zu Hause findet sich nicht die geringste Spur.» Blom schloss einen weißen Mitsubishi Pajero auf.

Die Lederausstattung schien gerade erst frisch poliert worden zu sein. Selbst der Fußraum war makellos sauber.

«Der Wagen riecht, als käme er direkt vom Werk», bemerkte Amanda und rutschte auf den Rücksitz.

«Autopflege ist so billig, dass hier jeder seinen Wagen regelmäßig in die Waschanlage bringt – vor allem, wenn man ihn auch privat benutzt, so wie ich», erklärte Blom.

«Wann und wo haben Sie Jönsson zuletzt gesehen?», erkundigte sich Tore.

«Am Samstagabend. Wir … Wir waren in einer Bar an der Birdshit Avenue. Als ich aufgebrochen bin … habe ich ihn nicht mehr gesehen.»

«Wo liegt diese Straße?», fragte Amanda.

Neben Bloms Mitsubishi stand ein weißer Bus mit einem Schild hinter der Windschutzscheibe – «Transfer Sightseeing Gračanica Monastery». Jemand hatte handschriftlich den Vermerk «Unesco» hinzugefügt, damit auch der Letzte begriff, dass es sich dabei um eine Touristenattraktion handelte. Amanda hatte die serbische Enklave unzählige Male durchquert, aber das serbisch-orthodoxe Kloster selbst nie besichtigt, obwohl es nur wenige Kilometer südlich von Pristina lag. Die Bewachung des mittelalterlichen Klosters hatte während des KFOR-Einsatzes im Kosovo zu den festen Aufgaben der schwedischen Soldaten gehört. In der kleinen Ortschaft gab es lediglich einen Supermarkt, ein Stoffgeschäft, etliche Autowaschanlagen und die eine oder andere Tankstelle. Sobald man den mit Abwasser und Müll verunreinigten «Yellow River» überquert hatte, war der Ort zu Ende. Aber das Kloster sicherte Gračanica einen Platz auf der Landkarte.

«Entschuldigung … Der offizielle Name der Straße lautet Fehmi Agani Street. Sie wird bloß Birdshit Avenue genannt, weil in den Bäumen am Straßenrand Hunderte Vögel sitzen und alles vollkacken.»

«Sind die Beamten hier nicht immer mindestens zu zweit im Einsatz?», fragte Tore.

«Doch … jedenfalls meistens.» Blom ließ den Motor an und rollte vom Parkplatz.

Der Zustand der Straßen hatte sich erheblich verbessert. Der mit Schlaglöchern und Fahrrinnen durchsiebte Asphalt war durch eine glatte schwarze Teerdecke mit weißen Markierungen ersetzt worden, die leuchteten wie überdimensionierte Reflektorstreifen.

«Wann haben Sie gemerkt, dass etwas nicht stimmt?», erkundigte sich Amanda, während sie gleichzeitig eine SMS an Alva und eine an ihre Mutter Eva schickte.

Eigentlich spielte es keine Rolle, ob ihre Mutter die Nachricht direkt nach der Landung oder ein, zwei Stunden später bekam. Nach mehreren Schlaganfällen war Zeit für sie nicht mehr so wichtig. Doch es gab Regeln, und die hielt Amanda ein.

«Als er am Montag nicht zur Arbeit erschien.»

«Trotzdem haben Sie zunächst nichts unternommen», hakte Amanda nach.

«Ich weiß, es klingt unverantwortlich, aber ich wollte zu diesem Zeitpunkt nicht gleich Alarm schlagen.»

«Warum nicht?»

Blom seufzte schwer und schaltete einen Gang höher. «Tja, also … In dieser Bar arbeiten Prostituierte.»

«Mit denen Sie sich … getroffen haben?», fragte Tore mit seiner üblichen monotonen Stimme.

«So kann man es nennen», antwortete Blom leise.

Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Amanda fehlten die Worte. Sie hatte das Gefühl, als wäre im Auto nicht genügend Sauerstoff für drei Personen. Vor ihr saß die abstoßendste Version eines schwedischen Polizeibeamten – ein Polizist, der seine Machtstellung missbrauchte, um jene auszunutzen, die Schutz bedurften, die Schwächsten der Gesellschaft.

