Nachtwanderung - Cornelia Achenbach - E-Book

Nachtwanderung E-Book

Cornelia Achenbach

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Beschreibung

Wenn der Verlust der besten Freundin das ganze Leben prägt … Ein Roman über Freundschaft, Zusammenhalt, Lüge und Verrat.

Freundinnen für immer wollten sie sein. Doch die Freundschaft zwischen Ines und Kirsten zerbricht in einer Stunde der Bedrängnis, in der Ines nicht für Kirsten da ist. Die beiden Mädchen sehen sich nicht wieder. Mehr als zwanzig Jahre später ist Ines berufstätige Mutter und vollauf damit beschäftigt, ihren Ansprüchen gerecht zu werden. Als eine Einladung zu einem Klassentreffen lange verdrängte Erinnerungen weckt, muss sie sich eingestehen, wie sehr der Verlust der einst so bewunderten Freundin sie geprägt hat. Auf dem Klassentreffen steht ihr Kirsten plötzlich gegenüber. Doch die Begegnung verläuft anders als erwartet – und stellt alles in Frage. Sind sie wirklich die, die sie glauben zu sein?

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Seitenzahl: 318

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Inhalt

Freundinnen für immer wollten sie sein. Doch die Freundschaft zwischen Ines und Kirsten zerbricht in einer Stunde der Bedrängnis, in der Ines nicht für Kirsten da ist. Die beiden Mädchen sehen sich nicht wieder.

Mehr als zwanzig Jahre später ist Ines berufstätige Mutter und vollauf damit beschäftigt, ihren Ansprüchen gerecht zu werden. Als eine Einladung zu einem Klassentreffen lange verdrängte Erinnerungen weckt, muss sie sich eingestehen, wie sehr der Verlust der einst so bewunderten Freundin sie geprägt hat. Auf dem Klassentreffen steht ihr Kirsten plötzlich gegenüber. Doch die Begegnung verläuft anders als erwartet – und stellt alles in Frage. Werden sie jemals wieder die sein können, die sie zu sein glaubten?

Weitere Informationen zu Cornelia Achenbach

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Roman

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Wunderraum-Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

Originalveröffentlichung März 2022

Copyright © 2021 by Cornelia Achenbach

Copyright © dieser Ausgabe 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und Konzeption: Buxdesign | München

Umschlagabbildung: Music from the next room (Detail) von Edward B. Gordon. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers, www.gordon.de.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27254-8V001

www.wunderraum-verlag.de

Ines

1

Ines war vierzehn, als sie ihre beste Freundin verlor. In der Zeitung stand nicht, dass Ines’ beste Freundin verschwunden war. Da stand nicht »beste Freundin«, da stand nicht einmal »Mädchen«, da stand nur »Schülerin«, denn das war damals ihre Funktion in der Gesellschaft: Sie waren Schülerinnen. »Vierzehnjährige Schülerin spurlos verschwunden.«

Das stand da.

In der letzten Stunde saß Kirsten neben Ines. Sie hatten Deutsch bei Schröder. Er quälte sie mit Rilke.

Und du wartest, erwartest das Eine,

das dein Leben unendlich vermehrt.

Draußen, in der richtigen Welt, war es so warm, dass sie täglich auf Hitzefrei hofften, und Kurt Cobain war schon eine ganze Weile tot, was auch immer in diesem Alter eine ganze Weile bedeuten sollte.

Seit Kirsten ging und nie wiederkam, hat Ines keine beste Freundin mehr gehabt. Sicher: Sie hatte Freunde. Sie hat Freunde. Man sagt von Ines, sie sei gesellig und schlagfertig, manchmal zynisch, doch nicht verletzend, denn es geht gegen die Welt, nicht gegen Einzelne. Man sagt, Ines setze sich ein, sei zuverlässig und vernünftig, und damit ist wohl etwas Gutes gemeint.

Dennoch. Bei niemandem steht Ines oben auf der Liste. Von Geheimnissen erfährt sie erst als Zweite oder Dritte oder gar nicht. Nie wurde sie als Trauzeugin oder Patentante ausgewählt. Ines hat keinen engsten Vertrauten. Wenn ihr etwas auf der Seele brennt, wenn es Neuigkeiten zu berichten gibt, dann streut sie diese wahllos, erzählt sie fünf, sechs Menschen, die ihr nahestehen oder auch nicht, sodass sie am Ende nicht mehr sicher sagen kann, mit wem sie schon über was gesprochen hat. Sie hört sich reden, Wörter aneinanderreihen, Sätze formulieren, weiß aber nicht mehr, wer ihr gegenübersaß und zuhörte und nickte. Als würde sie das ewig gleiche Gespräch mit einer beliebig austauschbaren grauen Masse führen, deren Antworten und Ansichten ohne Belang sind. Und da es ohnehin nicht viel zu sagen gibt, wiederholt sie sich zwangsläufig, was niemanden zu stören scheint.

Da ist noch Martin. Aber mit ihm spricht sie am Ende doch nur über Marie oder über die Arbeit. Martins war mal ganz interessant. Damals, als er noch für den Kulturteil der Zeitung geschrieben hat. Doch die Zeitung gibt es nicht mehr, und seit er als Pressesprecher in einem Unternehmen für Verpackungsmaterial arbeitet, kann sie ihm kaum noch folgen. Womöglich sind Aluminium und Luftpolsterfolie spannende Themen. Womöglich gibt es da sogar Skandale, die aufgedeckt werden sollten. Doch es fällt Ines schwer, sich zu konzentrieren, wenn Wörter auf -yde, -onen oder -yne enden. Sie versteht es in dem Moment, in dem Martin davon erzählt, und hat es schon wenige Minuten später wieder vergessen. So reden sie schließlich doch über Marie und die Menschen, die sie beide kennen, und versuchen sich an das zu erinnern, was sie verbindet.

Worüber Ines nachdenkt, jedoch selten redet: In welchem Alter werden Freundschaften geschlossen, die etwas bedeuten, und wann ist es dafür zu spät? Gibt es ein Maximalalter für Freunde fürs Leben? Welches Fundament ist nötig?

