NANOX - Herbert W. Franke - E-Book

NANOX E-Book

Herbert W. Franke

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Beschreibung

Wenn Oligarchen die Welt beherrschen Herbert W. Franke (1927–2022) gilt als Wegbereiter der deutschsprachigen Nachkriegs-SF. Sein Spätwerk "Nanox", 2017 begonnen, blieb jedoch unvollendet. Franke wollte darin auf die sich schon damals abzeichnenden gesellschaftlichen Veränderungen aufmerksam machen: auf global tätige Unternehmer, die mit ihren Innovationen die Welt beherrschen wollen - dank Nanotechnologien und digitaler Neuromanipulation. Themen, die heute aktueller sind denn je. Mit Kommentierungen und Background-Infos zum Werk.

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Seitenzahl: 288

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Herbert W. Franke

NANOX

Impressum

Herbert W. Franke

NANOX

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 33

hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2025 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

www.art-meets-science.io

Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de

Titelbild: Das Illustrat, München

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

E-Book-Erstellung: global:epropaganda

Verlag

art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

c/o mce mediacomeurope GmbH

Bavariafilmplatz 3

82031 Grünwald

ISBN 978 3 911629 32 4

Vorwort

Mit NANOX, dessen konzeptioneller Beginn bis in das Jahr 2013 zurückreicht, legen Hans Esselborn und ich den unvollendet gebliebenen Roman von Herbert W. Franke vor, und zwar in der letzten gültigen Version aus dem Jahr 2017. Ergänzt wird das Manuskript mit einem Exposé zum Roman sowie mit Notizen zu dem geplanten Konzept, für den Roman Bildstrecken in Zusammenarbeit mit einem Grafiker zu gestalten. Diese sollten die Drehbücher, von der Hauptfigur Erwin im Auftrag des Konzerns Nanox verfasst, als Storyboards zeigen.

Handschriftliche Aufzeichnungen in flüchtig hingeschriebenen Stichpunkten, die aus dem Jahr 2013 datieren, sowie Teil einer frühen Manuskript-Fassung aus dem Jahr 2014 haben wir ebenfalls mit aufgenommen: Die hier abgedruckten Kapitel zeigen deutliche Abweichungen zur letzten Fassung und werden in der literaturwissenschaftlichen Analyse des Textes von Hans Esselborn „Nanotechnologie und Weltherrschaft“ kommentiert. Dieses hier erstmals veröffentlichte Archiv-Material zum Roman gibt interessante Einblicke in die Story-Suche des Autors. Diese Notizen wie das frühe Manuskript sind mit einer Schenkung bereits in das ZKM-Archiv Herbert W. Franke übergegangen.

In allen abgedruckten Texten haben wir Flüchtigkeitsfehler korrigiert.

Weiter veröffentlichen wir ein Interview, das Elisabeth Bösl mit Herbert für den Blog „Die Zukunft“ 2014 geführt hat – anlässlich der Veranstaltung „Zukunftstechnologie 2.0 – Nanos in Literatur und Medien“ im Züricher Collegium Helveticum im November des gleichen Jahres.

In meinem eigenen kurzen Beitrag gebe ich zudem ein paar persönliche Erinnerungen aus Gesprächen mit Herbert zum Hintergrund des Romans und einer schlaglicht-artigen Einbettung in Herberts philosophisches Weltverständnis.

Ich bedanke mich an dieser Stelle ganz herzlich bei meinem Mit-Herausgeber Hans Esselborn für die stets freundschaftliche Zusammenarbeit bei der Werkausgabe. Auch für dieses unvollendete, bisher unveröffentlichte Manuskript steuert der große Franke-Kenner wieder einen wichtigen Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Einordnung des Werkes bei. Mein Dank geht zudem an Ann-Kathrin Hahn und Gino Faglioni von "Das Illustrat" für die Covergestaltung sowie an Michael Haitel für die Konfektion des E-Books.

Susanne Päch

Herbert W. Franke: Im Auftrag von Nanox

Letzte Fassung des unvollendeten Manuskripts

Warnung

Sie tragen sich mit der Absicht, Ihre bisherige berufliche Orientierung aufzugeben und eine für Sie neuartige Tätigkeit aufzunehmen. Sie scheinen sich nicht im Klaren darüber zu sein, dass Sie den dafür nötigen Anforderungen nicht gewachsen sind. Wenn Sie Ihre Absicht verwirklichen, dann werden Sie vor Probleme gestellt, auf die Sie weder durch Ihre Ausbildung noch durch Ihre bisherige berufliche Laufbahn vorbereitet wurden. Die negativen Konsequenzen betreffen nicht nur Sie, sondern auch eine große Anzahl von Menschen der ganzen Erde, die durch Ihren Entschluss zu Schaden kommen. Stellen Sie sich die Frage, ob Sie die durch den geplanten Wechsel auf Sie zukommenden Verantwortung wirklich auf sich nehmen wollen.

Lassen Sie sich auf keinerlei Debatten ein – lehnen Sie den Ihnen zugedachten Auftrag bedingungslos ab. Unterschreiben Sie keines der Dokumente, die man Ihnen vorliegen wird. Sie müssen wissen, dass schon geringfügige Abweichungen von den für Sie verpflichtenden Verhaltensregeln härteste Strafen zur Folge haben. Ihre Auftraggeber haben die Möglichkeit, die Maßnahmen offizieller Gerichtsorgane beliebig zu verschärfen.

