Nächte in Babylon - Daniel Depp - E-Book

Nächte in Babylon E-Book

Daniel Depp

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  • Herausgeber: carl's books
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Der perfekte Fall für David Spandau: eine Hollywood-Schauspielerin, deren Karriere einen deutlichen Knick hat, wird von einem Wahnsinnigen verfolgt - und sie denkt sich, dass ein gewaltsamer Tod vielleicht ein guter Abgang wäre. Ihre Schwester sieht das anders, sie heuert Spandau an, der auf sie aufpassen soll. Dummerweise ist sie aber Jurymitglied beim Cannes Filmfestival. Spandau fährt zwar mit, doch seine Lizenz gilt nur in Kalifornien, so dass auch ein französischen Bodyguard zum Einsatz kommt. Hollywood und Cannes bieten die Kulisse für eine rasante Handlung.

"Cool und mit richtig viel Witz und Tempo erzählt", sagte Antje Deistler über Daniel Depps "Die Stadt der Verlierer". Feinste Spannung, beste Unterhaltung auch bei seinem zweiten Streich. Daniel Depp liefert mit "Nächte in Babylon" einen weiteren Thriller der Extraklasse ab.

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Seitenzahl: 409

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Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Babylon Nights« im Verlag Simon & Schuster, London.

1. Auflage

Copyright © 2010 by Daniel Depp

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011

bei Carl’s Books, München, in der Verlagsgruppe Random House

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück, 30827 Garbsen.

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-05669-8

www.carlsbooks.de

VORBEMERKUNG DES VERFASSERS

Dem klugen Leser wird nicht entgehen, dass sich der Autor mit Los Angeles, Cannes, Nizza und den berühmten Filmfestspielen in Sie-wissen-schon-wo einige Freiheiten erlaubt hat.

Doch nicht nur damit, sondern auch mit so ziemlich allem anderen, was ihm eingefallen ist, nicht zuletzt mit der Bereitwilligkeit des Lesers, die kritische Vernunft über Bord zu werfen und sich auf den Spaß an der Freude einzulassen.

So gibt es beispielsweise am Sunset in L. A. keine Detektei »Coren Investigations« und in der Rue d’Antibes in Cannes kein Restaurant »Le Vent Provençal«. Genauso wenig wie es nach Wissen des Autors in der besagten Perle an der Côte d’Azur eine alte Essigfabrik gibt.

Es gibt keine Anna Mayhew, keinen Andrei Levin, und auch die Cannes-Jurymitglieder sind frei erfunden. Sie existieren nicht.

Da sich trotz aller Bemühungen, das Gegenteil zu erreichen, der eine oder andere Treffer ins Schwarze nicht vermeiden ließ, möchte der Verfasser die internationale Filmgemeinschaft herzlich bitten, sich nicht in jeder Figur wiederzuerkennen und ihm auf Partys nicht auf die Nerven zu gehen.

Hier noch einmal zum Mitschreiben: Sie sind nicht Sie, sie sind nicht sie etc. pp.

Andererseits hat Cocteau irgendwo gesagt, dass die Kunst eine Lüge sei, die uns die Wahrheit erkennen lasse.

In dem Fall wäre zu hoffen, dass es sich bei dem Buch, das Sie hier in Händen halten, um eine faustdicke Lüge handelt.

Der Autor möchte sich auch bei Mr. William Goldman bedanken, dem Schutzheiligen der Drehbuchautoren, der jemals und für alle Zeit die besten Storys für Hollywood und Cannes verfasst hat.

»Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast!«

Psalter 137 : 8

»Die Massenkultur ist das neue Babylon, in das heute so viel Kunstfertigkeit und Intelligenz fließt. Sie ist unser kaiserliches Theater des Sexuellen, der alles überragende Tempel des westlichen Blicks. Wir leben im Zeitalter der Idole. Die heidnische Vergangenheit, die nie wirklich tot war, lebt auf in den mystischen Hierarchien des Starkults.«

Camille Paglia

ERSTER TEIL

LOS ANGELES

1

Der ganze Fußboden war mit ihren Aktaufnahmen bedeckt. Dreißig, vierzig Fotos im Format 8 x 10 Zoll, Kante an Kante nebeneinandergelegt, wie ein Teppich aus Bildern von ihr. Ein Zauberteppich, hier oben in seinem Versteck. Hier oben in seiner Welt.

Es waren Computerausdrucke, digitalisierte Kopien der Originale, über undurchsichtige Kanäle zu ihm gelangt und nicht gerade von berauschender Qualität. Perec war das egal. Monatelang hatte er im Internet danach gestöbert, bis er endlich einen Anbieter fand, einen Kerl in San Diego, der zweitausend Dollar dafür haben wollte. Perec konnte sie sich nicht nach Hause schicken lassen. Maman hätte sich die Sendung zeigen lassen, sie ihm weggenommen, den Umschlag aufgerissen und seine Post gelesen, immer auf der Suche nach Schmutz und Schund. Also war er nach San Diego gefahren, um dem Mann das Geld zu geben. Auf der Rückfahrt konnte er kaum die Hände von dem Päckchen lassen, das neben ihm auf dem Beifahrersitz lag.

Das Internet war etwas Wunderbares. Im Internet konnte man alles finden, man musste nur lange genug danach graben.

Jetzt lag sie vor ihm, in allen möglichen Posen, mit einem Kussmund, einem Lächeln, einem schmachtenden Blick, mit nackten Tittis und auf den meisten Fotos auch noch unten rum nackt. Ihm wurde heiß und schwummerig. Ihm war zumute, als ob ihm das Herz aus dem Leib gerissen würde. Er hatte Schmerzen in der Magengrube, und unten rum hatte er ein Gefühl wie noch niemals zuvor.

Perec zog die Socken aus und wagte sich langsam und zögernd hinaus auf dieses Meer, das nur aus ihr bestand, von ihren Bildern wie von einem Floß getragen. Ihre Wärme drang durch seine Fußsohlen, stieg in ihm auf und durch ihn hindurch. Ihm drehte sich alles. Er atmete ein und ging einen Schritt weiter. Zwischen den Zehen seines linken Fußes spitzelte eine Brustwarze hervor, sein rechter Fuß schmiegte sich wie der Körper eines Geliebten an ihre Hüfte. Perec hatte Angst, ohnmächtig zu werden. Perec hatte Angst, den Verstand zu verlieren.

Er wollte es nicht. Er schwor sich, es nicht zu tun. Aber dann stieg er doch von den Fotos herunter und zog sich aus, bis er genauso nackt und schamlos und hilflos war wie sie. Vorsichtig tastete er sich von einem Bild zum anderen vorwärts, wie auf Trittsteinen durch einen Bach. Sie strömte wie eine Welle in ihn hinein, wie eine große Woge, die vom Boden aus durch ihn hindurchflutete, und ihn überkam diese Regung, dieses Gefühl, für das er keinen Namen wusste, und unten rum wurde alles hart und steif, und er legte sich auf sie, auf ihre unendlichen Formen. Er bekam fast keine Luft mehr.

Perec dachte an das, was er manchmal machte, wenn im Laden ein Mädchen mit ihm geschäkert hatte. Es war hässlich und schmutzig, und er hasste sich jedes Mal dafür. Jetzt konnte er sich kaum beherrschen. Die schmutzigen Teufel in seinem Fleisch feuerten ihn an, aber Perec weigerte sich. Perec wehrte sich. Nein, sagte er. Nein, ich mach das nicht. So etwas macht man nicht mit dem Menschen, den man liebt. Und Perec liebte sie doch von ganzem Herzen.