Amanda zog ihr Diktiergerät aus der Tasche und drückte auf Record. Dieses Geständnis würde sie aufnehmen und vor Gericht als Beweismittel vorlegen, so viel stand fest.

«Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie also ein Bordell in Pristina aufgesucht und dort gegen Bezahlung sexuelle Dienste in Anspruch genommen?»

«Ja, aber … Das klingt schlimmer, als es tatsächlich war.»

Amanda schloss die Augen und holte ein paarmal tief Luft. Dann fuhr sie fort: «Wie kommt Jönsson ins Bild?»

«Er sollte eigentlich auf mich warten, ist aber verschwunden, als ich zur Toilette musste. Ich bin ohne ihn nach Hause gefahren. Und nach dem Wochenende kam er nicht zur Arbeit.»

«Sie haben also nichts unternommen, um Ihren kleinen Ausflug nicht publik zu machen.»

«Nichts unternommen … Ich weiß nicht … Es hat ja keiner gefragt …, aber …»

«Aber Sie sind nicht vielleicht von selbst auf die Idee gekommen, dass es für unsere Ermittlung durchaus relevant sein könnte, dass Ihr vermisster Kollege zuletzt ausgerechnet in einem Bordell in Pristina gesehen wurde?», fragte Amanda.

«Mir ist schon klar, dass das furchtbar klingt. Aber Sie können sich vorstellen, was passiert, wenn das herauskommt! Ich würde auf der Stelle meinen Job verlieren, nicht nur hier im Kosovo. Die Stockholmer Polizei würde mich hochkant vor die Tür setzen.»

Und anschließend würdest du für einige Jahre hinter Gitter wandern, dachte Amanda, fuhr aber fort: «Und deshalb hielten Sie es für besser, gar nicht zu reagieren, als Jönsson nicht zur Arbeit erschien?»

«Erst nahm ich an, er wäre krank und hätte nur vergessen, Bescheid zu sagen. Aber nach einer Weile habe ich mir natürlich Sorgen gemacht. Im Nachhinein wünschte ich mir, ich hätte Alarm geschlagen, als er am Montag nicht zum Morgenmeeting kam.»

«Was ist Ihrer Meinung nach geschehen? Halten Sie es für möglich, dass Jönsson aus freien Stücken verschwunden ist?», fragte Tore.

Blom hob schulterzuckend beide Hände.

«Fahren Sie uns zu dem Bordell», verlangte Amanda.

«Gut. Allerdings glaube ich nicht, dass Sie das weiterbringt, wenn Sie nicht vorhaben, die Angestellten zu befragen», erwiderte Blom und nahm die nächste Ausfahrt in Richtung Stadtzentrum.

An der nächsten Kreuzung stand ein Grüppchen junger Männer in bunten Sweatshirts mit Adidas- und Tommy-Hilfiger-Aufdrucken und rot gestreiften Fußballtrikots mit der Nummer zehn und dem Namen Messi auf dem Rücken.

«Machen Sie sich keine Sorgen. Wir gehen nicht rein, wir werfen nur einen Blick von außen auf das Gebäude.»

Die Mother Teresa Street ähnelte der Drottninggatan in Stockholm: eine breite Einkaufsstraße mit zahlreichen Souvenirläden, Restaurants und Cafés. Als Blom vom Gas ging und auf eine Bar mit Glasveranda deutete, vibrierte es auf der Mittelkonsole zwischen den Vordersitzen, und ein Handy mit schlichtem Kunststoffgehäuse leuchtete auf.

Ohne einen Blick auf das Display zu werfen, drückte Blom auch diesen Anruf weg und ließ das Handy in seiner Jackentasche verschwinden.

«Hier ist es.»

Er hielt am Straßenrand.

Über dem Eingang blinkte ein rotes Neonschild mit dem Schriftzug «Paradise».

«Könntet ihr im Café nebenan drei Kaffee zum Mitnehmen besorgen? Ich muss kurz privat telefonieren», sagte Amanda und hoffte, dass ihre Bitte nicht zu offensichtlich war.

«Natürlich», erwiderte Blom und stieg mit Tore aus dem Auto.

