Narbenkind - Erik Axl Sund - E-Book
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Narbenkind E-Book

Erik Axl Sund

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Beschreibung

Ein Geschäftsmann wird brutal ermordet. Jeanette Kihlberg ermittelt mithilfe der Psychologin Sofia. Doch wer ist Sofia wirklich?

Jeanette Kihlbergs Ermittlungen in einer Mordserie an Jungen in Stockholm werden vorübergehend auf Eis gelegt, als ein ranghoher Geschäftsmann auf bestialische Weise getötet wird. Man geht von einem Racheakt aus – doch Rache wofür? Psychologin Sofia Zetterlund soll ein Täterprofil erstellen, aber dann geschehen weitere Morde. Und diese scheinen in Verbindung mit Victoria Bergman zu stehen. Während die Ermittlungen nach Dänemark führen, hat Sofia immer häufiger Bewusstseinsstörungen ...


"Krähenmädchen" (Band 1 der Victoria-Bergman-Trilogie) ist im Juli 2014 erschienen.
"Narbenkind" (Band 2 der Victoria-Bergman-Trilogie) ist im September 2014 erschienen.
"Schattenschrei" (Band 3 der Victoria-Bergman-Trilogie) ist im November 2014 erschienen.

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Seitenzahl: 566

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Was bisher geschah …

Kommissarin Jeanette Kihlberg leitet die Ermittlungen bei einer grausamen Mordserie: Über mehrere Monate werden in Stockholm immer wieder Jungenleichen gefunden, die Zeichen schwerster Misshandlung zeigen. Auf der Suche nach dem Täter nimmt Jeanette Kontakt zu der Psychologin Sofia Zetterlund auf, bei der eines der Opfer in Therapie war, und bittet sie um Hilfe. Sofias Spezialgebiet sind traumatisierte Menschen mit multiplen Persönlichkeiten. Eine zweite Klientin Sofias ist Victoria Bergman, die aufgrund einer traumatischen Kindheit bei ihr in Behandlung ist. Und auch im Zusammenhang mit den Ermittlungen taucht der Name Victoria Bergman immer wieder auf. Alles sieht aus, als wäre sie ein Opfer, das an irgendeinem Punkt im Leben zur Täterin wurde. Um diesen Verdacht zu bestätigen, müsste man sie allerdings erst einmal finden – denn Victoria scheint seit etwa zwanzig Jahren spurlos verschwunden zu sein …

Über dieses Buch

Die Mordfälle an den Jungen, in denen die Kommissarin Jeanette Kihlberg ermittelt, müssen vorerst hintenangestellt werden, als ein ranghoher Geschäftsmann auf bestialische Weise ermordet, ja regelrecht abgeschlachtet wird. Die Indizien lassen auf einen Racheakt schließen – doch Rache wofür? Und von wem? Die Psychologin Sofia Zetterlund, zu der Jeanette inzwischen eine enge Verbindung hat, soll ein Täterprofil erstellen, doch dabei hat sie immer häufiger Bewusstseinsaussetzer. Und dann geschehen weitere Morde. Stehen sie im Zusammenhang mit Victoria Bergman? Während Jeanette und ihre Kollegen immer größere Teile eines perfiden Netzwerkes aufdecken, verliert Sofia immer mehr die Kontrolle …

Über den Autor

Erik Axl Sund ist das Pseudonym des schwedischen Autorenduos Jerker Eriksson und Håkan Axlander Sundquist. Håkan ist Ton-techniker, Musiker und Künstler. Jerker ist der Producer von Håkans Elektropunkband »iloveyoubaby!« und arbeitet zurzeit als Bibliothekar in einem Gefängnis. Zusammen haben sie drei Romane geschrieben: die Victoria-Bergman-Trilogie, für die sie 2012 mit dem Special Award der Schwedischen Krimiakademie ausgezeichnet wurden.

Erik Axl Sund

Narbenkind

Psychothriller

Aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Hungerelden« bei Ordupplaget, Stockholm.

Zitat von Harry Martinson aus: Aniara. Albert Bonniers Förlag, Stockholm 1956 (Schwed. Originalausgabe). Deutsche Übersetzung von Herbert Sandberg, erschienen in der Nymphenburger Verlagsbuchhandlung, München 1961.

Deutsche Erstausgabe Oktober 2014 Copyright © der Originalausgabe 2011 by Erik Axl Sund Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Published by agreement with Salomonsson Agency Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München Umschlagmotiv: FinePic®, München und gettyimages/Paul Oomen Redaktion: Leena Flegler AG · Herstellung: Str. Satz: DTP Service Apel, Hannover ISBN 978-3-641-13973-5V004www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Zur Erinnerung an uns, die wir verraten haben

Oft sitzt sie, in die Mima starrend, und nachher werden ihre schönen Augen verwandelt. Einen rätselhaften Glanz bekommen sie, undeutbar, und des Auges Iris füllt sich mit Trauerfeuern, mit einem Hungerfeuer, das nach Brennstoff sucht, dem Licht der Seele, auf dass nie es finster werde. Vor einigen Jahren sagte sie einmal, dass sie persönlich es nicht ungern sähe, wenn wir, des Todes Becher in der Hand, ergeben ein Abschiedsmahl verzehrten und verschwänden.

Harry Martinson: Aniara

Freier Fall

Der Albtraum kommt in einem kobaltblauen Mantel nach Stockholm – etwas dunkler als der Abendhimmel über Djurgården und Ladugårdslandsviken. Er ist blond, blauäugig und trägt eine kleine Tasche über der Schulter. Die zu kleinen Schuhe sind rot und scheuern an der Ferse, aber das ist sie gewohnt. Die wunden Stellen gehören bereits zu ihrer Persönlichkeit. Der Schmerz macht sie wacher.

Sie weiß, dass sie Befreiung finden wird, wenn sie nur verzeihen kann. Befreiung für sich selbst, aber auch für diejenigen, denen sie verzeiht. Jahrelang hat sie versucht zu vergessen. Immer vergebens.

Sie selbst sieht es nicht so, aber ihre Rache ist Teil einer Kettenreaktion. Vor einem Viertelleben wurde in einem Geräteschuppen in der humanistischen Lehranstalt Sigtuna ein Schneeball in Bewegung versetzt, und er riss sie mit auf seinem Weg hin zum Unausweichlichen.

Man könnte sich fragen, was diejenigen, die den Schneeball einst mit ihren Händen geformt haben, von seinem weiteren Weg wissen. Vermutlich nichts. Sie sind wahrscheinlich einfach weitergegangen. Haben den Vorfall vergessen, als wäre es ein unschuldiges Spiel gewesen, das in jenem Geräteschuppen begann und dort auch sein Ende nahm.

Doch sie selbst konnte sich der Bewegung nicht entziehen. Zeit ist unwichtig geworden für sie, sie hat keine heilende Wirkung mehr. Hass taut nicht. Im Gegenteil, er verhärtet zu scharfen Eiskristallen, die ihr ganzes Wesen umhüllen.

Der Abend ist kühl, die Luft feucht von vereinzelten Regenschauern, die am Nachmittag und am Abend aufeinanderfolgten. Von der Achterbahn hört man Schreie. Sie steht auf, klopft sich den Staub vom Mantel und sieht sich um. Dann bleibt sie kurz stehen, atmet tief durch und erinnert sich wieder daran, warum sie überhaupt hier ist.

Sie hat etwas zu erledigen, und sie weiß genau, was sie tun muss.

Schräg unterhalb des hohen, umgebauten Aussichtsturms betrachtet sie den Aufruhr, der dort herrscht. Zwei Wachmänner führen einen Mann ab, ein kleines Mädchen läuft weinend neben ihm her. Wahrscheinlich seine Tochter.

Auf dem Boden liegt eine Frau und neben ihr eine zerschlagene Flasche. Menschen stehen um sie herum und beugen sich über sie, irgendjemand ruft nach einem Sanitäter. Glassplitter werfen scharfe Lichtreflexe auf den regennassen Asphalt.

Jetzt ist der Moment gekommen, in dem sie handeln muss, begreift sie – auch wenn das Ganze nicht so geplant war. Der Zufall spielt ihr in die Hände. So einfach, dass niemand je begreifen wird, was überhaupt geschehen ist.

Sie sieht den Jungen, der in einiger Entfernung allein vor dem Eingang zum Fahrgeschäft Free Fall steht.

Zu verzeihen, was verzeihlich ist, hieße nicht wirklich zu verzeihen, denkt sie sich. Echte Verzeihung bedeutet, etwas Unverzeihliches zu verzeihen. Doch diese Fähigkeit besitzt nur ein übermenschliches Wesen.

Der Junge sieht verwirrt aus, und sie geht langsam auf ihn zu, während er sich umdreht, ihr den Rücken zukehrt. Es ist lächerlich einfach, sich an ihn heranzuschleichen, und im Nu ist sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Er steht immer noch mit dem Rücken zu ihr da. Es sieht ganz so aus, als würde er jemanden suchen.

Echte Verzeihung ist unmöglich, unkontrollierbar, unbewusst, denkt sie. Und da sie erwartet, dass die Schuldigen Reue zeigen, kann sie auch nie vollendet werden. Die Erinnerung ist und bleibt eine Wunde, die niemals heilt.

Sie packt den Jungen am Arm. Er zuckt zusammen und dreht sich zu ihr um, während sie ihm die Spritze in den linken Oberarm drückt. Ein paar Sekunden lang blickt er ihr verwundert in die Augen, bevor seine Beine unter ihm nachgeben. Sie fängt ihn auf und setzt ihn vorsichtig auf eine Bank.

