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Köln, im Sommer 1994: Der junge Polizeimeister Peter Merzenich, genannt Pitter, befreit eine Frau aus den Fängen des Zuhälters Jupp Opladen. Kurz darauf gerät Pitters Kollege, Michi Schmitz, auf einem einsamen Waldparkplatz in Höhenberg unter Beschuss und stirbt noch am Tatort. Pitter macht sich auf eigene Faust auf Täterjagd. Doch es fehlt ein Motiv. Hat Kalks Rotlichtmilieu eine Verbindung zu dem Fall? Es gibt noch einen unerwarteten Selbstmord, einen Drogentoten und eine weitere Frauenleiche, bis es endlich Tag wird in Kalk.
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Seitenzahl: 226
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Alexander Thelen
Edition Lempertz
Impressum
Math. Lempertz GmbH Hauptstr. 354 53639 Königswinter Tel.: 02223 / 90 00 36 Fax: 02223 / 90 00 38 [email protected] www.edition-lempertz.de
© 2012 Mathias Lempertz GmbH
Text: Gereon A. Thelen
Titelbild: Ralph Handmann
Ich schaute geistesabwesend zum Fenster hinaus. Für Ende Dezember war es verdammt schmuddelig. Den ganzen Vormittag hatte es bereits geregnet. Das Wetter an diesem 23. Dezember 2002 passte zu meinem Gemütszustand. Wie das letzte Weihnachtsfest würde ich auch dieses ziemlich einsam verbringen. Nicht allein, aber einsam halt. Das Gänseessen bei Erich an Heiligabend und der traditionelle Umtrunk mit meinen besten Freunden und Kollegen am zweiten Weihnachtstag in Gilbert’s Pinte konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass mir Marias Wärme und Nähe in dieser besinnlichen Zeit unendlich fehlen würden. Zwar hatten wir uns nach einem unsinnigen Streit im Juli inzwischen wieder angenähert, aber eben nur freundschaftlich. Sie war nicht hier bei mir. Na ja. Es gibt Tatsachen, die sich nicht ändern lassen.
Obwohl ich schon seit halb neun wach war, hatte ich keine Lust, irgendetwas zu tun. So legte ich mich auf die Couch ins Wohnzimmer und schaute den ganzen Vormittag irgendwelche alten James Bond-Videos, die ich schon zigmal gesehen hatte. Die nächsten freien Tage würde ich wohl ähnlich verbringen. Lustlos und deprimiert, seit meiner Scheidung im Frühjahr 2001 fast ein Dauerzustand. Irgendwann gegen Mittag rappelte ich mich dann doch auf und begab mich Richtung Briefkasten. Vielleicht hatte ja jemand an mich gedacht und mir eine Weihnachtskarte geschrieben. Natürlich hoffte ich, dass eine Karte von Maria dabei sei. Meine Erwartungen wurden enttäuscht.
Gleichgültig schmiss ich meine Tagespost auf den Wohnzimmertisch. Sie bestand aus diversen Rechnungen, Weihnachtsgrüßen von meiner Autowerkstatt und einer großen Baumarktkette. Ich beschloss, es mir ein wenig gemütlicher zu machen. Mein Blick fiel dabei auf den Adventskranz auf dem Couchtisch. Ich ging zu meinem Wohnzimmerschrank und öffnete eine Schublade, um ein Feuerzeug zu suchen. Da fiel mir das im Lichtschein glänzende Zippo auf. Wehmütige Gedanken ergriffen mich, als ich den geschwungenen Namenszug CAROLINE auf der silbrigen Oberfläche las.
Caroline.
Wie lange war das her?
In Gedanken versunken ließ ich mich auf der Couch nieder. Meine Erinnerung führte mich unweigerlich zurück ins Jahr 1994 – zu jenem Juliabend, an dem ich Caroline kennenlernte. Sie war die erste Frau in meinem Leben, die wirklich Spuren hinterlassen hatte. Obwohl die Umstände, unter denen wir uns damals kennen lernten, alles andere als erfreulich waren. Denn wenn ich an sie denke, kreisen meine Gedanken automatisch auch um meine erste Mordermittlung und um das tragische Ableben mehrerer Personen...