Sie sind als intelligente und realistisch handelnde Persönlichkeit klassifiziert, die juristisch in allen Belangen zur Verantwortung gezogen werden kann. Sie würden sich in den Dienst einer Vereinigung stellen, die allem Anschein nach im höchsten Grad verwerfliche Ziele verfolgt. Sie würden sich mitschuldig machen. Seien Sie sich bewusst, dass es kein Zurück mehr gibt, wenn Sie sich erst einmal Ihren Auftraggebern verschrieben haben. Bitte nehmen Sie daher zur Kenntnis: Wenn Sie den Ihnen zugedachten Vertrag unterzeichnen, verletzen Sie nicht nur Gesetze, sondern sie greifen damit auch in den Raum Ihrer Moralvorstellungen und Ihres Gewissens hinein.

Wir appellieren an Sie, diese Warnung ernst zu nehmen.

Task Force N – Gesellschaft zur Rettung der Welt e.V.

1

Irgendetwas hatte Edwin geweckt. Ein paar Sekunden lang wusste er nicht, wo er sich befand … aber dann war alles wieder klar: in einem Hotelzimmer in Jaipur, er war auf seiner Reise nach Lhasa, unterwegs zur Besprechung mit dem am Videofon so freundlichen Herrn von Nanox, um den Auftrag zu fixieren …

Ein Poltern unterbrach seine Gedanken, im Zimmer über ihm schien jemand die Möbel umzustellen, das war es vermutlich, was ihn geweckt hatte. Er setzte sich auf, suchte nach einer Uhr, und da fiel ihm Sirikit ein … das Bett neben ihm war leer.

Eigentlich schade, dachte er. Normalerweise zog er es vor, wenn die Mädchen sich beizeiten zurückzogen, denn er schätzte einen ungestörten Schlaf. Doch diesmal war es anders gewesen, er hatte mit Sirikit einen in jeder Hinsicht angenehmen Abend verbracht. Sie hatten zusammen gegessen und noch kurz eine Bar besucht, und er hatte sich nett mit ihr unterhalten können. Er hatte sich auf ein Frühstück mit ihr gefreut, hatte überlegt, ob er sich nicht für die Rückreise, die ihn wieder hierher bringen würde, mit ihr verabreden sollte, doch nun war sie still und ohne Abschied verschwunden. Auch gut – so ersparte er das Trinkgeld, dachte er sich … Und dann war er sich selbst gegenüber nicht sicher, ob er wirklich dieser Meinung war.

Er hatte seine Uhr gefunden, die unter einem Taschentuch gelegen hatte. Es war Zeit, um auf zu stehen, aber es bestand keine besondere Eile. Er zog sich ins Badezimmer zurück, duschte heiß, hatte Mühe, Shampoon, Zahnpaste und Seife von den Verpackungen zu befreien, und benutzte zum Reinigen seiner Schuhe die neben der Dusche liegende Matte. Schließlich packte er sein Waschzeug ein, das auf der mit einem Marmormuster verzierten Kunststoffplatte herumlag, und steckte noch ein Fläschchen Parfum ein, das sich gut als Mitbringsel eignete, wenn er auch nicht wusste, für wen … Dann warf er zufällig einen Blick auf den Daten-Screen, auf dem es bei solcher Gelegenheit meistens einen Willkommensgruß und die neuesten Nachrichten in der Sprache es Gastes zu lesen gab.

Als er abschließend den Schreibtisch abräumte, fiel sein Blick zufällig auf den Daten-Screen an der Wand. Der Willkommensgruß mit all der Empfehlung im Haus und der Umgebung lief ab – bis zum Lageplan des Hotels mit dem schönen Namen „Rambagh Palace“, mit Erklärungen dazu, warum es so hieß und nicht anders, und dann schließlich noch die Wettervorhersage. Das Wetter interessierte ihn, er schoss den kleinen Rollkoffer. Nun aber war er erst einmal hungrig. Doch bevor er das Zimmer verlassen konnte, gab es einen merkwürdigen Klang aus dem Bildschirm, darauf erschien in großen, blinkenden Buchstaben ‚Warnung’, die online auf sein Klick-Frame übertragen wurde. Das konnte nichts Wichtiges sein.

Das Frühstück war so gut, wie es in den Automatenküchen von Hotels eben üblich ist, aber der Kaffee tat Edwin wohl; er schmeckte auch nicht anders als anderswo, aber er war heiß, und in dieser Hinsicht einwandfrei.

Kurze Zeit später saß er im Shuttle-Bus, dessen Fenster so stark mit Werbung verklebt waren, dass die Außenwelt wie ein vorüberhuschendes Fernsehbild aussah. Schade eigentlich, denn was da schemenhaft vorüberflog, war durchaus reizvoll: immer wieder historische Bauten, darunter ein prächtiger fünfstöckiger Palast mit üppig verzierter Fassade und eine hochgezogene Stadtmauer aus orangerotem Naturstein mit einem mächtigen Rundbogen-Tor.

Sich auf all das durch die hindernde Scheibe hindurch zu konzentrieren, war mühsam, und so lehnte sich Erwin zurück … er kramte in seiner Tasche herum, zog sein Kick Frame heraus. ‚Warnung’ stand über dem Textblock, und als solche war es ja wohl auch zu verstehen. Zuerst dachte Edwin an einen jener Hinweise, mit denen die Hotelgäste mehr oder weniger nützliche Ratschläge für den Fall von Feuer, Explosionen und Anschlägen bekamen. Doch als er weiterlas, war er zuerst leicht irritiert, dann schüttelte er den Kopf, und schließlich, als er den Text fertiggelesen hatte, lachte er kurz auf. Unerwünschte Nachrichten waren ihm nicht unbekannt, im OmniNet konnte man mehr davon finden, als einem lieb war – von Kauf-Empfehlungen bis zu Kreditangeboten, Bitten um Unterstützung bis zu Einladungen zu Life-Shows, aber auch politische Manifeste und Verleumdungen, sowie – warum auch nicht? – Warnungen aller Art: vor dem Gebrauch von Nano-Batterien, vor illegalen Geldwechslern, vor nachlässigem Umgang mit Code-Nummern und vor dem Kauf gefälschter Medikamente … aus den persönlichen Datenspuren herausgelesen, die jeder hinterließ, die dann Firmen, aber auch mehr oder weniger kriminelle Banden auszunutzen versuchen. Manchmal waren es auch einfach nur Spinner und Datenterroristen, die sich einen Spaß daraus machten, verwirrende Informationen an Nutzer zu geben. Und hier warnte ihn nun jemand, der ihm vielleicht die angebotene Stelle neidete oder etwas gegen das Firmenimperium von Nanox hatte.

