Napoleons Tod - M.J. Weidmann - E-Book

Napoleons Tod E-Book

M.J. Weidmann

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Beschreibung

Was geschah mit dem Bänker Michael Bexhorn, der eines Tages am Gerüst des Rheinauenblocks hing? Frank Hellinger, der auf dieser Baustelle an der Fassadensanierung mitarbeitet, erlebt den Polizeiauflauf und den eigenwilligen Kommissar Hungerbühler, der jeden Arbeiter auf der Baustelle verdächtigt. Das geht soweit, dass Frank zusammen mit seinem Kollegen Debus selbst anfängt, zu ermitteln. Wochen später, auf einer Rundreise durch Indien, öffnet Frank sich der Reiseleiterin Elli mit den Erlebnissen vom Rheinauenblock. Doch auch Elli hat etwas zu verbergen.

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Seitenzahl: 469

Veröffentlichungsjahr: 2017

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„Wer zu schmeicheln versteht, versteht auch zu verleumden“.

(Napoleon I. Bonaparte, 1769-1821)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

08. & 09. September: Delhi

Crime Village

10. September: Neu-Delhi

Drei Monate früher: der Rheinauenblock

11. September: Agra

Auf dem Gerüst

12. September: Fatepur Sikri

Die Wohnung im 7. OG

13. September: Jaipur

Der offene Durchgang

14. September: Udaipur

Schwarzgeld

15. September: Nagda und Eklingji

Schwarzarbeit

16. September: Aurangabad

Nicht bei der Sache

17. September: Ajanta

Cu(CH3COO)2+3Cu(AsO2)2

18. September: Mumbai

Am Ufer

Das letzte Geleit

19. September: Gate of India

Auf dem Kämberg

20. September: Leela Beach

Wochenendhaus

21. September: Im Paradies

Die Wohnung im 3. OG

22. September: Brahma-Vishnu-CoKG

Bexhorns Villa

23. September: Baina Beach

Trauergäste

24. September: Tiger Prawns

Sur la Plage

25. & 26. September: Mumbay-Frankfurt

Corinnas Plan

07. Oktober: Wieder Zuhause

Prolog

Als erstes möchte ich Ihnen vom Ende der Geschichte erzählen: von unserer Fahrt nach Südfrankreich zur Lösung all der Probleme, die sich im Lauf der Zeit angesammelt hatten.

Aus den Boxen dröhnt gerade „Boogie with Stew“, lautstark intoniert von Robert Plant, seines Zeichens Sänger von Led Zeppelin, eine Aufnahme, entstanden zu einer Zeit, als die Stones ihr „Exile on Main Street“ auf den Weg brachten – hey Robert, komm doch mal bei uns in Nellcote vorbei, wir jamen ein bisschen rum´ und sehen, was passiert!

Und irgendwann läuft “Rock´s off”, natürlich die Stones. Als wir die A10 an der Riviera hinunter rauschen, ist das Freiheitsgefühl dieser Musik greifbar, doch es bleibt ein kleiner Unterschied: wir – Debus am Steuer seine Golfs, ich auf dem Beifahrersitz mit einem Koffer zwischen den Knien – und die Stones, vertrieben aus Good old England, die Anfang der 70er auf dem Mittelmeer zwischen Cannes, Nizza und Sanremo mit ihren Booten unterwegs waren, mit dem warmen Wind des Mistrals in den Haaren – und wir haben nicht mal ein Cabrio!

Zahllose Tunnel ziehen an uns vorbei, die wie in einem Film immer wieder traumhafte Aussichten über die tiefen Täler der Blumenriviera hinweg auf das Meer, sonnenverwöhnte Buchten und urige Ortschaften mit klingenden Namen freigeben: Alassio, Savona, Pietra Ligure oder auch Loano.

Ob ich das alles so wollte? Es war Corinnas Idee, dieses Ding hier durchzuziehen und nicht auf Carlo zu warten, bis er uns zu Hause in Hügelfeld aufmischt. Mittlerweile dämmerte mir, dass Corinna auch nicht anders ist, als jeder andere, der irgendwann einmal den großen Reibach macht: die wollen einfach nur mehr, einfach mehr Kohle, einfach mehr Besitz, einfach mehr Mehr, von was auch immer. Und ganz zum Schluss: ich habe bis heute nicht herausgefunden, wohin Ajeet den Koffer getragen hat, nachdem ich ihm diesen feierlich für einen guten Zweck übergeben habe…

Doch, der Reihe nach: ich habe mir lange überlegt, wie ich ihnen die Geschichte präsentieren kann. Chronologisch, eins nach dem anderen, erst diese Geschichte am Rheinauenblock, dann diese Fahrt hier an das Mittelmeer und zum Schluss natürlich meine Reise in das ferne Indien, auf dem Mist von Herrn Poskara gewachsen, der es nötig fand meinen Geist mit einer Bildungsreise zu zerstreuen, bei der ich mehr oder weniger zufällig wieder diesen Koffer dabei hatte…

Debus fand es natürlich besser, das Ganze in zwei Stränge aufzuteilen: „einmal erzählst du von unserer Baustelle und was da so los war und dann schreibst du über deine Erlebnisse im Land der heiligen Kühe. Und dann wieder andersrum“.

Natürlich mit den spärlichen Notizen aus meinem Reisetagebuch und dazu die Tagesberichte vom Rheinauenblock, „das ist schon die halbe Miete“.

Und so sitze ich oben in meiner Wohnung und schreibe. Über Geld, über Handwerker und über Elli: „Mensch Kerl, die muss da unbedingt mit rein“, raunt Debus mich an.

Genau, Elli.

Es hätte so schön werden können…

(1) 08. & 09. September: Delhi

Eines dürfen sie mich nicht fragen, und wenn, ich würde ihnen keine Antwort geben, weil ich es immer noch nicht weiß: wie ich diesen Koffer voller Geld durch den Zoll geschleust habe. Selbst nach 9/11, Gaddafi oder Isis gibt es weiterhin Möglichkeiten, etwas unsichtbar über die Grenzen zu schleusen, glauben sie mir! Zumindest, wenn ich Corinna glaube – und ich hatte ihr geglaubt! „Man muss sich nur vorher schlau machen“, denn „Vorbereitung ist alles“ waren ihre Worte, um mich und Debus zu besänftigen: „glaubt mir, es wird schon alles gut gehen“. Wenn ich ehrlich bin – ich weiß bis heute nicht, wie so etwas geht.

Insbesondere, wenn der Koffer mit 3,4 Millionen Euro gefüllt ist - und nur wir drei wissen es. In meinem Fall aber ist der gut gefüllte Koffer die Grundlage zum Vergessen.

Zum Vergessen einer Sache, die knapp drei Monate zurück liegt und doch ist sie in vielen Nächten so nah, als ob es gestern erst gewesen wäre. Dieser Kerl, der eines Morgens am Gerüst hing. Der zuerst Selbstmord beging, unter sein klägliches Dasein einen Schlussstrich setzte (so hieß es zumindest am Anfang). Wie ein dunkler Schatten der sich aus dem weißen Nebel herausschält, immer wieder.

Und das Gesicht! Keine schmerzverzerrte Fratze mit heraus hängender Zunge, die vergeblich nach dem letzten Quäntchen Luft schnappte. Geschlossene Augen, fast ein Lächeln. Friedlich dahingeschieden, aus freien Stücken heraus. Der Kerl wollte anscheinend wirklich sterben!

Meine Wenigkeit, das bisschen Stück Seele in mir, wendet sich eindeutig gegen solche Suizidabsichten. Mein Name ist Frank Hellinger. 27 Jahre jung, (…dynamisch, …) – ledig und auf der Suche – wenn wir schon dabei sind!

Ich möchte Ihnen ein wenig darüber berichten, wie das Leben manches Mal so spielt. Dass das, was kommt, meistens nicht planbar, geschweige denn vorhersehbar ist. `S´ küt´ wie´s kütt´, würden manche am Niederrhein sagen. Der Alte laberte immer nur `S´is´wie´s is´.

Mein Psychoklemptner Herr Poskara war der Meinung, ich solle endlich darüber schreiben (natürlich über den Aufgeknöpften – und nicht über das für mich dürftige Thema Damenwelt). An die Öffentlichkeit sollte ich gehen, in dem ich mich irgendwohin zurück ziehe, eine Ecke, ein Land, das mich – (hatte ich das schon erwähnt?) – vergessen lässt, oder besser gesagt: das die Erlebnisse auf ein überschaubares Niveau zurecht rückt. Natürlich unter Zuhilfenahme eines Tricks: bau dir Schubladen im Kopf in die du alles hineinsteckst. In die oberste, was du magst, was dir gefällt, darunter, was du täglich brauchst, zusätzlich noch ein paar Survivalstrategien für unvorhergesehene Fragen einfühlsamer Mitmenschen, den übrigen Müll unter den Tisch, Ablage P, die du nicht mehr öffnest, so einfach geht das. Herr Poskara war der Meinung, das seine Schubladen-Methode jedem helfen kann, auch dem armen Schlucker, der mir dieses Aufräum-Chaos und diese was-du-nicht-mehr-brauchst-steck-es-in-die-unterste-Schublade- und-schließ-ab-Tour einbrockte, einschließlich Schlüssel wegwerfen.