Polizeipräsidium Köln, Abteilung Gefahrenabwehr/Strafverfolgung, Polizeiinspektion 8, Polizeihauptwache, Dienstgruppe D („Dora“), Kapellenstr. 28, 51103 Köln-Kalk, Mittwoch, 6. Juli 1994, 21:27 Uhr
Obwohl ich seit fünf Uhr nachmittags geschlafen hatte, fuhr ich mit meinem Opel Monza GSE alles andere als ausgeruht zum Dienst. Die fünf Minuten Fahrzeit kamen mir ewig lang vor. Als ich von der Kalker Hauptstraße in die Kapellenstraße abbiegen wollte, hätte ich beinah einen Fußgänger platt gefahren. Wild schimpfend und fluchend setzte er nach meiner Vollbremsung seinen Weg fort. Ich hätte auf der Stelle wieder einschlafen können und schien um mich herum nichts mehr mitzubekommen. Schließlich hatte ich an diesem Tag bereits Frühdienst verrichtet. Hinzu kamen unerträgliche Magenschmerzen, die ich mir nachmittags im Rahmen meiner Nebentätigkeit als Jugendtrainer in meinem Boxverein zugezogen hatte. Einer meiner Zöglinge, ein vierzehnjähriger Türke aus Ostheim, hatte geglaubt, er müsse mir einen Tiefschlag in die Magengrube mit auf den Weg geben. Aber so ist der Boxsport halt...
An die Nachtschicht hatte ich mich auch nach gut fünf Jahren Streifendienst nicht gewöhnt. Man gerät vollkommen aus dem natürlichen Rhythmus, wenn man bei Tageslicht schläft und nachts, wenn alle anderen Leute ins Bett gehen, den Dienst antreten muss.
Nachdem ich das Coupé, das in den Achtzigern mit seiner weißen Lackierung und der digitalen Tachoanzeige als äußerst sportlich-schick und modern galt, auf dem Parkplatz hinter der Wache geparkt hatte, schnappte ich meinen Rucksack vom Beifahrersitz und betrachtete meine Arbeitsstätte: Der graue dreistöckige Bau mit blauen Fensterrahmen, Flachdach und rückwärtiger Waschbetonverkleidung, der die Hauptwache der Polizeiinspektion 8 beherbergte, wirkte mit seinem Plattenbau-Charme nicht wirklich einladend.
Antriebslos stieß ich die Eingangstür der Wache auf und betrat das Wachlokal. Die Luft war äußerst stickig; an der Decke flackerten mehrere Leuchtstoffröhren. Die alte hölzerne Theke, die eine räumliche Distanz zwischen diensthabenden Beamten und besuchenden Bürgern schaffte, die vergammelten, ja fast schon antiken Büroholzmöbel sowie die dicken orangefarbenen Vorhänge wirkten alles andere als einladend.
Die drei anwesenden „Innendienstler“ der Spätdienst verrichtenden Dienstgruppe A bzw. „Anton“ waren sehr beschäftigt. Während Günni Radermacher eifrig einen Bericht am PC verfasste, stand Polizeihauptkommissar Willy Mikloweit, der Dienstgruppenleiter der Anton-Tour, hinter ihm und schaute ihm mit prüfendem Blick über die Schulter.
Als ich ihnen ein muffiges „’n Abend“ entgegenschmetterte, winkte mir Günni wortlos zu, ohne seinen gebannten Blick von dem flackernden Bildschirm abzuwenden. Willy hingegen, ein drahtiger, grauhaariger Schnauzbartträger mit pockennarbigem Gesicht, nickte zackig und sah mich streng an. Obwohl seine Zeit als Unteroffizier bei der Bundeswehr bereits Jahrzehnte zurücklag, hatte er von seiner forschen und Respekt einflößenden Art nichts eingebüßt.
In der hintersten Ecke des Wachlokals entdeckte ich schließlich den kleinen, dünnen, älteren Mann mit Stirnglatze, roten Haaren und ausgeprägten grauen Koteletten. Die Arme vor der Brust verschränkt widmete er sich hingebungsvoll der Lektüre des EXPRESS. Bei dem gemütlichen und äußerst sympathischen Kollegen handelte es sich um Polizeioberkommissar Emil Knetsch, den Wachdienstführer – kurz WDF – seiner Dienstgruppe – und damit Willys Stellvertreter. Obwohl er vor einem Monat seinen 59. Geburtstag gefeiert und somit sein letztes Dienstjahr begonnen hatte, war er einer der engagiertesten und arbeitsamsten Kollegen, von dem sich so mancher jüngere Beamte locker eine Scheibe hätte abschneiden können.