2

Für Edwin stand ein Flugzeug bereit, und er konnte sich einen Sitzplatz aussuchen. Es sah so aus, als wäre er der einzige Fluggast, und erst nach einer lästigen Wartezeit, während der der angegebene Abflugtermin langsam aber sicher verstrich, stiegen noch zwei Passagiere zu: ein junger Mann in einem dunkelroten Trainingsanzug und ein älterer asiatischer Typ mit Fellmütze, Windjacke, lederner Latzhose und Bergschuhen, der einen unförmig großen Rucksack hinter sich herzog.

Es gab kein Personal an Bord, doch irgendwie wurde die Ankunft der verspäteten Passagiere zur Kenntnis genommen, und die Automatik startete unverzüglich.

Edwin war schon einige Male mit einem solchen Flugzeugtyp geflogen, einem der kleinen Keilflügler, die vor allem für private Zwecke benutzt wurden, und so wunderte er sich nicht darüber, dass sie gleich im Steilflug aufstiegen und bald in die Horizontale einschwenken konnten. Die automatischen Sicherungsbügel um Arme und Beine öffneten sich, und der junge Mann drückte ein paar Knöpfe am Tastenfeld der Armlehne. Kurze Zeit danach rollte ein Wägelchen herein, auf dem Tablett Schüsseln und Teller, auf denen salzige und süße Leckerbissen ausgebreitet lagen, Shrimps und Kaviar nach russischer Art, aber auch einige arabische Honigplätzchen, dazu eine Sektflasche in silbernem Kübel. Der junge Mann griff danach und blickte Edwin an, der ihm gegenübersaß: „Ich bin Thor. Darf ich Sie einladen?“

„Gern – ich bin Edwin“. Edwin nahm das ihm gereichte Glas vorsichtig an, da die Flugrichtung wieder leicht anstieg. Sie prosteten sich zu. Der dritte Fluggast hatte mit einer Handbewegung abgewehrt.

„Sind Sie der Arzt?“, fragte der junge Mann, und als er den etwas erstaunten Blick Edwins bemerkte, fügte er hinzu: „Ich bin Thor, der Sohn des Kranken. Aber er ist derzeit nicht hier, sondern in einem Krankenhaus in Frankreich.“

Edwin schüttelte den Kopf. „Nein, Arzt bin ich nicht.“

„Sie müssen eine wichtige Persönlichkeit sein, sonst hätte man Sie nicht außertourlich abgeholt“, stellte Thor fest. „Es war ein Zufall, dass ich mich anschließen konnte. Ich war auf einer Bergtour.“

Thor blicke ihn fragend an, und Edwin sah keinen Grund, die erwartete Antwort zu verweigern. „Ich bin Schriftsteller, genau genommen Drehbuchautor. Vielleicht haben Sie ‚Vestalinnen’ gesehen. Das Buch stammt von mir.“

Thor schien beeindruckt. „Respekt! Ich habe den Film gesehen. Einer der wenigen historischen Filme, die mich interessiert haben. Doch was haben Sie in Lhasa zu tun? Der Nanox-Konzern betreibt doch keine Filmproduktion.“

Edwin lachte. „Das klingt ja so, als wäre das etwas Schändliches.“

„Das wollte ich nicht sagen. Und es wäre ja nicht unmöglich. Nanox hat sich von Putzmitteln in alle möglichen Richtungen entwickelt. Und wenn die Berater dafür sind – warum sollten wir nicht ins Filmgeschäft einsteigen?“

„Ist das wirklich zu empfehlen? Mit Putzmitteln und Dünger gibt es doch sicher mehr zu verdienen.“

Thor verzog missmutig das Gesicht. „Verdienen, das ist es ja. So hat es begonnen. Microsoft, Apple, Google, Amazon, Space X … Es ging immer nur darum, größer zu werden, mächtiger – noch mehr zu verdienen. Die neuen Techniken haben denen viel Geld gebracht und ihnen sogar weltpolitische Macht verschafft. Und diese wird immer nur gebraucht, um noch mehr Geld zu machen, bis andere Techniken nachkommen, die wieder Geld und Macht bringen. Irregeleitete Ziele, verschenkte Möglichkeiten – niemand, der etwas Besseres damit anzufangen wusste.“

„Was hätten sie tun sollen?“

„Man kann seine Machtposition doch auch nützen, um etwas Sinnvolles zu erreichen. Soziale Verhältnisse verbessern, Bildung fördern, Kreativität und Kunst. Doch mein Vater hat dafür kein Verständnis. Es geht ihm nicht gut, und ich werde ihn bald ablösen. Ich jedenfalls will meine Sache besser machen.“

Ein paar Minuten herrschte Stille, der Flugkörper erzeugte nur ein leises, kaum hörbares Rauschen. Wahrscheinlich lag das daran, dass sie jetzt mit Überschallgeschwindigkeit vorankamen und die durch den Antrieb verursachten Erschütterungen hinter sich zurückließen.