Ines erinnert sich, wie es war: gemeinsam mit Kirsten im Wald Höhlen zu bauen und Bäume zu erklimmen. Im November beim Martinsumzug Lieder zu singen und die andere zu trösten, wenn die Laterne ausging. Im Sommer nackt durch den Garten. Und dann: zwei zahnlückige Mädchen mit geflochtenen Zöpfen, in den Händen die Schultüten. Keine Frage, wer in der Klasse neben einem sitzen sollte. Wen man auswählte für die Gruppenarbeit, für die Mannschaft beim Sport. Wer am Geburtstagstisch neben dem Geburtstagskind Platz nehmen durfte.

Und wie hätte es sein können?

Eine gemeinsame Schulabschlussfeier und dann, vielleicht, eine gemeinsame Studentenbude? Gemeinsame Reisen, Pläne schmieden, Liebeskummer durchstehen oder Schwangerschaften, Lachen über die ersten Falten und die Wechseljahre, Weinen über den Tod der Eltern und gemeinsamer Weggefährten. Dazu natürlich Streit und Wut, aber doch die Gewissheit, dass die andere die Eine ist, immer da und unersetzbar, über jeden Liebhaber erhaben, so wie ein dickbäuchiges rotes Grablicht, das ewig brennt und jede blitzeschleudernde Wunderkerze überdauert.

Es heißt: Die Zeit heilt alle Wunden. Es heißt: Menschen ändern sich. Es heißt: Jeder ist ersetzbar, und der Friedhof ist voll von Menschen, die sich für unersetzbar gehalten haben. Doch die Tatsache, dass etwas oft gesagt wird, macht es nicht wahr. Und Ines weiß, dass auch jetzt noch, 23 Jahre nach Deutsch bei Schröder und noch mehr Jahre nach Kurt Cobain, Kirsten die Eine wäre. Die Eine, der sie alles sagen könnte und der sie nichts erklären müsste. Die Eine, die fehlt.

2

»Wirst du hingehen?«, fragt Martin, der an der Spüle steht und mit großem Körpereinsatz die Pfanne von der Fettschicht des gestrigen Abendessens befreit. Seine Hände stecken in gelben Plastikhandschuhen. Die Haut ist mit den Jahren empfindlich geworden. Ines sieht seine rüttelnden Bewegungen, sieht, wie seine Hüfte vibriert. Im Gegensatz zu den meisten anderen Männern ist es bei Martin die Hüfte, die Fett ansetzt. Bei jedem Schrubben wackelt es links und rechts vom Hosenbund, eine Fleischwurst, die sich deutlich unter dem grünen T-Shirt mit nichtssagendem schwarzem Emblem abzeichnet und Martin etwas Weiches, Weibliches verleiht. Ines fragt sich, ob sie ihn attraktiver fände, wenn sich das Fett am Bauch statt an der Hüfte niedergelassen hätte.

»Wirst du hingehen?«, fragt er noch einmal, dreht sich diesmal kurz zu ihr um, kleine Schaumkronen auf den Gummihandschuhen, und deutet mit seinem Kinn in Richtung Küchentisch, auf dem eine schlichte vanillegelbe Karte liegt.

So jung kommen wir nicht mehr zusammen.

Ines nimmt die Einladung in die Hand, dreht sie um, liest noch einmal: ein Abijahrgangstreffen nach neunzehn Jahren. »Weil zwanzig jeder kann«.

Eine ironische Einladung zu einem ironischen Treffen, auf dem zu schlechter Musik aus den 90er-Jahren ironisch getanzt wird. Das soll es den Mittdreißigern leichter machen. Die Hemmschwelle senken. Mit Augenzwinkern und so. Aber vielleicht erreicht die Ironie auch das Gegenteil, denn Ironie muss man sich erst einmal leisten können.

»Bisschen kurzfristig für so eine Veranstaltung«, sagt Martin. »Aber immerhin. Nach meinem Abi waren alle so froh wegzukommen, da hat es nie auch nur den Versuch gegeben, den alten Jahrgang zusammenzutrommeln.«

Sie sieht ihn mit der Pfanne kämpfen. Er könnte Spüli reinkippen, das Ganze ein paar Stunden einweichen lassen, es würde die Sache erleichtern. Sie muss es ihm nicht sagen, er weiß es. Aber es muss jetzt sein. Er kann die Pfanne so nicht stehen lassen, will Ordnung schaffen, ehe er das Haus verlässt.

»Gehst du hin?«, fragt er noch einmal. Alles soll an seinem Platz sein. Die Pfanne, das Klassentreffen, die Beziehung. Bitte keine offenen Fragen.

»Ich weiß es noch nicht«, sagt sie, und es soll beiläufig klingen. Doch in Wahrheit hat die Karte sie getroffen wie ein Schlag. Neun gemeinsame Jahre, drei Klassen, 92 Schüler. Zu keinem hat sie noch Kontakt. Zwar gibt es da welche, mit denen sie laut Facebook befreundet ist, doch selten tauchen sie in ihrer Timeline auf. Wohl zu wenige Verbindungen oder zu wenig Aktivität oder sonst ein schlauer Algorithmus, der recht hat in seiner Annahme, dass es sie nicht interessiert, was diese Menschen so treiben, ob sie noch Haare haben oder nicht, ob sie mit Kindern, Katzen oder in Scheidung leben, Ski fahren oder Berge besteigen, an thailändischen Stränden schaukeln oder Hefezopf backen. Sie will es gar nicht wissen, so wird es doch sein. Was hat sie mit diesen Menschen schon gemein außer ein paar Jahren Vergangenheit? Noch dazu Jahre voll Unmündigkeit, Fremdbestimmung und peinlicher Frisurenexperimente.