Ich freute mich, den Mann aus dem Bergheimer Stadtteil Quadrath-Ichendorf, den ich aufgrund seines genuschelten rheinischen Dialekts oftmals nur mit größter Mühe verstand, zu sehen, und begrüßte ihn dementsprechend freundlich. „Hallo Emil, wie geht’s dir?“
Emil schaute mich durch seine kleinen, zusammengekniffenen Augen an. „Jot, leeve Jung.“ „Irgendwas Besonderes während der Spätschicht passiert?“
Emil schüttelte nur den Kopf. „Jar nix. Wor janz räuhich hück. Esu künnt et immer sin. Ich hoff nur, dat dä Franky bahl kütt. Ich muss noh Huus. Morje will ich met mingem Enkelche, dem Jacqueline, en der Zoo noh Kölle. Hoffentlich kütt dä ahle Ossi bahl ens endlich!“
Er hatte seinen Satz kaum ausgesprochen, da stand der „ahle Ossi“ hinter mir im Wachlokal. „Man sachte, Kolleje, rech dir nich uff. Franky is ja bei dir!“, sagte der spindeldürre Mann Ende vierzig mit schwarz-grau melierten Haaren, Stirnglatze und Schnauzbart, der eigentlich Frank Kolkwitz hieß und als WDF meiner Dienstgruppe „Dora“ für die Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs auf der Wache und die Erstellung der Dienstpläne verantwortlich war.
Franky, wie er von uns allen genannt wurde, war gebürtiger Berliner und ehemaliger Volkspolizist im Ostteil der damals geteilten Metropole. Nach der Wende arbeitete er zunächst als Streifenbeamter im Bezirk Charlottenburg, bevor er aus persönlichen Gründen mit seiner Frau Martina nach Köln gezogen war. Seitdem verrichtete er hier seinen Dienst – auch, wenn es ihm manchmal schwerfiel, mit den Arbeitsverhältnissen eines Polizisten im wiedervereinigten Deutschland zurechtzukommen. Als Vopo war er es gewohnt, dass ihm die Leute mit Respekt begegneten. In einem von sozialen Problemen geprägten Bezirk wie Kalk war ein Ordnungshüter jedoch eher Sozialarbeiter und Seelsorger.
Franky klopfte mir auf die Schulter und nahm einen kräftigen Zug an seiner Zigarette. Er deutete auf seine Jeansjacke, unter der er bereits Diensthemd und –hose trug.
„Ick bring det Jelumpe direktemang nach hinten, denn kannste dir verdrücken, Jenosse Oberkommissar!“
Emil winkte gespielt verächtlich ab. „Hür bloß op met dingem juxije Ossi-Verzäll un maach vöran!“
Polizeikommissar Kolkwitz lachte halb hustend, steckte seinen Glimmstängel in den Mund, kratzte sich an der stark behaarten Brust und machte sich auf den Weg Richtung Umkleide im ersten Stock.
„Grüß euch!“
Eine weitere schillernde Persönlichkeit unserer Dienstgruppe hatte das Wachlokal betreten. Dieser Mann Anfang fünfzig war noch dünner als Franky Kolkwitz. Seine grauen Haare waren auf wenige Millimeter kurz geschnitten. Eine Nickelbrille mit großen, getönten Gläsern saß auf seiner Nase. Das knallbunte Hawaiihemd und die sandfarbene Bundfaltenhose mit weißem Gürtel rundeten das extravagante Äußere von Polizeihauptmeister Daniel Kendenich ab - unser Funker, der gleichzeitig auch die „gute Seele“ unserer Truppe war. Er kümmerte sich rührend, ja fast aufopfernd um das Wohlbefinden seiner Kollegen, kochte ständig Kaffee und versorgte uns mit den leckersten selbstgemachten Keksen.
So langsam war’s auch für mich Zeit zum Umziehen. Ich nickte Emil kurz zu und wollte ebenfalls Richtung Umkleide verschwinden. Da fiel mir ein, dass ich vollkommen vergessen hatte, in welcher Gegend und vor allem mit welchem Kollegen als Streifenpartner ich in dieser lauen Nacht unterwegs sein würde. So schaute auf unser Schwarzes Brett, an dem der Dienstplan unserer Dienstgruppe Dora befestigt war.
Ich suchte meinen Namen. Na klasse! Er stand direkt neben dem Funknamen „Arnold 18/31“. Unsere Wache hatte drei Funkstreifenwagen, denen allen ein eigener Bezirk zugeteilt war. Und Arnold 18/31 war nun wirklich der Hauptgewinn. Zu seinem Bezirk zählten die sozialen Brennpunkte Vingst und Ostheim sowie Humboldt/Gremberg. Das konnte ja heiter werden... Gerade, wenn es Nacht wurde, drehten die Bewohner dieser Stadtteile gerne durch. Tröstlich war nur, dass ein gewisser Polizeimeister Koslowski mein Streifenpartner sein würde. Denn dahinter verbarg sich kein Geringerer als mein bester Freund Marcel. Wir hatten auf unseren Fahrten immer viel Spaß, auch wenn Marcel manchmal extrem penibel sein konnte. Er war der Prototyp eines alten preußischen Beamten. Und damit das genaue Gegenteil von mir.