Das Flugzeug überquerte gerade einen Gebirgszug des Transhimalaya. Manche der Gipfel ragten so hoch empor, dass ihnen das Flugzeug ausweichen musste und sie knapp daran vorbeiflogen. Bei diesen Manövern wurde es kurzfristig wieder laut – die Turbinen heulten auf. Extreme Schräglage zum Ausgleich der Fliehkräfte. Aussicht nach oben und unten: Oben Sicht in blendende Helle, doch der Blick hinunter verlor sich im Schatten von Schluchten und Abgründen. Ein ähnliches Gefühl hatte Edwin überkommen, als er die ersten Male mit dem Keilflügler über New York geflogen war, über die Hochbauten und Straßenschluchten, doch da wäre es immerhin noch jederzeit möglich gewesen, auf dem flachen Dach eines Wolkenkratzers zu landen. Was da unten lag, kam ihm wie ein überdimensioniertes aufgerissenes Maul vor, das bereit war, alles zu verschlingen, was ihm zu nahe kam.

Thor, der die Empfindungen von Edwin richtig gedeutet hatte, wies in die Richtung schräg nach vorn und sagte: „Dort sieht man schon das Tal des Kyi Chu. Und dort, hinter der Biegung des Flusses, liegt Lhasa.“

„Wie kommt es eigentlich, dass sich ein Unternehmen wie Nanox gerade dort niedergelassen hat?“, fragte Edwin.

„Es war meine Idee“, erklärte Thor, und als Reaktion auf den erstaunten Blick von Edwin fügte er hinzu: „Ich bin der Sohn des Gründers von Nanox, Maximilian Crantz. Die Kollegen und Berater meines Vaters fanden Lhasa gut. Etwas Spektakuläres, Exklusives – ein einmaliges Machtsymbol! Allerdings auch das: Erhebliche steuerliche Vergünstigungen durch die Staatführung. Für China war es ein Prestigeobjekt, den aufstrebenden Nanox-Konzern in seinen Einflussbereich zu bekommen. Dafür garantierte er langfristige Rohstoff-Lieferungen, auch von den neu erschlossenen lunaren Abbaugebieten. Als die Chinesen am Höhepunkt ihrer Wirtschaftskrise den Potala-Palast zum Kauf anboten, griff Nanox zu – wie schon bei Zypern und der Tundra in Kasachstan. Mit Lhasa konnte Nanox jedoch ein Zeichen für seine Bedeutung setzen, das alles Vergleichbare übertraf.“

Das Flugzeug war in eine Kurve gegangen, unten schien sich das weißblau spiegelnde Band des Flusses aus dem flachen Talgrund herauszuheben, und Thor deutete hinunter – „ … dort, der Palast …“

Etwas leiser, wie zu sich selbst, sprach Thor weiter: „Ich habe mir das ganz anders vorgestellt. Ich wollte ein historisches Monument vor der Banalisierung retten. Ein Kulturzentrum für die ganze Welt, aber keinen Tummelplatz von Touristen – das gleichermaßen ein Machtzentrum des Weltkommerzes ist. Was mir vorschwebte, was etwas ganz anderes: Eine Erinnerung an eine Gemeinschaft, die sich der Spiritualität verschrieben hatte. Ein Beweis, dass es außer Geld noch andere Werte gibt …“

Draußen war die Stadt zu sehen. Die Szene beherrscht vom pyramidenförmigen Hügel mit den abwechselnd weißen und braunen Gebäudeteilen, recht davon ein Feld mit hellgrauen Blockbauten, und dahinter, in der Ferne, die Silhouetten der Hochhäuser aus der Zeit der chinesischen Besetzung. Darüber lag das dunkle Blau von dünnem Nebel, durchschnitten von drei Säulen aus Laserlicht. Sie bildeten das große ‚N’, das weltbekannte Wahrzeichen von Nanox inmitten eines mit Lichtstrahlen gezeichneten Polyeders.

Ihr Flugzeug setzte auf. Der Tibeter – der während des gesamten Fluges stille dritte Passagier – war aufgestanden und hatte den Tragesack zum Ausgang gezerrt. Und schon öffnete sich die Luke, das Laufband war bereits angedockt, und die Gäste ließen sich von ihm ins Freie tragen, wo es zu Fuß weiterging – inmitten einer kühlen Weite, die selbst hier, an der Landefläche, in den Himmel überzugehen schien.

Erklärung

Ich, Dr. Clemens Norwik, Forschungsleiter im Laboratorium für Memoforming der Universität Uppsala (Universitas Regia Upsaliensis), Schweden, erkläre hiermit, dass ich mich zu einem Selbstversuch entschlossen habe, den ich im Hinblick auf den aktuellen Fortschritt in meinem Fachgebiet für unerlässlich halte. Gewiss befindet sich die von unserem Arbeitsteam entwickelte Methodik der rückwirkenden Veränderung von Erinnerungen noch im Zustand des Experiments, und es bedarf zweifellos noch detaillierter Untersuchungen, bevor an eine praktische Anwendung – vor allem in Medizin und Unterricht – zu denken ist. Doch schon jetzt wird klar, dass sich die bisherigen praxisnahen Ergebnisse nur beschränkt auswerten lassen, solange die mit dem neuen Instrumentarium der Infiltration von Nanospeichern erzielten Ergebnisse an Tieren nur von außen beurteilt werden. Das liegt vor allem daran, dass die Wirkungen, um die es geht, in einem subjektiven Rahmen auftreten und daher nur durch Introspektion unverfälscht erkannt und beschrieben werden können.