Niemand hat sie beobachtet.

Alles ist völlig normal.

Als sie sieht, wie die am Boden liegende Frau langsam beginnt, sich zu rühren, nimmt sie etwas aus ihrer Tasche, was sie dem Jungen behutsam über den Kopf zieht.

Es ist eine Maske aus rosa Plastik mit einem Schweinerüssel.

Gröna Lund

Kriminalkommissarin Jeanette Kihlberg weiß noch genau, wo sie sich befand, als sie erfuhr, dass Ministerpräsident Olof Palme auf dem Sveavägen ermordet wurde. Sie saß in einem Taxi auf dem Weg nach Farsta, und der Mann neben ihr rauchte Mentholzigaretten. Leiser Regen und leichte Übelkeit nach zu viel Bier.

Thomas Ravellis gehaltene Elfmeter im Spiel gegen Rumänien bei der Fußball-WM 1994 hat sie auf einem Schwarz-Weiß-Fernseher in einer Bar am Kornhamnstorg gesehen. Der Barkeeper schmiss eine Lokalrunde.

Als die Estonia unterging, lag sie mit Grippe im Bett und sah sich den Paten an.

Zu ihren deutlichsten Erinnerungen gehören The Clash im Hovet, ein Kuss mit klebrigem Lipgloss in der Dritten und wie sie erstmals die Tür zu ihrem Haus in Gamla Enskede aufschloss und es ihr Zuhause nannte.

Doch an den Augenblick, als Johan verschwindet, wird sie sich niemals erinnern. Er wird für immer ein schwarzer Fleck bleiben. Zehn ausgelöschte Minuten. Die ihr ein Betrunkener in Gröna Lund gestohlen hat. Ein Klempner aus Flen, der bei seinem Besuch in der Hauptstadt zu tief ins Glas geschaut hat.

Ein Schritt zur Seite, den Blick nach oben gerichtet. Johan und Sofia sitzen in dem Korb auf dem Weg hinauf, und obwohl sie auf festem Boden steht, ist ihr schwindlig. Es fühlt sich an wie umgekehrter Schwindel: von unten nach oben statt andersherum. Der Turm sieht wacklig aus, die Sitze sind simpel konstruiert, die Konsequenzen eines Fehlers wären katastrophal.

Auf einmal das Geräusch von splitterndem Glas.

Aufgeregte Schreie.

Irgendjemand heult, und Jeanette sieht, wie der Korb immer weiter hinauffährt. Ein Mann rennt auf sie zu, sie weicht ihm aus. Johan lacht über irgendetwas. Gleich sind sie oben angekommen.

»Ich bring dich um, du Wichser!«

Irgendjemand rempelt sie von hinten an. Jeanette sieht, dass der Mann keine Kontrolle mehr über seinen Körper hat. Der Alkohol hat seine Beine zu lang gemacht, seine Gelenke zu steif und sein betäubtes Nervensystem einen Hauch zu langsam. Er stolpert und stürzt.

Jeanette wirft einen Blick nach oben. Johans und Sofias Beine von unten. Sie baumeln leicht. Dann bleibt der Korb stehen.

Der Mann richtet sich auf, sein Gesicht ist vom Kies und Asphalt zerkratzt.

Ein paar Kinder weinen.

»Papa!« Ein kleines Mädchen, nicht älter als sechs, mit rosaroter Zuckerwatte in der Hand. »Können wir nicht heimgehen? Ich will nach Hause.«

Der Mann antwortet nicht, er sieht sich nur um, hält nach einem Gegner Ausschau, nach irgendetwas, woran er seinen Frust abreagieren kann.

Jeanette handelt aus ihrem Polizeireflex heraus und packt den Mann am Arm. »Hören Sie«, sagt sie behutsam, »beruhigen Sie sich ein bisschen, hm?«

Der Mann dreht sich um, und Jeanette sieht, dass seine wässrigen Augen blutunterlaufen sind. Traurig und enttäuscht, fast beschämt.

»Papa«, wiederholt das kleine Mädchen, aber der Mann reagiert nicht, er starrt nur ins Leere.

»Und wer zum Teufel bist du?« Er windet sich aus Jeanettes Griff. »Verpiss dich!«

Sein Atem riecht streng, und seine Lippen sind von einer dünnen weißen Schicht bedeckt.

»Ich wollte nur …«

Im selben Augenblick hört sie, wie der Korb von oben herabsaust, und die vergnügten Schreie wonnigen Schreckens stören ihre Konzentration für eine Sekunde.

Sie sieht Johan, dessen Haar nach oben fliegt. Er hat den Mund weit aufgerissen.

Und sie sieht Sofia.

Dann hört sie wieder das kleine Mädchen. »Nein, Papa! Nein!«

Sie sieht nicht, wie der Mann neben ihr den Arm hebt.

Die Flasche trifft Jeanette an der Schläfe, und um sie herum wird es schwarz.

Prins Eugens Waldemarsudde

So wie Menschen, die ihr Lebtag jeglichen Glücks beraubt wurden, es trotzdem fertigbringen, sich weiter an die Hoffnung zu klammern, nimmt Jeanette Kihlberg in Ausübung ihres Berufes eine uneingeschränkt ablehnende Haltung zu allem ein, was auch nur im Entferntesten nach Pessimismus riecht.

Deswegen gibt sie niemals auf, und deswegen reagiert sie auch so, wie sie reagiert, als Polizeimeister Schwarz lang und breit über das triste Wetter, seine Müdigkeit und den mangelnden Fortschritt bei der Suche nach Johan klagt. Da sieht Jeanette Kihlberg rot. »Verdammt noch mal, dann fahr doch heim! Für so was wie dich haben wir hier keine Verwendung!«

Das wirkt. Schwarz zuckt zurück wie ein geprügelter Hund, während Åhlund verdattert daneben steht. Jeanette ist so wütend, dass die Wunde an ihrem Kopf unter dem Verband kräftig zu pulsieren beginnt.

Sie fängt sich wieder ein wenig, seufzt und hebt beschwichtigend die Hände. »Haben Sie verstanden?«, wendet sie sich an Schwarz. »Sie sind bis auf Weiteres von Ihren Aufgaben entbunden.«

»Komm mit …« Åhlund fasst Schwarz am Arm, und die beiden gehen davon.

Nach ein paar Schritten dreht er sich zu Jeanette um und versucht, Zuversicht auszustrahlen. »Wir schließen uns einfach den anderen unten am Beckholmen an, vielleicht sind wir dort mehr von Nutzen?«

»Nur Sie, Åhlund. Nicht Sie beide, Schwarz fährt nach Hause, kapiert?«

Åhlund nickt stumm, und dann ist Jeanette allein.

Sie steht mit leerem Blick und steifgefroren am Rückgebäude des Vasamuseums und wartet auf Jens Hurtig, der in derselben Minute, als ihn die Nachricht von Johans Verschwinden erreichte, seinen Urlaub abgebrochen hat, um sich an der Suche zu beteiligen.

Als sie nach einer Weile den Wagen der Zivilstreife über den Weg im Galärparken auf sich zufahren sieht, weiß sie, dass es Hurtig ist und dass er noch jemanden mitgebracht hat. Eine Zeugin, die behauptet, sie habe gestern am späten Abend einen Jungen allein unten am Wasser gesehen. Nach allem, was Hurtig über den Polizeifunk durchgegeben hat, weiß Jeanette auch, dass sie sich nicht allzu viel von dieser Zeugenaussage erwarten darf. Trotzdem redet sie sich ein, dass es noch Hoffnung gibt.

Sie versucht, sich zu konzentrieren und den Verlauf der vergangenen Stunden zu rekonstruieren.

Johan und Sofia sind verschwunden. Auf einmal waren sie einfach weg. Nach einer halben Stunde ließ sie, ganz wie es sich gehört, Johan per Lautsprecher ausrufen und blieb angespannt am Informationsschalter stehen. Jedes Mal, wenn sie in der Menschenmenge auch nur die kleinste Kleinigkeit erspähte, die sie an Johan erinnerte, stürzte sie los, nur um jedes Mal unverrichteter Dinge zum Infoschalter zurückzukehren. Kurz bevor ihr Körper von den letzten Zuckungen ihrer Hoffnung zerrissen wurde, kamen ein paar Sicherheitsleute, und gemeinsam nahmen sie die planlose Suche auf dem Gelände wieder auf. Dabei fanden sie Sofia auf dem Kies auf einem der Gänge, umgeben von einer Menschentraube. Mit den Ellbogen schob Jeanette sich zu ihr vor, bis sie Sofia in die Augen sehen konnte. Das Gesicht, das vor Kurzem noch Erlösung für sie bedeutet hatte, verstärkte jetzt ihre Besorgnis und die Ungewissheit. Sofia stand völlig neben sich. Jeanette bezweifelte, dass sie sie überhaupt wiedererkannte. Und noch weniger konnte sie ihr sagen, wo Johan war. Unmöglich konnte Jeanette bei ihr bleiben, sie musste weitersuchen.

Eine weitere halbe Stunde später alarmierte sie ihre Kollegen von der Polizei. Doch weder sie selbst noch die gut zwanzig Polizisten, die das Ufer rund um den Vergnügungspark absuchten und jeden Zentimeter auf Djurgården durchkämmten, konnten Johan finden. Ebenso wenig wie die Kollegen von der Streife, denen man seine Beschreibung durchgegeben hatte und die die Innenstadt abfuhren.