»Es ist eine lange Anfahrt für ein Klassentreffen«, sagt Ines und dreht die Heizung runter. Der Sommer kippt allmählich in den Herbst, doch es scheint ihr noch zu früh zum Heizen. Wieso trägt Martin nur ein T-Shirt, wenn ihm kalt ist? Kurz überlegt sie, daraus eine Frage zu formulieren, die nicht nach einem Vorwurf klingt, doch dann sagt er etwas, und sie verliert das Interesse. Er sagt: »Ich dachte, du besuchst noch deine Eltern.« Martin befreit seine Hände von den Gummihandschuhen, während das Wasser mit einem Gluckern in der Tiefe versinkt. Er fährt sich mit der Hand über das Kinn, an dem rotblonde Bartstoppeln sprießen. »Du könntest Marie mitnehmen. Sie sieht ihre Großeltern so selten.«

»Ja, das könnte ich«, sagt Ines und spürt dem Neid nach, den sie empfindet bei dem Gedanken, dass Martin die Wohnung ein paar Tage für sich allein haben könnte. Morgens ausschlafen und nicht sprechen müssen, beim Frühstück einen Zeitungsartikel zu Ende lesen, ohne nebenbei Marmeladebrote zu schmieren und unsinnige Fragen zu beantworten, im Bad laut Musik hören, zu Mittag was vom Asiaten bestellen und dabei Bier trinken und mitten am Tag Netflix.

Sturmfreie Bude.

Ein Begriff, der für Jugendliche reserviert scheint, jedoch durchaus auch auf Eltern zutrifft.

Als sie selbst noch jugendlich war, eine Schülerin in einem Leben kurz nach Kirsten, hat sie sich nie Gedanken darüber gemacht, was ihre Eltern wohl so taten, wenn sie einmal nicht da war. Das Austauschjahr in Frankreich. Die Klassenfahrten nach Prag und Berlin. Die Nachmittage im Freibad, die Discobesuche. Sie ging einfach davon aus, dass ihre Eltern das Leben fortsetzten, das sie auch in ihrer Gegenwart führten, und das in ihren Augen vor allem eines war: trostlos. Sofa, Erdnüsse, Fernsehen, Bier. Netflix klingt so viel besser als Fernsehen.

»Ich überlege es mir«, sagt sie und hat sich längst entschieden. »Ich muss los«, und auch das eine Lüge. Marie ist im Kindergarten, im Büro muss Ines erst zwischen neun und zehn auftauchen, sie hat noch eine halbe Stunde Zeit. Sie könnte sich einen Kaffee kochen. Sie könnte die Wäsche in den Schrank räumen. Sie könnte mit Martin schlafen. Aber sie sagt: »Ich muss los«, und denkt an das Stehcafé zwei Ecken von ihrer Arbeit entfernt, in dem sie gerne noch einen richtigen Cappuccino trinkt, einen, in dessen Milchschaum jemand Muster gezogen hat, ein Herz oder ein Blatt, und den sie langsam trinkt und ohne zu sprechen, während sie die geschäftigen Menschen in der Fußgängerzone beobachtet. Schnelle, forsche Schritte, nur wer schnell geht, bringt es zu was.

Martin erlaubt ihr die Lüge, fordert lediglich »Bringst du eben noch den Müll runter?« als Gegenleistung und trocknet das Geschirr ab. Vielleicht ist dies das Geheimnis ihrer Harmonie: Dass sie lügt, und er weiß, dass sie lügt, und sie weiß, dass er es weiß. Die Wahrheit ist oft zu anstrengend.

Ines zieht sich Stiefel und einen dünnen Mantel an. Es ist Spätsommer, Frühherbst, was auch immer. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel. Die kurzen dunklen Haare, der schwarze Mantel, die graue Jeans. Ein dünner Strich, der Kopf ein Punkt wie bei einem Ausrufezeichen, das auf dem Kopf steht. Ein Schritt zurück, auch das Spiegelgegenüber entfernt sich, es stimmt also. Tür auf und los.

Maries roten Regenmantel sieht Ines schon von Weitem. Ihn zu kaufen war eine gute Wahl, und er gefällt Marie sogar. Unwillkürlich hat Ines eine Melodie im Kopf. Was zieh ich an, was zieh ich an, damit man mich auch gut sehen kann?

Ines drückt das grün lackierte Gartentor zur Kita auf und lächelt die Erzieherinnen an, denn sie freut sich ja darauf, ihr Kind wieder in Empfang zu nehmen, auch wenn sie weiß, was gleich kommt. Sie winkt Marie zu, die beim Anblick ihrer Mutter davonrennt und sich in einem kleinen Holzhäuschen verbarrikadiert. Wieder einmal.

»Hallo Marie, hattest du einen schönen Tag?«

»Ich geh nicht nach Hause!«, schallt es ihr aus dem Spielhäuschen entgegen.

Ines dreht sich um, lächelt, es ist ja noch gar nichts passiert, sie nickt einer anderen Mutter zu, die gerade ankommt. Mit einem lauten »Mamaaa« stürmt ein Junge in grünen Gummistiefeln auf die Frau in der Jack-Wolfskin-Jacke zu, wirft sich in ihre Arme, und sie lässt es trotz verdreckter Händchen geschehen und lacht. Ines lächelt immer noch, auch wenn die Wangen schmerzen, denn natürlich ist nichts schöner, als das Kind, das sie den Tag über vermisst hat, endlich wieder mit nach Hause nehmen zu können. Wo bleibt es denn nur, das Kind?

Sie klopft an die Holzhütte. »Kommst du jetzt bitte da raus?«

Die Erzieherinnen gucken.

Wieder eine dieser Mütter, die zu Hause keine Grenzen, typisch Einzelkind, auf der Nase herumtanzt, alles hört auf mein Kommando, kommt von der Kuschelpädagogik, klare Regeln, Kante zeigen, wer ist hier Chef?

»Nein!«, brüllt es von drinnen.

Kurz lauscht Ines, versucht auszuloten, ob sich noch weitere Kinder in dem Häuschen befinden, ob sie eine Allianz gegen sie geschmiedet haben. Doch Marie scheint allein zu sein.

»Ich hol schon mal deine Sachen«, sagt sie. Das Häuschen bleibt still.

Auf dem Flur liegt Sand und im Waschraum Papier auf dem Boden. Ines nimmt Maries Rucksack vom Haken. Sie braucht die Brotdose nicht zu öffnen. Das Gewicht verrät, dass Marie nichts gegessen hat. Vollkornbrot mit Frischkäse und Gurke. Sie versucht es immer wieder. Aber sie weiß, dass Marie die Nutellabrote ihrer Freundinnen isst, die selbst am liebsten gar nicht frühstücken.