Er stand auf und holte das Rasiermesser aus der Kommode. Das Rasiermesser seines Vaters, Solinger Stahl mit Elfenbeingriff, das Einzige, das er nach dem Tod seines Vaters noch hatte retten können, bevor seine Mutter alles auf den Müll warf und ihm verbot, seinen Namen jemals wieder in den Mund zu nehmen. Er ritzte sich in den Unterarm. Ein kleiner Schnitt, aber tief genug. Perec hatte jahrelange Übung darin, und sein Körper glich einer Landkarte aus feinen, wulstigen Narben. Langsam lief ihm das Blut am Handgelenk hinunter und sammelte sich in seiner offenen Hand. Er tauchte den Daumen hinein, kniete nacheinander vor den einzelnen Bildern nieder und presste ihr behutsam einen roten Abdruck auf die Brüste und zwischen die Beine, um ihre schändliche Nacktheit zu bedecken, aber auch, um sie zu segnen, so wie ihm früher die Priester, von denen seine Mutter inzwischen nichts mehr wissen wollte, die Hand aufgelegt und seine Sünden für immer von ihm genommen hatten. Perecs Herz schlug schneller, seine Hände zitterten, er hatte Angst, auf die Fotos zu bluten. Er stieg gerade von den Bildern herunter, als es ihn überwältigte. Er konnte nichts dagegen tun, ein Schauer durchlief ihn, und er stieß einen Schrei aus. Aber er brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, denn er hatte es ja nicht selbst getan. Sie hatte ihn damit beschert. Und es war gut so. Sie hatte ihm dieses Geschenk gemacht, um ihm zu zeigen, dass sie ihn ebenfalls liebte.

Perec setzte sich hin und betrachtete sein Werk, erfüllt von einer Liebe, die größer war als alles, was er sich je hätte vorstellen können. Selbst als er Gott noch liebte, hatte er nie etwas Vergleichbares erfahren. Er wusste, dass er ihr seine Liebe zeigen musste. Er musste sie finden und ihr sein Geschenk geben.

Zum ersten Mal in seinem Leben wusste Perec, was Freude war.

2

Kenny Kingston stand auf dem obersten Parkdeck des Beverly Center in Hollywood und sinnierte über das Leben und die Liebe im Amerika des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts – und über Krankheiten.

Genauer gesagt, über Geschlechtskrankheiten. Sein Genitalherpes machte ihm nämlich an diesem Morgen mal wieder schwer zu schaffen, wie immer, wenn er gestresst war. Er kratzte sich durch seine Jeans und trat von einem Bein aufs andere. Im Osten stieg über der pink angehauchten Skyline von L. A. zitronengelb die Sonne auf, ein Anblick, der durchaus seinen Reiz hatte, solange man nicht daran dachte, welche Mengen von krebserregenden Schwebstoffen in der Luft für dieses Farbenspiel verantwortlich waren.

Für den durchschnittlichen kalifornischen Mann war Kenny eine Spur zu klein geraten und seine schulterlangen blonden Haare eine Spur zu fettig. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Jägermeister-Emblem. Die an den Knien weit aufklaffenden Jeans hatte er seit einer Woche nicht mehr gewechselt. Seine nackten Füße steckten in BirkenstockSandalen, und wer sich nah genug an sie herantraute, konnte unter seinem linken großen Zehennagel die ersten Anzeichen eines Fußpilzes erkennen. Dass Kenny große Ähnlichkeit mit dem talentierten und längst verblichenen Kurt Cobain hatte, störte ihn durchaus nicht, verdankte er doch dieser Tatsache seine Beliebtheit in bestimmten Kreisen. Dieser Tatsache sowie dem Umstand, dass er die abgefahrensten Chemikalien besorgen konnte.

Es war halb acht, und bis jetzt stand Kennys zwanzig Jahre alter Porsche mutterseelenallein auf der obersten Parketage. Kenny lehnte sich auf die niedrige Betonbrüstung, sah Richtung Downtown und steckte sich eine Zigarette an. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass jeder dritte Einwohner von Los Angeles Herpes hatte. Was bedeutete, dass L. A. für die Krankheit ein richtiges Dorado war. Was bedeutete, dass von den zehn Millionen Menschen im Großraum L. A. mehr als drei Millionen damit infiziert sein mussten, darunter wohl ungefähr eine Million, die nichts von ihrem Unglück ahnten. Was wiederum bedeutete, dass sich derjenige, der bei seiner Ankunft in L. A. noch keinen Genitalherpes hatte, spätestens bei seiner Abreise einen eingefangen hatte – falls er nicht von Natur aus ein übervorsichtiger Mensch war. Hatte man sich aber erst mal dicke Eier geholt, tat sich plötzlich eine völlig neue Welt auf, in der man nach Herzenslust dem ungeschützten Sex frönen konnte, nach der Devise: Siff und Siff gesellt sich gern. Kenny war sogar Mitglied in einem Club von Infizierten geworden, weil sich dort die peinliche Frage »Hast du’s oder hast du’s nicht?« erübrigte, denn das war ja der Clou: dass es natürlich alle hatten. Außerdem gab es für seinesgleichen auch noch das Online-Dating. Seit Kenny sich vor drei Jahren angesteckt hatte, konnte er sich vor sozialen Kontakten nicht mehr retten. Früher hatte er nie eine Frau abbekommen, jetzt fielen sie ihm reihenweise in den kranken Schoß. Und obwohl auch ihm nicht entgangen war, dass mit einer Welt, in der es besser war, krank als gesund zu sein, etwas nicht ganz stimmen konnte, hatte er persönlich keinen Grund zur Klage.

Spätestens um neun musste Kenny im Labor antanzen, um an seinem Projekt zu arbeiten, das sowieso kaum noch zu retten war, weil er dabei nie die gewünschten Ergebnisse herausbekam. Spätestens um elf, wenn sich sein Schwanz so anfühlen würde wie in Säure gebadet, konnte er sich mal wieder einen Anschiss von seinem Doktorvater abholen, der zufälligerweise auch noch sein Promotionsstipendium finanzierte. Wahrscheinlich bekäme er für das Projekt im nächsten Jahr keine Gelder mehr bewilligt, was dazu führen würde, dass sowohl seine legalen als auch seine illegalen Einnahmequellen versiegen würden und die geheimeren der US-Geheimdienste bei der Liquidierung ausländischer Politiker auf ein besonders raffiniertes Mittelchen verzichten müssten. Und als wäre das alles noch nicht schlimm genug, hatte er sich auch noch mit seiner Dissertation über nichtlösliche Alkaloide total festgefahren. Deshalb konnte Kenny die Kohle, die heute Morgen bei dem Deal für ihn abfallen sollte, dringend gebrauchen.

Als ein schwerer schwarzer Lincoln Navigator auf das Parkdeck gefahren kam, drehte Kenny sich um. Der Geländewagen hielt nicht neben seinem Porsche, sondern pflanzte sich, quer über alle Begrenzungslinien hinweg, dick und fett mitten auf die freie Fläche. Myladys großer Auftritt, dachte Kenny. Er zog noch einmal an seiner Zigarette und schnippte sie über die Brüstung, genau auf die Motorhaube eines Mercedes, wo sie brutzelnd liegen blieb.

Sie ließ sich Zeit mit dem Aussteigen, aber Kenny musste zugeben, dass sich das Warten gelohnt hatte. Hochgewachsen und blond, die Figur immer noch knackig, auch wenn der erste Lack bereits ab war. Sie trug eine helle Seidenbluse, unter der ihre leise schwingenden Brüste aufs Schönste zur Geltung kamen, und eine Designerjeans, die jeden Cent ihres gepfefferten Preises wert war. Die hochhackigen Schuhe machten sie noch größer, als sie es sowieso schon war. Und sie hatte eine Sonnenbrille auf der Nase. Um diese Uhrzeit! Lächelnd schritt sie wie eine Amazone auf ihn zu. Sie wollte ihn beeindrucken, was ihr auch gelang.

»Ist echt ’ne geile Stadt, solange noch alle in den Federn liegen«, sagte Kenny. »Danach kann man sie vergessen.«

Sie lehnte sich neben ihn an die Brüstung und tat so, als ob sie die Aussicht betrachtete.