Dann der Aufruf im Lokalradio. Ergebnislos bis vor fünfundvierzig Minuten.

Jeanette weiß, dass sie korrekt gehandelt hat, aber auch, dass sie wie ein Roboter unterwegs ist. Ein von Gefühlen gelähmter Roboter. Ein Widerspruch in sich. Hart, kalt und rational an der Oberfläche, aber gesteuert von chaotischen Impulsen. Die Wut, Gereiztheit, Angst, Verwirrung und Resignation, die sie während der vergangenen Nacht empfunden hat, ist zu einer einzigen diffusen Gefühlslage verschmolzen.

Das Einzige, was sie ganz deutlich empfindet, ist Unzulänglichkeit.

Und das nicht nur, was Johan angeht.

Jeanette denkt auch an Sofia.

Wie geht es ihr?

Jeanette hat mehrmals versucht, sie zu erreichen, aber ohne Erfolg. Wenn sie irgendetwas über Johan wüsste, hätte sie sich doch gemeldet, oder nicht? Oder weiß sie etwas und muss erst wieder zu Kräften kommen, bevor sie es erzählen kann?

Lass gut sein, denkt sie sich und schiebt die undenkbaren Gedanken beiseite. Konzentrier dich.

Das Auto hält an, und Hurtig steigt aus. »Verdammt«, sagt er. »Das sieht aber gar nicht gut aus.« Er nickt in Richtung ihres Kopfverbands.

Sie weiß, dass es schlimmer aussieht, als es ist. Die Wunde, die die Flasche hinterlassen hat, wurde an Ort und Stelle vernäht, und der Verband ist blutig, ebenso wie ihre Jacke und ihr Oberteil. »Kein Problem«, sagt sie. »Du hättest meinetwegen Kvikkjokk nicht absagen dürfen.«

Er zuckt mit den Schultern. »Jetzt sei doch nicht albern! Was soll ich denn dort oben? Schneemänner bauen?«

Zum ersten Mal seit mehr als zwölf Stunden muss Jeanette lächeln. »Wie weit bist du überhaupt gekommen?«

»Bis Långsele. Ich musste einfach nur vom Bahnsteig springen und in den nächsten Bus in Richtung Süden steigen.«

Eine kurze Umarmung. Mehr ist nicht nötig, denn ihr ist klar, dass er weiß, wie unendlich dankbar sie ihm für sein Kommen ist.

Sie macht die Beifahrertür auf und hilft der alten Dame aus dem Sitz. Hurtig hat der Frau ein Bild von Johan gezeigt, und Jeanette weiß, dass ihre Zeugenaussage nicht besonders aussagekräftig ist. Sie konnte nicht einmal sagen, welche Farbe Johans Kleidung hatte.

»Dahinten haben Sie ihn also gesehen?« Jeanette deutet zu dem steinigen Strand jenseits des Stegs, an dem die Fähre Finngrund liegt.

Die alte Frau nickt und zittert ein wenig in der kühlen Luft. »Er lag zwischen den Steinen und schlief. Ich hab ihn wach gerüttelt. Also so was, hab ich zu ihm gesagt. So jung und schon …«

»Ja, ja.« Jeanette ist ungeduldig. »Hat er irgendwas gesagt?«

»Nein, er hat bloß vor sich hin gebrabbelt. Wenn er irgendwas gesagt haben sollte, hab ich das jedenfalls nicht verstanden.«

Hurtig zückt Johans Foto und hält es der Frau noch einmal vor. »Aber Sie sind sich nicht hundertprozentig sicher, ob es dieser Junge hier war, stimmt’s?«

»Na ja, wie gesagt, er hatte die gleiche Haarfarbe, aber das Gesicht … Schwer zu sagen. Außerdem war er ja betrunken.«

Jeanette seufzt und geht zu dem Pfad hinüber, der an dem Steinstrand entlangführt. Betrunken?, denkt sie. Johan? Blödsinn!

Sie blickt nach Skeppsholmen, das jenseits des Wassers in kränklich grauen Dunst gehüllt ist.

Wie ist es bloß möglich, dass es so scheißkalt geworden ist?

Sie geht bis ans Wasser, klettert auf die Steine. »Und hier lag er also? Sind Sie sich da ganz sicher?«

»Ja«, sagt die Frau bestimmt. »In etwa dort.«

In etwa?, denkt Jeanette resigniert, während sie zusieht, wie die alte Dame sich ihre dicke Brille am Mantelärmel abtrocknet.

Allmählich steigt Verzweiflung in ihr auf. Das Einzige, worauf sie bauen können, ist eine alte Frau, die schlecht sieht. Die – sosehr sich Jeanette auch das Gegenteil wünschte – schlicht und einfach eine unzuverlässige Zeugin ist.

Sie geht in die Hocke und sieht sich nach irgendetwas um, was bestätigen könnte, dass Johan hier gewesen ist. Ein Kleidungsstück, seine Tasche, die Hausschlüssel. Irgendwas. Aber sie sieht nur kahlen Stein, sauber gespült von Wellen und Regenwasser.

Hurtig wendet sich noch einmal an die Frau. »Und dann ist er also weggelaufen? In Richtung Junibacken?«

»Nein …« Die Frau zieht ein Taschentuch aus der Manteltasche und schnäuzt vernehmlich die Nase. »Er ist davongetaumelt. Er war so betrunken, dass er kaum aufrecht stehen konnte …«

Jeanette ist gereizt. »Aber er ging in diese Richtung? In Richtung Junibacken?«

Die alte Dame nickt und schnäuzt sich erneut in das Taschentuch.

In diesem Moment fährt ein Feuerwehrauto auf dem Djurgårdsvägen vorüber. Nach dem Klang der Sirenen zu urteilen ist es auf dem Weg ins Inselinnere.

»Schon wieder falscher Alarm?«, fragt Hurtig und sieht verbissen zu Jeanette, die mutlos den Kopf schüttelt.

Es ist schon das dritte Mal, dass sie das Martinshorn eines Krankenwagens hört, doch bis jetzt galt keiner der Einsätze ihrem Sohn.

»Ich rufe Mikkelsen an«, sagt Jeanette schließlich.

»Von der Reichskripo?« Hurtig sieht sie erstaunt an.

»Ja. Meiner Meinung nach ist er für solche Sachen der beste Mann.« Sie steht auf und springt mit ein paar langen Schritten über die Steine hinweg, bis sie wieder auf dem Fußweg steht.

»Für Verbrechen an Kindern, meinst du?« Hurtig sieht aus, als würde er seine Worte noch im selben Moment bereuen. »Ich meine, wir wissen doch noch gar nicht, worum es hier geht.«

»Natürlich nicht, aber es wäre verkehrt, diese Möglichkeit außer Acht zu lassen. Mikkelsen hat auch die Suchaktionen auf Beckholmen, in Gröna Lund und auf Waldemarsudde koordiniert.«

Hurtig nickt und sieht sie mitleidig an.

Bitte nicht, denkt sie und wendet sich ab. Bloß kein Scheißmitleid. Dann breche ich zusammen.

»Ich ruf ihn an.«

Als Jeanette ihr Handy aus der Tasche zieht, sieht sie, dass es tot ist. Im selben Augenblick hört sie das Rauschen des Funkgeräts in Hurtigs Wagen, der nur zehn Meter entfernt steht.

Die Erkenntnis macht sie bleischwer.

Als sackte alles Blut in ihrem Körper nach unten und zöge sie zu Boden.

Man hat Johan gefunden.

Karolinska-Krankenhaus

Im ersten Moment dachten die Sanitäter, der Junge wäre tot.

Er wurde bei der alten Ölmühle auf Waldemarsudde gefunden. Seine Atmung und seine Herztätigkeit waren gleich null. Nach der ungewöhnlich kalten Spätsommernacht war er stark unterkühlt, und man konnte sehen, dass er sich mehrfach übergeben hatte. Womöglich hat er Aspirationsschäden davongetragen, weil Magensäure in die Lunge geraten ist.

Um kurz nach zehn ist Jeanette Kihlberg in den Krankenwagen gestiegen, der ihren Sohn ins Karolinska-Krankenhaus in Solna auf die Intensivstation bringen sollte.

Das Zimmer ist verdunkelt, doch der Schein der schwachen Nachmittagssonne sucht sich einen Weg durch die Jalousien, und die orangegelben Lichtstreifen ziehen sich wie ein Muster über Johans nackten Oberkörper. Das künstliche Licht der Herz-Lungen-Maschine flackert über dem Bett, und Jeanette Kihlberg kommt sich vor, als würde sie träumen.

Sie streichelt Johans Handrücken und wirft einen Blick auf die Instrumentenkonsole neben dem Bett.

Seine Körpertemperatur nähert sich allmählich wieder der Normalmarke, sie liegt nur noch knapp unter sechsunddreißig Grad.

Sie weiß, dass er stark alkoholisiert war. Fast drei Promille waren es, als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Seither hat sie kein Auge mehr zugetan, sie fühlt sich wie ertaubt in ihrem Körper und könnte nicht einmal sagen, ob ihr heftiges Herzklopfen mit dem pulsierenden Gefühl in ihrer Schläfe zusammenhängt. Gedanken, die ihr völlig fremd sind, hallen ihr durch den Kopf – frustrierte, wütende, verängstigte, verwirrte und resignierte.

Sie ist immer ein rationaler Mensch gewesen. Bis heute.