Überlegungen dieser Art wurden bisher nicht angestellt, da sich das Forschungsvorhaben den speziellen Vorgaben gemäß zunächst auf Wirkungen auf höher entwickelte Säugetiere beschränken sollte, doch kann man heute schon mit Sicherheit erwarten, dass sie sich genauso gut an Menschen erzielen lassen. Es ist damit zu rechnen, dass der Wunsch, diese Annahme praktisch zu bestätigen, früher oder später auch bei meinen Kollegen auftreten und diese eventuell zu eigenmächtigen Versuchen in dieser Richtung verleiten könnte. Es ist wohl nicht zu leugnen, dass ich als Leiter der Gruppe ‚Memoforming’ einer Verantwortung unterliege, die auch das Wohl und Wehe der im Labor beschäftigten Mitarbeiter betrifft, und das ist einer der Gründe, die mich zu meinem Entschluss geführt haben: Ich darf nicht zulassen, dass mir einer der Kollegen mit dieser Idee zuvorkommt. Andererseits ist die Problematik, die in der Aussicht auf praktische Anwendung besteht, so spannend und reizvoll, dass der von mir geplante Selbstversuch gewiss auch im Rahmen der Interessen und Pflichten liegt, denen ich mich als erster zu stellen habe.

Ich erkläre an dieser Stelle, dass dem geplanten Selbstversuch einzig und allein mein eigener freiwilliger Entschluss zugrunde liegt. Ich wurde von keiner Seite beeinflusst, speziell von der Firmenleitung wurde keinerlei Druck auf mich ausgeübt, etwa im Hinblick auf Fortschritte und Nutzanwendungen meiner Arbeit. Für möglicherweise auftretende unerwünschte Folgen meiner Handlungsweise wäre ich selbst verantwortlich.

Gezeichnet Dr. Clemens Norwik, Uppsala

3

Es war ein Roboter der Putzkolonne gewesen, der zuerst auf etwas Ungewöhnliches im Memo-Lab hingewiesen hatte. Und so war es das Security-Personal von Nanox, das dort zuerst nach dem Rechten sah und schon wenige Minuten nach dem Eintreffen der Meldung an Ort und Stelle eingetroffen war. Sie betraf die früher zur Neurologie gezählten Laboratorien, die das gesamte Untergeschoss für sich in Anspruch nahmen. Da es insbesondere die jüngsten Erkenntnisse und Methoden der biologisch orientierten Nanotechnik waren, auf die man sich dabei bezog, hatte die Universitätsleitung um Unterstützung des Nanox-Konzerns angesucht – und diese auch bereitwillig bekommen. Der Grund für dieses Entgegenkommen lag natürlich in der Tatsache, dass die neuesten Erkenntnisse nicht nur von beachtlichem wissenschaftlichem Wert waren, sondern sich auch praktisch nutzen ließen. Schon seit Jahren gab es in der Firma Nanox eine Pharma-Abteilung, und so war es auch in Uppsala zu einer Kooperation gekommen, die für beide Seiten vorteilhaft erschien.

Die Verantwortlichen der Universität hatten es als angenehm empfunden, dass Nanox auch die im wirtschaftlichen Bereich wichtigen und notwendigen Sicherungsmaßnahmen übernahm. Und wenn zu diesen auch manches gehörte, das für Akademiker als übertrieben angesehen wurde, so fügte man sich den Wünschen des Partners, und deshalb gehörte das Ereignis, das den Alarm verursacht hatte, auch sofort und unwidersprochen in den Verantwortungsbereich der Firma.

Es war vier Uhr früh, das Gebäude war so gut wie menschenleer. Eigentlich war nichts Besonderes vorgefallen, und so könnte sich die ausgelöste Aufregung auch bald als unnötig erweisen, wie es schon in ein paar vergleichbaren Fällen gewesen war. Aber immerhin: Es war der Leiter des Laboratoriums selbst, Clemens Norwik, der ohnmächtig auf dem Boden liegend gefunden worden war. Die beiden Männer der Security waren in Erster Hilfe ausgebildet und stellten fest, dass er äußerlich unversehrt war, sein Pulsschlag war normal und sein Atem ging ruhig. Sie legten ihn auf eine Trage, die in einer Nische des Raums für Notfälle bereitstand – war doch das Laboratorium mit einer Menge Maschinen ausgestattet, die mit hohen elektrischen Spannungen arbeiteten, wie auch mit hohen Temperaturen und hohem Druck. Es gab immer wieder Unvorsichtige, die sich gedankenlos in Gefahr brachten, und dann konnte es trotz aller Sicherungsmaßnahmen zu Unfällen kommen.

Die Männer riefen im Sanitätsraum an und baten um einen Arzt. Inzwischen sahen sie sich im Labor um und suchten nach irgendetwas Verdächtigem. Alles schien in Ordnung zu sein, doch dann kam der jüngere der beiden auf den anderen zugelaufen und schwenkte einen Zettel in der Hand … „Das hier, auf dem Schreibtisch …“ Es war ein handgeschriebener Text mit einer darüber gesetzten Überschrift ‚Erklärung’.

Als sie das mit ‚Norwik’ unterschriebene Bekenntnis gelesen hatten, blickten sie einander kurz an.

„Er muss sofort weggebracht werden“, sagte der Ältere. „Das ist einer von diesen Fällen …“ Er beendete den Satz nicht, sondern faltete das Stück Papier mit der ‚Erklärung’ zusammen und schob es in die Innentasche seiner Jacke.

„Ist das wirklich nötig? Der Arzt ist doch schon unterwegs …“

„Was schert uns denn der Arzt! Verstehst du nicht? Der Kerl da auf der Bahre hat es ausprobiert, und er wird darüber sprechen. Das müssen wir auf alle Fälle verhindern.“ Er musterte die Trage und deutete auf die daran angebrachten ausschwenkbaren Räder, mit denen sich das Traggestell in ein primitives Gefährt verwandeln ließ.

Die paar Handgriffe waren rasch getan. Sie öffneten die Tür, blickten hinaus … Vom Arzt noch nichts zu sehen.