»Warum muss eigentlich jeder über L. A. lästern?«, fragte sie. »Ich liebe diese Stadt. Ich hab mich auf den ersten Blick in sie verguckt.«

Sie wandte sich ihm zu.

»Als ich noch in Texas gewohnt habe und Cheerleaderin an der Highschool war, hatten wir mal eine Meisterschaft hier in L. A. Ein Mordsspektakel, als ob das Wohl der Nation davon abhängt, wie wir unsere Pompons schwingen. Na, jedenfalls wollte ich überhaupt nicht mehr nach Hause. Ich hatte die Nase voll von der Cheerleaderei. Und von Dallas. Es war wie eine Offenbarung. Ich habe sogar Faye Dunaway gesehen. Leibhaftig. Sie kam aus dem Spago.«

Sie drehte sich wieder zur Brüstung. Jetzt komm endlich zu Potte mit deiner Story, dachte Kenny.

»Wir sind hingegangen, weil wir Stars sehen wollten – wir hatten keinen blassen Schimmer, was das Spago überhaupt für ein Laden war, ich glaube, ich wusste noch nicht mal, dass es ein Restaurant war, bloß dass da Stars ein und aus gehen. Wir haben gewartet und gewartet und keinen einzigen Promi erkannt, aber dann – dann kommt plötzlich Faye Dunaway raus. Leibhaftig. Und sie sieht fantastisch aus. Sie schwebt mehr, als dass sie geht. Sogar mitten am Tag, wenn sie bloß einen Hamburger essen will, ist sie zum Niederknien. Eine Göttin. Ein Auto fährt vor, ein Typ steigt aus und hält ihr die Tür auf. Sie fährt davon. Und ich stehe vor dem Spago auf dem Bürgersteig, umringt von einem Haufen gackernder Cheerleaderinnen, die noch nie was von Faye Dunaway gehört haben. Aber mein Leben war nicht mehr dasselbe. Auf einmal wusste ich, was ich wollte. Ich wollte so sein wie sie.«

»Faye Dunaway«, wiederholte Kenny. »Die ist doch mittlerweile auch schon scheintot. Und diese Zähne! Ich meine, in Bonnie und Clyde hätte sie noch nicht solche Hauer gehabt. Was hat die bloß mit ihrer Fressleiste gemacht? Hat die ein künstliches Gebiss, oder was?«

Sie starrte ihn an.

»Kann es sein, dass die Pointe dieser Geschichte eine Spur zu hoch für Sie ist, Kenny?«

»Kennen Sie Monica Bellucci? Das nenn ich ’ne geile Schnitte.«

»Und an ihren Zähnen ist offenbar auch nichts auszusetzen. Soll ich Ihnen vielleicht etwas über Harrison Fords Gebisssanierung erzählen?«

So war es richtig, immer schön sticheln und raushängen lassen, dass man was Besseres war. Kenny, der keine Lust hatte, sich noch mal den Mund zu verbrennen, ging zum Porsche und holte eine Pappschachtel heraus, nicht größer als die Geschenkverpackung einer Armbanduhr. Jetzt kramte sie natürlich erst mal ausgiebig in ihrem Handtäschchen, als ob sie die Kohle nicht finden könnte. Kenny hatte öfter Schauspieler als Kunden, und es machte ihn jedes Mal wahnsinnig, dass diese Fatzkes immer eine Riesenshow abziehen mussten.

Sie drückte ihm einen Packen Geldscheine in die Hand.

»Zählen Sie nach.«

Kenny legte die Schachtel auf der Motorhaube des Porsches ab. »Fünf-fünf.«

Umständlich förderte sie ein zweites Bündel zutage.

»Sechs-fünf«, sagte Kenny.

Und noch mal versenkte sie die Hand in der Tasche. Die Spannung stieg.

»Genau siebentausend«, sagte sie und sah ihn an, als ob sie darauf wartete, dass er ihr anerkennend auf die Schulter klopfte.

»Sind Sie immer so gut organisiert?«, fragte Kenny.

Er gab ihr die Schachtel. Vorsichtig nahm sie den Deckel ab. Darin lag ein kleines Röhrchen in einem Nest aus Kosmetiktüchern. Kenny konnte sie gerade noch daran hindern, es herauszunehmen.

»Nicht so hastig! Wenn Sie damit spielen wollen, nehmen Sie es mit nach Hause, aber nicht, solange ich noch in der Nähe bin. Lady, das ist eine Synthese aus den fünf giftigsten Killertoxinen auf dem Planeten. Das ist keine Coca-Cola.«

»Hatten Sie nicht gesagt, dass es nur wirkt, wenn man es einnimmt?«

»Wenn man es in den Körper aufnimmt! Wenn Ihnen das Röhrchen aus der Hand fällt und kaputtgeht, brauchen Sie bloß einen einzigen Tropfen davon ins Auge oder auf die Lippe zu bekommen, und Sie sind so gut wie tot. Bei Kontakt mit der Haut müssen Sie es sofort abwaschen. Aber wenn Sie eine offene Wunde haben, sind Sie hin. Wenn das Zeug auf irgendeinem Weg in Ihren Körper gelangt, war’s das. Dann allseits gute Nacht. Dann bleiben Ihnen noch maximal fünfzehn Sekunden. Mit dieser Menge hier können Sie dreißig Leute ins Jenseits befördern, wenn Sie es ihnen tröpfchenweise mit der Pipette einflößen. Wenn Sie es ihnen in die Limonade kippen und es Ihnen nichts ausmacht, ein bisschen zu warten, reicht es für hundert.«

»Und es tut wirklich nicht weh?«, fragte sie zum gefühlt millionsten Mal, seit sie ins Geschäft gekommen waren.

»Man verliert die Besinnung«, antwortete Kenny. »Als ob einem einer das Licht ausgeknipst hat. Dann macht das Nervensystem schlapp, aber davon kriegt man nichts mehr mit.«

»Woher wollen Sie das so genau wissen?«

»Weil Vater Staat das Mittel an Zwei-Zentner-Affen hat testen lassen. Ich hab die Laborberichte gelesen, sie liegen bei uns im Institut unter Verschluss. Die sind streng tabu für Hiwis wie mich. Und wenn es rauskäme, dass ich von dem Zeug was abgezweigt habe, würde man mich unter einer Gefängniszelle verscharren. Ich will auch nicht wissen, wozu Sie es brauchen. Das interessiert mich nicht. Ich will bloß in Ruhe meinen Abschluss machen und mir irgendwo einen netten, sicheren Job in der Forschung angeln, ohne in der Zwischenzeit zu verhungern.«

Sie lächelte. »Sie wollen es wirklich nicht wissen?«

»Für Ratten«, antwortete Kenny. »Für Maulwürfe im Garten. Für den kläffenden Nachbarsköter. Dafür brauchen Sie es. Und noch was: Wir haben uns heute zum ersten und zum letzten Mal gesehen.«

»Ich schätze, das lässt sich einrichten«, sagte sie verträumt. »Keine Bange.«

Kenny stieg in den Porsche und fuhr davon. Mit der Schachtel in der Hand blickte sie auf Los Angeles hinunter, als ob sie es am liebsten woandershin verpflanzen würde. Sie nahm das Röhrchen heraus, ließ die Schachtel achtlos auf den Boden fallen und deponierte das Nervengift im Wert von siebentausend Dollar mit spitzen Fingern in ihrer Gucci-Tasche.

3

In einem Restaurant in Beverly Hills dachte Anna Mayhew, Oscar-Preisträgerin und ehemaliger Darling der Paparazzi, über das Verfallsdatum von Titten und Ärschen nach und überlegte, wie viele Tage sie sich noch gönnen sollte, bevor sie sich umbrachte. Sie hielt das Giftröhrchen wie einen Talisman in der Hand. Es war ein gutes Gefühl.