Sie betrachtet ihn, wie er da im Bett liegt. Es ist das erste Mal, dass er im Krankenhaus ist. Nein, das zweite Mal. Das erste Mal war vor dreizehn Jahren, bei seiner Geburt. Damals war sie ganz ruhig und so gut vorbereitet, dass sie sogar den Kaiserschnitt vorhersehen konnte, noch ehe die Ärzte sich dafür entschieden.

Auf dies hier hat sie sich nicht vorbereiten können.

Sie drückt seine Hand fester. Sie ist immer noch kalt, aber er wirkt entspannt und atmet regelmäßig. Das Zimmer ist ganz still. Bis auf das elektrische Surren der Maschinen.

»Du«, flüstert sie, denn sie weiß, dass auch Bewusstlose hören können, »sie glauben, dass alles wieder gut wird.«

Sie bricht ihren Versuch ab, Johan Hoffnung einzuflößen.

Sie glauben? In Wirklichkeit wissen sie es nicht.

Als sie kam, herrschte das reinste Chaos. Sie hatten Johan mit dem Kopf nach unten in ein Bett gelegt und saugten ihm die Atemwege frei.

Aspiration. Es stand zu befürchten, dass Lungengewebe verätzt worden war.

Schlimmstenfalls.

Ihre verwirrten Fragen. Die ruhigen, aber inhaltslosen Erklärungen der Ärzte.

Ihre Wut und ihr Frust führten zur immer gleichen Frage: Warum zum Teufel wisst ihr nichts Genaues?

Sie mochten ihr von EKG-Überwachung erzählen, von Sauerstoff und Infusionen und ihr erklären, wie die Sonde in der Speiseröhre die Körpertemperatur kontrolliert und die Herz-Lungen-Maschine eine Aufwärmung von innen bewirkt. Sie mochten ihr etwas über die kritische Unterkühlung erzählen und wie sich ein längerer Aufenthalt in kaltem Wasser, gefolgt von einer Nacht mit Regen und starkem Wind, auf den Körper auswirkt. Sie mochten ihr erklären, dass Alkohol die Gefäße weitet und den Temperaturabfall beschleunigt und dass durch den Abfall des Blutzuckerspiegels das Risiko von Hirnschäden besteht.

Erzählen und erklären.

Sie erzählten ihr, dass die Gefahr wahrscheinlich gebannt sei, und sie erklärten, dass die Blutgase und das Röntgenbild der Lunge auf den ersten Blick positiv aussähen.

Nur was hieß das?

Blutgase? Auf den ersten Blick? Die Gefahr wahrscheinlich gebannt?

Sie glauben. Aber sie wissen nichts.

Wenn Johan irgendetwas hören kann, dann hat er alles mit angehört, was sie ihr in diesem Zimmer erzählt haben. Sie kann ihn nicht anlügen. Sie legt ihm die Hand auf die Wange. Das ist keine Lüge.

Als Hurtig das Zimmer betritt, wird sie aus ihren Gedanken gerissen.

»Wie geht es ihm?«

»Er lebt, und er wird wieder ganz gesund. Alles in Ordnung, Jens. Du kannst nach Hause fahren.«

Bandhagen

Hundert Mal pro Sekunde schlägt irgendwo auf der Erde der Blitz ein. Das sind ungefähr acht Millionen Mal pro Tag. Über Stockholm zieht sich das heftigste Gewitter des Jahres zusammen, und zweiundzwanzig Minuten nach zehn schlägt der Blitz an zwei Stellen gleichzeitig ein: in Bandhagen, südlich der Stadt, und in der Nähe des Karolinska-Krankenhauses in Solna.

Polizeimeister Jens Hurtig steht auf dem Krankenhausparkplatz, und er will gerade nach Hause fahren, als sein Handy klingelt. Er zieht die Fahrertür zu, bevor er das Gespräch annimmt. Es ist Polizeichef Dennis Billing. Jens nimmt an, dass er anruft, um zu erfahren, was passiert ist.

Er steckt sich den Kopfhörer ins Ohr und meldet sich: »Hurtig.«

»Ich hab gehört, dass Sie Jeanettes Sohn gefunden haben. Wie geht es ihm?« Der Polizeichef klingt besorgt.

»Er hat ein Schlafmittel bekommen. Sie ist jetzt bei ihm.« Hurtig steckt den Schlüssel ins Zündschloss und lässt den Motor an. »Gott sei Dank scheint er nicht in Lebensgefahr zu sein.«

»Gut, gut. Dann ist sie wahrscheinlich in ein paar Tagen wieder da, vermute ich mal.« Der Polizeichef macht ein schmatzendes Geräusch. »Und wie geht es Ihnen?«

»Was meinen Sie?«

»Sind Sie müde, oder können Sie noch in einer anderen Angelegenheit nach Bandhagen fahren?«

»Worum geht es denn?«

»Jetzt, da Jeanette Kihlberg nicht verfügbar ist, haben Sie die Chance zu zeigen, was in Ihnen steckt. Könnte sich gut machen in Ihren Unterlagen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich verstehe Sie nur zu gut.« Jens Hurtig biegt auf den Norra Länken. »Was ist denn passiert?«

»Man hat dort eine tote Frau gefunden. Womöglich vergewaltigt.«

»Okay, ich fahre sofort hin.«

»So mag ich das. Sie sind ein guter Mann, Jens. Wir sehen uns dann morgen.«

»Ja.«

»Und hören Sie …« Polizeichef Dennis Billing schluckt. »Richten Sie Janne Kihlberg aus, dass es völlig in Ordnung ist, wenn sie eine Weile zu Hause bleiben und sich um ihren Sohn kümmern will. Ehrlich gesagt finde ich, dass sie sich schon längst mehr um ihre Familie hätte kümmern müssen. Man munkelt, dass Åke sie verlassen hat.«

»Was meinen Sie?« Hurtig hat die Andeutungen des Polizeichefs allmählich satt. »Wollen Sie, dass ich ihr ausrichte, sie soll zu Hause bleiben, weil Sie der Meinung sind, dass Frauen besser zu Hause bleiben und sich um Mann und Kinder kümmern, als einen Beruf auszuüben?«

»Jens, beruhigen Sie sich. Ich dachte, wir beide verstehen uns …«

»Nur weil wir beide Männer sind«, fällt Hurtig ihm ins Wort, »heißt das noch lange nicht, dass wir derselben Meinung sind.«

»Nein, natürlich nicht.« Billing seufzt. »Ich dachte nur, dass vielleicht …«

»Tja, ich weiß auch nicht. Wir hören voneinander.« Hurtig legt auf, ehe Dennis Billing noch irgendwas anderes Plumpes oder himmelschreiend Blödes sagen kann.

An der Abfahrt nach Solna sieht er hinüber zur Pampas Marina und zu der Reihe von Segelbooten, die dort liegen.

Ein Boot, denkt er sich. Ich kaufe mir ein Boot.

Der Regen rauscht auf den Sportplatz des Gymnasiums Bandhagen nieder, und Polizeimeister Jens Hurtig schlägt die Kapuze seiner Jacke hoch, bevor er die Autotür zuwirft. Er sieht sich um. Er kennt diesen Ort.

Hier ist er mehrmals als Zuschauer gewesen, als Jeanette Kihlberg in der gemischten Mannschaft des Polizeikorps Fußball gespielt hat. Er weiß noch, dass er überrascht war zu sehen, wie gut sie war. Besser als die meisten männlichen Spieler, und auf ihrer Position im offensiven Mittelfeld war sie die kreativste von allen. Diejenige, die die befreienden Pässe schlug und die Freiräume erkannte, die sonst keiner sah.

Seltsamerweise fiel ihm auch auf, wie sich ihre Eigenschaften als Chefin in ihrem Handeln auf dem Spielfeld widerspiegelten. Sie hatte Autorität, ohne dominant zu sein.

Als sich ihre Mannschaftskameraden bei einer Gelegenheit über eine Schiedsrichterentscheidung ereiferten, schritt sie ein und beruhigte die Gemüter. Sogar der Schiedsrichter hörte ihr zu.

Er fragt sich, wie es ihr wohl gerade geht. Obwohl er keine eigenen Kinder hat und auch nicht den Wunsch verspürt, sich welche zuzulegen, begreift er, dass sie es im Moment wirklich schwer haben muss. Wer kümmert sich um sie, jetzt, da Åke abgehauen ist?

Er weiß, dass ihr die Fälle um die ermordeten Jungen schwer zugesetzt haben. Und nun ist auch noch ihrem eigenen Sohn etwas zugestoßen. Er wünschte sich, er könnte mehr für sie sein als nur ihr Mitarbeiter. Ein Freund.

Er hasst Hierarchien, obwohl er sich ein Leben lang problemlos eingeordnet hat. Menschen sind nun mal nicht gleichwertig, und letztendlich kommt es doch immer nur auf eines an: Geld. Du bist dein Gehaltsscheck.

Er muss an die namenlosen Jungen denken. Sie hatten keinerlei Wert in der schwedischen Gesellschaft. Standen außerhalb des Systems. Aber wenn ein Mensch als vermisst gilt, muss es doch auch jemanden geben, der ihn vermisst.

Die Klassengesellschaft ist noch lange nicht abgeschafft, die Klassen wurden lediglich umbenannt. Adel, Klerus, Bürger und Bauern oder Oberschicht und Unterschicht. Arbeiter und Kapitaleigner.

Männer und Frauen.

Völlig egal.

Mittlerweile bezeichnen sich die Moderaten sogar als die neue Arbeiterpartei, obwohl sie die fettesten Brieftaschen von allen haben. Doch ganz unten am Boden der Gesellschaft gibt es Menschen, die haben nicht einmal eine Brieftasche. Menschen ohne Papiere.