Ein wenig kreativer war er darin, mir einen passenden Reisevorschlag zu unterbreiten. Am besten Brainfood, Sightseeing mit Lernfaktor. Mit meinen Ideen konnte – oder wollte er nichts anfangen: Kanaren, Malle, Kreta, Dom Rep oder so. Zu laut, zu viel Rumsauferei, zu viel Müßiggang in den Tag hinein und Sonnenbrand bis zum Abwinken inklusive.

Wir diskutierten eine ganze Weile und das Ergebnis war eine richtige Bildungsreise für mich: mit festgelegten Abläufen, Continental Breakfast, jede Menge Besichtigungen und begrenzter Zeit-zur-freien-Verfügung. Die musste natürlich auch sein, um alles aufzuschreiben, doch wie gesagt: am besten nur vor dem Dinner, sagen wir mal ein- bis zwei Stunden am Tag.

„Das sollte reichen für ein paar Notizen“, waren Poskaras abschließende Worte, „machen sie sich nicht zu viele Gedanken“, ergänzte er, „gehen sie nicht allzu sehr in die Tiefe“. Das warum ließ er offen.

Und dann präsentierte er mir seine Entscheidung: Indien! Viva la Hossa oder Namasdé, wie er da drauf kam? Ich war schon immer der Meinung, dass ein Trip rüber zu den Franzosen Kulturschock – Verzeihung: Kulturtrip – genug ist, doch der schickt mich glatt über den kompletten nahen Osten. Das erste, das mir dazu einfiel: `Monsun´. Vom Regen in die Traufe, sozusagen. Wann war eigentlich Monsun in Indien?

„Und noch was: Sie zahlen, das blecht keine Kasse! Und mailen sie mir ab und zu. Schreiben sie über ihre Erlebnisse. Ich will wissen, wie es ihnen geht“.

Und so fand ich mich – wieder mit Corinnas tatkräftiger Hilfe (auch finanziell) und ihrer Einweisung darüber, wie der Koffer zu verwenden war – zwei Wochen später im Flieger der Air India auf dem Weg nach Neu Dehli – mitten in der Nacht und einer Zeitverschiebung von viereinhalb Stunden in petto (oder waren es etwa 5?).

Die Stewardessen servierten zwei Mahlzeiten: einmal Lamm, um den Hindus und Moslems nicht auf die Füße zu treten und einmal vegetarisch, den das essen alle - auch die Europäer, ausnahmsweise.

Bordunterhaltung auf Kanal 3: Richard Attenboroughs Monumentalschinken über Indiens größte Persönlichkeit: Gandhi. Als Anwalt in Südafrika (in jungen Jahren), als Freiheitskämpfer, der sich von den Briten freiwillig vermöbeln lässt, als anspruchsloser Diplomat, der die Freiheit Indiens erringt. Schon beeindruckend, wie Ben Kingsley (so heißt doch dieser Schauspieler?) die Überfigur Gandhi darstellt. Auf nackten Füßen, wie er durch die viktorianischen Gänge der britischen Imperialarchitektur schlendert. Anscheinend braucht der Mensch nicht viel, um glücklich zu sein.

Erfrischung gefällig? Die Stewardess lächelt viel zu freundlich, als dass ich ihr diese Bitte abschlagen kann: ein Tomatensaft vielleicht. Sie reicht ihn mir zusammen mit dem Prospekt `Zollfrei einkaufen´: Champagner, Parfuemes, Hochprozentiges. Ich lehne ab: „Vielleicht auf dem Rückflug, danke“.

Der Flug lief ansonsten glatt, keine Luftlöcher die versteckte Panik schüren, keine Nahtod-Erfahrungen mit anderen Fliegern - hey, da kannst du den anderen da drüben mal zuwinken - und keine grauen Starfighter, die uns auf beiden Seiten mit 20 Zentimeter Abstand zu den Flügeln begleiten und das rote `Bitte folgen`-Schild hinter sich her schleppen. In denen irgendein Mullah sitzt und nur darauf wartet, den roten Knopf zu drücken, weil wir (1) unerlaubt hoheitliches Sperrgebiet des Sultanats XY-Allemalache überfliegen und weil wir (2) nicht einsehen wollen, dass Monate langes eingesperrt sein bei Wasser und trocken Brot die bessere Wahl ist.

Delhi empfängt mich mitten in der Nacht mit 10 Grad Wärme und undurchdringlicher Dunkelheit, denn an Orientierung war auf der Fahrt zum Hotel `Taj Palace´ nicht zu denken. Schon beim Einsteigen in das Taxi vergesse ich eine der wesentlichen Tatsachen Indiens. Der Fahrer lädt mein Gepäck in den Kofferraum und steht dann mit den knorrigen Worten „I drive“ vor mir. Klar: in Ländern mit Linksverkehr sitzt der Fahrer rechts. Ich wollte – ganz deutsches Gewohnheitstier – auf der falschen Seite einsteigen.

Das Hotelzimmer im `Taj Palace´ macht auf den ersten Blick einen guten Eindruck: wie es halt so ist, wenn die Inselaffen ihre Zelte in fremden Ländern aufgestellt haben. Tausendfach die Steppdecken über der Matratze und noch eine Decke und noch eine – da wird jeder Furz auf Ewigkeit versiegelt, das können sie mir glauben!

Hatte ich erwähnt, dass sie uns am Flughafen mit Tagetes empfangen haben? Mit Blumenketten a la´ Hawaii, die meine Mutter immer Studentenblumen nannte. Fast hätte ich den Duft der Blumen mit dem unter den Steppdecken verglichen ... die Kette wanderte schließlich in den Mülleimer des Hotelzimmers, noch bevor ich den Koffer ausgepackt hatte.

Wohin hatte ich den Wecker verstaut? Heute Morgen, Ortszeit 9.00 Uhr sollen wir geweckt werden und jetzt ist es – 4.30? – 5.30? Zuhause also ungefähr Mitternacht. Bedeutet: hier aufstehen, dann schlummert Herr Poskara immer noch unter seiner Decke (mit was weiß ich wie vielen Düften), verdammt früh ist das! Frühstück gibt’s um 10, halb Elf erstes Meeting mit der Reisegruppe.

Entsprechend kurz war die Nachtruhe, ohne dass ich mich unter hundert Steppdecken verkrochen habe – sondern nur unter einer. Ich kann nicht mehr sagen, ob in meinem Traum weiße Nebel aufgezogen sind, aus denen sich sein friedliches Gesicht herausschälte.

Um halb Neun bin ich wieder aus dem Bett gestiegen, schob den Vorhang auf und war geblendet von einer vollen Ladung Sonnenstrahlen, die mich wie ein Knüppelschlag umhauten: hey, endlich schiebt mal einer diesen muffigen Bettvorleger beiseite, der jede Art von Feuchtigkeit bis in die Ewigkeit speichert! Ein Paradies für Krankheitserreger und Schimmelsporen jeglicher Art, in Deutschland hätten sie solche schweren Vorhänge längst abgehängt und öffentlich verbrannt. Oder sie hängen im Adlon und gehen als `luxuriöse Zimmerausstattung´ durch.

Die Dusche sorgte jedenfalls dafür, das sich trotz Jetlag einige Lebensgeister in mir regten, die man im allgemeinen `Hunger´ nennt. Bezogen auf Deutschland und die Zeitverschiebung kann ich mich nicht erinnern, jemals so früh gefrühstückt zu haben.

Im `Taj Palace´ - Hotel nahm man das Frühstück in der Kaffeebar zu sich. Buffet, der Einfachheit halber: Eier, Würstchen, Toasts, Wurst. Die Herren hinter dem Buffet sehnten bereits ihren Feierabend herbei und ihre freundlichen Minen trugen nicht dazu bei, dass das Essen in den Cavendishs auch nur einen Deut wärmer wurde. Kaltes Rührei, schon mal gegessen? Sehen sie! Vielleicht hätte auch Hand auflegen genügt – bei diesen Naturreligionen weiß man ja nie.

Schließlich war dann doch noch einer vom Personal bereit, meine Bestellung aufzunehmen: `Poached Egg´, doch gebracht hat er es nicht mehr und seine Kollegen lächelten nach wie vor hinter dem Buffet still vor sich hin.

Die ‚Informations‘ unserer Reiseleiterin bestanden in der Hauptsache darin, aus dem Reiseführer vorzulesen. Außer Souvenirs einkaufen: Kaschmirwolle und Pullover hier in Delhi, Einlegearbeiten in Agra, Edelsteine in Jaipur. Was gab es in Udaipur und Aurangabad? Verges… - James Bond war in Udaipur – wie hieß noch gleich der Thriller? Octo… – Octopussy, genau – und in Aurangabad – das habe ich wirklich vergessen. Und das alles beim Begrüßungstrunk, serviert vom Kellner, der mir meine `Poached Eggs´ vorenthalten hatte: `Fruit-Punch´, ungefähr wie Früchtezauber aller Art mit einer leichten Greapfruit-Note, zur Belebung von Geist und Sinne. Oder um den restlichen Jetlag aus den Nervenenden zu treiben. Und natürlich sollte sich jeder vorstellen: Hallo, ich bin der, komme aus, von Beruf bin ich, nach Indien reise ich, weil, und so weiter. Also: Reiseleiterin Elisabeth Backenroth, wir dürfen sie Elli nennen: „…habe in Mannheim Soziologie und Geschichte studiert ... ich mache das schon seit Jahren! ...weil Indien ein Land wie kein anderes auf der Welt ist!“ Bis jeder durch war, hatte ich die ersten wer´s und wo´s und warum´s schon wieder im Speicher `freier Durchgang´ (entspricht Ablage `P´) abgeheftet. Wie immer musste ich im Bus nachfragen, wer da gerade neben mir sitzt.