Was Anna hier betrieb, während sie den Blick durch den Raum schweifen ließ, umgeben von gut fünfzig schwerreichen Beverly-Hills-Matronen, war im Grunde nichts anderes als eine klinische Studie. Die Damen saßen mümmelnd vor ihren Salattellern und ratschten, umschwebt von mexikanischen Kellnern, die – vergeblich – versuchten, sie zu bedienen, ohne größeren Schaden zu nehmen. Die Kritik prasselte auf sie ein wie ein Steinhagel auf römische Christen. Weil sie sich mit jedem Augenkontakt eine Beschwerde beim Restaurantleiter wegen impertinenten Verhaltens einhandeln konnten, huschten sie mit gesenktem Kopf von Tisch zu Tisch. Als illegale Einwanderer – und das waren sie bis auf den letzten Mann – blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Schikanen widerspruchslos zu dulden. Wäre es ihnen allerdings möglich gewesen, die gesamte Lokalität mit Hilfe eines Zaubertricks nach Tijuana zu versetzen, hätten sie ein genüssliches Blutbad veranstaltet.

Anna war mit sich, was den Selbstmord anging, mehr oder weniger im Reinen. Sie konnte sich nur nicht für den richtigen Augenblick entscheiden. Deshalb spielte sie so gern mit dem Röhrchen, wenn es ihr wieder einmal besonders mies ging. Zu wissen, dass der Tod nur Sekunden entfernt war, beruhigte sie.

»Ich bin übrigens mit Attila verheiratet«, sagte ihre Tischnachbarin zu ihr.

»Wie bitte?«

»Attila. Attila Boyagian. Er hat mal einen Ihrer Filme produziert. Wie er hieß, weiß ich nicht mehr. Sie vielleicht?«

»Nein, tut mir leid.«

»Macht nichts«, sagte Mrs. Boyagian. »Ist ja auch schon eine Ewigkeit her. Ich könnte natürlich Attila fragen, aber bei dem rieselt auch schon mächtig der Kalk.«

Sie sah auf ihre Uhr, stand auf und trat ans Rednerpult. »Ladys ohne Gentlemen! Ladys ohne Gentlemen!«

Die Damen beendeten das rituelle Kellnerquälen und wandten sich Mrs. Boyagian zu.

»Ich danke Ihnen, dass Sie so zahlreich erschienen sind«, sagte Mrs. Boyagian. »Und das an einem Tag wie heute – haben wir nicht einen wundervollen Frühling? –, an einem herrlichen Tag, den wir doch alle lieber an der frischen Luft verbracht hätten, im Garten oder beim Tennisspielen. Trotzdem freuen Sie sich gewiss mit mir auf unseren heutigen Gast. Ich bin jedenfalls schon sehr gespannt. Es ist uns eine Ehre, eine Legende bei uns begrüßen zu dürfen, eine der besten und einflussreichsten Schauspielerinnen der letzten Jahrzehnte.«

Die »letzten Jahrzehnte« hatten gesessen. Anna nahm sich vor, sich später dafür zu revanchieren. Der Ziege würde sie es zeigen. Prüfend musterte sie Mrs. Boyagians Hintern, der in einem Tausend-Dollar-Hosenanzug steckte und für eine Mittfünfzigerin ein bisschen zu knackig war. Garantiert geliftet. Und vielleicht auch noch ein Implantat? Genau da lag der Hund begraben: Es gab hier keinen einzigen Arsch, der nicht runderneuert war. Genauso wenig wie naturbelassene Titten. Wenn hier ein Feuer ausbrach, würden sich die Möpse und Popos genauso schnell in Wohlgefallen auflösen wie Vincent Price, nachdem er in der Schlussszene von Das Kabinett des Professor Bondi in den Bottich mit dem siedenden Wachs gefallen war.

Der Tag hatte schon schlecht angefangen. Anna steckte in einer ihrer depressiven Phasen, aus denen sie sich in letzter Zeit immer schwerer befreien konnte. Diesmal hatte es sie richtig übel erwischt. Als sie am Morgen nach dem Duschen in den Spiegel gesehen hatte, war sie mit dem Ergebnis noch halbwegs zufrieden gewesen. Man sah ihr die Dreiundvierzig nicht an. Sie fand, sie könne noch glatt für fünfunddreißig durchgehen. Wovon sie auch beruhigt ausgehen durfte, da sie damit nun schon seit acht Jahren locker durchkam. Beflügelt durch diesen schönen Erfolg, hatte sie tollkühn den Bleistifttest gemacht. Erst unter der linken Brust. Der Stift bewegte sich keinen Millimeter, wie mit Sekundenkleber angepappt. Anna hüpfte ein paar Mal auf und ab, aber der Scheißstift hing fest wie ein Bergsteiger in der Steilwand. Mit der rechten Brust dasselbe Spiel. Und dann beging sie den alles entscheidenden Fehler, sich den Stift auch noch unter die Pobacke zu klemmen. Es tat sich – nichts. Wenn sie den Test mit einer Salami gemacht hätte, hätte sie ohne Verlustängste damit joggen gehen können. Bis jetzt hatte sie noch nichts an sich machen lassen, aber lange würde es nicht mehr dauern, bis sie sich unters Messer legen musste. Vielleicht wäre es das Beste, dieses ganze Affentheater nicht mehr mitzumachen und in Würde zu altern. Geld genug hatte sie. Eigentlich konnte sie die Schauspielerei an den Nagel hängen, um sich ihren Benefizgalas zu widmen, im Garten zu arbeiten und vielleicht ihre Memoiren zu schreiben. Sie sah sich schon vor sich: graue Haare und Stufenheck. Nein, ausgeschlossen! Dann schon lieber ein Ende mit Schrecken. Ich habe ein paar gute Filme gedreht, die vielleicht in Erinnerung bleiben werden. Wenn ich jetzt abtrete, werde ich nie altern.

»Eine Frau, deren Schaffen wir schon lange bewundern«, fuhr die Dame mit dem Plastikarsch fort. »Die für ihre Rolle in The Lady from Barcelona mit dem Oscar für die beste weibliche Hauptrolle ausgezeichnet wurde – ich bekomme heute noch feuchte Augen, wenn ich an die Szene mit der Mutter denke. Sie nicht auch? Eine Frau, der eine ganze Generation von Nachwuchsschauspielerinnen nachgeeifert hat. Die West Hollywood Arts Society präsentiert Ihnen heute … Anna Mayhew!«

Applaus. Während Anna zum Rednerpult ging, spürte sie, wie sich gut fünfzig Augenpaare auf ihren Quadratarsch hefteten.

»Herzlichen Dank für die freundliche Begrüßung, Shirley. Danke auch der West Hollywood Arts Society für die heutige Einladung. Obwohl es bei diesem strahlenden Wetter natürlich jeden nach draußen zieht, möchte ich versuchen, Sie für ein Thema zu erwärmen, das mir sehr am Herzen liegt.«

Während Mrs. Boyagian mit einem Lächeln dem Beginn des Vortrags folgte, fiel ihr das kleine Röhrchen auf, das Anna neben ihrem Teller liegen gelassen hatte. Es sah aus wie eine Parfümprobe: wahrscheinlich teuer, wahrscheinlich französisch. Sie lehnte sich unauffällig ein Stückchen hinüber und schnupperte. Nichts. Mist.

»Wenn uns jemand vorschlagen würde, wir sollten das Lincoln Memorial in Washington verfallen oder die Kunstwerke im New Yorker Metropolitan Museum of Art verrotten lassen, würden wir auf die Barrikaden steigen. So etwas ließen wir niemals geschehen. Ein Aufschrei der Empörung würde durchs Land fegen. Niemand käme auf die Idee, unsere nationalen Schätze zugrunde gehen zu lassen.«

Mrs. Boyagian stupste das Röhrchen mit dem Finger an. Es rollte über die Tischdecke, aber zum Glück – und zu ihrer großen Erleichterung – nicht über die Kante. Verstohlen ließ sie ihre Hand hinterherwandern.