Keine fünf Minuten später steckte ich in der aus „anmutigem“ bambusfarbenem Hemd, beigefarbener Stoffhose und schwarzen Halbschuhen bestehenden Uniform eines Polizeimeisters. Ich befestigte Handschellentasche und Holster an meinem Gürtel und schob den Schlagstock aus Gummi in die eigens dafür eingenähte Tasche meines rechten Hosenbeins. Zum Schluss entnahm ich dem Spind meine mittlerweile hilflos speckige und verschwitzte weiße Schirmmütze. Ich überzeugte mich kurz davon, dass meine drei Kabelbinder noch an ihrem Platz im Mützendeckel waren. Zurück im Erdgeschoss ging ich in die Waffenkammer, wo ich das Schließfach mit meiner Dienstwaffe, einer SIG Sauer P6, öffnete. Ich machte sie „fertig zum Dienst“ und steckte sie in das Holster. An der Tür prallte ich mit einem Mann Ende vierzig zusammen, der mit grünem Seidenblouson, Bundfaltenjeans und weit aufgeknöpftem, bunt bedrucktem Hemd bekleidet war. Es war der Mann, mit dessen Sohn ich schon seit der Kindergartenzeit befreundet bin und der nach dem Tod meines eigenen Vaters quasi mein Ersatzvater wurde: Kriminalhauptkommissar Erich Koslowski. Erich konnte knallhart, aber auch ebenso gutmütig sein. Ich wunderte mich, dass der Leiter des Kriminalkommissariats 1 unserer Inspektion zu so später Stunde noch im Büro war.
„Mensch, Jung, kannste nicht aufpassen? Was ist denn los?“
„’Tschuldigung Erich, bin irgendwie ziemlich kaputt heute.“
„Dann geh mal schnell in den Aufenthaltsraum und trink dir noch ’nen Kaffee. Ich will schließlich nicht, dass du einpennst! Marcel ist auch schon da.“
„Mach ich, Chef. Was machst du eigentlich um die Uhrzeit noch hier?“
Er winkte ab. „So ’n Scheißtag heute. Ich hab bis gerade eben zwei Rotzlöffel vernommen, die einen Kioskbesitzer auf der Kalker Hauptstraße krankenhausreif geschlagen haben, weil der ihnen keinen Alkohol verkaufen wollte. Das sind für die Meisterdetektive vom Waidmarkt doch nur kleine Fische. Interessiert die nicht die Bohne. Nä, nä, Jung, mit dem Scheiß dürfen wir uns hier draußen vor Ort schon allein rumschlagen.“
Ich nickte zustimmend und wollte an Erich vorbeigehen. Aber er packte mich am Arm.
„Bevor ihr nachher fahrt, komm doch bitte noch mal in mein Büro! Ich muss was mit dir besprechen. Ist wirklich wichtig!“
„Mach ich, Erich!“
So ging ich dann also in die verqualmte Bude, die sich Aufenthaltsraum nannte. Ich sah mich um. Viele waren nicht da. Unter ihnen erblickte ich Jürgen und Georg vom Spätdienst, die sich bei einer Tasse Kaffee schlüpfrige Witze erzählten. Marcel, der wohl wie immer mehr als zeitig zum Dienst erschienen war und sich auch schon komplett umgezogen hatte, saß in seinem kurzärmeligen Diensthemd am Tisch und las in einer Computerzeitschrift. Die dunkelblonden Haare hatte er mit Linksscheitel korrekt gekämmt, seine Brille saß ordentlich zurechtgerückt auf der Nase. Marcel wirkte alles andere als ein Streifenbulle, er sah eher wie ein Gelehrter aus, was auch seinem Intellekt entsprach. Ich wusste manchmal wirklich nicht, warum er zur Polizei gegangen war. Mit seinem Abiturzeugnis und seinem grandiosen Wissen über Computer wäre er meiner Meinung nach in einer Informatikfirma besser aufgehoben gewesen. Aber er hatte auf Erichs Rat gehört und 1985 mit mir nach dem Abi bei der Polizei angefangen. Der Beruf passte bei Licht betrachtet herzlich wenig zu ihm; dennoch war er ein hervorragender Polizeibeamter. Ein Kollege und vor allem Freund, auf den man sich zu hundert Prozent verlassen konnte und der in jeder noch so prekären Situation energisch und beherzt durchgreifen konnte, was man ihm nach seinem Äußeren zu urteilen längst nicht zugetraut hätte.