Bis es nun weiterging, sprich, erster Teil der Stadtrundfahrt, hatte ich am Pool ein Bier gezischt Marke `King Fisher´. Extra große Portion mit 650 Milliliter in der Flasche, aber nur wenig Alk intus, soweit, so gut. Gibt es in Delhis Innenstadt eigentlich öffentliche Toiletten? Muslime verrichten in Indiens Hauptstadt ihre Notdurft in den Moscheen, wann immer sie eine Moschee betreten, um zu beten – mindestens fünf Mal am Tag, immer Richtung Osten. Ungläubige wie wir sind da echt aufgeschmissen. Auf alle Fälle war es kein Fehler, dieses Bier in der Schublade gefällt-mir-brauch-ich-noch-mehr-davon abzulegen!

Am frühen Nachmittag ging es auf Tour: Stadtrundfahrt Delhi, Teil 1 – Freitagsmoschee, Rotes Fort und Alt-Delhi. In welcher Schublade hatte ich Neugier verstaut? Klar, ganz oben!

Mit den Rückständen vom `King Fisher´ in Kopf und Magen fällt es doch nicht so schwer, sich an indische, teils recht unterirdische Straßenverhältnisse zu gewöhnen. Linksverkehr (hatte ich das schon erwähnt?), ausschließlich Kreisverkehr im Uhrzeigersinn, waghalsige Motorradfahrer, natürlich ohne Helm, die wie Hollywoods bester Stuntman Evil-Knievel-like über den ramponierten Asphalt fliegen und dabei keine Scheu vor Bussen und LKWs zeigen. Was, du bist stärker? Ätsch, ich bin schneller, da guckst du nur! Dazwischen langsame Tuk-Tuks, ausschließlich privat genutzt, Busse, aus denen die Fahrgäste zu jedem offenen oder zersprungenen Fenster herausquellen, Fahrräder, Fußgänger, Rikschas, Ochsenkarren und das alles auf einer – auf EINER Spur. Sowas ist ganz bestimmt nichts für schwache Nerven und man tut Gut daran, im Rundreisebus nicht in der ersten Reihe zu sitzen, damit man nicht so viel vom Chaos mitbekommt. Allerdings hatte sich unsere Reisegruppe beim Meeting am Morgen darauf geeinigt, den Platz in der ersten Reihe immer wieder zu tauschen, das heißt, zwei mal am Tag – nach dem Frühstück und nach dem Mittagessen – rückte die `hintere Sitzbank´ auf der rechten Seite des Busses eine Bank nach vorne, während die, die auf der linken Seite sitzen, eine Bank nach hinten rücken. Kreisverkehr im Bus, sozusagen.

Vielleicht gibt es ja irgendeinen Hindugott für Straßen und Verkehr, der unsichtbar und mit aller Gnade die todbringenden Verkehrströme zu ihrem Besten lenkt. Schließlich hat ja keiner dem anderen was getan. Sie wollen nur mit durch den Verkehr, von A nach B, mit göttlicher Hilfe, wenn es nicht anders geht. Man weiß ja nie, bei diesen Naturreligionen!

Übrigens: Für die busfahrenden Analphabeten hat man die Fahrzeuge mit verschiedenen Farben angemalt, damit die Jungs erkennen können, in welchen Distrikt der Bus fährt. Lilablassblau fährt nach Neu-Delhi, der schwarze fährt zum Parlamentsviertel. Wie eine Schublade, such dir das passende aus und schon funktionierts!

So. Zum ersten Anlaufpunkt: die Jama-Mashid-Moschee, oder auch Freitagsmoschee genannt, mitten im Getümmel des Kiwari-Bazar und des Lajpat-Rai-Market. Das Gebäude ist die größte Moschee Indiens, erzählt Elli, im 17. Jahrhundert von Mogul Aurangzeb erbaut. Es führen drei Treppenaufgänge zur Moschee und deren Innenhof hinauf.

Mit der Architektur ist es wie bei christlichen Kirchen, die alle denselben Grundriss vorweisen (Hauptschiff, Seitenschiffe, Joche, Querschiff, Ost-West-Ausrichtung). Alle Moscheen von Casablanca in Marokko bis Jayapura auf Papua-Neuguinea basieren ebenfalls auf der gleichen Grundrissidee: der Brunnen in der Mitte, drum herum das Becken für die rituellen Waschungen und direkt gegenüber die Gebetshalle, ein rechteckiger Bau mit breitem Spitzbogentor und einer zwiebelähnlichen Kuppel. Links und rechst davon türmen sich die 46 Meter hohen Minarette auf.

„Von den Arkadenzeilen um den Innenhof herum hat man einen schönen Blick auf die Altstadt und das Rote Fort, dass sich etwa einen Kilometer von hier entfernt befindet“, Tipp von Elli. Und schon ging es im klimatisierten Reisebus zum Roten Fort. Wie eine Buchhalterin seziert sie mit dem Rücken zur Windschutzscheibe gerichtet die Fakten: Delhi, Hauptstadt und Megastadt mit über 16 Millionenen Einwohnern, eher trockenes Klima, außer im Monsun von Juli bis September, da können schon mal über 200 Millimeter Nass auf den Meter runterkommen (Die Sintflut war nix dagegen und jetzt weiß ich, dass wir während der Rundreise diesen Monsun nicht fürchten müssen). Sprachen: Hindi, Urdu, Panjabi und natürlich Englisch. Weiß ich das heute Abend noch? Lässt sich wohl nicht vermeiden, dass sowas in der Ablage P landet!

Einen Großteil des Roten Forts haben die Engländer in ihrem Blutrausch bereits zerstört. Doch Gott sei Dank nicht alles: die Diwan i Am, die öffentliche Audienzhalle, die sich uns erschließt, nachdem wir den davor liegenden Garten durchschritten hatten. In seiner Architektur schon fast `Barock´, mit symmetrischer Anordnung der Pflanzen. Hinter der Halle, weiter zum Fluss Yamuna-River befindet sich die Moti-Moschee, auch `Perlenmoschee´ genannt. Mit drei zwiebelförmigen Kuppeln, von denen die mittlere die anderen beiden überragt - eine typische Bauform von Mogul Aurangzeb. Lotusblüten und lanzengleiche Metallspitzen schließen die Kuppeln ab.

Meiner bescheidenen Meinung nach das schönste Gebäude der Anlage: die `Diwan-i Khas´, die private Audienzhalle des Kaisers. Über dem Thron findet sich folgende Inschrift: „Wenn es ein Paradies auf Erden gibt, so ist es hier!“ Den Thron haben allerdings die Perser irgendwann einmal mitgehen lassen. Elli weiß es genau: Pfauenthron, entwendet von Nadir Schah. Seit er das letzte Mal darauf gefurzt hatte, gilt der Thron als verschollen.

Vor den Mauern des Forts treibt sich so allerhand Gesindel herum und jeder will den Touristen das Geld aus der Tasche locken. Da wird alles Mögliche verkauft und angepriesen, was das Zeug hält. Vom Autoreifen über Werkzeuge, Souvenirs, Gemüse bis zu lebenden Enten und Hühnern. Und ganz dem Klischee folgend gab es Schlangenbeschwörer, die mit Korb und Flöte ihren Hokuspokus veranstalteten. Hüpf´ raus, du elendige Schlange, lass dich betören von den sanften Klängen meiner einlullenden Flöte – obwohl so eine Schlange ja bekanntlich taub ist!

Ein anderer legte sich unter eine staubige, verschmutzte Decke, streckte seinen Kopf auf einer Seite heraus und schwebte auf einmal eineinhalb Meter über dem Boden. Hier hat sich wohl David Copperfield den Trick mit dem Orient-Express abgeguckt! Ob der mich beeindrucken konnte? Keine Ahnung, das kann ich nicht so spontan sagen. Eigentlich nur ein kleiner Rattenfänger auf Raubzug, wenn man es genau nimmt.

Oder nicht? Er schlägt sich durch?

Vielleicht ja, aber: Elli sprach am Morgen davon, dass man den Menschen in die Gesichter schauen soll. Haben sie dicke Backen, geht es ihnen gut. Der Kerl hatte dicke Backen.

Und überhaupt, die Lautstärke auf dem Platz: jeder übertönt den anderen, da knattern sämtliche Zweitakter auf zwei und mehr Rädern im Chor. Es hallt von den dicken Mauern des Forts zurück, die Schallwellen greifen mein Trommelfell von allen Seiten an.