»Trotzdem geschieht es, Tag für Tag. Das ist die unangenehme Wahrheit, der wir uns stellen müssen. Nein, nicht das Lincoln Memorial oder das Metropolitan Museum, sondern unser eigenes reiches Erbe, hier in Los Angeles. Wir lassen es zu, dass Hunderte alter Gebäude verfallen, architektonische Meisterwerke aus L. A.s Goldenem Zeitalter, der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Wir lassen es zu, dass sie abgerissen werden, um Platz zu schaffen für …«

Plötzlich sah Anna, wie Mrs. Boyagian das Röhrchen vom Tisch nahm. Ihr wurde flau. Wie durch einen Schleier hindurch sah sie das Ende der Welt nahen – zumindest für gut fünfzig Beverly-Hills-Hausfrauen, drei mexikanische Kellner und eine abgetakelte Schauspielerin mit Fettsteiß. Sie geriet ins Stocken.

»… für Einkaufszentren und Fastfood-Restaurants. Sie, äh …«

Anna stand das Wasser bis zum Hals. Genauer gesagt, bis zur Oberkante der unaufgespritzten Unterlippe. Mrs. Boyagian nahm das Röhrchen neugierig in Augenschein. Die Flüssigkeit hatte eine sehr seltsame Farbe. Es musste sich um ein völlig neues Produkt handeln.

»Sie, äh, sie …« Leg es wieder hin, du blöde Kuh, bitte, bitte, mach es nicht auf. »Jedes Jahr werden Dutzende städtebaulicher Kleinode dem Erdboden gleichgemacht, um Platz zu schaffen für Bauten, die keinerlei ästhetischen Wert besitzen und sich darüber hinaus auch noch wie Krebsgeschwüre vermehren …«

Mrs. Boyagian konnte der Versuchung, sich eine Nase voll aus dem Röhrchen zu gönnen, kaum noch widerstehen. Ich muss kotzen, dachte Anna. In fliegender Eile spulte sie den Rest ihrer Rede herunter.

»… und unser schönes Südkalifornien verschandeln. Deshalb möchte ich Sie heute bitten, dass Sie …«

Nur ein kleines Näschen voll, dachte Mrs. Boyagian. Sie fing an, den Deckel aufzuschrauben.

»MRS. BOYAGIAN!«, schrie Anna.

Mrs. Boyagian ließ das Röhrchen fallen. Es landete in ihrem Schoß und blieb in einer Stofffalte hängen. Sie setzte eine andächtig lauschende Miene auf.

»… und die übrigen Mitglieder der West Hollywood Arts Society mich und meine Mitstreiter bei unseren Bemühungen unterstützen, möglichst viele dieser wunderschönen alten Gebäude zu erhalten. Ich danke Ihnen.«

Mrs. Boyagian war die Einzige, die sich erhob und applaudierte, als ob sie der Schlampe – denn das wusste ja wohl jeder, dass Anna Mayhew mit so ziemlich jedem geschlafen hatte – ihre eigene kleine Miniovation bringen wollte. Dabei ging es ihr lediglich darum, das Röhrchen unbemerkt auf den Boden rutschen zu lassen. Und wenn Anna es vermisste? Dann waren die inkompetenten Mexikaner schuld.

Anna lief zum Tisch. Das Röhrchen war weg. Die verfluchte Kuh hatte es auch nicht mehr in der Hand. Die Zimtzicke hat es geklaut, sie macht es auf, wenn sie wieder zu Hause ist, auf dass sie sich in Bälde mit ihrem verkalkten Produzentengatten und ihren Hausmädchen und Gärtnern und Miezekatzen und chinesischen Faltenhunden im Himmel ein Stelldichein geben wird.

»Inspirierend«, sagte Mrs. Boyagian, während sie sich wieder ans Rednerpult begab. »Ich danke Ihnen, Anna Mayhew, dass Sie uns an eine unserer wichtigsten Bürgerpflichten erinnert haben. Es muss uns allen ein Anliegen sein, unser architektonisches Erbe zu bewahren.«

Anna blickte sich verzweifelt um. Sie bückte sich unter den Tisch. Dass der gesamte Saal ihr Treiben verwundert beobachtete, interessierte sie in diesem Moment nicht die Bohne.

»Wollen wir Anna für ihren mitreißenden Appell mit einem Applaus verabschieden?«

Da lag es, das Armageddon für die Handtasche, nur wenige Schritte entfernt. Anna wollte schon einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen, als sie sah, dass einer der Kellner, der gerade ein Tablett mit Hummer Thermidor hereintrug, das Röhrchen in wenigen Sekunden zertreten würde.

Es gibt entscheidende Momente im Leben, und Anna wusste: Dies war ein alles entscheidender. Im Stil eines Footballspielers stürzte sie sich auf das Röhrchen und schaffte es tatsächlich noch, es unter den Füßen des Mannes wegzuschnappen. Der Mexikaner kollidierte mit ihr und kam seinerseits zu Fall, worauf die Krustentiere aus Maine und die Sahne aus Wisconsin in hohem Bogen gegen die Fensterscheiben klatschten. Noch während sie ihre Glieder wieder auseinandersortierten, wurde dem Kellner schlagartig klar, dass er sich als gefeuert betrachten konnte. Anna dagegen konnte sich darüber freuen, die bessere Hälfte der High Society von Beverly Hills nicht vorzeitig in die ewigen Jagdgründe befördert zu haben.

»Hoppla«, sagte Mrs. Boyagian, als Anna sich wieder hochgerappelt hatte. »Immer dieses Personal …«

»Ich bin mit dem Absatz in der Tischdecke hängen geblieben. Wie dumm.«

»Eben«, sagte Mrs. Boyagian. »Diese Menschen können noch nicht einmal einen Tisch richtig eindecken. Haben Sie sich wehgetan?«

»Nein, danke. Alles bestens.«

»Dürfte ich Sie etwas fragen? Mir ist Ihr wunderbares Parfüm aufgefallen. Würden Sie mir verraten, wie es heißt?«

»Thanatos«, antwortete Anna.

»Thanatos?«, wiederholte Mrs. Boyagian. »Was für ein seltsamer Name. Aber es duftet fantastisch.«

»Ja«, sagte Anna. »Es ist ein mörderisch guter Duft.«

»Ach, wie witzig«, sagte Mrs. Boyagian.

Da Anna ihnen nun einmal ihr gutes Geld abschwatzen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als erst noch eine Runde Süßholz zu raspeln, obwohl sie nur noch eines wollte: raus aus dem Restaurant, rein ins Auto und ab nach Hause. Sie stand sich die Beine in den Bauch, beantwortete die seit Jahren immer wieder gleichen albernen Fragen und strahlte mit ihrem scheckheftgepflegten Gebiss um die Wette. Nachdem die Fragen verebbt waren, konnte sie sich endlich von Mrs. Boyagian, der alten Schabracke, verabschieden und das Weite suchen. Chandler, Annas Fahrer, wartete mit dem Navigator vor dem Restaurant auf sie. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf, warf sich den Hermès-Schal über die Schulter und hielt schon auf den Wagen zu, als sie auf dem Bürgersteig von ein paar dieser lästigen Matronen mit einer allerletzten Frage aufgehalten wurde. Ein Passant streifte sie, und sie wich einen Schritt zur Seite aus, um das Gespräch ungestört zu beenden. Ein letztes Strahlelächeln noch, dann konnte sie in den schwarzen Geländewagen springen und die Tür hinter sich zuziehen. Gerettet!