Neben Marcel saßen noch Polizeihauptmeister Lothar Fröhlich, ein gutmütiger, dicklicher Kollege Ende fünfzig sowie seine heutige Streifenpartnerin, eine der seinerzeit wenigen Beamtinnen unserer Inspektion, Polizeiobermeisterin Sonja Feldmann. Sonja war seit gut einem Jahr bei uns auf der Wache. Sie war mehr als anderthalb Jahre älter als ich – hatte in jenem Jahr also gerade die dreißig überschritten – und ein absoluter „Hingucker“ Sonja, die aus dem oberbergischen Nümbrecht stammte, war sich ihrer Wirkung auf Männer durchaus bewusst. Bei den meisten Kollegen galt sie als unnahbar und arrogant. Ich konnte diesen Eindruck nicht bestätigen. Schon des Öfteren hatte ich mich äußerst nett mit ihr unterhalten und auch – zugegeben – ein wenig geflirtet... Trotzdem hätte ich es sehr problematisch empfunden, mich mal außerhalb des Dienstes mit ihr zu treffen. Sich mit einer Kollegin einzulassen, hätte zwangsläufig irgendwann Ärger bedeutet. Freundlich begrüßte ich die attraktive Kollegin, während ich Lothar, Georg und Jürgen einfach nur zunickte, bevor ich mich meinem besten Freund zuwandte.
Dieser war jedoch so sehr in seine Lektüre vertieft, dass er erst auf mein drittes „Hallo“ hin antwortete.
„Oh, hallo Pitter, hab’ dich gar nicht bemerkt.“
Kaum hatte ich Marcel gegenüber Platz genommen und mir eine Marlboro angezündet, da tauchte ein ungleiches Paar im Zimmer auf. Polizeiobermeister Jean-Claude Buir textete seinen größten Fan, Polizeimeister zur Anstellung Michael Schmitz, von allen nur „Michi“ genannt, zu. Jean-Claude hielt offensichtlich wieder mal eines seiner berühmten Seminare zum Thema „Lebensberatung“ ab. Als Jürgen und Georg den Polizeiobermeister entdeckten, verdüsterten sich ihre Mienen. Sie standen abrupt auf und verließen grußlos den Raum. Wie sehr ich die beiden doch beneidete, aufgrund des Schichtwechsels nunmehr abhauen zu können und sich nicht weiter mit Jean-Claude abgeben zu müssen. Denn Jean-Claude war tatsächlich eine Nervensäge...
„... Junge, genauso läuft’s. Du laberst die Alte ein bisschen zu, machst ihr ’n paar schöne Worte und schon kannste sie abschleppen. Die Weiber sind so was von blöd, das glaubst du kaum. Denen kannste alles erzählen. Mach ich immer so. Probier’s doch auch mal.“
„Aber – aber du weißt doch, dass ich mit Nicole verlobt bin. Glaub mir, das könnte ich nicht. Ich hätte ein schlechtes Gewissen.“
„Komm Junge, stell dich nicht so an. Ich nehm dich demnächst mal mit auf die Piste.“
Sonja sah mich nur vielsagend an und verdrehte ihre schönen Augen. Lothar und Marcel sagten gar nichts. Sie taten so, als sei Jean-Claude gar nicht da. Jean-Claude war ein großspuriger Angeber und Macho. Er war der Faktor, der unser ansonsten positives Betriebsklima ein wenig minderte. Obwohl er inzwischen schon dreißig war, hatte er es immer noch nötig, jede Woche eine andere Frau abzuschleppen und bei den Leuten, die es hören wollten oder nicht, mit seinen Eroberungen zu prahlen. Hätte er diesen Eifer mal während des Dienstes aufgebracht! Hinzu kam, dass dieser Angeber immer wie der letzte Stenz rumlief. Goldenes Glanzseidenhemd, Lederhose und Stiefeletten sind nun mal nicht jedermanns Geschmack.
Selbst in der Polizeiuniform schaffte es Jean-Claude, peinlich auszusehen. Als ich ihn an diesem Abend im Aufenthaltsraum erblickte, hätte ich loslachen können. Er trug das Sommerhemd fast bis zum Bauchnabel offen, darunter funkelte eine dicke goldene Panzergliederkette auf der blank rasierten Brust im Licht. Anstelle schwarzer Dienstschuhe hatte er sich für schwarze Bikerstiefel entschieden. Obwohl es draußen bereits dunkel war, ruhte eine verspiegelte Sonnenbrille auf seiner Stirn. Wenn er – wie in jenem Moment – in seinem Element war, bestärkte er seine Äußerungen durch Hervorstrecken seines Kinns. Dabei biss er sich auf die Lippen und grinste verschlagen über beide Ohren. Jean-Claude war wirklich mit Abstand der unsympathischste und faulste Kollege, den ich je kennengelernt hatte. Kaum einer von uns konnte den Spross eines neureichen Bauunternehmers aus Kerpen-Bergerhausen mit dem wohlklingenden französischen Vornamen leiden.