Und die Schlangen folgen den Tönen auf ihrem Weg nach oben – eigentlich nur eine Drohgebärde der Tiere, eine Reaktion auf den Trubel drum herum: von allen Seiten lauern die Feinde, um auf den einen Moment zu warten… und wenn es nur der Touri aus unserem Bus, Reihe ganz hinten links ist, der irgendwelche Klimpermünzen dem Turbanträger zu der Schlange in den Korb wirft.

Der Trubel weckt Neugier, nur der Lärm… Weiterer Besichtigungspunkt am Nachmittag: die Verbrennungsstätten von Mahatma Gandhi, Nehru, Indira Gandhi und ihrer beiden Söhne Rajiv und…? Die Hindus verbrennen ja traditionell ihre Toten. Wer es sich leisten kann, lässt Sandelholz knistern, damit es während der Zeremonie nicht nach verbranntem Fleisch stinkt.

Die landestypischen Tänze lernte unsere Reisegruppe am Abend kennen (...und lieben – das steht allerdings auf einem anderen Blatt). Ort: `Pursi Anjuman Hall´. Und es geht mit Zungenbrechern weiter: Manpuri, Bharatnatyam, Kathok, Bhawai, Kathakali: Schwamm drüber, das gilt auch für die Vorstellung! So schwer wie die Namen der Tänze auszusprechen waren, so sehr konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein normaler Mensch diese Tanzbewegungen mit Freude ausführen kann, ohne hinterher am Stock zu gehen!

Abendessen im `Taj Palace´ und noch ein Zungenbrecher: `Hyderabadi Birya´, hört sich an wie ein Duftöl aus den Dschungelwäldern Südindiens. Lammfleisch, viel Reis und Rohkostsalat, dazu ein undefinierbares Sößchen, lecker! Lecker? Natürlich war das gut, aber meine Kenntnisse über exotische Gewürze, die ich mit Indien in Verbindung bringe, fangen bei Curry an und hören bei Curry auf.

Später auf meinem Zimmer: die dicken Steppdecken auf meinem Bett habe ich komplett zurückgezogen, nur noch ein dünnes Tuch aus weißen Leinen zum überziehen, das sollte für die Nacht genügen. Licht aus, und doch dreht sich alles im Kopf. Bilder, Jetlag, weiße Nebelschwaden, die alles bis zur nächsten Erscheinung verhüllen. Vielleicht ist es doch nur die Zeitverschiebung – viereinhalb – fünfeinhalb Stunden – ich kann es immer noch nicht genau sagen, werde mich morgen früh bei Elli erkundigen. Lotusblüten, Blätterranken, in wild verschlungenen Formen greifen sie ineinander, undurchdringliches Dickicht aus Ästen und Bambus(?)wäldern, und schon wieder die Dunstschwaden, die jeden Schweißtropfen auf die Stirn holen, Blumenbänder aus Stuck in der `Diwan-i Khas´ mäandern vor meinen Augen bis unter die Decke, wachsen mit atemberaubender Geschwindigkeit in alle Richtungen gleichzeitig, während im rhythmischen Schwingen zu sonderbarer Musik ein Ast zu leben beginnt – doch der Ast wächst nicht von oben, sondern von unten – Schlangen, die gierig nach den tiefroten Früchten schnappen, die zwischen dem undurchdringlichen Blätterwerk wie Sterne hervorleuchten, jetzt höre ich den Muezzin rufen, durch die dunkle Nacht, wie er seine Brüder zum ersten Gebet des Tages ruft, ich kann nur nicht erkennen, von wo er ruft – mittlerweile ist die ganze Decke zugewuchert, Horden von lebendigem, die zwischen den Ästen hin und her kriechen, verschwimmen vor den geschlossenen Augen. Ein glänzender, grüner Leib kriecht von oben herab, kerzengerade, die Augen auf mich gerichtet. Ein Leib, eine Schlange, kerzengerade, unnatürlich, wie ein – wie ein – wie ein Seil. Das Seil. Das ihm die Kehle zudrückte, friedlich, wie er es haben wollte. Wirklich? Keine verzerrte Grimasse. Genau das ist es. Seine entspannte Miene. Gelassenheit, egal was kommt - und dann – dann – dann – dann wache ich auf.

Schweißnass am Körper zitternd, geht es durch den eigenen Kopf: WAS war das?

Genau: was war das, denn schon kann ich mich nicht mehr an das Geträumte erinnern, suche nach Details, nach den Haltepunkten, die dem Traum eine Struktur gaben, doch je mehr ich suche, um so schneller sind die Bilder verschwunden. Die Gedanken explodieren und sie schießen wie eine Polizeistreife mit Blaulicht im Kopf hin und her, die von einem Ende der Stadt zum anderen Ende hastet, aber die Bösewichte sind schon längst untergetaucht. Spurlos verschwunden, keine Chance, sie zu finden, solange sie nicht selber den Weg aus dem Versteck suchen. Es dauert eine ganze Weile, bis man realisiert, dass man seine Träume nicht mehr findet. Die Knochen fühlen sich an wie Blei, man bleibt reglos liegen und weiß nur noch, das man nichts mehr weiß: nur noch Fetzen, einzelne Bilder, die es bis nach oben zur Erinnerung schaffen, nur einen kurzen Augenblick, hallo Polente, hier bin ich, der Böse, Bilder, die jeden glücklich machen oder Bilder, bei denen es jeden eiskalt erschaudern lässt. Dazwischen gibt es nichts. Keine Banalität, kein Alltag, kein vor-sich-hin-dämmern, keine heile-Welt-Romantik. Und wenn man dann noch gegen die bleischweren Knochen ankämpft, aufsteht, in das Bad geht, vor dem Zahnputzbecher steht, dann sind alle Bilder weg.

Das einzige, das vom Traum übrig bleibt, ist der Schweiß. Obwohl ich nur eine dünne Decke übrig gelassen habe. Irgendwie schaffe ich es trotzdem ins Bad. Draußen ist es noch dunkel und der Muezzin ruft seine Glaubensbrüder zum ersten Gebet des Tages.

(2) Crime Village

Unsere Bürgermeisterin Birgit Felleisen hat diesen Ort mit dem eher kantigen Namen `Hügelfeld´ treffend charakterisiert. Erst auf dem letzten Neujahrsempfang im Gemeindezentrum war sie sich nicht zu schade, folgenden Satz loszulassen: „In diesem Ort gibt es nur Häuptlinge“.

Ich bin mir nicht sicher, ob sie solche Statements ernst meint, den schließlich muss sie sich alle paar Jahre von den vielen männlichen und weiblichen Häuptlingen neu wählen lassen, wenn sie weiterhin die erste weibliche Bürgermeisterin von Hügelfeld bleiben will (gibt es einen treffenden Begriff für einen weiblichen Häuptling? Aus meiner Kinderzeit weiß ich natürlich, dass ein Häuptling stets als Mann daherkam).

Und natürlich hat sie recht, das ein gewisses Klientel mit etwas Geld im Rücken gerne zu uns zieht. Da wäre zum Einen der allgegenwärtige Chemieriese RMCF (Rheinische Medizin & Chemie Fabrik) zu nennen, der mit dem Bau der `Alten Siedlung´ vor über hundert Jahren den Ort aus seinem Dornröschenschlaf gehoben hat. Ein Neubaugebiet nach dem anderen kam hinzu, die ehrwürdige Gerberei mit ihren markanten Schornsteinen an der Rheinischen Straße musste neuen Flachdachbungalows weichen und die neueste Baulanderschließung nennt sich einfach nur `Ost´.

Mindestends genauso viele Neuzugänge im Ort arbeiten beim zweiten großen Arbeitgeber der Region. Mit richtig cleverem Logo, wie ich finde, bezeichnet es doch nur, was man erwarten kann: Produkte, Elektronik, Anwendungen. Was letztendlich dahinter steckt, kann nach allen Richtungen gefächert sein. Und das Beste daran ist, dass das im englischen genauso gut funktioniert: Products, Electronics, Applications. Da muss man erst einmal drauf kommen!

Wir haben ein schickes Gemeindezentrum, erbaut im letzten Jahrhundert von einem Baulöwen, den es danach bis in die Hauptstadt und dann in die Pleite gezogen hat.

Neben der Gemeindeverwaltung und vielen privaten Eigentümern gibt es ein Ärztehaus mit Internisten, Orthopäden und Chirurgen, außerdem genug andere Ärzte, verteilt über den ganzen Ort. Wir haben sogar einen Tierarzt und einen Facharzt für Anästhesie – glaube ich zumindest.

Wir haben ein Denkmalgeschütztes Kino aus den 30´ern, in dem immer noch Filme laufen. Selbst das Sitzmöbel in der Vorhalle ist noch original.

Wir haben ein Schloss, das alle liebevoll `Schlösschen´ nennen, erbaut von einer Gräfin Habenstein, mit einem großen Park dahinter und ein Turm, ein sogenanntes Himmeltürmchen, dessen hohle Ruine vor zwanzig Jahren komplett renoviert und wieder hergestellt wurde (sogar neue Geschosse hat man eingezogen). Im historischen Observatorium auf dem Dächlein des Turms steht sogar wieder ein Teleskop, mit dem man wie einst die Gräfin nach den Sternen greifen kann.