Als Jens Hurtig auf die Gebäude hinter den gekiesten Flächen zueilt, ist er deprimiert.

Schwarz und Åhlund sind bereits da. Sie stehen unter einem Vordach bei den Umkleidekabinen und winken ihn zu sich.

»Mistwetter!« Hurtig fährt sich mit der Hand über die Stirn und wischt sich das Regenwasser aus den Augen. Der Himmel wird jäh von einem Blitz erleuchtet, und er zuckt zusammen.

»Angst vor Gewittern, Chef?« Schwarz boxt ihn gegen den Arm und grinst.

»Was ist passiert?«

Åhlund zuckt mit den Schultern. »Eine tote Frau. Wahrscheinlich vergewaltigt, bevor sie umgebracht wurde. Im Moment schwer zu sagen. Die Jungs schlagen gerade ihr Zelt auf. Wir müssen noch einen Moment warten.«

Hurtig nickt und zieht seine Jacke fester um sich. Er registriert die Flutlichtanlagen an den Längsseiten des Fußballfeldes und überlegt, ob er den Platzwart rufen lassen soll, der sie einschaltet. Aber nein, damit würde er sich nur unnötig Probleme schaffen. Die Presse hat die Nachricht ganz sicher schon im Polizeifunk gehört und wird jeden Moment hier sein. Und ein grölender Mob im Scheinwerferlicht ist nicht gerade das, was er in diesem Augenblick gebrauchen kann. Am besten wickeln sie diese Sache hier so diskret wie möglich ab.

»Wer kommt denn? Nicht zufällig Rydén, oder?«

Åhlund schüttelt den Kopf. »Nein, Billing meinte, er schickt Ivo Andrić, weil wir neulich erst mit ihm zusammengearbeitet haben.«

»Ich dachte, Ivo ist im Urlaub?«

Als Hurtig zum letzten Mal mit dem bosnischen Pathologen gesprochen hat, meinte dieser, dass er sich nach den Ermittlungen zu den ermordeten Jungen erst mal einen langen Urlaub gönnen wolle.

Als er erfahren hatte, dass die Polizei den Fall zu den Akten gelegt hatte, betrachtete Ivo Andrić dies als persönliches Versagen.

»Nein, ich denke nicht.« Åhlund zückt ein Päckchen Kaugummi. »Ich hab allerdings gehört, dass er kündigen wollte, als wir die Ermittlungen zu den Flüchtlingskindern einstellen mussten. Vielleicht hätten wir das alle tun sollen. Will jemand?« Er hält ihnen das Kaugummipäckchen hin.

Hurtig hatte die gleiche Hilflosigkeit und Resignation verspürt.

Der Befehl war von oben gekommen, und wenn er es richtig verstanden hatte, waren die Ermittlungen eingestellt worden, weil die Jungen allesamt illegal im Land gewesen waren. Kinder ohne Identität, von niemandem vermisst und daher nicht annähernd so wichtig wie irgendwelche blonden, blauäugigen Kinder aus Mörby oder Bromma. Vollidioten!, hatte er gedacht. Gefühlskrüppel!

Auch wenn es ihnen nicht gelungen war, ihren Mörder zu finden, hätten diese Kinder zumindest ihre Namen zurückbekommen müssen. Aber das hätte Geld gekostet, und die Kinder hatten niemandem etwas bedeutet.

Personae non gratae.

Die Gleichheit der Menschen ist eine Geschichte mit Fußnoten.

Hurtig steuert das kleine weiße Zelt der Kriminaltechniker an und erkundigt sich nach dem Stand der Dinge, bevor er zurückkehrt und resigniert die Arme hebt. Wieder taucht ein heftiger Blitz das Fußballfeld in weißes Licht. Er fährt zusammen und runzelt die Stirn. Man sieht ihm deutlich an, dass ihm gar nicht wohl ist.

»Andrić kommt gleich. Nach Ansicht der Kriminaltechniker gibt es keine Unklarheiten, sie haben die Lage im Griff. In ein paar Stunden kriegen wir einen ersten Befund.«

»Was heißt das – keine Unklarheiten?« Schwarz sieht ihn neugierig an.

»Die Frau ist offenbar identifiziert. Eine Tasche mitsamt Brieftasche lag neben ihr. Der Führerschein wurde auf eine gewisse Elisabeth Karlsson ausgestellt. Und es deutet alles darauf hin, dass sie vergewaltigt und anschließend ermordet wurde. Aber das kann Andrić besser beurteilen, sobald er die Leiche untersucht hat.« Hurtig reibt sich die kalten Hände. »Die Techniker machen ihren Job, zwei Hundestaffeln durchsuchen die Umgebung, und auf dem Präsidium versuchen sie, Angehörige ausfindig zu machen. Was gibt es sonst noch zu tun?«

»Wie wär’s mit einem Kaffee?«

Ungerührt geht Schwarz zu seinem Wagen.

Das Regenwasser strömt gurgelnd aus der Regenrinne und bildet große Pfützen auf dem Kies.

Wie macht er das nur?, fragt sich Hurtig und folgt ihm.

Bandhagen

Als Ivo Andrić auf den Parkplatz des Gymnasiums Bandhagen fährt, sieht er Hurtig, Schwarz und Åhlund, die in ihre Autos steigen. Sie wollen gerade fahren. Als Jens Hurtig eine Hand hebt, erwidert er den Gruß, bevor er vor den großen Ziegelsteinbau fährt und den Motor abstellt.

Er bleibt noch kurz in seinem Wagen sitzen und starrt über den dunklen, sumpfigen Fußballplatz. In der einen Ecke steht das kleine Zelt der Techniker, in der anderen ein trauriges, verlassenes Fußballtor mit kaputtem Netz. Der Regen rauscht nur so herab und macht keinerlei Anstalten, schwächer zu werden. Andrić will so lange wie möglich im Auto sitzen bleiben. Er ist müde und fragt sich, was er hier überhaupt ausrichten soll. Er weiß, dass er von vielen als führender Kopf in der Rechtsmedizin betrachtet wird und dass er Erfahrung hat wie kaum ein anderer. Trotzdem. Seine Erfahrungen aus seiner Arbeit im Ausland sollten ihm eigentlich eine andere Art von Aufgaben bescheren.

Ausland, denkt er. Bosnien. Das Land, das er einst seine Heimat nannte.

Jetzt sitzt er hier mit seiner grässlichen Müdigkeit und den vom Schlaf noch ganz verklebten Augen. Er denkt an die Vorfälle der letzten Zeit, an die toten Jungen.

Den ersten hatte man in einem Gebüsch am Eingang zur U-Bahn-Station am Thorildsplan gefunden. Der Körper war so gut wie mumifiziert gewesen.

Dann kam der weißrussische Junge auf Svartsjölandet, gefolgt von der einbalsamierten Leiche an der Boule-Anlage am Danvikstull. Allen drei war gemeinsam, dass sie schwer misshandelt worden waren.

Am Ende kam noch Samuel Bai dazu, der Kindersoldat, den man auf einem Dachboden im Monument-Viertel am Skanstull fand.

Während einiger warmer Sommerwochen nahmen diese vier Fälle seine gesamte wache Zeit in Anspruch, und Ivo Andrić ist nach wie vor der Meinung, dass all diese Morde von ein und demselben Täter begangen wurden.

Die Ermittlungen hat Jeanette Kihlberg geleitet, und an ihr hat er nicht das Geringste auszusetzen. Sie hat ihre Arbeit gut gemacht, aber ansonsten strotzte die Ermittlung nur so von Fehlern und Versäumnissen. Nach wochenlanger Arbeit ist daraus am Ende eine Nicht-Ermittlung geworden.

Denn auf der anderen Seite standen ein Polizeichef und ein Staatsanwalt, die ihre Arbeit nicht getan haben, und diverse angesehene Menschen mit falschen Alibis. Der Mangel an Energie, den er bei der ganzen Sache wahrgenommen hat, in Kombination mit dem Unwillen, sämtliche verfügbaren Register zu ziehen, hat ihn vollends desillusioniert, und wo sein Vertrauen in das Rechtswesen schon immer mäßig war, ist es inzwischen völlig ausradiert.

Als der Staatsanwalt den Fall ad acta legen ließ, hat dies das letzte bisschen Luft aus ihm herausgelassen.

Ivo Andrić zieht sich die Jacke fester um den Körper und setzt seine Baseballkappe auf. Er macht die Autotür auf, tritt in den strömenden Regen hinaus und trabt auf die Absperrung zu.

Elisabeth Karlsson liegt auf der Seite im nassen Kies neben dem Fußballfeld des Gymnasiums. Ihr linker Arm bildet einen derart unnatürlichen Winkel, dass er zweifellos gebrochen sein muss. Ansonsten sind auf den ersten Blick keine schweren Verletzungen zu erkennen.

Ivo Andrić nimmt zur Kenntnis, was er vom Tatort selbst ablesen kann. Die Frau wurde Opfer sexueller Gewalt, aber die Todesursache wird sich erst bestimmen lassen, sobald der Körper in der Rechtsmedizin Solna im Trockenen liegt. Er verkündet, dass die tote Frau abtransportiert werden kann, und ein paar Sanitäter hüllen ihre Leiche in einen grauen Plastiksack.

Mit langen Schritten geht Ivo Andrić zu seinem Auto zurück.

Was er hier gesehen hat, hat in ihm einen Verdacht aufkommen lassen, den er möglichst rasch bestätigen will.