»Wohin soll es gehen?«, fragte Chandler, ein muskulöser, gut aussehender Schwarzer, der ein ziemlicher Aufreißer war und ihr portugiesisches Hausmädchen geschwängert hatte. Anna musste wohl oder übel einen von beiden entlassen, aber sie hatte eine kleine Schwäche für Chandler und hätte der Portugiesin gern eine Abfindung in Höhe von sechs Monatslöhnen hinterhergeworfen, um ihn behalten zu können. Sie war neidisch auf die Kleine, und wenn sie zu viel getrunken hatte, hätte sie ihn manchmal selbst gern in ihr Bett geschleppt. Es wäre nicht die erste Dummheit, die sie sich in ihrem Leben geleistet hätte. Allerdings würde sie sich danach wirklich einen neuen Fahrer suchen müssen.

»Nach Hause«, antwortete sie. »Ist Pam auch da?«

»Soll ich mal kurz durchrufen?«

»Nein, was soll’s? Bringen Sie mich einfach nach Hause.«

Anna lehnte sich zurück, machte die Yoga-Atemübungen, die sie von Shakti, ihrem schwulen Ayurvedalehrer aus Brooklyn, gelernt hatte, und nahm Sonnenbrille und Halstuch ab. Als sie die Seide durch ihre Finger gleiten ließ, verfing sie sich darin und sah sich den Stoff genauer an. Er war halb durchgetrennt. Mist, sie mochte dieses Tuch. Ob sie damit wohl irgendwo hängen geblieben war? Aber daran müsste sie sich doch erinnern, denn sie hatte es ja die ganze Zeit bei sich gehabt. Plötzlich fiel ihr der leichte Rempler auf dem Bürgersteig wieder ein. So ein Quatsch, dachte sie. Aber es gab keine andere Erklärung, und es war ein Schnitt, kein Riss. Sofort ließ sie Chandler rechts ranfahren, und als der Wagen vor dem House of Blues zum Stehen gekommen war, kamen ihr der Salat und der Hummer Thermidor wieder hoch und landeten auf dem Bordstein.

4

Der Friedhof lag außerhalb von Palm Springs in der Wüste, ein ekelhaft grüner Schandfleck im Sand, wie ein Golfplatz mit Grabsteinen und Statuen. Es war heiß. Über den Granitplatten flimmerte und flirrte die Luft, als ob die Seelen der in der Hölle schmorenden Verblichenen die große Flatter gemacht hätten. Die ganze Anlage wirkte absurd und geschmacklos, aber absurd und geschmacklos war auch Hollywood, und Hollywood begrub hier gern seine Toten.

David Spandau stand am hinteren Rand der Trauergemeinde, die immer weiter nach vorn drängte, bis es der Geistliche mit der Angst bekam, der Heimgegangene würde Gesellschaft bekommen, und sich nur noch mit einer Ermahnung zu helfen wusste. Unter heftigem Geschiebe wich alles vom Zentrum des Geschehens zurück, und er konnte mit seiner Grabrede fortfahren. Der Mann, der aus Ohio, der Heimat des Verstorbenen, angereist war, kam sich an diesem gottverlassenen Ort vor wie ein Fisch auf dem Trockenen. Nass geschwitzt und von Fernsehkameras gefilmt, konnte er nur noch einen klaren Gedanken fassen: dass er ein Bild abgab wie ein Landei in der großen weiten Welt. Aber die Angehörigen des Toten hatten ihn für seinen Auftritt fürstlich entlohnt und ihn in einem schicken Hotel mit Zimmerservice untergebracht, und da er eine ehrliche Haut war, wollte er ihnen für ihr Geld auch etwas bieten.

»Man sagt, Robert Leonard Dye sei der beste Schauspieler seiner Generation gewesen, und es gibt wohl kaum jemanden, der das bestreiten würde. Jedenfalls nicht die Millionen von Fans, die ihn bewundert haben, und auch nicht seine Freunde und Kollegen, die ihn als einen freundlichen und großzügigen Mann kannten …«

Bobby Dyes Mutter stand weinend vor dem Grab ihres Sohnes. Es waren echte Tränen, was man auf diesem Friedhof sonst nicht sehr oft zu sehen bekam. Ihr ältester Sohn Harry, Bobbys einziger Bruder, hatte den Arm um sie gelegt. Er weinte nicht, aber er hatte ja auch gerade mehrere Millionen Dollar und ein Haus in Malibu geerbt. Hinter ihnen standen Bobbys langjährige Agentin Annie Michaels und der Großproduzent Frank Jurado, der mehrere von Bobbys Filmen finanziert hatte, und neben ihnen Bobbys Freundin Mila-ohne-Nachnamen (wie Cher), das russische Sternchen aus Galaxy Invaders III. Wie ein Jockey beim Hindernisrennen, der eine Lücke in der Reisighecke erspäht hat, versuchte sie, sich nach vorne zu schieben, aber auf ein Zeichen von Bobbys Bruder hin schlossen sich sofort die Reihen. Die arme Mila. Niemand mochte sie leiden. Was vielleicht auch an der Nachlassklage lag, die sie angestrengt hatte.

»Asche zu Asche, Staub zu Staub«, sagte der Geistliche. Er konnte nur hoffen, dass er es für die Medien dramatisch genug rübergebracht hatte.

Während eine Band »Stairway to Heaven« von Led Zeppelin anstimmte, legte jemand einen Hebel um, und der Sarg versank in der Tiefe. Gute Reise, Bobby, du armes Schwein, dachte Spandau. Er reihte sich in die Schlange ein, die am Grab vorbeizog, und warf eine Handvoll Erde auf den Sarg. Frank Jurado stierte ihn böse an. Annie strafte ihn mit Verachtung. Bevor er sich auf den Weg zum Parkplatz machen konnte, wurde er von einem kleinen, rothaarigen Mann am Ärmel festgehalten.

»Hallo, Ginger«, sagte Spandau. Gingers Augen waren völlig verheult. Er hatte fast so weit vom Grab entfernt gestanden wie Spandau, aber er war ja auch nur Bobbys persönlicher Assistent gewesen. Er zählte nicht mehr.

»Bobby hätte die Krise gekriegt«, sagte Ginger. »Er wollte Siegfrieds Trauermarsch. Etwas Geschmackvolles. Er hatte doch schließlich Geschmack. ›Stairway to Heaven‹ ist der reine Schwulst. O Gott, ich glaube sogar, er konnte Led Zeppelin nicht ausstehen. Das ist alles Milas Schuld, das kleine Miststück. Und Bobby? Sitzt auf seiner Wolke und spuckt Gift und Galle. Ich hoffe, Sie haben nicht auch was gegen mich. Das könnte ich nicht ertragen.«

»Warum sollte ich denn was gegen Sie haben?«

»Wegen der alten Geschichte. Weil er Sie nicht mehr sehen wollte, nachdem Sie so viel für ihn getan hatten …«

»Daran konnten Sie doch nichts ändern.«

»Mich haben sie übrigens auch gefeuert«, sagte Ginger. »Gleich nachdem er den Oscar für Wildfire bekommen hatte. Da hat Mila sofort angefangen auszumisten – sie hat jeden abserviert, der ihm etwas bedeutet hat. Da gehe ich mit ihm durch dick und dünn, und dann schickt er mir Annie, dass sie mir meine Papiere gibt. Er konnte es nicht. Er wusste, dass es falsch war. Aber er hatte Angst, dass Mila ihn verlassen würde. Und dann hat sie ihn ja auch verlassen, die Schlampe. Die wollten mich hier heute noch nicht mal auf dem Friedhof haben. Aber ich hab ihnen gedroht, dass ich ihnen eine Szene mache, die sich gewaschen hat. Scheißegal, dass ich eine Vertraulichkeitserklärung unterschrieben habe, ich gehe an die Presse, hab ich gesagt. Ich gehe zu CNN. Da haben sie mich dann doch reingelassen. Dabei war es gelogen. Wenn die mich kennen würden, wenn die überhaupt den leisesten Schimmer hätten, wüssten sie, dass ich so was niemals machen würde. Das könnte ich ihm doch nicht antun, im Leben nicht.«

Ginger fing wieder an zu weinen.