Wir haben eine grüne Gemeinde, und das meine ich nicht als politisches Statement! Überall stehen die Bäume, ob in der Neckarstraße, der Mainstraße, der Schlagader Hauptstraße oder der Rheinstraße. Im Sommer ist es angenehm, bei Gluthitze auf besagter Hauptstraße zwischen den grünen, schattenspendenden Bäumen seine Geschäfte zu erledigen. Obwohl vor den Banken, die wohl neben den Bäckereien am meisten frequentiert werden, keine Bäume stehen. Selbst drüben in `Ost´ hat man Bäume gepflanzt, die derzeit zwar noch ein wenig mickrig wirken, aber die Zeit wird es schon richten, dass daraus große, ebenfalls schattenspendende Gewächse werden.

Wir haben zwei Schulen: eine Grundschule und das weiterführende Ensemble Namens Rheinauen-Hügelfeld-Schule, in dem die Ortsjugend ihren Sekundarabschluss II erreichen kann, bevor sie für höhere Aufgaben in die weite Welt ziehen muss.

Ich bin in den 70´ern auf die Grundschule gegangen und heute beherbergt das Gebäude die Bibliothek, auch französisch angehaucht `Mediathek´ genannt. An meinem früheren Sitzplatz findet man heute Fachliteratur über Biologie, Chemie und Physik.

Ich gehöre zu denen, die beim alten Kirch die Schulbank gedrückt hatten. Immer wieder fiel der Mann durch seine ungewöhnlichen Methoden auf, Kindern den Lehrstoff näher zu bringen. Besonders einprägsam: `Der Körperbau des Menschen´. Zunächst entrollte er eine große Tafel an der Wand, die das komplette Innere zeigte: der männliche Vertreter präsentierte im Schnitt seine Bizeps, Rippenmuskeln, Fingersehnen, Schenkelmuskeln, Beugemuskeln, Kniebänder und Kreuzbänder (außerdem hatte dieser athletische Musterkörper einen Fußball in der Hand). Beim weiblichen Plakat ging es ans Eingemachte: Nasenhöhlen, Kieferhöhlen, Arterien oder Schlagadern, Venen oder Blutadern, Lungenflügel und Bläschen, Herzkammern, Zwerchfell, Leber, Gallengänge, Nieren, Dickdarm oder absteigender Ast: „wer besonders auf die Kacke haut, dem rumort es danach heftig im absteigenden Ast“. Solche Sprachbilder fanden bei den Eltern keinen Zuspruch, doch Kirch scherte sich einen Dreck darum. Dünndarm, Mastdarm, Blinddarm, Darmbein, Wurmfortsatz - dieses kleine, unnütze Stück Fliegenschiss, das so höllisch Schmerzen machen konnte – Harnleiter und die Blase, in der sämtliche Flüssigkeiten landeten (auch alkfreies Bier, wenn es nicht anders ging – das es aber zu Kirchs Zeiten noch nicht gab). Doch der alte Kirch beließ es nicht nur bei bunten Bildern. Tags darauf zauberte er aus einer bunten Plastiktüte ein totes Ferkel, das ihm Bernadeta mitgebracht hatte – sie wuchs auf einem der wenigen Bauernhöfe in Hügelfeld – genauer gesagt, dem Hückenhof – auf.

Sie war es gewöhnt: „da wird jeden Tag irgendein Ferkel todgedrückt“. Nachdem die Klasse sich um Kirchs Pulttisch versammelte, zückte er sein Schweizer Taschenmesser und begann, das Ferkel vom Kinn ab über den kompletten Oberkörper hinab bis zum Hinterlauf aufzuschneiden. Die Kinder beäugten neugierig die glibrigen, schleimigen Inhalte, die nach allen Richtungen aus dem Leib des Tieres hervorquollen. Es war absolut still im Klassenraum, alle waren fasziniert - oder geschockt, so genau hatte ich das nicht im Überblick – während der alte Kirch damit anfing, die einzelnen Organe auf der Zeitungsunterlage zu verteilen. Was sollte das sein? Arterien, Galle, Nieren, Dickdarm? Dieses lange Dings da? Der Lehrer nahm alles einzeln in die Hand und fand ein paar Worte dazu, während die Augen meiner Klassenkameraden nicht mehr größer werden konnten (meine auch, da will ich nicht drum herum reden). „Wenn das alles in mir drin ist, warum tut es dann nicht weh?“, war die Frage aller Fragen, an die ich mich erinnern kann. Und ich weiß noch genau die Antwort des alten Kirch: „Weil sich alles von selbst da drinnen abspielt. Das Bewusstsein kümmert sich keinen Deutz um das, was im Darm oder in der Leber passiert. Das macht alles das Stammhirn, ungefähr hier“. Er deutete mit den vom Ferkelblut befleckten Fingern in sein Genick. War das Hirn denn nicht irgendwo im Kopf? Aber Kirch war der Lehrer und er musste es ja wissen!

„Das Gehirn steuert eure Sinne. Riechen, hören, sehen, fühlen, Schmerzen, das kommt alles aus euren Gedanken. Und hier unten“, er deutete weiterhin mit seinem Finger auf das Genick, „sitzt das Stammhirn, das alles in eurem Körper steuert, das nicht vom Bewusstsein gesteuert wird: Herzschlag, Atmung, Verdauung, Leber, Nierenfunktionen und noch vieles mehr“. Der alte Kirch schob seinen rechten Zeigefinger an seine Schläfe. „Das hier müsst ihr im Griff haben, Kinder. Das da oben steuert alles: wenn ihr was nicht sehen wollt, wenn etwas eklig ist - zum Beispiel dieses tote Ferkel - verdrängt es dieses Bild. Wenn euch etwas gefällt, erinnert es euch immer wieder daran. Von hier oben geht alles aus“. Ich habe den Satz des alten Kirch nie vergessen, wie eine Religion hatte er ihn immer wieder hervorgeholt, um das Leben zu verstehen. Seines und das der anderen, es war so einfach, alles darauf zurück zu führen. Und es half, innezuhalten, um zu vernünftigen Entscheidungen zu kommen. `Es kommt alles aus euren Gedanken´ - `aus euren Gedanken´. Und die kannst du steuern. Auf eine rationale Basis runterholen.

Wirklich? Manchmal bin ich mir da nicht so sicher, aber es zeigt sich doch immer wieder, das nicht deutsche Grammatik oder euklidische Geometrie die Dinge aus der Schulzeit sind, die hängen bleiben, sondern – Weisheiten.

In Hügelfeld haben wir einen Fußballverein, der in den 80´ern im DFB-Pokal gegen den damaligen Zweitligisten FC-Homburg spielen durfte. Das Spiel ging 0:2 verloren und ist bis heute der größte Erfolg in der Vereinsgeschichte.

Ich habe es gerade mal 200 Meter bis zum Gemeindezentrum und Donnerstag ist Markt auf dem Gemeindeplatz, direkt vor dem Zentrum. Meistens stehe ich nur am Fischstand an: Seelachs oder Lachsfilet. Manchmal auch Lachssteaks für den Grill.

Wir haben eine saubere Gemeinde. Nirgendwo wuchert der Unrat zum Himmel und nach hurrikanartigen Unwettern sprudeln nirgendwo die Wassermassen aus den Gullys heraus. Selbst in der Kläranlage laufen die Becken fast nie über, sie stinken nicht und die Pumpwerke glänzen mit frisch gestrichenen Fassaden.

Und wie gesagt, in Hügelfeld wurde schon immer gebaut und zugezogen. Mit jedem Schritt wurden die Häuser größer, bis in die 90´er des letzten Jahrhunderts, mit großen Gärten hintendran, die bis zum Bruch reichen.

Hügelfeld ist eine junge Gemeinde, aber einer Sache funktioniert genauso gut wie in allen anderen, alt eingesessenen Orten in der Nachbarschaft: der Flurfunk! Neuigkeiten, Gerüchte und Bosheiten verteilen sich über die offiziellen Stellen, Kneipen, Restaurants, Vereinstreffen oder Kassenschlangen im Supermarkt nur unwesentlich langsamer als das digitale Signal einer fiktiven Homepage `HawaiiDOTcom´, deren Server natürlich in Honolulu steht. In zwei Sekunden um die Welt, so ungefähr kann man sich das vorstellen.

Und die Gemeinde tratscht immer wieder über die Bürgermeisterin. Birgit Felleisen, mittlerweile in ihrer zweiten Wahlperiode – von den männlichen UND den weiblichen Häuptlingen direkt gewählt – angekommen. Birgit, die Unverheiratete, und doch liegen ihr die Männer zu Füßen. Sagt Mann. Oder Frau. Oder alle beide, was sonst? Ihre Affären – ich weiß wirklich nicht, wie viele Funken Wahrheit da dran sind – füllen ganze Abende an den Stammtischen. Wirre Diskussionen darüber, ob es ihrer Arbeit zuträglich ist. Und ob es alle Lover den so ernst meinen mit der Liebe. Ob sie korrupt ist? Gefälligkeit gegen Gefälligkeit?

Und ist das dann schon kriminell?

Verstehen sie mich nicht falsch: es geht uns gut in dieser Gemeinde. Die meisten Bewohner Hügelfelds verfügen über ein jährliches Einkommen, das weit über dem bundesdeutschen Durchschnitt von ungefähr 32.000 Euro liegt. An diesem Ort ist keiner auf Almosen oder Banküberfälle angewiesen, um zu überleben.