Zu der Dose hat Marie dreckverkrustete Steine, zwei Stöcke, ein Stück Stoff und einen zackig ausgeschnittenen Joghurtbecher gepackt. Ines lässt ihr die Steine und den Stoff, packt den Rest wieder aus und legt ihn auf die Bank, in der Hoffnung, dass sich das Problem von selbst löst.

Durch die Glasscheibe sieht sie, wie sich ein Mädchen in pinker Matschhose an der Hütte zu schaffen macht, wie es die Tür einen Spaltbreit öffnet, die daraufhin von innen abrupt wieder zugezogen wird. Ines schließt kurz die Augen gegen einen plötzlichen Schwindel, öffnet sie wieder. Über Maries Fach klebt ein Bild, auf dem man mit viel Wohlwollen eine Burg und rote Rosen erkennen kann. Märchenwoche im Kindergarten. Sie zählt bis drei und geht wieder hinaus.

Alle sind sie da. Die Erzieherinnen und die anderen Eltern und die kuhäugig dreinglotzenden Kinder, als Ines einen Fuß gegen das Häuschen stemmt und die Tür aufreißt. Es gelingt ihr, nicht gleich das ganze Haus zu zerstören. Sie brüllt: »Ich gehe jetzt!«, und Marie antwortet: »Mach doch!« Alle sind sie da, als Ines schließlich wirklich geht, zumindest bis zum grün lackierten Tor, woraufhin ihr just in dem Moment, als sie die Klinke nach unten drückt, ein sirenenartig heulendes Kind hinterhergerannt kommt.

Was muss man nicht alles tun, um ein Mädchen aus seiner Hütte zu locken.

Ines wünscht sich, sie würden weiter weg wohnen und mit dem Auto zum Kindergarten fahren. Dann würde sie Marie jetzt einpacken, anschnallen und Gas geben. Aber sie wohnen ganz in der Nähe. Sie müssen zu Fuß gehen, alles andere wäre absurd.

Marie brüllt und heult den gesamten Heimweg lang, und die Nachbarn, die im Garten Laub zusammenfegen und Unkraut jäten, lächeln verständnisvoll, was ähnlich schlimm ist wie die Leute, die den Kopf schütteln und sich über das laute Kind ärgern, da Ines selbst den Kopf schüttelt und sich über das Kind an ihrer Seite ärgert, das in einem nicht enden wollenden Reigen die Wörter: »Mama!« und »Nicht so schnell!« wiederholt, sich den Rotz am roten Mäntelchen abwischt, das süße Gesicht so aufgequollen, dass Ines kaum mehr weiß, wie hübsch ihre Tochter eigentlich ist, wie wundervoll und einzigartig. Die Liebe ihres Lebens.

Die Uhr tickt. In der Küche wächst kein Gras, der Boden ist kahl und unbemoost. Zwei Vierecke sind in die Wand geschnitten, ich blicke durch das rechte, alles ist hellgrau, schmutzweiß. Wenn ich lang genug warte, kann ich eine Taube vorbeifliegen sehen. Auch sie: grau. Das Leben spielt sich so viel tiefer ab, hier oben nur der leere Himmel. Wieso wohnen wir hier?

»Hörst du mir überhaupt zu?«

Ines schreckt hoch und blickt auf ihre Hände, die weiß vor ihr liegen.

»Was hast du gesagt?« Sie steht auf, stellt sich ans Fenster, damit sich Bäume in den Blick schieben. Grüne Zweige, die das Grau zerfetzen. Die Wohnung liegt im vierten Stock. Wenn es draußen stürmt, kratzen die Äste an der Hauswand wie lange Fingernägel.

»Du romantisierst, habe ich gesagt.« Martin lehnt am Kühlschrank. Stumm hat er ihr zugehört, das kann er gut. Aber jetzt will er doch etwas dazu sagen.

Das sei ganz normal, man habe ja nur das eine Leben, also lässt man wie in einem Film eine bestimmte Hintergrundmusik laufen und malt es sich schön. Die Kindheit, in der man im Herbst immer im Wald Kastanien sammelte und daraus Männchen bastelte, jeden Herbst, Kastanienmännchen eine Kindheit lang, ganze Armeen von Kastanienmännchen, dabei waren es in Wirklichkeit nur ein oder zwei Male, zwei richtig gute Herbsttage, Nachmittage, insgesamt vielleicht vier Stunden, drei Stunden Wald und dann je eine halbe Stunde basteln, und dann keine Lust mehr oder Zeit fürs Abendbrot oder die Sendung mit der Maus. Oder die Studienzeit, in der man so viel feierte, dass einem der Besuch der Neun-Uhr-Vorlesung unmöglich war. Aber wenn man in sich ginge, da fielen einem doch die vielen trägen Sonntagvormittage ein und die ständigen Zweifel. So viele schlechte und langweilige Referate, dazu die ständige Panik, in welchen Beruf das Ganze einmal münden solle, welchen Nutzen für die Menschheit und überhaupt.

»Ich romantisiere nicht«, sagt Ines. Ihre Schulzeit ist furchtbar gewesen. Die Zeit nach Kirstens Verschwinden. Das Jahr in Frankreich hat sie wie in Trance erlebt. Eine wandelnde Menschenhülle, die Dinge über sich ergehen ließ. Joints und Marilyn Manson und die ersten Küsse. Und ganz nebenbei Leistung zeigen, fleißig sein, gute Noten abliefern, so wie die große Schwester, die einmal Biologie studieren wollte oder Chemie und ganz konkret die Welt verbessern.

Nach der Rückkehr aus Frankreich die letzten Schuljahre: ein Warten auf das Ende. Ines bestaunte ihre Mitschüler, die es in ihren Elternhäusern offenbar kaum mehr aushielten. Sie tranken Wodka Brause oder Caipirinhas, die sie neu für sich entdeckt hatten und schick fanden, und ein Junge aus der Parallelklasse erzählte, dass er es endlich geschafft habe, seinen eigenen Schwanz zu lutschen. Ines hörte sich all das an. War manchmal mit dabei, wenn sie nachts ins Freibad einbrachen. Sie war immer irgendwie mit dabei. Und war es doch nicht.