Vita bergen

Sofia Zetterlund hat große Gedächtnislücken. Schwarze Löcher, an denen sie in ihren Träumen und auf ihren endlosen Spaziergängen vorüberkommt. Manchmal weiten sich diese Löcher, wenn sie einen Duft wiederzuerkennen glaubt oder wenn jemand sie mit einem ganz bestimmten Blick ansieht. Bilder erstehen vor ihrem inneren Auge, wenn sie das Geräusch von Holzschuhen auf Kies hört oder wenn sie jemanden von hinten auf der Straße sieht. Bei solchen Gelegenheiten fühlt es sich an, als raste ein erbarmungsloser Wirbelsturm durch den inneren Kern, den Sofia als ihr Ich bezeichnet.

Sie weiß, dass sie unbeschreibliche Dinge erlebt hat.

Es gab einmal ein kleines Mädchen namens Victoria, und als sie drei Jahre alt war, baute ihr Vater einen Raum in ihr. Einen leeren Raum, in dem es nur Schmerz und Gefühlskälte gab. Im Laufe der Jahre wurde dieser Raum mit stabilen Wänden aus Trauer, einem Boden aus Rachedurst und einem soliden Dach aus Hass versehen.

Der Raum war so hermetisch verschlossen, dass Sofia ihn lange nicht verließ.

Und dort drinnen sitzt sie jetzt wieder.

Das war nicht ich, denkt Sofia. Es war nicht meine Schuld.

Ihr erstes Gefühl beim Erwachen ist Schuld. Jede Faser ihres Körpers wappnet sich zur Flucht, zur Verteidigung.

Sie steht auf, streckt die Hand nach der Schachtel mit den Paroxetin-Tabletten aus und schluckt zwei davon allein mithilfe ihres Speichels. Sie lehnt sich zurück und wartet darauf, dass Victorias Stimme endlich verstummt. Nicht ganz – das tut sie nie –, aber zumindest in einem Maße, dass sie sich selbst wieder hören kann.

Dass sie Sofias Willen wahrnehmen kann.

Was ist eigentlich passiert?

Geruchserinnerungen. Popcorn, regennasser Kies. Erde.

Irgendjemand wollte sie ins Krankenhaus fahren, aber sie hat sich geweigert.

Dann nichts mehr. Vollkommene Schwärze. Sie kann sich nicht mehr daran erinnern, in ihre Wohnung zurückgekehrt zu sein, und wie sie von Gröna Lund nach Hause gekommen ist, weiß sie erst recht nicht mehr.

Wie spät ist es?, fragt sie sich.

Ihr Handy liegt auf dem Nachttisch. Ein Nokia, ein altes Modell. Victoria Bergmans Handy. Sie muss es loswerden.

Das Display zeigt 07.33 Uhr an, außerdem einen verpassten Anruf. Sie drückt auf eine Taste, um sich die Nummer anzeigen zu lassen.

Sie erkennt sie nicht wieder.

Nach zehn Minuten hat sie sich so weit beruhigt, dass sie aufstehen kann. Die Wohnung riecht ungelüftet, und sie reißt erst einmal das Wohnzimmerfenster auf. Die Borgmästargatan ist menschenleer und regennass. Links thront majestätisch die Sofia-Kirche mitten im spätsommermüden Grün des Vitabergsparks, und vom Nytorget zieht der Geruch von frisch gebackenem Brot und Abgasen herüber.

Ein paar geparkte Autos.

Am Fahrradständer schräg gegenüber hat eines der zwölf Fahrräder einen Platten. Den hatte es gestern noch nicht. Details, die ihr im Gedächtnis bleiben, ob sie es will oder nicht.

Wenn jemand sie fragen würde, könnte sie die Farben all dieser Fahrräder in der richtigen Reihenfolge nennen. Von rechts nach links und umgekehrt. Sie müsste noch nicht einmal überlegen. Sie weiß, dass sie dabei richtigliegt.

Erst das Paroxetin macht sie weicher, beruhigt ihr Gehirn und ermöglicht ihr einen Alltag.

Gerade als sie beschließt, duschen zu gehen, klingelt das Telefon.

Es klingelt immer noch, als sie unter die Dusche steigt.

Das heiße Wasser hat eine belebende Wirkung, und während sie sich abtrocknet, fällt ihr wieder ein, dass sie bald allein sein wird. Und die Freiheit haben wird zu tun, was immer sie will.

Es ist schon über drei Wochen her, dass ihre Eltern in ihrem Haus verbrannt sind. Sie waren in der Sauna, und dem vorläufigen Ermittlungsbericht zufolge ist der Brand durch einen Fehler in der Elektronik des Aggregats verursacht worden.

Ihr Elternhaus auf Värmdö ist jetzt eine Ruine, sämtliche Besitztümer liegen in Schutt und Asche.

Abgesehen von der Versicherung des Hauses, die ungefähr vier Millionen wert ist, hatten ihre Eltern Ersparnisse in Höhe von neunhunderttausend Kronen sowie ein Aktienportefeuille, das rund fünf Millionen einbringen wird.

Sofia hat Viggo Dürer, den Anwalt der Familie, damit beauftragt, die Aktien so schnell wie möglich zu verkaufen und den Erlös auf ihr Privatkonto einzuzahlen. Schon bald wird sie über fast zehn Millionen Kronen verfügen.

Damit hat sie genug Geld, um sich für den Rest ihres Lebens keine finanziellen Sorgen mehr machen zu müssen. Sie kann sich niederlassen, wo sie will. Neu anfangen. Ein anderer Mensch werden.

Aber noch ist es nicht so weit. Bald, aber noch nicht jetzt.

Im Moment braucht sie die Routine, die die Arbeit ihr gibt. Die Augenblicke, in denen sie an nichts denken muss, sondern einfach auf Autopilot funktioniert. Zu tun, was man von ihr erwartet, gibt ihr die notwendige Ruhe, um sich Victoria vom Leib zu halten.

Nachdem sie sich abgetrocknet hat, zieht sie sich an und geht in die Küche, schaltet die Kaffeemaschine an, holt ihren Laptop und stellt ihn auf den Küchentisch.

Die Internetauskunft verrät ihr, dass die unbekannte Telefonnummer zum Polizeirevier Värmdö gehört, und sie spürt, wie sich ihr Magen zusammenzieht. Haben sie etwas entdeckt? Und wenn ja, was?

Sie steht auf und nimmt sich eine Tasse Kaffee. Beschließt, dass sie ruhig bleiben und abwarten wird. Um dieses Problem wird sie sich später kümmern.

Sie setzt sich an den Computer, öffnet einen Ordner namens »VICTORIA BERGMAN« und sieht sich die fünfundzwanzig Textdokumente an. Sie alle tragen den Titel »Krähenmädchen« und sind durchnummeriert.

Ihre Erinnerungen.

Sie weiß, dass sie krank gewesen ist und es notwendig war, all diese Erinnerungen zusammenzutragen. Sie hat jahrelang mit sich selbst gesprochen, hat die Monologe aufgezeichnet und anschließend analysiert. Durch diese Arbeit lernte sie Victoria kennen, bis sie sich am Ende mit dem Gedanken anfreunden konnte, fortan mit ihr zusammenzuleben.

Aber jetzt, da sie weiß, wozu Victoria fähig ist, will sie sich nicht mehr von ihr manipulieren lassen.

Sie markiert sämtliche Dokumente des Ordners, atmet tief durch und klickt dann auf Löschen.

Ein Dialogfenster öffnet sich und fragt, ob sie sich sicher ist, dass sie den gesamten Inhalt löschen will.

Sie denkt darüber nach.

Die Entscheidung, sämtliche aufgezeichneten Selbstgespräche zu vernichten, hat sie schon vor einer ganzen Weile gefällt, aber bis jetzt hatte sie nie den Mut, es wirklich in die Tat umzusetzen.

»Nein, ich bin mir nicht sicher«, sagt sie laut und klickt auf Nein. Es fühlt sich an wie Ausatmen.

Sie macht sich Sorgen um Gao. Der Junge ohne Vergangenheit, der aus Zufall zu einem Teil ihres Alltags geworden ist. Aber – war das wirklich ein Zufall?

Sie hat ihn im Regionalzug in einem Zustand völliger Klarheit angetroffen und sofort erkannt, wie verletzlich er aussah. Als der Zug in Karlberg hielt, nahmen sie einander bei der Hand und trafen eine stille Abmachung.

Seitdem lebt er in ihrem geheimen Zimmer hinter dem Bücherregal. Die täglichen Übungen haben ihn physisch stark und belastbar gemacht. Gleichzeitig hat er eine unglaubliche mentale Stärke entwickelt.

Während sie noch überlegt, kocht sie einen großen Topf Brei und befüllt damit eine Thermoskanne, die sie ihm bringt. Er liegt nackt auf dem Bett in dem heimeligen, abgedunkelten Zimmer, und sie sieht an seinem Blick, dass er meilenweit entfernt ist.

Gao ist durch seine Gegenwart, seine vollkommene Hingabe und kompromisslose Gewaltbereitschaft zu Victorias gehorsamem Werkzeug geworden.

Sie beide sind wie zwei fremde Körperteile, die ihr implantiert wurden. Aber wo ihr Körper Victoria akzeptiert hat, stößt er Gao ab.

Was soll sie jetzt mit ihm anfangen? Mittlerweile stellt er für sie eher eine Belastung dar als eine Bereicherung.