Wir leben in einer sicheren Gemeinde. Kriminalität spürt man eigentlich nicht, weil es defakto keine gibt – geben sollte.

Sollte man meinen.

(3) 10. September: Neu-Delhi

An richtigen Schlaf war in der letzten Nacht nicht zu denken. Ist ja auch kein Wunder, wenn grüne Giftschlangen durch die Träume und Gehirnwindungen geistern und immer noch wirkender Jet-Lag sich ein Stelldichein gibt!

Eine weitere Dusche sorgte am frühen Morgen für klaren Blick, während es draußen dämmerte. Und jetzt blieb noch über eine Stunde, bis das Frühstücksbuffet öffnete. Aber an Schreiben für Herrn Poskara war nicht zu denken. Offenes Notizbuch, doch die Seiten blieben leer. Sobald ich über Sätze nachdachte, herrschte Ebbe in meinem Ideenzentrum. Was waren das für Bilder in der Nacht? Darüber nachdenken? Schreiben, um zu verarbeiten? Vielleicht, nur in diesem Moment noch nicht – und schon wieder über eine Stunde Zeit verplempert. In meinem Magen grummelte es: Hunger, nachdem mein Verdauungstrakt festgestellt hatte, dass ich wach bin.

Der Kaffee am Buffet sieht nicht gerade aus, wie er schmeckt. Das Aroma reicht gerade mal so zum halbwegs wach werden. Außerdem darf man sich nicht daran stören, wenn die Milch ausflockt und geronnene Hautfetzen auf dem Kaffee herumschwimmen. Ich würde sagen: zu viel Säure im Kaffee.

Das Frühstücks-Buffet war im Allgemeinen etwas heißer als gestern, aber das ist kein Wunder, wenn man wie ich schon vor 8.00 Uhr zum Frühstück geht und alles gerade frisch aufgetischt wird. Meine Bestellung am Buffet: `Scrambled Egg´ plus `Mushrooms and Ham´ und ich blieb auch gleich in der Nähe des Kochs, damit er mir auch ja den Frühstückswunsch auf seinem Gasherd brutzelt.

Doch anscheinend sind Indiens Hühner bei weitem nicht so glücklich wie Deutsche Hühner (oder sollte ich besser `Europäische Hühner´ sagen?), denn der Dotter war farblich alles andere als – als gelb. Eher ein zartes, nein, nur ein Hauch von etwas Zitronengelb. Kiloweise Salz und eine ordentliche Portion Speck machten den faden Geschmack wieder wett, während mein Magen immer noch grummelte.

Bevor es weiterging: ein kurzer, prüfender Blick auf den silbernen Koffer. Im großen Koffer, versteht sich, zwischen den Klamotten, die man aufgrund des kurzen Aufenthalts in Dehli nicht auspackt. Alles säuberlich geordnet und zusammengelegt. Corinna wäre zufrieden mit mir, alles da, nichts fehlt.

Auf dem Rundreiseprogramm stand Delhi Stadtrundfahrt Teil 2. Erster Anlaufpunkt: die Regierungsgebäude in der Nähe der Rai Path, Prachtstraße Delhis, die sich vom Sekretariat bis zum India-Gate zieht und ungefähr 3 Kilometer misst. Jedes Jahr am 26. Januar findet hier eine große Militärparade anlässlich des Unabhängigkeitstages statt. Wir hielten in der Nähe des Rashtrapati Bhavan (-Platz) an, um das Sekretariat ein wenig unter die Lupe zu nehmen. An diesem besagten Platz beginnt die Adrenalin-strotzende Militärparade, doch am Ende des Sommers fehlen die stählernen Ungetüme, die geputzt, gescheuert und poliert werden, dass es blinkt und blitzt, als ob allein der Glanz der Stahlflächen tödliche Strahlen aussendet. Selbst die Reifen glänzen bis nach Buxtehude, weil man sie zentnerschwer eingewachst hat. Heute bleibt es ruhig. Nicht mal ein Taxi, das vorfährt.

Und Elli hielt ihr nächstes Referat: Neu-Delhi, eine von den Briten Edward Lutyien und Herbert Baker am Reisbrett geplante Stadt. Sie ersannen ein großartiges System von Prachtstraßen, die sternförmig aufeinander zulaufen, ungefähr wie das `Hausmannsche´ Paris. Auch zeichnen sich die beiden Herren für die wichtigsten Regierungsgebäude verantwortlich, als da zum Beispiel wären: der bereits erwähnte (…hatte ich schon?) Rashtrapati Bhavan, Wohnsitz des Indischen Präsidenten, oder links und rechts davon das ebenfalls bereits erwähnte Sekretariat, die Büroräume der hohen Herrn.

Alle drei Bauten vereinen die klassischen, westlichen Stilelemente der Jahrhundertwende mit den verspielten, feingliedrigen Bauelementen der Mogul-Architektur. So stehen Säulenarkaden und großzügige Treppenaufgänge im Kontrast mit `Jali´-Gitterarbeiten in den Fenstern oder mit den orientalischen Verzierungen der `Chatris´ - Kuppeln. Elegant kommt der rhabarberfarbene Sandstein daher, der zur Verkleidung der Fassaden verwendet worden ist.

Unser Bus fuhr nun auf der Dr. Z. Hussain-Road am India-Gate vorbei. Weiterer Verlauf der Fahrt über die Mathura Road und dort befindet sich das Grab des Humayun. Feststellung: ich komme immer besser mit diesen Zungenknüpplern zurecht. Da das Grabmal als Vorbild für das Taj Mahal in Agra stand, sind Gemeinsamkeiten nicht gerade zufälliger Natur: Achteckige Grundfläche, hoch aufragende, nischenförmige Gewölbe, Doppelkuppel, vier Eingänge und um einen Kanal herum symmetrisch angelegte Gärten. Unterschied: der Bau wurde mit Sandstein hochgezogen.

Den indischen Rasenmäher haben wir bei der Gelegenheit ebenfalls kennengelernt: ein Mähbalken wie in Deutschland (…sollte ich Europa… das hatten wir schon, oder?), aber ohne Motor, einschließlich Bedienpersonal mal zwei für den Ochsen, der das alles durch den morastigen Rasen ziehen muss. Einer der Männer führt den Ochsen, der andere drückt die Mähvorrichtung auf den Boden. Und für jedes Foto wollten die beiden Herren Geld (klar, der Ochse frisst einem die Haare vom Kopf). Und Geld hatte ich genug dabei (zumindest im Koffer). Zum Schluss war ich 30 Rupien los.

Wieder in den Bus hinein: über die Rai Path südlich des Monuments, der Lala Laipat, der Tito Marg, der Lal Bahadur Shastri Marg, dann rechts, wie hieß diese Straße noch mal? – Pres...-Marg, schon wieder so ein Zungenbrecher, auf alle Fälle danach links, ab durch die Aurobinder Marg, gelangt man zum `Qutb Minar´, eines der Wahrzeichen Dehli´s. Das `Qutb Minar´, ein Minarett aus rotem Sandstein (schon wieder), ist 72 Meter hoch. Nur 5 Stockwerke hat man darin untergebracht. Grundsteinlegung durch `Aibak´, und das schon im Jahr 1199, referiert Elli. Seine Nachfolger mörtelten weiter, bis der Turm die heutige Höhe erreicht hatte. In Ewigkeit gemeißelte Verse des Koran und Ornamente winden sich spiralförmig das Bauwerk hinauf und werden nach oben immer größer, damit man es auch von unten lesen kann.

Mit zur Anlage gehört die Moschee `Quurat-ul-Islam´, übersetzt `die Macht des Islam´, die man aus den Bruchstücken des ehemaligen Hindu-Tempels an gleicher Stelle gebaut hat. Mittlerweile ist die Islamische Moschee mehr eine Ruine als Stätte des `in-sich-gehen´. Zu erwähnen wäre da noch eine Eisensäule aus dem 4. Jahrhundert, von der man nicht weiß, warum sie all die Äonen hindurch keinen Rost angesetzt hat. Man sagt, dass derjenige, der mit beiden Händen die Säule umfassen kann - rücklings natürlich, den `vorwärts´ kann es jeder - ein glücklicher Mensch ist und weiterhin Glück hat. Ich frage mich in solchen Momenten, wie es mit meinem Glück bestellt ist. Was würde Poskara mir raten? Ein wenig Hilfe wäre sicherlich gerade in diesem Moment beruhigend, als ich wirklich meine Hände fassen konnte. Was für ein Glück!? Elli lächelt mich aus dem Pulk der Reisegruppe an, als ich meine Hände um den kalten Stahl schlinge. Aber als Reiseleiterin muss sie dass wohl, oder?