Als die beiden in der Menschenmenge verschwunden waren, hob Amanda die Fußmatten an. Nichts. Alles blitzblank und sauber. Sie griff in die Taschen der Vordersitzlehnen. Ebenfalls leer. Als sie den Deckel über der Mittelkonsole anhob, blinkte in dem Fach ein iPhone auf. Das dritte Handy, das Blom zu benutzen schien. Amanda leuchtete mit Hilfe ihres Handydisplays in das Fach.

Verschlossene Briefumschläge. Ordentlich gestapelt. Sie überflog die Aufschrift auf dem obersten Umschlag und tastete vorsichtig darüber.

Schwedische Prepaid-Karten.

Unter den Umschlägen lagen weiße SIM-Kartenhalter mit rechteckigen Ausstanzungen, in denen die SIM-Karten gesessen hatten. Rasch zählte Amanda die Umschläge durch und spähte dann über die Straße. Jetzt bloß keine Überraschungen. Acht ungeöffnete Kuverts und mindestens genauso viele verbrauchte SIM-Karten …

Kein Polizist der Welt benötigte so viele Prepaid-Nummern. Jedenfalls nicht für seine offizielle Arbeit.

5

Noch bevor Bill in Ella gård aus dem Auto stieg, hatte er Magdalena Jönsson am Küchenfenster entdeckt, die ihm mit einem Becher Tee in der Hand entgegenblickte. Auf dem Küchentisch brannten Kerzen. Weiße Gardinen umrahmten das Fenster, und auf der Fensterbank blühten weiße Orchideen in hohen Vasen. Unwillkürlich fühlte Bill sich an eine Reportage aus einem «Schöner Wohnen»-Magazin erinnert. Einen Augenblick später kam Magdalena Jönsson an die Tür und öffnete sie einen Spaltbreit.

«Woher weiß ich, dass Sie wirklich Polizist sind?»

«Hier, mein Dienstausweis», sagte Bill, klappte das Lederetui mit seiner Dienstmarke auf und hielt sie ihr hin.

Magdalena Jönsson musterte ihn und seinen Ausweis durch den Türspalt. Sie war barfuß, trug lediglich ein weißes Nachthemd. Ein struppiger Zopf hing ihr über die Schulter. Selbst Bill konnte sehen, dass er nicht heute geflochten worden war, wahrscheinlich nicht einmal gestern.

«Darf ich reinkommen?»

«Sind Sie … Sind Sie allein?», fragte Magdalena. Ihr Blick flackerte.

«Sie wissen doch, dass ich alleine bin, Sie haben mich beobachtet, seit ich vor Ihrem Haus geparkt habe.»

«Entschuldigen Sie … Ich bin nur so …»

Sie verstummte, drehte sich um und kehrte in die Küche zurück. Bill deutete dies als Zeichen, dass er hereinkommen durfte.

«Ist außer Ihnen jemand zu Hause?»

Magdalena schüttelte den Kopf und stellte den Wasserkocher an. Ohne zu fragen, hängte sie Teebeutel in zwei Becher. Sie kramte in den Schränken, und kurz darauf hatte sie Mandelplätzchen auf einen Glasteller gelegt und mitsamt den Bechern auf ein Tablett gestellt.

«Entschuldigen Sie, aber könnten Sie bitte …» Mit zitternden Händen zeigte sie auf die Becher.

Bill nahm das Tablett, während er Magdalenas zarte Hände musterte. Die roten Nagellackreste an ihren Fingern leuchteten neben ihrer bleichen Haut fast neonfarben.

«Hier gehen merkwürdige Dinge vor», murmelte sie und führte ihn ins Wohnzimmer.

«Können Sie das näher erläutern?»

Magdalena legte sich eine Decke um die Schultern und setzte sich aufs Sofa, auf dem mehrere Decken und Kissen lagen. Offensichtlich hatte sie in den vergangenen Nächten im Wohnzimmer geschlafen.

«Fremde Autos, die niemandem aus der Nachbarschaft gehören, fahren langsam an unserem Haus vorbei.»

«Die Straße ist lang. Wie kommen Sie darauf, dass das Ihnen gelten könnte?»

«Vor ein paar Tagen stand nachts ein Mann im Garten. Mehrere Minuten lang, völlig reglos.»

«Was ist dann passiert?»

«Er ist durch die Hecke verschwunden, in Richtung Gemeindewiese.»