„Rasch – wir bringen ihn in den Sani-Raum!“

Im Laufschritt ging es durch die Gänge, zum Fahrstuhl. Sie ließen sich in das zweite, tiefer gelegene Kellergeschoss bringen, in dem sich die Diensträume des Personals von Nanox befanden – und wo sonst niemand Zutritt hatte. Die medizinische Abteilung gehörte dazu.

Die Tür zum Untersuchungszimmer stand offen, ein Mann in grünem Kittel einer Rote-Kreuz-Binde stand davor und winkte ihnen zum Zeichen, dass sie den Patienten hineinbringen und auf den Untersuchungstisch legen sollten.

„Ich bin Dr. Listner“, sagte der Sanitäter. „Ich übernehme den Patienten. Dr. Lilipka ist schon unterwegs, er wird sich mit der Sache beschäftigen. Wissen noch andere von dem Vorfall? Wenn das nicht der Fall ist, dann könnt ihr gehen. Aber absolutes Stillschweigen bewahren!“

„Ich habe heute die Leitung des Wachdienstes“, erklärte der ältere Security-Mann, „und muss den Vorfall melden. Offenbar hat einer eigenmächtig einen gefährlichen Versuch unternommen. Es gibt da eine Art Geständnis – wir haben es auf dem Schreibtisch gefunden.“

Er reichte Listner das Blatt mit Norwiks Erklärung. Listner runzelte die Stirn, als er gelesen hatte. „Wenn ihr es melden müsst, dann bitte direkt an die Zentrale ‚Security’. Damit ist der Fall für euch erledigt.“

Die beiden Beamten verließen mit ihrem Rollwagen den Raum, und Listner wandte sich dem immer noch ohnmächtigen Neurologen zu. Er zog ihm die Augenlider hoch, fühlte den Puls und tastete mit der Sensorplatte eines Enzephalografen Stirn und Schädeldach ab. Noch immer war keine Regung auf dem Gesicht des Besinnungslosen zu erkennen.

Listner überlegte, was er noch tun könnte, doch da öffnete sich die Tür, und Lilipka trat ein.

„Ist uns also doch einer in die Falle gegangen“, rief dieser, als er den Laborleiter auf dem Tisch liegen sah. „Damit ersparen wir uns eine Menge Formalitäten. Dass es gerade Norwik ist! – der erschien mir immer als ein fügsamer Gefolgsmann. Aber wie auch immer … Nun werden wir endlich erfahren, ob alles so funktioniert, wie wir es hoffen.“

„Er ist immer noch besinnungslos“, bemerkte Listner. „Das kann ich mir eigentlich nicht erklären. Der Eingriff selbst ist doch ganz harmlos und erfolgt ohne Betäubung. Er kann doch gar nichts falsch gemacht haben. Hoffentlich erholt er sich wieder.“

Lilipka lachte. „Keine Sorge! Ich habe für diese leichte Ohnmacht gesorgt. Ich habe den Spray präpariert – für alle Fälle! Mit so etwas musste man ja rechnen. Ich habe da ein wenig nachgeholfen.“ Er verzichtete auf weitere Erklärungen. Aus seiner Jackentasche holte er eine Ampulle und sah sich nach einem Injektionsspray um. Nachdem ihm Listner die Kapsel gereicht hatte, knipste er das Verschlussstück ab und setzte es an die Spritze. Dann schob er den Kragen von Norwiks Jacke zurück und ließ das Medikament durch die entblößte Haut am Halsansatz ins Gewebe zischen. Es dauerte nur Sekunden, da regte sich der Betäubte schon und versuchte, sich aufzurichten. – was ihm aber offenbar recht schwerfiel.

„Nach einem solchen Vorfall können wir ihn nicht einfach wieder frei herumlaufen lassen“, erklärte Lilipka mit etwas leiserer Stimme mit einem Blick auf den Wissenschaftler, der noch nicht auf seine Umgebung reagierte. „Man muss ihn beaufsichtigen, und das muss ich Ihnen überlassen.“

„Ist es dann nicht möglich, die verabreichten Daten wieder zu löschen und den alten Zustand wieder herzustellen?“

„Sicher, später vielleicht. Zunächst ist es viel wichtiger, zu untersuchen, wie sich die Übertragung auswirkt. Immerhin ist es das erste Mal, dass wir das an einem Menschen tun können: Wenn die Affen uns Menschen auch sehr ähnlich sind, so könnten sich doch Unterschiede ergeben. Ja, sie müssen sogar auftreten – Menschen haben doch komplexere Persönlichkeiten, und es wäre interessant zu erfahren, wie sie mit den synthetischen Erinnerungen fertig werden.“

„Aber dazu müssen wir ihn von den andern isolieren – und dann fällt auf, dass er nicht zum Dienst kommt.“

„Dafür wird sich schon eine Ausrede finden lassen. Sorgen Sie dafür, dass rechtzeitig ein Entschuldigungsschreiben von Norwik eintrifft. Am besten ein ärztliches Attest wegen einer Unpässlichkeit. Sie können meine Signatur eintragen.“

Die beiden hatten den Patienten außer Augen gelassen, und jetzt merkten sie, dass es ihm nun endlich zu gelingen schien sich aufzusetzen.

Lilipka wandte sich ihm zu, „Na, nun sind Sie doch endlich wieder wach. Wie fühlen Sie sich?“

„Danke, es geht mir gut“, antwortete Norwik. Die Stimme klang frisch, doch schien er doch noch etwas benommen zu sein. Er saß in seltsam verkrümmter Haltung da, und seine Augen schweiften unruhig hin und her.

„Was ist Ihnen da nur eingefallen“, sagte Lilipka. „Da sind Sie wohl doch ein wenig zu weit gegangen.“

Norwik musterte seine Umgebung – er schien irgendetwas zu suchen. Dann blickte er Lilipka an. „Wo ist die Banane?“, fragte er.