Kein Sightseeing ohne Shopping: wieder zurück in der Stadt, genoss unsere Reisegruppe einen Vortrag über Kaschmir-Teppiche. Die Wände vor lauter bis unter die Decke geschichteten Teppichen nicht mehr sichtbar, nahmen wir auf kleinen Hockern platz, bekamen Tee serviert (sorry, ich erinnere mich nicht mehr an die Sorte – nehme an schwarz, very British) und warteten auf den Fachmann, der uns in sein Handwerk einführt. Faszinierend an diesen handgeknüpften Seidenteppichen sind die Farben, die sich, je nachdem, wie das Licht fällt, verändern: mal heller, mal dunkler, geheimnisvoll schimmernd, glänzend. Sehr feine Qualität, kleine und eng gesetzte Knoten, die dem Teppich eine enorme Strapazierfähigkeit verleihen.

Wieder in den Bus hinein, zurück in´s `Taj Palace´. Wieder ein wenig Ruhe, doch in diesen Momenten merke ich, wie mein Magen immer noch grummelt. Nur Hunger kann es diesmal nicht sein, dafür gab es genug Kekse im Teppichladen...

Aus dem Bus heraus fallen immer wieder kleinere Slumsiedlungen zwischen den Wohnhäusern auf. In den Blech- und Lehmbaracken hausen Menschen, die vom Land in die Stadt zogen, weil sie sich ein besseres Leben erhoffen. Und diese Ansiedlungen entstehen nicht nur vor der Stadt - oder als eigene `Stadtteile´ - sondern auch zwischen jeder Baulücke. Überall, wo noch ein bisschen Platz ist, und man Wasser in der Nähe besorgen kann. Vorzugsweise die Variante `kostenfrei´ aus dem Yamuna-River oder seinen mehr oder weniger sauberen Zuflüssen.

Weitere Unikate, die für eine Rundreise in Indien unentbehrlich sind: zwei Busfahrer! Da wären zum einen Mashid, der unseren Bus durch das Chaos der Stadt lenkt und sein Beifahrer Surjia, der bisher nicht ein einziges Mal am Lenker gesessen war. Stattdessen hebt er den ganzen Tag seine linke Hand (schon vergessen: seit den Inselaffen… fahren sie in Indien alle links) zum linken Fenster hinaus, wenn unser Bus links abbiegen will... Ach ja: beim Aussteigen ist er auch behilflich! Aber sonst...

Um meinen Wasserhaushalt wieder in den Griff zu kriegen, habe ich gegen Nachmittag wieder eins von diesen ominösen, eisgekühlten, ECHT indischen Bieren getrunken: diesmal kein `King Fisher´, nun steht auf dem Etikett `Black Label´. Nein, ich versichere ihnen, dass es sich dabei nicht um eine amerikanische Extrem-Spirituose handelt. Schon gar nicht ein dreiviertel Liter, um den Durst zu löschen, so was endet garantiert tödlich – zumindest bei mir, soviel ist sicher.

Ob nun Whiskey oder Bier - ich hätte es lieber bleiben lassen sollen, den diese Brühe lag wie ein Klotz im Magen, der kurz vor dem Abendessen nicht nur grummelte, sondern entgültig rebellierte. Das Bier verließ meinen Körper auf demselben Weg, wie ich es zu mir genommen hatte. Als ich merkte, dass ich gegen meinen Körper nicht mehr ankämpfen konnte, verließ ich fluchtartig das Restaurant. Bis in die Lobby verlief das ohne Zwischenfälle, doch wohin jetzt? Zum Zimmer war es definitiv zu weit und der Weg nach oben mit einem lahmen Fahrstuhl versperrt, also raus in die Botanik. Doch die Türen gehen nicht nach außen auf. Die Türen der Lobby öffnen nach innen, damit der Ankommende, vom Flug gestresste Tourist – oder Business-Man – nicht noch unnötig Arbeit hat, den Koffer um eine Tür, die ihm entgegen öffnet, herum zu schieben. Das war mein Pech: mit voller Energie wollte ich die Tür nach außen aufdrücken, doch es ging nicht. Wie eine Schmeißfliege, die vor lauter Glas das Hinderniss nicht sieht, klatsche ich gegen die Tür – und dann gab´s für das `King Fisher´ kein Halten mehr. Natürlich eine Sache von Sekunden, doch die beiden Damen hinter der Rezeption hatten angewidert ihre Mienen verzogen. Und auch der junge Mann, der die Sauerei weg wischen musste, war wie ein Rohrspatz am Fluchen, denn mein Bier lag nicht nur auf den Fliesen vor der Tür, sondern auch auf dem Teppich. Orientalische Muster, Perser vielleicht, geschmackvoll zur Einrichtung der Lobby abgestimmt in harmonischen Rot- und Brauntönen kombiniert mit grün-gelben Variationen meiner Kotze! Was ein Glück, dass ich seine Flüche, auf Hindi oder Arabisch in die Welt hinausgeblasen, nicht verstand.

Danach hatte ich für den Rest des Tages kein Bier mehr getrunken, sondern es mit heißem `Daarjeeling-Tee´ (genau, so hieß dieses schwarze Gesöff) ausprobiert. Und der Erfolg war überwältigend!

Und nun – ich darf ein wenig Monty Python zitieren – „to something completely different“: wenn man die Fahrweise der Inder ein wenig näher betrachtet, muss man sagen: der Verkehr läuft trotzdem, weil keiner unnötig bremst. Wenn sich eine Lücke gibt, wird sofort `hinein gestochen´, ungefähr wie bei uns zuhause auf den Rennstrecken des Motorsports. Wobei die Parallelen nur in Bezug auf die Fahrweise zu sehen sind - Motorleistung und der Umgang mit ihr steht auf einem anderen Blatt. Und Rückspiegel sind zwar vorhanden, aber trotzdem reiner Luxus, weil keiner dieses Hilfsmittel im Verkehr nutzt. Es fährt jeder drauf zu und der Stärkere mit dem dickeren Blech hat da gewisse Vorteile. Und heute Morgen beobachtete ich einen Bus, dem der linke Stoßdämpfer gebrochen war, so schräg hing der auf der linken Fahrzeugseite. Und trotzdem wird der Haufen Schrott weitergefahren: 35 Sitzplätze gibt es, Hundert fahren mit. God save some underground…

Zum Dinner gab´s Tiger-Prawns – sie wissen ja, das sind die großen Shrimps. Anschließend den Safe an der Rezeption geleert und die Zimmerrechnung bezahlt, am frühen Morgen weckt mich das Hotelpersonal noch vor dem Muezzin. Nun geht die Tour richtig los: die erste Etappe nach Agra steht auf dem Programm (mit Koffer im Koffer).

Auch in der zweiten Nacht drückte ich kaum ein Auge zu. Die Wirkung des Daarjeeling ließ nach und der Früchtetee Maracuja war keine wirkliche Alternative. Aber die Wärme tat gut! Vor mir lag das Notizbuch. „Schreiben sie sich alles von der Seele“, hörte ich Poskara aus dem Off mir zuraunen. Ist es wirklich so einfach oder bin ich nur so einfach gestrickt? Es ist keiner da, der es mir sagen kann, nicht jetzt, mitten in der Nacht. Ich überlege. Und dann kamen die ersten Worte. Eine dreiviertel Stunde sprudelten die Worte, bevor ich wieder anfing, jeden Buchstaben umzudrehen. Der Blick in die Minibar hinein, doch auch das war keine wirkliche Hilfe, um Bettschwere zu bekommen. Manchmal widert einen alles an. Ich weiß nicht, wann ich in der Nacht weggenickt bin, doch mein Hirn schien einfach weiter zu arbeiten. Ohne Pause verschob es die Bilder andauernd in andere Schubladen und vermischte die Eindrücke mit den Ranken und Schlangen der letzten Nacht. Alles wucherte wieder über die filigranen Stuckfenster der Hindus und dem edlen Sandstein der Briten hinweg und versperrte den Weg in eine Freiheit, die ich nicht fassen konnte. Nur für einen Moment erschien Elli und hantierte mit einer Machete, um das Dickicht zu zerschlagen. Und dann bin ich schweißgebadet wieder zu mir gekommen. Die dünne Decke, die ich zum Schlafen auf dem Bett gelassen hatte, lag daneben auf dem Boden.

(4) Drei Monate früher: der Rheinauenblock

Ich habe keinen Vorzeigejob. Für das Abi hat es nicht gereicht und somit habe ich nie eine Uni von innen gesehen. Ich gehöre nicht zu denen, die jeden Tag in eine Firma wandeln, um dort Software zu programmieren oder Flüssigkeiten zusammenschütten, bis alles in die Luft fliegt. Ich bin kein Selfmade-Wunder, der mit einer genialen Idee Kohle gescheffelt hat und ich bin keiner, der auf die Idee käme, bei DSDS mitzumachen.

Dazu mag ich viel zu sehr laute Rockmusik! Kreischende Gitarren und wummernde Beats, die keine Zeit zum Atmen lassen. Ich bin keiner, der gerne auf den Bildschirm glotzt oder mit Vorliebe überflüssiges Papier in viel zu dicken Ordnern archiviert. Nun: ich war schon immer auf dem Bau.

Als Handwerker fängt man früh mit der Arbeit an, um früh fertig zu sein. Aber nicht, um Feierabend zu machen und um halb fünf schon die Füße hochzulegen. Für potentielle Partylöwen, die es in meiner Zunft reichlich gibt, wäre es sicherlich entspannter, spät anzufangen, damit der Abend lang werden kann. Nein, ich meine etwas anderes: Man hört früh auf, um das zweite Standbein eines jeden Handwerkers zu pflegen: Schwarzarbeit!