Obwohl sie stundenlang geputzt hat, hängt immer noch Uringestank in der Luft. Auf dem Boden liegen ordentlich aufgestapelt seine Zeichnungen.

Sie stellt die Thermoskanne auf den Boden neben sein Bett. Wasser kann er sich jederzeit in der Gästetoilette holen.

Nachdem sie wieder hinausgegangen ist, schiebt sie das Bücherregal zurück an seinen Platz, sodass es die Tür verdeckt, und hängt den Haken wieder ein. Bis zum Abend kommt er jetzt zurecht.

Die Zunge

lügt und gibt Widerworte. Gao Lian aus Wuhan muss darauf Acht geben, was die Leute sagen.

Nichts kann ihn überraschen, denn er hat alles unter Kontrolle. Er ist schließlich kein Tier.

Er weiß, dass Tiere mit Abweichungen von der Normalität nicht umgehen können. Eichhörnchen horten vor dem Winter Nüsse in Baumstämmen, doch wenn das Loch zufriert, verstehen sie das nicht. Für sie ist es dann, als hätte es die Nüsse nie gegeben, nur weil der Zugang versperrt ist. Das Eichhörnchen gibt auf und stirbt.

Gao Lian weiß, dass er auf Abweichungen von der Normalität vorbereitet sein muss.

Die Augen

sehen das Verbotene, und Gao muss die Augen zumachen und warten, bis es wieder verschwindet.

Zeit ist gleichbedeutend mit Warten und daher nichts.

Zeit ist absolut nichts. Umsonst. Null. Leerstelle.

Was dann geschieht, ist das absolute Gegenteil von Zeit.

Wenn sich die Muskeln anspannen, der Magen sich zusammenzieht und rasche Atmung für reichlich Sauerstoff sorgt, kann er mit allem eins werden. Der Puls, der zuvor ganz langsam war, steigert sich zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen, und alles geschieht simultan.

In diesem Augenblick ist die Zeit nicht mehr lächerlich, sie ist alles. Jede Sekunde wird mit Leben erfüllt, mit einer eigenen Geschichte, mit einem Anfang und einem Ende. Eine Hundertstelsekunde des Zweifelns kann schicksalsschwere Konsequenzen nach sich ziehen. Den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen.

Zeit ist der beste Freund des Willensschwachen und Trägen.

Die Frau hat ihm Papier und Stift gebracht, und nun kann er stundenlang im Dunkeln sitzen und zeichnen. Die Motive schöpft er aus seinem Erinnerungsvorrat. Menschen, die er einmal getroffen hat, Dinge, die er vermisst, und Gefühle, die er einmal gehabt, aber inzwischen vergessen hat.

Ein kleiner Vogel im Nest mit seinen Jungen.

Als er fertig ist, legt er das Blatt weg und fängt von vorne an.

Er hält nie inne, um zu betrachten, was er gezeichnet hat.

Die Frau, die ihn füttert, ist weder wahr noch falsch, und die Zeit vor ihr existiert für Gao nicht mehr. Nichts davor und nichts danach. Zeit ist nichts.

Bei ihm ist alles nach innen gerichtet, auf die eigene Mechanik der Erinnerungen.

Bistro Amica

Jeanette verlässt Johans Zimmer und macht sich auf den Weg zum Café am Haupteingang des Krankenhauses. Sie ist Polizistin, was bedeutet, dass sie ihre Arbeit nicht einmal unter diesen Umständen links liegen lassen kann. Sie weiß, dass das später gegen sie verwendet werden könnte.

Als die Fahrstuhltüren aufgleiten und sie in die überfüllte Eingangshalle tritt, hebt sie den Blick und sieht munteres Treiben und lächelnde Gesichter. Sie füllt die Lunge mit der Luft, die hier so voller Leben ist. Obwohl sie es sich kaum eingestehen mag, weiß sie, dass sie eine halbe Stunde Pause vom besorgten Wachen an der Bettkante braucht – in jenem Zimmer, in dem die Luft stillsteht.

Hurtig stellt ein Tablett mit zwei dampfenden Tassen Kaffee und zwei Zimtschnecken auf den Tisch und setzt sich. Jeanette nimmt sich eine Tasse und nippt daran. Der Kaffee wärmt ihr den Magen, und sie bekommt Lust auf eine Zigarette.

Hurtig sieht sie über den Rand seiner Kaffeetasse aufmerksam an. Sein kritischer Blick ist ihr unangenehm.

»Also, wie geht es ihm denn nun?«, erkundigt er sich.

»Alles unter Kontrolle. Das Schlimmste ist für mich im Moment, nicht zu wissen, was ihm zugestoßen ist.«

Das Gefühl kennt sie noch aus der Zeit, als Johan klein war. Sie kann sich daran erinnern, wie er manchmal laut heulend zu ihr rannte, untröstlich und außerstande, ihr zu erzählen, was passiert war. Er hatte keine Worte dafür. Eigentlich hat sie gedacht, dass diese Zeiten für immer vorbei wären.

Aber jetzt …

Nicht einmal Sofia konnte ihr sagen, was vorgefallen war. Wie sollte es dann Johan in Worte fassen können?

»Das kann ich verstehen, aber darüber könnt ihr doch später reden, wenn es ihm besser geht und er wieder nach Hause darf, oder nicht?«

»Natürlich.« Jeanette seufzt, bevor sie fortfährt: »Aber allein da oben in dieser Stille zu sitzen macht mich einfach wahnsinnig.«

»Ist Åke immer noch nicht hier gewesen? Oder deine Eltern?«

»Åke hat eine Ausstellung in Polen und wollte schon heimkommen, aber als wir Johan schließlich gefunden haben …« Jeanette zuckt mit den Schultern. »Na ja, er könnte ohnehin nicht viel ausrichten. Und meine Eltern sind auf einer China-Reise. Die sind erst mal für ein paar Monate weg.« Jeanette sieht, dass Hurtig etwas sagen will, aber sie kommt ihm zuvor. »Wie war es in Bandhagen?«

Hurtig lässt ein Stück Würfelzucker in seine Tasse gleiten und rührt um. »Ivo ist noch nicht ganz fertig, also warten wir noch.«

»Und was sagt Billing?«

»Abgesehen davon, dass er findet, du solltest bei Johan zu Hause bleiben und wärst selbst daran schuld, dass Åke sich von dir scheiden lassen will?« Hurtig seufzt und nimmt einen Schluck Kaffee.

»Hat er das tatsächlich gesagt, diese falsche Schlange?«

»Jupp. Geradeheraus und ohne Schnörkel.« Er verdreht die Augen.

Jeanette fühlt sich erschöpft, der Lage nicht länger gewachsen. »Teufel auch.« Sie lässt den Blick durch den Raum schweifen.

Hurtig schweigt, bricht ein Stück von seiner Zimtschnecke ab und schiebt es sich in den Mund. Sie sieht ihm an, dass ihm irgendetwas auf der Seele liegt.

»Was ist los? Worüber denkst du nach?«

»Du hast diese Sache immer noch nicht aufgegeben, oder?«, sagt er zögerlich. »Das sehe ich dir doch an. Du bist wütend, dass man uns von dem Fall abgezogen hat.« Er wischt ein paar Krümel weg, die in seinen Bartstoppeln hängen geblieben sind.

»Was meinst du?« Jeanette ist mit einem Schlag hellwach.

»Tu nicht so. Du weißt genau, was ich meine. Lundström ist ein Arschloch, aber er hat niemals …«

»Hör auf!«, fällt Jeanette ihm erneut ins Wort.

»Aber …« Hurtig hebt hilflos die Hände und verschüttet dabei ein bisschen Kaffee. Reflexartig greift Jeanette zu einer Serviette und wischt den Tisch ab.

Einen Augenblick lang denkt sie darüber nach, dass sie in Zukunft vielleicht nur noch ihren eigenen Dreck wird wegmachen müssen. Schnell verdrängt sie diesen Gedanken wieder, bevor er sich in ihr festsetzen kann. Sie muss sich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren.

»Jens, jetzt mal zu …« Sie macht eine kurze Pause. »Ich bin genauso frustriert wie du über all das, was da passiert ist, und finde die ganze Geschichte ganz grässlich. Aber gleichzeitig leuchtet es mir ein, dass es finanziell nicht mehr zu verantworten wäre, wenn wir …«

»Flüchtlingskinder. Verdammte illegale Flüchtlingskinder … finanziell nicht zu verantworten. Ich muss gleich kotzen!« Hurtig steht auf, und Jeanette sieht, wie aufgewühlt er ist.

»Setz dich wieder hin, Jens. Ich bin noch nicht fertig.« Sie wundert sich darüber, dass sie so autoritär klingt, obwohl sie doch schrecklich erschöpft ist.

Hurtig seufzt und setzt sich wieder.

»Wir machen es folgendermaßen … Ich muss mich um Johan kümmern. Keine Ahnung, wie lange das dauern wird. Du hast die Frau in Bandhagen, und diese Ermittlungen haben selbstverständlich erst mal oberste Priorität.« Sie legt eine Pause ein, bevor sie fortfährt: »Aber du weißt genauso gut wie ich, dass wir auch noch Zeit für andere Dinge finden werden … wenn du verstehst, was ich meine?« Sie sieht, wie Hurtigs Augen aufleuchten, und spürt, dass auch in ihr selbst immer noch etwas brennt. Ein Gefühl, das sie fast schon vergessen hat. Enthusiasmus.