Ines nahm alles mit, was Jugendliche mitnehmen sollten, alles, was unausweichlich war. Die Scham, die Schande, die Komplexe und den Größenwahn. Sie durchlitt den pubertären Zwiespalt zwischen dem Wunsch, gesehen zu werden, und der Sehnsucht nach Unsichtbarkeit. Doch trotz der Fülle an Ereignissen, die auf sie einprasselten, erschienen ihr die Jahre seltsam hohl und leer. Da war keine Kirsten, mit der sie Dinge besprechen konnte. Zeitweise hatte sie das Gefühl, in einem Traum gefangen zu sein. Sie saß fest unter ihrer Glasglocke, zum Zuschauen verdammt. In dem engen Sozialgefüge ihrer Stufe waren Freundschaften und Feindschaften längst zementiert. Ines war vor Jahren ein Platz zugewiesen worden, und der war der neben Kirsten. Dass die nicht mehr da war, dafür konnte doch keiner was.

Die Jahre nach Kirstens Verschwinden waren furchtbar.

Aber die Jahre davor, die waren schön.

Ines stellt sich ans Fenster und blickt wieder in den Himmel. Es ist kurz nach neun. Draußen dämmert es, und das graue Viereck färbt sich langsam rosa. Marie ist eingeschlafen, mal ein Abend ohne Kampf. Das Brüllen auf dem Heimweg hat sie müde gemacht. Jetzt sitzen sie in der Küche und trinken Flaschenbier. Das Deckenlicht flackert, ein Wackelkontakt, schon seit Monaten. Doch niemand kümmert sich, niemand will den Vermieter anrufen.

Seit ein paar Jahren verbringen Ines und Martin ihre Abende in der Küche, da sie am weitesten vom Kinderzimmer entfernt liegt. So müssen sie keine Angst haben, Marie durch ihre Gespräche aufzuwecken.

Erst wollten sie Sex haben, aber sie waren zu müde. Dann wollten sie einen Film sehen, konnten sich aber auf keinen einigen, zumal bei zweistündigen Filmen die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass Marie wach wird und sie den Film stoppen müssen. Martin wollte joggen gehen, aber müde. Die Wäsche müsste noch. Müde. Dann halt Flaschenbier.

Sie wippt mit dem Fuß. Nagt an der Unterlippe. Ein Thema, bitte, aber ein anderes als das offensichtliche.

Martin kennt das schon. Wenn er zu lange schweigt, platzt es aus Ines heraus: Ich mache zu wenig, uns geht es viel zu gut. Vielleicht kann ich noch ehrenamtlich, einer muss es doch tun, und kennst du dieses oder jenes Kind aus Maries Kindergarten? Wir sollten sie einladen, sie sprechen kaum Deutsch. Und kennst du diesen Unverpackt-Laden in der Altstadt? Ja, sicher ist das teuer, aber man könnte es einmal probieren. Und würde es Marie wirklich so viel ausmachen, wenn wir künftig ohne Fleisch? Diese vegetarischen Ersatzprodukte schmecken doch eigentlich ganz gut, leider sind sie meistens in Plastik eingeschweißt. Und hast du das Foto von diesem Hund in der Wochenzeitung gesehen? Hund sucht Herrchen. Aber Frauchen geht doch bestimmt auch. Und ich bin mir sicher, dass unser Vermieter, also wenn wir ihn in einem günstigen Moment erwischen.

Alle paar Monate überfällt es sie. Ein Redeschwall, der aus ihr herausbricht. Eine Suada, die meistens in eine schlaflose Nacht mündet, in der sich Ines von der einen auf die andere Seite wälzt, sämtliche Optionen abwägt, um am Ende gar nichts zu tun, erschöpft und überfordert, wie sie ist.

Martin weiß, dass es der falsche Moment ist, um über das zweite Kind zu reden. »Wir könnten mal wieder was spenden«, sagt er daher schnell. Ein ganz konkreter Vorschlag. Leicht umzusetzen. »Von meiner Oma haben wir noch einen ganzen Karton mit Geschirr und Pfannen, den haben wir noch nicht einmal aufgemacht, den könnten wir wegbringen.«

Er sieht ihre Zweifel, Falten auf der Stirn, die sich fächerartig zusammenschieben. Doch er hat Glück. Sie trinkt einen Schluck und sagt: »So machen wir’s.«

Sonnenuntergang vorm Fenster. Klappt auch, ohne dass einer hinsieht. Morgen kommt der nächste.

»Fährst du denn jetzt hin?«, fragt er. Surren und Flackern. Die Stille am Abend ist zu schön, um sie mit Musik zu trüben. Ines ist nicht mehr müde. Nur noch schläfrig. Sie trinkt. Das Bier schäumt im Mund, sie verschluckt sich, hustet.

»Ich weiß es noch nicht«, sagt sie mit gepresster Stimme, sagt es nur für Martin, der ihr auch diese Lüge lässt. Ist doch alles längst entschieden.

In der Abstellkammer stehen Pappkartons voller Erinnerungen. Einer von Martin, einer von ihr. Urkunden und Zeugnisse, ein stoffbezogenes Album für die Jahre null bis zwölf, jede Seite getrennt von der nächsten durch ein Pergaminpapier. Dann noch ein deutlich schmaleres für die Jahre bis zur Volljährigkeit. Wer will sich als Jugendlicher schon fotografieren lassen?

Alle Erinnerungen an Maries Babyzeit, an ihre ersten Schritte und die ersten Urlaube zu dritt liegen in der Cloud, sind längst mehrfach geteilt und breit gestreut. Martin will Fotobücher gestalten und drucken lassen, Ines ist es egal. Sie braucht keine Stütze, keine beschrifteten Bilder voller Ohs und Ahs und weißt du noch? Natürlich weiß sie noch. Marie ist vier. Und die schönsten Erinnerungen kann man nicht drucken.

Zwischen den Seiten des zweiten Fotoalbums liegt ein Zeitungsausschnitt. Wie ist der da hineingeraten? Und wo sind die anderen? Das Zeitungspapier ist vergilbt.