Gleich vorweg: ich bin nicht so! (siehe oben, Thema Rockmusik!) Damit das von Anfang an klar ist! Ich gehöre zu der Fraktion, die gerne um halb fünf die Füße hochlegt. Oder am Badeweiher abhängt, wenn das Wetter mitmacht. Oder... sich um ihre Jungs beim Fußball kümmert. Mir ist ein wenig Freizeit einfach wichtig. Dient zur Entspannung, dient dazu, neue Eindrücke zu gewinnen. Was soll ich mit einem dicken Porsche Carrera, wenn ich später die Herkunft vor dem Fiskus nachweisen muss? Wenn ich am Schluss wirklich noch beweisen muss, dass ein einfaches Auto mit so überhaupt keinem Komfort und Schnick-Schnack wirklich mir gehört? Nein, das gibt schon mein realer, von der Gewerkschaft ausgehandelter schmählicher Lohn nicht her. Also lass ich es lieber.

Mein Chef ist eigentlich ein netter Kerl, immer bemüht darum, es richtig vorzumachen. Leicht cholerisch, jedoch, wenn du es dann nicht genauso hinbringst. Also versuchst du, es genauso hinzubringen, dann hast du deine Ruhe. Debus war der erste, der mir das gesteckt hat. „Sag einfach ja, geht in Ordnung und mach deine Arbeit, wenn der Alte nicht zusieht. Hauptsache, am Ende ist der glücklich“. Womit er natürlich recht hatte.

Der Alte war immer wie ein Heißsporn den großen Aufträgen hinterher gerannt, um nicht jede Woche neue Arbeit für seine Mitarbeiter suchen zu müssen. „Da hast du mal drei Monate am Stück zu tun“, war sein Credo und auf den Rheinauenblock war er besonders scharf: „die Rückseite soll dieses Jahr noch laufen, die Vorderseite nächstes Jahr“. Er war gut darin, die Dollarzeichen in seinen Augen mit einem Mantel aus sozialer Fürsorge abzudecken (fast so wie die Steppdecken auf meinem Hotelzimmer in Dehli jeden Fu…), doch eigentlich ging es primär um die Kohle, die er da jede Woche kontinuierlich als Abschlagsrechnung einfordern konnte.

Und er war der Meinung, dass ich der Richtige wäre diesen Bau und diese Sanierung durchzuziehen (der Richtige, die Richtige! Und sowas auf´m Bau!).

Aus meinem Bautagebuch: Montag, 05.05.:

erster Termin Gerüstabnahme, jedoch nicht durchführbar, da der Gerüstbauer seine Arbeiten noch nicht abgeschlossen hatte.

Absprache mit verschiedenen Handwerkern, ohne konkretes Ergebnis in Bezug auf unsere Sanierungsarbeiten.

Neuer Termin für die Gerüstabnahme am 07.05.

Selbstredend, dass uns die Bauleitung vorher nicht auf das Gerüst gelassen hat. Der Alte hat Debus nochmal zwei Tage in den Urlaub geschickt - und mich zum reichsten Bänker am Ort.

Sein Name: Michael Bexhorn. Er residiert in einer Villa direkt oberhalb des Bruchgeländes, in der weiteren Vergangenheit Sumpf- und Schlammgebiet eines Altrheinarms, heute verlandet und Weidegebiet für Bullen – Schottische Hochlandrinder, die jeden Sommer dort die Äcker leer futtern. Und gleich danach riesenhafte Gärten, Bäume, die in zig Jahrzehnten bis unter den Himmel gewachsen sind und dahinter gleich die noblen Herbergen, meistens mit Pool unter der freien Sonne. Das ist der Bruch.

Und genau Bexhorn war so ein Kerl, der es bis zum Anschlag hatte – und trotzdem nie satt wurde. Genau das wiederholte der Alte immer wieder, bevor er zu dem Geldhai ging. „Der sollte mal was Gescheites machen lassen und nicht immer so´n Kleingelumps“, zeterte er während der Fahrt: aus der Werkstatt raus, bis zum Kreisel, geradeaus, vor der Tankstelle links, durchfahren, dritte rechts und weiter, weiter, weiter, ganz am Ende links. Und dann war der Alte die Freundlichkeit in Person, wie ausgewechselt: „Können wir machen, da haben sie recht, genau, bis Morgen Abend ist es fertig, ja, das klappt!“ („da können sie sich drauf verlassen“ hatte er diesmal ausgespart).

Mit dem Kleingelumps hatte der Alte natürlich recht, Küche streichen, keine Arbeit für den ganzen Tag. Zudem war der Bänker wortkarg: „Einen guten Morgen, da ist das gute Stück, geht´s ihnen gut, sie wissen ja, was zu tun ist“. Mehr nicht.

Was auch besser war, denn es schien ihm nicht gut zu gehen. Kalkweises Gesicht, rote Flecken auf den Wangen. Und ein ständiger Würgereiz, der ihn lautstark plagte. Wohl eine Frage der Zeit, bis sein erster Kaffee ihm wieder durch den Kopf ging.

Und dann verzog er sich. Vor seinen Rechner, nach den Aktiencharts schauen. Oder wie er sonst zu seinem Geld kam, endlose Mails an seine Kundschaft schreibend.

Aber seine Frau IST eine Quasselstrippe `par Exzellente´! Corina Bexhorn-Scheilermann steht auf ihrer Visitenkarte, die sie jedes Mal verteilt, wenn Handwerker im Haus sind (manchmal frage ich mich, wann SIE zum letzten Mal nach ihrer Nummer gefragt worden ist – oder besser: WER sie danach gefragt hat). Später war der Juniorchef aufgetaucht und sie lobten sich beide, bis es förmlich zur Wand heraustropfte: die exquisite Designer-Küche, die herausragenden Bodenfliesen in apulischem Blau, eine so luftige Farbe, duftend wie das Meer, das schäumend den Strand hinauf läuft - und die Wände erst! Bexhorn hatte beim Einzug in die Fünfziger-Jahre-Villa geklotzt (genau: der Alte hatte keinen Großauftrag abbekommen) und ließ von allen Wänden den alten Grundputz abschlagen. Wie immer irgendwelche Osteuropäer, die die Drecksarbeit machen mussten und dann kamen die Südeuropäer: zwei Italiener, um genau zu sein (ein Tip von Frau Bexhorn-Scheilermanns Kaffeeklatsch-Tanten bzw. – Freundinnen), die alles mit Kalk neu verputzten. Heiß gebügelter Kalkputz, um genau zu sein, den der Fachmann Stuccolustro nennt. Sehr feine, glänzende Oberfläche. Der Alte durfte sich im Büro von Bexhorn („scheiß Kleingelumps“) mit Grün austoben, das dann Kollege Debus ausführte. Mitisgrün, eine klassische Farbe, die die hohen Herren früherer Tage, als es noch Fürsten und Könige gab, streichen ließen. Ich weiß noch, wie Debus über den Gestank der Farbe gemeckert hat! Damit kannst du die ganze Kanalisation ausräuchern, hatte er getobt! Das reinste Gift! Und die Konsistenz! Einfach unmöglich! Wie soll man da `gscheid´ arbeiten? Mit einer Bürste hat er es trotzdem hingekriegt - nach einigen Versuchen zusammen mit dem Juniorchef. Der Alte hätte die Farbe einfach als `Dreck´ bezeichnet und weggeschmissen, aber, er war nicht vor Ort. Und der Juniorchef (`diese Pfeife´, O-Ton Debus), der macht das einfach, ohne nachzudenken. Alles, was dem jungen Kerl einfiel, war so eine abgedroschene Floskel wie `Probleme gibt es überall´. Womit er auf der anderen Seite manchmal ganz schön Recht hatte.

Eines musste man Corinna allerdings lassen: die Grand-Dame´ des Geldhai´s hatte eine soziale Ader. In der Hauptsache Kinderhäuser, denen sie immer wieder Großspenden zukommen ließ. Neue Häuser in Chile bauen, Dächer auf den Philippinen abdichten, Schulbänke für Leshoto, eine neue Schreinerwerkstatt in Litauen. Und sie ließ es sich nicht nehmen, jeden Besucher auf das genaueste zu informieren, wohin das Geld gerade geflossen war: Warme Kleider für die Kinder in Nepal, Bücher für die Schüler in Brasilien, zusätzliche Lehrer in Benin, neue Betten für Haiti, eine neue Küche in Äthiopien, Spielplätze in den Dörfern Mexikos, pädagogische Förderung der Kinder mit Tieren – in Deutschland.

Corinna war sich nie zu schade viele Bilder von ihren Wohltaten herumzureichen, bis sicher war, dass auch jeder einen Blick darauf geworfen hatte. In regelmäßigen Abständen schaltete sie bei den Zeitungen der Gegend – einschließlich des Rheinkuriers und dem Amtsblatt Hügelfeld – Anzeigen, die aber nicht wie Anzeigen aussahen, sondern wie ein ganz normaler Bericht.

Für den geübten Leser war es allerdings kein Problem, die Anzeige als solches zu erkennen, denn wenn zwischen hundert