»Sie waren sein Freund«, sagte er zu Spandau. »Und das wusste er.«

»Er hatte eine komische Art, mir das zu zeigen.«

»Ich habe noch nie einen Menschen gekannt, der so voller Ängste war wie er. Die haben ihn rumgeschubst, ihm sein Leben aus der Hand genommen. Und zum Schluss haben sie ihn umgebracht. Er mochte Sie. Die hatten ihn in der Hand, er konnte nichts gegen sie machen.«

»Er war ein erwachsener Mann, Ginger. Es hat ihn keiner mit vorgehaltener Knarre zu irgendwas gezwungen. Aber egal, ich war ja bloß sein Mietbulle. Er hatte sich in die Scheiße geritten und mich dafür bezahlt, dass ich ihn da wieder raushole. Mehr war nicht.«

»Sie wissen, dass das nicht stimmt.«

»Ich weiß gar nichts«, sagte Spandau. »Traurig, aber wahr.«

Ginger umarmte ihn. Spandau legte ihm die Hand auf die Schulter. Ginger hatte Bobby geliebt, aber Bobby kam mit der Liebe nicht klar. Man konnte sie nicht anfassen und streicheln wie eine Angeberflasche Franzosenwein, einen Sportwagen oder eine Freundin, die man sich aus dem Katalog von Victoria’s Secret ausgesucht hatte. Wer Bobby liebte, tat es auf eigene Gefahr und wurde zum Schluss auch noch weggeekelt. Bis nur noch die Zyniker übrig waren, die, wie Oscar Wilde mal gesagt hat, von jedem Ding den Preis und von nichts den Wert kennen.

»Passen Sie auf sich auf, Ginger«, sagte Spandau.

»Mach ich. Hintern zusammenkneifen und durch: Das ist meine Devise.« Er grinste. »Bobby konnte sich darüber immer kringelig lachen.« Dann musste er sich abwenden, weil ihm schon wieder die Tränen kamen.

Spandau hatte den Parkplatz kaum betreten, als ihm der schwere schwarze Lincoln den Weg abschnitt. Der Wagen war ihm schon während des Begräbnisses aufgefallen, aber erst jetzt wusste er, dass er auf ihn gewartet hatte. Die getönte Scheibe im Heck glitt nach unten, und Salvatore Locatelli sah heraus. Obwohl Locatelli ein viel beschäftigter Mann war, nahm er sich zwischendurch gern die Zeit, sich aus Jux und Tollerei durch die Stadt kutschieren zu lassen, um Leute zu terrorisieren.

»Steigen Sie ein, Texas«, sagte er.

Spandau wollte wortlos weitergehen, aber der Fahrer hatte aufgepasst und ließ ihn nicht an der Limousine vorbei.

»Nun machen Sie schon, Texas. Sonst werde ich bei dem Hin-und-her-Geruckel noch seekrank.«

Locatelli drückte die Tür auf. Spandau stieg ein. Nach der Gluthitze der Wüste war das klimatisierte Wageninnere ein Schock. Locatelli wickelte genüsslich eine Havanna aus, knipste die Spitze ab und zündete sie umständlich mit einem langen Streichholz an. Er war nun mal ein Showman.

»Wie hat Ihnen die Beerdigung gefallen?«, fragte er schließlich, während er die Zigarre paffend anrauchte.

»Sie beglücken mich mit einem Zwangsmeeting, um mit mir Beerdigungskritik zu üben?«, fragte Spandau.

»Mir war es nicht feierlich genug. Ich hab es gern gediegen, wenn einer stirbt. Auch wenn er ein opportunistisches Arschloch war.«

Spandau wollte aussteigen, aber Locatelli hielt ihn zurück.

»Okay, tut mir leid. Sie hatten an dem kleinen Mistkerl ja einen Narren gefressen. Obwohl ich nie kapiert habe, wieso eigentlich. Er hat Sie doch auch wie den letzten Dreck behandelt, genau wie alle anderen. Dabei hatten Sie wirklich etwas für ihn übrig – als einer von ganz wenigen. Es haben ihn nicht viele gemocht, Texas, das wollen wir doch mal festhalten. Ich habe drei von seinen Filmen produziert, aber ich konnte ihn nicht ausstehen.«

»Was Sie nicht daran gehindert hat, ihn auszunehmen wie eine Weihnachtsgans.«

»Ja, ja, er war ein armes kleines Unschuldslamm aus Ohio, das immer lieb zu seiner Mama war. Der neue James Dean. Kommen Sie mit diesem Rührstück mal der Mutter von der Kleinen, die auf seinem Klo verreckt ist und die er von Richie Stellas Leuten in der Wüste hat verscharren lassen. Mussten Sie ihn aus der Geschichte nicht auch raushauen?«

»Und Sie haben ihn damit erpresst, damit er für Sie arbeitet.«

»Da liegen Sie falsch. Das hatte ich gar nicht nötig. Bobby Dye war käuflich, wie jeder andere Schwanz in dieser Stadt. Ich hatte nur zufälligerweise genug Geld, um ihn mir leisten zu können. Und das war’s auch schon, das ist das ganze Geheimnis. Sie haben mal wieder die Schurken verwechselt, Texas. Wie immer.«

»Auch wenn ich noch so gerne in Erinnerungen an alte Zeiten schwelge, könnten Sie vielleicht trotzdem langsam zur Sache kommen? Ich habe noch einen Termin.«

»Sie gefallen mir, Texas. Sie sind ein Idiot, aber Sie trauen sich was, und Sie haben auch noch so was wie Ehrgefühl im Leib. Wenn Sie sich eleganter kleiden würden, könnten Sie glatt als Italiener durchgehen. Deshalb würde ich es auch nicht gerne sehen, wenn man Sie eines frühen Morgens zwischen den ganzen gebrauchten Kondomen unter dem Santa Monica Pier aus dem Wasser fischen würde.«

»Ich glaube fast, so poetisch hat mir noch nie einer gedroht.«

»Ich will meine Ruhe, Texas. Ich habe eine neunzehnjährige argentinische Geliebte und jede Menge Geschäftspartner, die sich einbilden, sie wären Sonny Corleone, und immer noch denken, Betonschuhe wären eine tolle Idee. Die bringen mich sowieso noch früh genug unter die Erde. Da will ich mir nicht Ihretwegen auch noch Sorgen machen müssen.«

»Ach was, dann liegt Ihnen nur mein Wohlergehen am Herzen? Ich bin schon lange ein hoffnungsloser Fall. Tut mir leid.«

»Sehr witzig«, sagte Locatelli. »Und wenn ich mich vor Lachen wieder eingekriegt habe, lasse ich Ihnen von meinem Fahrer mit dem Vorschlaghammer die Kniescheiben zertrümmern. Sie wissen ganz genau, was ich meine. Ich will, dass Sie mir keinen Ärger machen. Keine Heldentaten, keine Rachefantasien. Ich habe Ihren Kumpel nicht umgebracht. Der hat sich ganz alleine das Licht ausgeknipst, mit freundlicher Unterstützung der US-Ärztekammer. Das waren vollkommen legale Drogen, die er sich reingepfiffen hat. Ich hatte nichts damit zu tun. Wenn Sie den wahren Schuldigen finden wollen, halten Sie sich an die Tussi, mit der er verlobt war. Er ist nicht der Erste, der sich im Liebeswahn in den Abgrund gestürzt hat. Für mich war er eine Investition, Texas. Ich konnte den kleinen Scheißer nicht leiden, aber tot nützt er mir überhaupt nichts mehr. Das müssten doch sogar Sie begreifen können.«

»Passen Sie bloß auf, dass Sie in Ihren Krokodilstränen nicht ersaufen. Kann ich jetzt gehen, oder will mir Ihr Fahrer noch ein paar Mal die Cowboystiefel platt walzen?«

»Ein erwachsener Mann, der seine Füße in solche Treter steckt. Das muss mir mal einer erklären.«

»Ich trage sie nur, damit ich nicht über den dicken Onkel gehe. Sonst würde ich latschen wie John Wayne.«

»Sinn für Humor im Angesicht schwerer Körperverletzung«, sagte Locatelli. »Alle Achtung.«

Er beugte sich über Spandau hinweg und machte ihm die Wagentür auf. Als ihm die heiße Wüstenluft entgegenschlug, wich er erschrocken zurück. Er mochte weder Sand noch Hitze noch sonst etwas, was den Bügelfalten seinen Londoner Maßhosen schadete. Spandau stieg aus. Er wartete. Locatelli würde das letzte Wort haben wollen, und wenn er ihn den ganzen Nachmittag über den Parkplatz jagen müsste.