Die beiden Neurologen brauchten eine Weile, um sich die Situation zu erklären.

„Und wo ist die Schachtel? Ich bin sicher, dass ich den Verschluss öffnen kann.“ Jetzt war ihm eine gewisse Erregung anzumerken, vielleicht auch ein bisschen Angst.

Lilipka legte ihm die Hand beruhigend auf die Schulter. „Aber sicher, das glauben wir Ihnen gern …“

„Aber dann darf ich mir die Banane doch nehmen, und nun ist sie weg!“

Lilipka wechselte mit Listner einen vielsagenden Blick und wandte sich wieder an Norwik „Du weißt doch, wer du bist. Weißt du es? Dann sag es uns!“

„Ich weiß doch, wer ich bin …“ – trotz dieser Behauptung schien er sich erst besinnen zu müssen. „Ich bin … ja, ich bin Dr. Norwik. Clemens Norwik.“

„Und weißt du auch, was du für eine Aufgabe hast?“

Wieder der leicht erstaunte Ausdruck im Gesicht des Mannes. Dann stammelte er: „Die Banane … Ich darf sie aus der Schachtel nehmen. Ich weiß doch jetzt, wie ich die Schachtel öffnen kann. Ich brauchte nur den mittleren Riegel beiseitezuschieben und herumzudrehen. Und nun ist auch die Schachtel weg …“

Er sprach noch weiter, und die beiden Neurologen hörten ihm noch eine Weile zuerst staunend, dann amüsiert zu.

„Wissen Sie, was das bedeutet?“, fragte Lilipka leise, und stieß seinen Mitarbeiter leicht mit dem Ellbogen an. Auf seinem Gesicht war ein Ausdruck wie Triumph erschienen. „Es bedeutet, dass die Methode funktioniert! Die Übertragung ist gelungen. Dieser Mensch hat sich die Daten aus dem Kurzspeicher eines Affen einverleibt. Die Aufgabe, von der er faselt, ist genau das, die wir mit intelligenteren Versuchstieren machen.“

Norwik klagte noch immer über die ihm vorenthaltene Banane – in seinem entrückten Zustand schien ihm das viel zu bedeuten.

„Wissen Sie was?“ Listner konnte sein Mitgefühl nicht unterdrücken. „Er soll seine Banane kriegen – vielleicht kann ich eine besorgen.“ Er trat in die Kommunikationszelle und schaltete ein Suchprogramm für eine Bestellung ein, während Lilipka anzusehen war, dass er das für überflüssig hielt.

Listner kam zurück und hörte sich eine Weile das Gestammel von Norwik an. Dann wandte er sich wieder an Lilipka: „Sind Sie mit diesem Ergebnis wirklich zufrieden? Norwik ist doch nicht mehr normal: eine Chimäre zwischen Mensch und Affen – geistig gesehen. Er hat seine Persönlichkeit verloren.“

„Ach was“, entgegnete Lilipka. „Recht geschieht ihm. Er hat bloß versäumt, in seinem eigenen Datenspeicher vorher alles zu löschen, was im Widerspruch mit der neuen, ihm zugedachten Rolle steht. Da muss er ja verwirrt sein! So etwas wird uns sicher noch Probleme bereiten, und es ist gut zu wissen, dass wir künftig darauf achten müssen. Doch ich bin sicher, dass sich das lösen lässt.“

Listner schien nicht überzeugt. Es klang besorgt, als er fragte: „Werden wir den Affen in ihm nun wieder löschen?“

Sein Chef schien von der Frage ein wenig überrascht und überlegte kurz. Dann antwortete er: „Sicher, er bekommt seine eigene Persönlichkeit zurück. Aber eine Strafe hat er doch verdient, denn er hat gegen alle Vorschriften gehandelt. Sind Sie nicht auch dieser Meinung? Wissen Sie, was wir tun werden? – Ich habe es mir anders überlegt: Wir bringen ihn in sein Labor zurück, seine Kollegen sollen ihn in diesem Zustand vorfinden, für den er selbst verantwortlich ist. Und wir legen seine Erklärung dorthin zurück, wo er sie hingelegt hat. Damit erreichen wir zweierlei: Erstens wird keiner mehr auf die Idee kommen, etwas Ähnliches zu versuchen. Und zweitens führen wir den Mitarbeitern den Beweis dafür vor, dass ihre Forschungen zum Erfolg geführt haben. Erstmals ist es gelungen, Daten aus dem Gehirn eines Tiers in das Gehirn eines Menschen zu transferieren. Mithilfe von Norwik können wir nun einen Plan dafür entwerfen, wie wir weiter vorgehen, was bei der künftigen Arbeit zu berücksichtigen ist.“

„Und wenn wir ihm später seine frühere Persönlichkeit zurückgeben … glauben Sie, dass seine Mitarbeiter ihn dann noch als Vorgesetzten anerkennen werden?“

Lilipka schienen die Fragen allmählich auf die Nerven zu gehen. „Vielleicht werden Sie mir das nicht glauben – aber im Moment interessiert mich das einen feuchten Dreck.“

In diesem Moment ertönte die Sirene des Alarmsystems, und dann war die emotionslose Stimme eines Automaten zu hören: „Achtung – eine Eilsendung! Beim Pförtner wurden 10 Kisten Bananen abgegeben. Wer hat die bestellt? Bitte unverzüglich melden.“

4

Edwin war zum feudalen Gästehaus des Nanox-Konzerns gebracht worden. Als er die Luftgondel verließ, trat ihm eine Abordnung von uniformierten Hotelangestellten entgegen und empfing ihn mit Applaus. Er ging die Treppe hinauf, gefolgt von einem Bediensteten, der ihm den Koffer abgenommen hatte und ihm den Weg wies. Er betrat eine Halle, wo eine Riege von Mädchen in weißen Kitteln ein Lied anstimmten, das derzeit bei festlichen Anlässen oft zu hören war, in diesem Fall aber recht fremdartig klang.