Kirsten in einer hellen Bluse und mit geflochtenen Zöpfen. Ein Foto aus einem Fotostudio. Kirstens Mutter hat es ausgesucht; wenn die eigene Tochter in der Zeitung zu sehen ist, sollte sie wenigstens anständig aussehen. Dabei trug Kirsten nie Blusen, sondern karierte Flanellhemden, Grobstrickpullover und Jeans mit Löchern an den Knien. Die langen Haare offen und zur Seite gekämmt. Sie band sich dünne Lederbänder um die Handgelenke, manchmal baumelte ein türkisfarbener Stein um ihren Hals, und ihre Hände waren fast immer mit Kuli bemalt. Sterne oder Peace-Zeichen, Pentagramme oder Yin und Yang.

Einmal färbten sie sich gegenseitig die Haare mit Henna. Sie hofften auf ein Rot, aber es wurde eher ein Orange. Danach wollte sich Kirsten die Haare schwarz färben, aber dazu kam es nicht mehr, denn dann hatten sie Deutsch bei Schröder, und Kirsten verschwand.

Ines und Kirsten schafften es gerade noch rechtzeitig, Nirvana cool zu finden, ehe sich Kurt Cobain eine Kugel in den Kopf jagte. Aber das machte die Musik nur noch besser. Es war der perfekte Soundtrack für Jahre voll Schwermut, Langeweile und Selbstmitleid.

Kirsten hätte sich den Richkids anschließen können, die Lacoste-Poloshirts, Seglerschuhe oder Perlohrringe trugen. Schließlich trugen auch Kirstens Eltern Pastell. Aber Kirsten entschied sich für Ines und Kurt Cobain und Nazis raus und Geld ist nicht alles.

Damit waren sie nicht allein. Da war zum Beispiel Jonas, der in der Pause in der Raucherecke stand. Der nicht nur Nirvana mochte, sondern auch Pink Floyd oder The Clash oder andere Bands, die Ines damals noch nicht kannte. Jonas ging schon in die Oberstufe, trug selbst im Winter eine dünne abgegriffene schwarze Lederjacke und rauchte in jeder Pause Lucky Strikes oder Selbstgedrehte. Sein Vater war Arzt, und es hieß, er verdiene irre viel Kohle, setze seinen Sohn aber permanent unter Druck. Mehr Einsatz, bessere Noten, solche Dinge. Über die Mutter wussten sie nichts.

Jonas war blass, und die dunklen, fast schwarzen Haare ließen ihn kränklich aussehen, was ihn in Ines’ Augen nur noch attraktiver machte. Armer Jonas. Jonas mit dem strengen Vater. Die Blässe verlieh ihm etwas Zerbrechliches, und Zerbrechlichkeit war gleichbedeutend mit Tiefe.

Auch Kirsten mochte Jonas. Das wusste Ines, obwohl Kirsten es nicht offen aussprach, sondern als Schwärmerei abtat, denn der Junge, der ihr wirklich gefallen konnte, schien nicht von dieser Welt, konnte also unmöglich die Oberstufe des Droste-Hülshoff-Gymnasiums besuchen.

Ines schließt kurz die Augen. Sieht vor sich den alten Tennisball, den Jonas an seinen Rucksack gehängt hatte, sieht ihn unter einer der Eichen auf dem Pausenhof stehen und sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht streichen. Kurz zieht sich ihr Herz zusammen, ein Tropfen Säure auf dieses seltsame Tier, das sie am Leben erhält. Zweimal blinzeln, und es geht wieder, pumpt weiter fleißig Blut. Nur eine kurze Ahnung, nichts Ernstes. Nicht denken. Lesen:

Die 14-jährige Kirsten Neumann wird seit dem Nachmittag des 3. Juni 1996 vermisst. Zuletzt wurde sie von den Mitschülern des Droste-Hülshoff-Gymnasiums nach Unterrichtsschluss gegen 15.35 Uhr gesehen. Laut Aussage mehrerer Zeugen gab sie an, nach Hause gehen zu wollen. Dort sei sie jedoch nie angekommen, heißt es nach Angaben der Polizei.

Am 3. Juni 1996 trug Jan Hofer einen dunkelblauen Anzug mit Nadelstreifen und Einstecktuch, dazu eine breite gelbe Krawatte mit einem Muster, das an Fußbälle erinnerte. Er verlas die Nachrichten, sprach von der Strukturreform der NATO, vom Kampf gegen BSE und dem Protest des Deutschen Beamtenbunds gegen Sparpläne. Von Kirsten sprach er nicht. Klaus Kinkel reiste nach China, Hafiz al-Assad und Husni Mubarak saßen gemeinsam auf einem seidenbezogenen Sofa, Michael Stich gewann gegen Thomas Muster, dünne Schleierwolken, schwacher Wind, 24 Grad, hohe Ozonkonzentration. Wer wollte das wissen?

Kirsten war ein halbes Jahr älter als Ines. Sie hatte einen Onkel, der in der Modeindustrie arbeitete und ihr häufig Pakete mit Kleidung und Schmuck schickte; Dinge, für die diese kleine Stadt mit ihren kleinen Jugendlichen noch nicht bereit war.

Einmal kam Kirsten mit großen silbernen Ohrringen in die Schule. Sie erschienen absurd riesig, wie sie da links und rechts des dünnen blassen Halses baumelten. »Fehlen nur noch die Augenklappe und der Papagei auf der Schulter«, sagte Patrick aus ihrer Klasse. Doch Kirsten ließ sich nicht beirren, und etwa ein halbes Jahr später lief ein Großteil der Mittel- und Oberstufenschülerinnen des Droste-Hülshoff-Gymnasiums, aber auch jeder anderen Schule in Deutschland, mit Creolen herum. Nur Ines trug keine, schließlich hatte Kirsten damit angefangen, und es war auch so schon schwer genug, neben ihr zu bestehen. Sie wäre in Kirstens Achtung gesunken, wenn sie sich dieselben Ohrringe zugelegt hätte wie die Freundin. Darum sagte sie: »Mode ist mir egal«, denn das hätte Kurt Cobain auch gesagt.