Magdalena Jönsson deutete zur Terrassentür, die in den Garten hinter dem Haus hinausführte. Der Garten war größer, als Bill angenommen hatte. Im Lichtschein der Außenbeleuchtung konnte er ein fast fertiges Gewächshaus und ein altes Spielhäuschen mitsamt Schaukel erkennen. Ein Anbau schien sich bis hinunter zum Gewächshaus zu erstrecken. Um das Grundstück verlief eine hohe, dichte Hecke, die bis auf einen Durchgang in der Mitte ringsum vor Einblicken schützte.

«Ist der Anbau ein separater Teil des Hauses?»

«Ja, das ist unser Gästehaus. Es hat einen eigenen Eingang zur Giebelseite.»

«In Richtung Gemeindewiese?»

Magdalena nickte.

«Ich würde mich gerne ein wenig im Haus und im Garten umsehen und anschließend mit Ihnen über Ihren vermissten Ehemann reden. Ist das in Ordnung?», fragte Bill, der erst sicherstellen wollte, dass Magdalena Jönsson wirklich allein war.

Magdalena nickte erneut und zupfte ein paarmal an ihrem Teebeutel. Bill machte einen Rundgang durchs Haus. Wie die meisten Häuser aus den siebziger Jahren hatte es einige Renovierungsmaßnahmen hinter sich. Er schätzte, die Einrichtung war Magdalenas Metier. Helle Farben, Marmortischplatten, helle Eichenmöbel und sorgfältig ausgewählte Dekoarrangements schufen eine gemütliche Atmosphäre

An der Wand neben der Treppe ins Obergeschoss hingen Familien- und Urlaubsfotos. Ein Junge und ein Mädchen, die sich nicht besonders ähnlich sahen. Die meisten Zimmer im oberen Stock schienen unbenutzt zu sein. Bill nahm an, dass die Kinder ausgezogen waren. Die Betten waren gemacht, kein einziges Kleidungsstück lag herum. Sieht nicht gerade nach trubeligem Familienleben aus, dachte er und sah die Zimmer von Emanuel und Elvira vor sich: mehr Klamotten im Zimmer verstreut, als im Schrank lagen, Perlen und anderer Bastelkram in den Betten und eine Autorennbahn, die den ganzen Fußboden einnahm.

Nachdem er im Haus selbst nichts Auffälliges bemerkt hatte, ging Bill in den Garten hinaus und zog die Terrassentür hinter sich zu, damit Magdalena in ihrem dünnen Nachthemd nicht fror. Im Schein der Außenbeleuchtung steuerte er die Öffnung in der Hecke an, stellte sich mit dem Rücken zum Fußballplatz auf der Gemeindewiese und blickte zum Haus zurück.

Wenn tatsächlich ein Mann hier gestanden hatte – was hatte er beobachtet?

Und weshalb?

Durch die Terrassentür und die Fenster hatte man freie Sicht ins Haus. Aber bildeten sich unter Druck stehende Menschen nicht schnell etwas ein? Ein verdächtig erscheinender Pkw erwies sich oftmals als vollkommen harmlos – jemand, der sich verfahren hatte, fuhr eben langsam, um sich zu orientieren.

Mit der Taschenlampe seines Handys leuchtete Bill die Frontseite des Gästehauses an. Eine schmucklose Eingangstür ohne Sichtfenster, ein kleines Vordertreppchen mit zwei Stufen. Mehr konnte er nicht erkennen. Er drückte die Klinke nach unten. Verschlossen. Was hatte er erwartet?

Er lief zum Spielhäuschen weiter und leuchtete hinein. Übereinandergestapelte Puppenwagen und andere Spielsachen. Nichts, was seine Neugier weckte.

Er kehrte zu Magdalena Jönsson ins Wohnzimmer zurück.

Warum trug sie nur ein Nachthemd, wenn es kalt vom Fußboden zog und die Fensterbänke unter einer Frostschicht glitzerten? Noch dazu aus einem so dünnen Stoff, dass Bill gar nicht wusste, wo er hinsehen sollte.

«Wann waren Sie das letzte Mal im Gästehaus?»

«Ich? Ich kann mich nicht erinnern. Warum fragen Sie?»

«Wer hat es denn benutzt?»