Dann erst kam der ihm zugewiesene Betreuer auf ihn zu, ein älterer Chinese in einem altmodischen Anzug. Er zeigte Edwin die reservierte Suite und kündigte eine Rundfahrt durch die Stadt an. Zuvor führte er ihn aber noch in ein Restaurant, von dessen Terrassensaal sich eine wunderbare Aussicht auf die großzügig beleuchtete Stadt in dieser Bergwelt bot.

Edwin hätte gern Näheres über den Auftrag gehört, den man ihm geben wollte, aber wie sich herausstellte, war sein derzeitiger Begleiter ein Historiker der Universität, der engagiert worden war, um Edwin zu unterhalten. Vom Zweck des Besuchs von Erwin wusste er offenbar nichts.

Als er Edwins Fragen nicht beantworten konnte, lachte er wie über einen köstlichen Witz. „Morgen“, sagte er, „morgen werden Sie sicher erfahren, worum es geht.“

Am nächsten Tag, um zehn Uhr, brachte ihn eine Fluggondel zum Palast und ließ ihn vor dem Ost-Eingang aussteigen. Ein Mann und eine Frau, ungefähr in seinem Alter, erwarteten ihn, und wieder war es nur Empfangspersonal, das offenbar die Anweisung hatte, Edwin durch die Pracht der historischen Räume zu beeindrucken. Es ging treppauf, treppab. Sie besichtigten den Weißen und den Roten Palast, und Edwin kam es vor, als befände er sich in einem Museum. Erst in den höchsten Etagen des Roten Palastes änderte sich das Bild, und es war zu vermuten, dass hier oben Räume zu finden waren, in denen Menschen mit ernsthafter Arbeit beschäftigt waren. Und tatsächlich wurde Edwin nun in die Obhut jener gegeben, die bereit waren, über Geschäfte zu verhandeln.

Der Beauftragte von Nanox stellte sich als Duke Stealman vor. War das nun der leitende Angestellte, von dem Edwin endlich erfahren würde, welchen Job man ihm anbot? Edwin musterte ihn von der Seite, als sie durch einen von einer Leuchtschlange erhellten Gang gingen. Er war etwas kleiner als Edwin, rundlich gebaut, und trotzdem eine sportliche Erscheinung, so gewandt, wie er sich bewegte. Sein Alter mochte zwischen 40 und 50 liegen, er war glatt rasiert, und ein freundliches Lächeln ließ die Sympathie und die Ehrerbietung für den Gast erkennen.

Stealman, den Edwin mit ‚Duke’ ansprechen sollte, wies auf eine Tür, durch die sie eine Art Schleusenraum betraten, und Duke bat Edwin an, die Kleider abzulegen, zu duschen und einen bereitliegenden rötlich braunen Overall anzuziehen.

„Ein Schutz vor Anschlägen aller Art – vom Lauschangriff bis zum Attentat.“

„Und wozu der Overall?“, fragte Edwin.

„Gegen unerwünschte Infiltration von Nanopartikeln. Was glauben Sie, wie viele Möglichkeiten von Eingriffen sich dadurch eröffnen. Wir befinden uns hier in der höchsten Sicherheitszone. Hier dringen keine elektrischen Wellen ein, und auch keine heraus. Und es ist dafür gesorgt, dass der Raum auch chemisch rein ist – frei von Bakterien, Viren und anderen Fremdstoffen. Haben Sie denn bisher nicht für die Industrie gearbeitet?“

„Doch – für die Film-Industrie, aber da hat man offenbar keine solchen Befürchtungen.“

„Film – na ja, das mag ja stimmen. Aber es ist eben grundsätzlich wichtig, allen denkbaren Einflussmöglichkeiten vorzubeugen. Wir haben sehr unter Industrie-Spionage zu leiden – was ja nicht weiter erstaunlich ist, wenn man wie wir an bemerkenswerten Neuentwicklungen arbeitet. Und es gibt auch terroristische Eingriffe, vor denen wir uns schützen müssen.“

Der Raum, den sie danach durch eine weitere Tür betraten, unterschied sich grundlegend von den vorderen Gemächern mit ihren prächtigen Figuren von Feuer speienden Drachen. Hier sah es geradezu kahl aus. In der Mitte standen einige Bürostühle um ein niedriges Tischchen herum. Darauf, auf einem Tablett, eine farbig verzierte Flasche mit einem blassgelben Getränk und zwei Gläser und ein dunkles kleines Tablet, sonst nichts, keine Teller mit Süßigkeiten und keine Zigaretten. Auch sonst hatte man hier mit der Einrichtung gespart: keine weiteren Möbel, dafür eine Unzahl von transparenten Bildschirmen aller Art und vielen Geräten, deren Funktion nicht zu erraten war. Die Wände bestanden aus mattsilbernem Metall.

Als sich Edwin setzte, ging eine Bewegung durch den Raum, und da erst fielen ihm die kleinen Kameras und Mikrofone auf, die automatisch seinen Bewegungen folgten.

Stealman hatte Edwin beobachtet. „Unser Besprechungsraum für heikle Angelegenheiten!“

Mit einer Handbewegung forderte er Edwin auf, sich zu setzen und ließ sich ihm gegenüber nieder. Er griff nach der Flasche, und als Edwin nickte, schenkte er ihm und dann auch sich selbst ein. Edwin nahm einen Schluck … es schmeckte süß, fruchtig und erfrischend … und Stealman folgte seinem Beispiel.

Edwin blickte sich um und sah sich die Einrichtungen noch einmal etwas genauer an.