Ines und Kirsten lasen Bücher. Das unterschied sie von den meisten Mitschülern, und sie bildeten sich nicht wenig darauf ein. Sie bevorzugten Umwelthorror, Apokalypse, Endzeit. Die letzten Kinder von Schewenborn. Die Wolke. Z wie Zacharias.

Sie lasen alles von Christine Nöstlinger und Klaus Kordon, das Tagebuch der Anne Frank, Heißt du wirklich Hasan Schmidt?, Denken heißt zum Teufel beten, Damals war es Friedrich – und eigentlich die gesamte rororo-Rotfuchsreihe, die mit dem roten Streifen erschien, für so etwas wie »Problembücher« stand und auf der Rückseite Fuchscomics hatte.

Viele Taschenbücher waren gebraucht und abgenutzt, hatten bereits irgendwelchen Cousinen gehört oder Anne, Ines’ großer, ernsthafter Schwester, die sich jedoch zu diesem Zeitpunkt schon zu alt dafür fühlte und lieber etwas tun wollte, anstatt über das Elend der Welt zu lesen.

Ines fand im Bücherregal ihrer Eltern eine alte Ausgabe von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo und las sie gleich dreimal. Sie war fasziniert von der schönen Stella, von Babsi mit den dunkel geschminkten Augen (»Sie war erst 14«), vom sensiblen Detlev. Die Fotos der Drogentoten auf der Toilette schockierten sie angenehm, und insgeheim beneidete sie Christiane F. um eine Kindheit in der Gropiusstadt, während sie in einer Straße mit Reihen- und Einfamilienhäusern wohnte, in denen Finanzbeamte, Lehrer und Hausfrauen Kabelfernsehen glotzten und abends ihre Vorgärten bewässerten. Ines ging es gut, und das wusste sie auch. Doch sie schaffte es einfach nicht, sich gut zu fühlen, wofür sie sich schämte. Kirsten, deren Eltern wohlhabend waren, schien die einzige Person auf Erden zu sein, die auch so fühlte. Warum sind wir und gerade hier, und was war davor?

Sie wussten: Die Welt ist schlecht, daran gab es nichts zu rütteln. Allerdings gab es noch keine alles in den Schatten stellende unmittelbare Katastrophe, die die jungen Menschen in ihrem Zorn vereint hätte. Das Elend auf Erden war immens und so breit gestreut, dass man gar nicht wusste, wo man anfangen sollte. In Afrika verhungerten Kinder, die Atomkraftwerke produzierten radioaktiven Müll, Neonazis warfen Molotowcocktails auf Flüchtlingsheime, Tiere wurden gequält, in Jugoslawien tobten Kriege. Und so saßen die Freundinnen oft unentschlossen an ihrem Lieblingsplatz in der Krone eines alten Baums, den ein Blitz in zwei Teile zerschlagen hatte. Sie blickten auf Strommasten, Wiesen und Ackerland, auf dem ein Bauer mit seinem Traktor seine Bahnen zog, hörten die Grillen im Gras zirpen und befanden, dass die Welt nicht zu retten sei.

Nachmittags klingelte Ines bei Kirsten, Kirsten bei Ines. Ines öffnete, und da stand sie, nach Niveacreme und Kräutershampoo duftend, im Gesicht ein Cowboylächeln. »Hallo, Reihenhausmädchen!« Oder: »Hallo, Reihenhausschönheit!«

Sie waren nicht direkte Nachbarn, aber sie wohnten auf demselben Berg, den Serpentinen in Scheiben schnitten. Jede Scheibe eine Schicht, jeder Straßenzug ein Milieu. Kirsten wohnte ganz oben. Ines in der Mitte. Am Fuße des Bergs lagen Wohnblöcke mit Betonbalkonen, Satellitenschüsseln und blau flimmernden Röhrenfernsehern. Ein bisschen Armut, doch keine Gropiusstadt.

Über die Treppen war man schnell beim anderen. Nach 15 Uhr durfte man klingeln, vorher war Mittagsruhe. Anrufe generell eher unerwünscht.

Oft fuhren sie Inlineskates oder radelten ziellos durch eine Schrebergartensiedlung, die auf der Kuppe des Berges lag und an eine Streuobstwiese grenzte, hinter der ihr zerblitzter Baum stand. Wenige Hundert Meter weiter führte eine Fußgängerbrücke über die Autobahn. Sie stellten sich in die Mitte, beobachteten den Strom sich jagender Autos, spuckten hin und wieder hinunter.

Sie fuhren gerne schnell, freuten sich über dramatische Wolkenformationen am Himmel und sprachen erregt über sauren Regen, der ihnen die Haare vom Kopf spülen würde wie den Kindern von Schewenborn, und manchmal sangen sie: I’m so happy.

Ines legt den Zeitungsausschnitt zurück in das Fotoalbum. Warum hat sie ihn überhaupt aufbewahrt? Warum hat sie eine Schere genommen und ihn ausgeschnitten? Und warum findet sie die kurze Meldung mit der Titelzeile »Vermisste Jugendliche wiederaufgetaucht« nicht? Vielleicht, weil es nicht stimmt? Weil Kirsten nie wiederaufgetaucht ist? Nicht für Ines.

Sie blättert weiter durch das schmale Album. Keine Schnappschüsse, nur Meilensteine: Ines bei ihrer Konfirmation mit einem Gesichtsausdruck, der klar besagte: »Ich bin gegen meinen Willen hier«. Familienaufstellung beim 80. Geburtstag ihres Großvaters. Noch mal die Familie vorm Weihnachtsbaum mit echten Bienenwachskerzen, vor sich eine Geschenkepyramide auf dem Orientteppich.

Ines erinnert sich an Regennachmittage mit Kirsten im Wohnzimmer der Eltern. An ihre Mutter, die – »zur Abwechslung mal was Gesundes« – für peinliche Obsttellermomente sorgte, die beiden Mädchen sonst aber weitestgehend in Ruhe ließ.