Michi dagegen war ein herzensguter Junge von einundzwanzig Jahren war, der stets gut gelaunt zum Dienst erschien. Er wohnte in Worringen und war Mitglied im Schützenverein von Volkhoven/Weiler. Bei dem etwas einfältigen „Jungen vom Land“ mit verpickeltem Gesicht, riesigem Adamsapfel und einer schlaksigen Figur von 1,90 m Größe hatte der vorgeblich weltgewandte Jean-Claude leichtes Spiel.
Da ich den ebenfalls genervten anwesenden Kollegen und mir einen Gefallen tun wollte, beschloss ich, auf verbalen Konfrontationskurs zu gehen. „Tach, du Jeck, haste wieder ’n Opfer zum Zutexten gefunden? Michi, ich würde mir den Typen da nicht zum Vorbild nehmen. Von Arschlöchern wie dem kann man nix Vernünftiges lernen!“
Michi war solchen offenen Anfeindungen offenbar noch nicht gewachsen. Da er nicht wusste, wie er auf den sich anbahnenden Konflikt zwischen seinem Kumpel Jean-Claude und mir reagieren sollte, zog er es vor, sich verlegen lächelnd und rot anlaufend Richtung Wachlokal zu verdrücken.
„Ach, Pitter, scheint, dass du ’n bisschen neidisch bist. Hast wohl ewig keine Schnitte mehr abgekriegt, was?! Na ja, wen wundert’s? Bist halt alles andere als ein Frauentyp. Aber solche Kerle muss es ja schließlich auch geben...“
„Buir, halt endlich die Klappe und sieh zu, dass du Land gewinnst. Ich kann deine Visage echt nicht mehr ertragen!“
Jean-Claude machte mit der rechten Hand eine abfällige Handbewegung, nahm seine Pilotenbrille vom Kopf, setzte sie übertrieben lässig auf die Nase.
„Du solltest lieber mal auf ’n Tacho gucken, kleiner Polizeimeister! Vergiss nicht: Vom Dienstgrad her bin ich jetzt dein Vorgesetzter. Also reiß dein Maul mal nicht so weit auf!“, zischte er, während er mit dem Zeigefinger auf die drei grünen Sterne seiner Uniform tippte, und verließ den Aufenthaltsraum. Nur, weil seine Eltern irgendwie zu Geld gekommen waren und er erst kürzlich – vollkommen unverdient – befördert worden war, meinte er, etwas Besseres zu sein. Obwohl er meinen Spruch offensichtlich sehr locker genommen hatte, konnte ich sehen, wie er vor Wut schäumte. Und genau das war mein Ziel gewesen.
Ich schaute auf die Uhr: 21:58. Schnell drückte ich meine Zigarette im Aschenbecher aus. Schließlich hatte mich Erich noch gebeten, vor Dienstbeginn bei ihm vorbeizuschauen. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, was er von mir wollte. Entsprechend nervös und neugierig betrat ich sein Büro. Erich war gerade dabei, bei einer Tasse Kaffee und einer Zigarette den EXPRESS zu lesen. An die Fensterbank auf der anderen Seite des Büros gelehnt stand ein uniformierter Mann Ende vierzig mit leicht ergrautem Vollbart und dunkelblonden Haaren mit Mittelscheitel. Er hatte die Ärmel seines Diensthemds hochgekrempelt und den Krawattenknoten gelockert. Es handelte sich um Polizeihauptkommissar Hartmut Groß, den Dienstgruppenleiter – kurz DGL – meiner Dienstgruppe „Dora“. Hartmut war ein alter Freund Erichs und nicht minder sympathisch.
„Du wolltest mich sprechen?“, fragte ich.
„Ja, Jung. Setz dich. Ich hab den Hartmut noch gebeten, dazuzukommen.“ „Worum geht’s denn?“, wollte ich ungeduldig wissen. Erich blickte Hartmut an, der ihm aufmunternd zunickte. Mein Ziehvater atmete schwer. Es bereitete ihm sichtlich Probleme, die richtigen Worte zu finden. „Jung, wir kennen uns jetzt schon ewig. Du weißt, dass du mir alles anvertrauen kannst. Es geht um Marcel. Er ist in letzter Zeit verdammt komisch.“
„Ist dir aufgefallen, dass er immer missmutiger zum Dienst erscheint und oft über unseren Beruf meckert?“, mischte sich an dieser Stelle Hartmut ein.