«Im vergangenen Jahr war es eine Zeitlang vermietet. Seitdem steht es leer. Wir dachten, die Kinder würden im Sommer dort wohnen, deshalb haben wir keine neuen Mieter gesucht.»

«Also hält sich dort gerade niemand auf?»

«Nein», erwiderte Marianne mit leerem Blick. Mit einem bestickten Stofftaschentuch putzte sie sich die Nase.

Bill biss in ein Mandelplätzchen und spülte es mit kaltem Tee hinunter. Er betrachtete die feuchten Flecken, die seine Schuhe auf dem Teppich hinterlassen hatten.

«Wann ist Ihr Mann nach Pristina zurückgeflogen?»

«Vor einer Woche.»

«Und wann haben Sie den Mann in Ihrem Garten gesehen?»

«Vor zwei, drei Tagen, glaube ich. Die Tage verschwimmen ineinander …»

«Haben Sie in der Zeit, während Åke zu Hause war, irgendetwas Auffälliges bemerkt?»

«Nein, aber da war ich tagsüber bei der Arbeit. Ich wollte keinen Urlaub nehmen. Abends ist nichts Merkwürdiges vorgefallen.»

Magdalenas Unterlippe begann zu zittern. Sie schloss die Augen, und ihr Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an.

«Ich halte das nicht mehr aus. Wo ist er? Åke …»

«Egal, was passiert ist – Sie brauchen jemanden, der sich um Sie kümmert. Kann ich Sie irgendwo hinfahren? Haben Sie Geschwister?»

«Meine Schwester Irene wohnt auf … auf Lidingö.»

«Dann bringe ich Sie dorthin. In einer solchen Situation sollten Sie nicht alleine sein.»

Magdalena nickte.

«Aber bevor wir fahren, möchte ich mir noch das Gästehaus ansehen. Wo bewahren Sie den Schlüssel auf?»

«Er hängt in dem Schränkchen im Flur. Am Schlüsselring ist ein blauer Schlumpf.»

Bill zog das weiße Schränkchen auf. Darin hing lediglich ein Schlüssel mit einem Namensanhänger.

Kein weiterer Schlüssel.

Bill drehte den Anhänger um. Magdalena.

Irrte sie sich, oder war der Schlüssel zum Anbau verschwunden?

«Wann haben Sie den Schlüssel zuletzt gesehen?», rief er über die Schulter.

Es blieb eine Weile still.

«Vorgestern, glaube ich. Warum?»

«Wer ist seitdem hier gewesen?»

«Niemand. Nur … ich. Weshalb fragen Sie?»

6

Ellen Engwall hielt dem Rezeptionsmitarbeiter ihren Pass hin und bekam einen Umschlag mit einer Schlüsselkarte ausgehändigt. Das Hotellogo war dilettantisch designt; der grasgrüne Schriftzug Holiday Inn Belgrade neigte sich zu stark nach rechts, und der erste Buchstabe fiel im Vergleich zu den anderen überproportional groß aus. Darunter prangten vier goldene Sterne, gefolgt von der Anschrift: Novi Beograd, Serbien.

Im Taxi vom Nikola-Tesla-Flughafen hatte sie den Stadtteil gegoogelt und gelesen, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg inmitten eines Sumpfgebiets errichtet worden war. Damals hatte man in kürzester Zeit so viel Wohnraum wie möglich schaffen wollen, was die hässlichen, kantigen Betonklötze erklärte, die die Straßen säumten und Ellen an sowjetische Plattenbauten erinnerten, obwohl sie noch nie in der Sowjetunion gewesen war. Sie griff nach ihrem Batik-Stoffbeutel und wandte sich zum Fahrstuhl.

«Bagage?», fragte der Rezeptionist auf Englisch und streckte die Hand aus, um ihr behilflich zu sein.

«Nein, nur Handgepäck. Ich bleibe nur eine Nacht», antwortete Ellen und betrat den Fahrstuhl.

Wie auf der Webseite des Hotels beschrieben, war das Zimmer in hellen Farben eingerichtet. Nicht sonderlich elegant, aber für 890 Kronen konnte man nicht mehr erwarten. Das Bett war akkurat gemacht – weiße Bettwäsche und aufgeschüttelte Kopfkissen in Beige- und Goldtönen, die zu den beiden Sesseln am Fenster passten.