Ihr Taschengeld sparten sie für CDs, auf denen oft nur ein einziger guter Song drauf war. Das wussten sie beim Kauf aber nicht, da man bei Hertie nur in wenige CDs reinhören durfte und die Verkäufer irgendwann fragten, ob man denn auch die Absicht habe, etwas zu kaufen, oder nur zum Musikhören gekommen sei. Ähnlich war es in der Spielzeugabteilung, in der man fest installierte Gameboys und Sega Game Gears testen konnte. Immer wurde man verjagt. Von Verkäufern oder anderen Kindern und Jugendlichen. Ines durfte keinen Gameboy haben, und bei ihrem knapp bemessenen Taschengeld hätte sie Jahre auf einen sparen müssen. Zum Trost hatten ihre Eltern ihr im Urlaub in Italien einmal einen gelben Plastikschrott geschenkt, auf dem man nur Tennis spielen konnte. Dann doch lieber Musik.

Manchmal versuchten sie, mit dem Kassettenrekorder Lieder im Radio abzupassen, und ärgerten sich, wenn der Moderator in die Aufnahme quatschte oder das Kassettenband eher zu Ende war als der Song. Doch schließlich fanden sie auch ein paar Schallplatten von Ines’ Eltern ganz schön: Kate Bush, die Beatles, Simon & Garfunkel – Musik, die in dem Haus kaum noch aufgelegt wurde. Warum stattdessen ein seelenloses Radio dudelte, wusste Ines nicht. Heute denkt sie, dass es ihre Eltern vielleicht zu sehr schmerzte, Musik zu hören aus einer Zeit, in der sie jung gewesen waren und leidenschaftlich und kinderlos. Vielleicht hatten sie sich aber auch einfach nie viel aus Musik gemacht und diese Platten nur gekauft, weil alle sie damals kauften.

Vorsichtig zogen Ines und Kirsten die schwarzen Scheiben aus dem seidigen Papier und legten sie auf den Plattenteller. Sie hörten nicht einfach Musik – sie zelebrierten sie. Das knarzige Geräusch der Nadel, die durch die Rillen schabte, der muffige Geruch des Orientteppichs, dazu Kirstens helle braune Augen, die die kreisende Scheibe verfolgten. Schläfrig-warm wurde einem beim Plattenhören. Es war ein Gefühl wie in der Vorweihnachtszeit, eingelullt von Blockflötenbarock und Mandarinenduft. Draußen schon dunkel und drinnen Kerzenlicht. Eine feierliche Stimmung, der sogar die Apfelschnitze und der lauwarme Pfefferminztee ihrer Mutter nichts anhaben konnten. »Bei Schallplatten sieht man richtig, wie die Musik entsteht«, sagte Kirsten.

Marie hat auf dem Spielplatz eine neue beste Freundin gefunden, deren Namen sie nicht kennt und die sie morgen wieder vergessen haben wird. Mit vier findet man überall beste Freundinnen.

Ines sitzt auf einer Bank, neben ihr der Rucksack voll mit Plastikdosen und Trinkflaschen, Sonnencreme und Strickjacke. Sie sieht die Mädchen, die Blätter von Sträuchern abreißen, ohne dass jemand etwas dagegen unternimmt. Sie brauchen Blätter und Dreck für ihr Spiel, den Zaubertrank, die köstliche Suppe.

Mein rechter, rechter Platz ist frei, ich wünsche mir die Kirsten herbei.

Kirsten!

Sie schließt die Augen und versucht es sich vorzustellen.

Du, hier. Auf dem Spielplatz unter den Kastanienbäumen. Am Rand des Sandkastens, mit angewinkelten Beinen. Vor dir buntes Plastikspielzeug und Frauen (Mütter), denn es sind ja doch fast immer nur Frauen (Mütter), die keinen Beruf haben und keine Musik hören und keine Nachrichten sehen und nicht zur Wahl gehen und keine Bücher lesen, die sich zurücknehmen und ausradieren. Ich trage ihre Namen und ihre Nummern in meinem Smartphone ein und setze in Klammern die Namen der Kinder dahinter, damit ich meine fünf Julias und acht Kathrins auseinanderhalten kann, denn für Nachnamen habe ich keine Geduld.

Kirsten!

Ich stehe auf und setze mich auf die Schaukel, nur einen kurzen Moment lang, will den Kindern ja nichts wegnehmen. Die Schaukel neben mir ist leer, ich suche dich. Will dich hier finden, wenigstens in Gedanken, aber es klappt nicht. Ich will dich sehen. Und du? Siehst du mich hier? Kannst du mich finden unter Schäufelchen und Eimerchen und Wechselklamotten und Tupperware?

Ja. Ja, ich will, dass du mich so siehst. Und mir sagst, dass es gut ist. Ich will, dass wir mit Marie Enten füttern gehen, obwohl es verboten ist. Dass wir uns Eis bestellen mit diesen zuckrigen bunten Streuseln. Du liest ihr vor, und ich habe Pause. Ich will, dass du über unseren Bettgehwahnsinn lachst, unseren Kampf ums Zähneputzen und Liegenbleiben. Ich will, dass du auf dem Balkon stehst und eine Zigarette rauchst und schon das erste Glas Wein trinkst, während du auf mich wartest. Dass ich irgendwann dazustoße, verschwitzt und erschöpft, dir gierig das Glas aus der Hand nehme. Dass du mich anlächelst, verständnisvoll und mitleidig, aber wohlwissend, dass der Rest des Abends uns gehört und ich immer noch ich bin und einen Beruf habe und Musik höre und Nachrichten sehe und zur Wahl gehe.

Kirsten, ich zähle jetzt bis drei! Eins … zwei …

Sie weiß nur zu gut, dass nach drei nichts passiert.

Marie kniet auf dem Boden, zeichnet Herzen, füllt diese aus in Rot, Lila, Pink, dazu Gewieher: Bibi und Tina, zwei Mädchen mit Pferden und einem Schloss im Hintergrund.

Es sind die gleichen Hörspiele, die schon Ines und Kirsten gehört haben: Bibi Blocksberg, Benjamin Blümchen, Fünf Freunde. Im Regal steht, was auch bei Ines’ Eltern im Regal stand: Wo die wilden Kerle wohnen, Ronja Räubertochter und die Kinder aus Bullerbü. Kindheit auf Repeat.