Also darum ging’s. Marcel, der vor einiger Zeit noch mit Leib und Seele Polizist war, zweifelte in den letzten Wochen immer öfter am Sinn unseres Berufes. Er wirkte frustriert, obwohl er nach wie vor hervorragende Arbeit leistete. Aber irgendetwas schien ihm an unserem Beruf überhaupt nicht mehr zu passen. Er regte sich immer häufiger über unsere „Kundschaft“ auf. Da musste ich Erich und Hartmut recht geben. So hatte ich Marcel bislang auch nicht gekannt. „Ja, das stimmt schon. Muss ich zugeben.“
„Aber was ist denn mit dem Jungen bloß los, verdammt noch mal?“
„Keine Ahnung, Erich. Echt nicht. Ich hab ihn auch schon mehrfach drauf angesprochen. Aber er hat nix dazu gesagt.“
„Hast du ihm vielleicht erzählt, dass du bald den Aufstieg machst?“, hakte mein DGL nach. Schließlich hatte ich vor ein paar Monaten den Einstellungstest für den Aufstieg gemacht – und bestanden. Im September würde ich mit der Ausbildung zum Kriminalkommissar beginnen. Die Kripoarbeit reizte mich schon lange – nicht zuletzt dank Erichs interessanten Erzählungen. Und außerdem brauchte ich eine neue berufliche Herausforderung. Der ewig monotone Schichtdienst ging mir langsam aber sicher auf den Geist. Aber das meinem Freund und Streifenpartner Marcel zu sagen, hatte ich mich bislang nicht getraut.
„Nein. Marcel weiß noch nichts davon. Ich hab’s einfach noch nicht übers Herz gebracht, es ihm zu sagen.“ Hartmut packte mich an der Schulter. „Lass das im Moment auch lieber. Ich wüsste nicht, wie er darauf reagiert. Irgendwas stimmt nicht mit ihm. Wäre gut, wenn du das rausfinden könntest.“
„Ich versuch mein Bestes.“ Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es Zeit zum Gehen war. Ich stand auf und verabschiedete mich von den beiden Kollegen. Fast hatte ich die Tür erreicht, als mich abermals Erich ansprach.
„Pitter? Pass auf meinen Jungen und auf dich auf, hörst du? Und das Gespräch bleibt unter uns, klar?!“
„Sicher. Ihr könnt euch auf mich verlassen.“
Marcel schloss die nagelneue, grün-weiß lackierte Limousine vom Typ Ford Mondeo auf. Ich schmiss meine alte Mütze auf die mit Laub und Matsch verdreckte Fußmatte. Obwohl die Mondeos gerade mal vor gut drei Wochen fabrikneu ausgeliefert worden waren, sahen sie schon vollkommen schmutzig aus. Keiner von uns wäre so nachlässig mit seinem eigenen Auto umgegangen. Nachdem Michi und Jean-Claude vom Vorplatz der Hauptwache Kalk gedüst waren, hatten wir als letzte Streifenwagenbesatzung der Nachtschicht ihren Dienst noch nicht aufgenommen. Marcel blickte mich aus den Augenwinkeln an. „Was wollte Erich denn von dir?“
Gespielt lässig winkte ich ab. „Nichts Besonderes“, log ich und verschränkte die Arme vor der Brust. So startete Marcel um Viertel nach zehn den Motor. Gemütlich rollten wir vom Hof.
Der Nachtdienst hatte begonnen.
Kiosk Ecke Gernsheimer Str./Frankfurter Str., 51107 Köln-Ostheim, Mittwoch, 6. Juli 1994, 22:47 Uhr
Der erste Einsatz an diesem Abend ließ nicht allzu lange auf sich warten. Nach unserem Aufbruch an der Hauptwache um Viertel nach zehn fuhren wir zunächst die Ostheimer Straße und den Vingster Ring ab. Alles schien ruhig. Marcel und ich fuhren gerade auf der Ostheimer Straße zurück in Richtung Humboldt/ Gremberg, als wir angefunkt wurden. Es war zwanzig vor elf, als sich „Arnold“, die Leitstelle des Präsidiums, meldete.
Es knackte im Funkgerät:
„18/31 von Arnold!“ Ich griff nach dem Handmikro. „Kommen, Arnold!“, sagte ich schläfrig.
„Fahren Sie zum Kiosk Ecke Gernsheimer/Frankfurter! Nachbarn haben sich über Ruhestörung durch eine Gruppe Jugendlicher beschwert! Drücken Sie die 3!“
Ich drückte die Taste mit der Ziffer 3 des sogenannten Statusgebers unseres Funkmeldesystems am autoradioähnlichen Bedienteil des Funkgeräts in der Mittelkonsole. Dieser zeigte den zuständigen Kollegen in der Leitstelle und unserer Inspektion auf ihren PC-Bildschirmen an, welche dienstlichen Aufträge wir gerade verrichteten. Status 3 bedeutete hierbei „Anfahrt zum Einsatzort“.