»Seien Sie auf der Hut, Texas. Wie heißt es so schön? Du bezahlst deine Sünden nicht in der Kirche, du zahlst auf der Straße.«

Die Tür fiel ins Schloss, die Limousine rollte davon. Spandau überlegte einen Augenblick, ob der größte Gangster in Los Angeles wohl tatsächlich Raymond Chandler las, doch dann dämmerte ihm, dass Locatelli Martin Scorsese zitiert hatte.

5

Spandau fuhr mit dem schwarzen BMW in östlicher Richtung den Sunset Strip hinunter, vorbei an Hollywood-Wahrzeichen, Clubs und Restaurants, an Trendsettern, Touristen und Pennern, und bog in eine enge, steile Straße mit zahlreichen Haarnadelkurven ein. Als ihm ein Lieferwagen entgegenkam, wäre er fast frontal mit ihm zusammengestoßen, und er musste ganz rechts ranfahren, damit der andere sich vorbeiquetschen konnte. Nach einer kurzen Steigung endete die Straße in einem Wendehammer vor einem großen grünen Tor, das seinem Besitzer Schutz vor den barbarischen Horden auf der anderen Seite garantierte. Statt bis zum Tor vorzufahren, hielt Spandau am Straßenrand an und zückte sein Handy.

»Hi, Sie sind mit der Mailbox von Delia Macaulay verbunden. Bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht, ich rufe Sie dann so bald wie möglich zurück.«

Spandau schaltete das Handy schnell wieder aus, doch dann fiel ihm ein, dass sie seine Nummer sowieso auf dem Display sehen würde. Der Fluch der modernen Technik. Wie weit musste es mit diesem Land schon gekommen sein, wenn man nicht mal mehr seiner eigenen Exfrau wie ein anonymer Stalker hinterhertelefonieren konnte? Wenigstens hatte sie sich mit Macaulay gemeldet, ihrem Mädchennamen. Ein gutes Zeichen. Offenbar dämmerte ihr langsam, dass es ein Fehler gewesen war, diese Streberleiche Charlie zu heiraten. In Spandau glomm ein winziger Funke auf, aber der Teil von ihm, der sich noch einen letzten Rest Vernunft bewahrt hatte, wusste, dass es nicht Hoffnung, sondern Verzweiflung war; wie bei einer Figur von Jack London, die kurz davorstand, an Unterkühlung zu sterben. Er fuhr zum Tor, klingelte und streckte den Kopf aus dem Fenster, damit man ihn sehen konnte.

»Ja?«, sagte eine Frauenstimme.

»David Spandau. Ich werde erwartet.«

»Einen Augenblick, bitte.«

Quietschend öffnete sich das Tor. Spandau fuhr hindurch. Es hätte ihn wenig überrascht, wäre Petrus persönlich angelaufen gekommen, um ihn nach seinem Lebenslauf zu fragen. Auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Haus wusch ein Schwarzer unter hohen, alten Palmen einen neuen Lincoln Navigator. Es gab auch einen italienisch angehauchten Springbrunnen, dem zur kompletten Stilechtheit lediglich eine neckisch darin herumplanschende Anita Ekberg fehlte. Die Villa selbst, ein großes, graues Gemäuer, glich einer Normannenburg und stach aus der kalifornischen Pracht heraus wie ein Kampfhund aus einem Teekränzchen. Spandau parkte im Schatten einer Palme. Lieber Vogelkacke auf dem Lack als Sitze, die glühten wie eine Bratpfanne.

Eine seriös gekleidete Frau kam zielstrebig aus dem Haus und auf ihn zu. Nachdem Spandau sich mit seinen knapp eins neunzig aus dem Wagen gefaltet hatte, überragte er sie um mehr als Haupteslänge. Sie gab ihm die Hand und musterte ihn mit einem Blick, in dem zu lesen stand, dass sie Hünen wie ihn zum Frühstück verspeiste. Sie war blond, blauäugig und hübsch, aber sie hatte auch etwas Kämpferisches an sich, wie ein besonders attraktiver Präriehund.

»Ich bin Pamela Mayhew, Annas Schwester und ihre persönliche Assistentin.«

»David Spandau.« Er schlug ein. »Von der Agentur Walter Coren.«

»Hier entlang«, sagte sie und marschierte zurück zum Haus. Spandau tappte hinter ihr her. Er hasste frisch-fromm-fröhlich-freie Menschen, vor allem, wenn es heiß war. Der Schweiß rann ihm bis unter den Gürtel am Rückgrat hinunter. In der Villa war es zum Glück kühler. Die halbmeterdicken Wände und die summende Klimaanlage hielten die grausame Welt draußen hübsch auf Abstand. Spandau hatte häufig mit Prominenten zu tun, die im Geld schwammen, und er beneidete sie weder um ihren Reichtum noch um ihre Berühmtheit, sondern allein darum, dass sie sich hinter einem Schutzwall aus Immobilienbesitz verschanzen konnten wie gut gepanzerte Gürteltiere. Was natürlich eine Illusion war. Sie waren noch schutzloser als die meisten anderen Leute, und in seinem Beruf als Privatdetektiv mit dem Spezialgebiet »Hollywood-Elite« hatte er die Erfahrung gemacht, dass auch sie von den Hässlichkeiten des Lebens nicht verschont blieben. Trotzdem fühlte man sich in dieser Umgebung sicher und geborgen. Spandau musste an sein einsames kleines Haus im Valley denken, bei dem die Realität durch alle Ritzen pfiff.

»Ich glaube, ich habe noch nie einen echten Privatdetektiv kennengelernt.«

»Aufregend, was?«, sagte Spandau trocken.

Sie lachte. Ein gutes, ehrliches Lachen. »Verstehe. Sie sind einer von der Sorte, die mit einem lockeren Spruch auf den Lippen den Bösewicht über den Haufen knallt und in der Schlussszene die Frau küssen darf.«

»Bei mir läuft es meistens andersrum«, antwortete er. »Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.«

»Sie sind über Anna auf dem Laufenden?«

»Ich weiß, dass sie schon seit einiger Zeit keinen Film mehr gedreht hat.«

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das nicht erwähnen würden.«

Spandau nickte. »Könnte ich das Halstuch sehen? Und die Briefe?«

»Ich hole sie Ihnen. Anna ist noch im Pool. Ich sage ihr Bescheid, dass Sie hier sind. Kann ich Ihnen in der Zwischenzeit etwas anbieten? Kaffee? Wasser?«

»Nein, danke.«

Pam ging in den Garten.

Sie wartete, bis Anna die letzte Bahn geschwommen hatte und aus dem Wasser gestiegen war, und reichte ihr ein Handtuch. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, sagte Pam: »Der Detektiv ist da.«

»Ich hab momentan wirklich andere Sorgen. Ich muss die verdammte Rede für die Kinoeröffnung fertig schreiben, und bis Cannes ist es auch nicht mehr lange hin. Hast du schon ein Quartier für uns gefunden?«