„Du hast es gehört, Marcel. Dann lass uns mal nachsehen, was da jetzt schon wieder in der Gernsheimer los ist!“
„Das kann ja nur wieder Ärger geben. Die Leute da rauben mir langsam den letzten Nerv!“
Die Gernsheimer Straße war ein sozialer Brennpunkt in Köln. Arbeitslose, Gelegenheitsarbeiter und Einwanderer aus allen möglichen Nationen hatten hier ein Zuhause gefunden. Dementsprechend oft „knallte“ es dort auch. Das war bereits 1994 so und hat sich bis heute nicht geändert.
Nach etwa sechs Minuten Fahrzeit hatten wir den Flachbau, der den kleinen Kiosk beherbergte, erreicht. Straßenlaternen beleuchteten die Gruppe von fünf männlichen Jugendlichen, die sich vor dem verschlossenen Kiosk versammelt hatte. Selbst durch das geschlossene Fenster unseres Wagens konnte ich ihr lautes Grölen vernehmen, als sie unser grün-weißes Auto entdeckten. Ich sah, dass drei der Jungs Bierflaschen in der Hand hielten, zwei tranken Wodka. Das konnte ja heiter werden...!
Nachdem Marcel den Mondeo am Straßenrand geparkt und ich die Taste 4 des Statusgebers für „Am Einsatzort“ gedrückt hatte, schaute er mich genervt an. „Pitter, kannst du mir mal sagen, warum wir uns das antun? Das sind doch wieder mal die absoluten Idioten. Die sollten lieber zur Schule gehen und was Ordentliches lernen! Solche Leute verbauen sich doch ihre gesamte Zukunft! Mich regt so was tierisch auf!“
Ich musste an mein Gespräch mit Hartmut und Erich denken. Marcel war wirklich frustriert. Unter lautem Gegröle der Jugendlichen stiegen wir beide aus.
„Ey, René, mach mal noch zwei Pullen auf! Die Bullen haben bestimmt Brand!“
„Geht klar, Danny!“ Dieser Danny schien der Anführer der Gang zu sein. Die anderen hatten sich um ihn und sein Mofa versammelt. Ein verschlagener Typ, der bestimmt schon einiges auf dem Kerbholz hatte. Vor seinen Füßen standen eine Kiste Kölsch und ein Ghettoblaster, aus dem ohrenbetäubende Musik erklang.
Wir gingen auf diesen Danny zu. „’n Abend Jungs, ihr scheint euch ja gut zu amüsieren, was?!“ „Na logo, Herr Wachtmeister! Trinkt ihr zwei einen mit oder vertragt ihr nix?“
Wieder grölte die Menge von unreifen Halbstarken. Ich ging gar nicht erst auf das Angebot des Jugendlichen ein.
„Eure Nachbarn haben sich beschwert, weil ihr hier so ’nen Krach macht. Also: Packt eure Klamotten und seht zu, dass ihr Land gewinnt! Hab ich mich klar genug ausgedrückt?“
„Uns gefällt’s aber hier, nicht wahr, Jungs?“
„Klar, Danny! Wir wollen hier noch abhängen und saufen!“
Nun meldete sich Marcel zu Wort, der bisher geschwiegen hatte.
„Jungs, ich möchte euch eindringlich bitten, der Aufforderung meines Kollegen nachzukommen!“
„Was willst du Brillenschlange denn von mir, hä?! So was wie dich verspeis ich doch zum Frühstück! Verpiss dich!“
So langsam schwang die Stimmung um. Ich konnte in den Gesichtern der anderen Jugendlichen sehen, dass ihnen die Ausführungen ihres Anführers nicht passten.
„Danny, hör auf mit dem Scheiß! Lass uns abhau’n!“
„Warum denn? Fängt doch gerade an, Spaß zu machen!“
Kopfschüttelnd nahmen sie die Kiste Bier und verschwanden. Nur Danny war noch übrig.
„Ey, ihr Pappnasen, wat seid ihr denn für Luschen? Wegen den zwei Weihnachtsmännern haut ihr ab?! Arschlöcher!“
Aber seine Kumpels schienen ihn schon gar nicht mehr zu hören. Marcel versuchte es noch mal auf die humane Tour. „Ich erteile dir hiermit einen Platzverweis! Sieh zu, dass du nach Hause kommst! Du musst doch bestimmt morgen zur Schule, oder, Junge?“
Der Halbstarke wurde immer wütender. „Nenn mich nicht ‚Junge‘, du Drecksbulle!“