»Du meinst, wir sollen weitermachen, aber heimlich?«

»Ganz genau. Aber das muss unter uns bleiben. Wenn das rauskommt, sind wir beide geliefert.«

Hurtig lächelt. »Tatsache ist, dass ich schon ein paar Anfragen rausgeschickt habe, auf die ich hoffentlich in dieser Woche noch Antworten bekomme.«

»Sehr gut, Jens.« Jeanette erwidert sein Lächeln. »Ich mag dich, aber diese Sache müssen wir geschickt anstellen. Mit wem hast du Kontakt aufgenommen?«

»Unter anderem mit Ivo Andrić. Nach seinen Angaben hatte der Junge vom Thorildsplan Penicillin im Körper – abgesehen von den ganzen anderen Scheißdrogen und Betäubungsmitteln.«

»Penicillin? Und was bedeutet das?«

»Dass der Junge irgendwann bei einem Arzt oder in einem Krankenhaus gewesen sein muss. Wahrscheinlich bei einem Arzt, der Flüchtlinge behandelt, die keine Papiere haben und sich irgendwo verstecken. Ich kenne da ein Mädchen, das für die Schwedische Kirche arbeitet. Sie hat versprochen, mir ein paar Namen zu nennen.«

»Das klingt doch klasse! Und ich habe immer noch Kontakt zum UN-Flüchtlingshilfswerk in Genf.« Jeanette merkt, wie sich allmählich wieder eine Perspektive für die Zukunft einstellt. Es gibt ein Später, nicht nur dieses bodenlose Jetzt. »Und dann habe ich noch eine Idee.«

Hurtig sieht sie erwartungsvoll an.

»Was würdest du davon halten, ein Täterprofil erstellen zu lassen?«

Hurtig ist sichtlich überrascht. »Aber wie sollen wir denn einen Psychologen finden, der an einem inoffiziellen …« Dann fällt bei ihm der Groschen. »Du denkst an Sofia Zetterlund?«

Jeanette nickt. »Ja. Ich habe sie allerdings noch nicht darauf angesprochen. Ich wollte erst hören, was du dazu sagst.«

»Mann, Jeanette!« Hurtig grinst breit. »Du bist wirklich die beste Chefin, die ich je hatte.«

Jeanette sieht ihm an, dass er das ernst meint.

»Schön zu hören. Im Moment erkenne ich mich nämlich selbst kaum wieder …« Sie denkt an Johan und an die Scheidung von Åke und an alles, was dazugehört. Ihre private Zukunft steht in den Sternen. Ist ihre einsame Wache an Johans Krankenbett ein Vorgeschmack darauf, wie die Dinge in Zukunft aussehen werden? Die Einsamkeit. Åke ist zu seiner neuen Partnerin gezogen, der Galeristin Alexandra Kowalska. Konservatorin, stand auf ihrer Visitenkarte. Klingt nach jemandem, der tote Tiere ausstopft. Der scheinbar Totem neues Leben einhaucht.

»Gehen wir kurz raus, eine rauchen?« Hurtig steht auf, als wäre ihm gerade klar geworden, dass er Jeanette aus ihren trüben Gedanken reißen muss.

»Aber du rauchst doch gar nicht?«

»Manchmal muss man eben eine Ausnahme machen.« Er zieht eine Schachtel aus der Tasche und hält sie ihr hin. »Ich kenne mich nicht aus mit Zigaretten, aber ich hab dir vorhin diese hier gekauft.«

Jeanette sieht die Schachtel an und lacht. »Menthol?«

Sie ziehen ihre Jacken an und gehen vor die Tür. Der Regen lässt allmählich nach, und am Horizont kann man bereits einen hellen Streifen erkennen, der von besserem Wetter kündet. Hurtig zündet sich eine Zigarette an, die er an Jeanette weiterreicht, und dann noch eine für sich selbst. Er nimmt einen tiefen Zug, hustet und lässt den Rauch durch die Nase hinaus.

»Bleibst du denn in eurem Haus? Kannst du dir das leisten?«, fragt er.

»Ich weiß es noch nicht. Für Johan muss ich versuchen, es irgendwie hinzukriegen. Außerdem sind für Åke die Dinge ja mittlerweile ins Rollen gekommen, seine Bilder verkaufen sich allmählich.«

»Ja, ich hab die Kritik in der DN gelesen. Die konnten sich ja kaum wieder einkriegen.«

»Ist schon ein bisschen bitter, wenn man zwanzig Jahre lang erst seine Arbeit subventioniert und dann nichts mehr davon hat, wenn er endlich die Ernte einfährt.«

Åke hatte im Sommer Kontakt mit der Galeristin und Konservatorin Alexandra aufgenommen, und dann ging alles ganz schnell. Åke stieg zu einem der leuchtendsten Sterne am schwedischen Kunsthimmel auf und verließ Jeanette für die jüngere, attraktivere Alexandra.

Jeanette hätte nie geglaubt, dass Johan und sie ihm so wenig bedeuteten, dass er ihnen den Rücken kehren und gehen würde, ohne auch nur einen winzigen Augenblick zu zögern.

Hurtig sieht sie nachdenklich an, drückt seine Zigarette aus und hält ihr die Tür auf.

»Tja, es fing alles so gut an, und dann …«

Er nimmt sie in den Arm, und sie merkt, wie sehr sie das gerade braucht. Aber ihr ist auch klar, dass Zärtlichkeitsbekundungen so hohl sein können wie tote Baumstämme. Sie ist nicht mehr in der Lage, tot von lebendig zu unterscheiden, denkt sie, als sie sich darauf gefasst macht, wieder in die Stille von Johans Krankenzimmer zurückzukehren.

Rechtsmedizinisches Institut

Jede Tat birgt unzählige denkbare Möglichkeiten, die wiederum zu neuen Schlussfolgerungen führen. Doch für Ivo Andrić sieht der Tod immer gleich aus, selbst wenn die Ursache für sein Eintreten jedes Mal wieder einzigartig ist.

Auf der Fahrt von Bandhagen nach Solna denkt Ivo Andrić darüber nach, was er gerade gesehen hat. Eine Todesursache ist nicht selten jenseits der Grenze zwischen Vernunft und Fantasie zu finden, und in diesem Bereich kann nur noch das Hirn eines kranken Menschen diese Grenze bestimmen.

Doch nach allem, was er am Tatort feststellen konnte, glaubt er bereits zu wissen, was der Frau passiert ist, und er ist insgeheim erleichtert. Es hätte viel schlimmer sein können.

Sobald er in Solna angekommen ist, begibt er sich schnellstmöglich in den Obduktionssaal, weil er eigentlich nur seine Theorie bestätigt sehen will. Alles, was er dazu braucht, ist ein bisschen besseres Licht.

Ivo Andrić betrachtet Elisabeth Karlssons nackten Körper, der auf einem Tisch aus rostfreiem Stahl vor ihm liegt, und nach nicht einmal einer Minute weiß er ganz sicher, was ihren Tod verursacht und dass er mit seinem Verdacht absolut richtiggelegen hat.

Über ihren Bauch und ihre Brust zieht sich ein rotbraunes, farnartiges Muster, und auf ihrem linken Handgelenk bemerkt er ein tiefes Brandmal von der Größe einer Ein-Kronen-Münze. Alles absolut glasklar. Wie aus dem Lehrbuch.

Elisabeth Karlsson war eine Frau, die ganz unwahrscheinliches Pech hatte.

Vita bergen

Sofia Zetterlund schaltet ihren Laptop aus und klappt ihn zu. Nachdem sie nun doch beschlossen hat, die Dateien mit Victorias Erzählungen nicht zu löschen, ist ihr irgendwie leichter ums Herz.

Aber ist Glück der richtige Ausdruck für das Gefühl, das sie empfindet? Sie weiß es nicht.

Vor einem knappen Jahr ist sie glücklich gewesen. Zumindest hat sie geglaubt, glücklich zu sein, und das allein zählt letztendlich, oder nicht?

Dass sich dann alles nur als Kulisse herausgestellt hat, ändert nichts an der Echtheit ihrer damaligen Gefühle. Sie war ehrlich und bereit, alles für ihren Partner Lasse zu tun. Doch Lasse demontierte ihr Leben Stück für Stück, und sie konnte nur mehr hilflos zusehen.

Bis alles in sich zusammenfiel. Bis alles besudelt war.

Viele ihrer Erinnerungen sind vage, und wenn sie an das letzte halbe Jahr zurückdenkt, sieht sie nur noch verschwommene Bilder. Unscharfe Fotos, ohne Fokus.

Sie steht auf, geht zur Spüle und lässt Wasser ein.

Lars Pettersson, der über zehn Jahre ihr Lebensgefährte war, ihr bester Freund und der Mann, an den sie all ihre Träume knüpfte. Der Vertriebsleiter Lars, der immer im Wechsel eine Woche in Deutschland arbeitete und eine Woche bei ihr verbrachte. Lasse, der so viel Geborgenheit geben konnte und der der Vater ihrer Kinder werden sollte. Der ihr immer Blumen mitbrachte.

Die Haut ihrer Hände zieht sich in dem heißen Wasser zusammen, sie schmerzt und wird rot. Trotzdem zwingt sie sich, sie im Wasser zu lassen. Sie stellt sich selbst auf die Probe, will es aushalten.

Denn Lars Pettersson war auch der Mann, der bereits verheiratet war und ein Haus und eine Familie in Saltsjöbaden hatte. Der jede zweite Woche wegfuhr – aber nicht nach Deutschland, sondern zu seiner Familie – und der deswegen auch nie Zeit hatte, mit ihr in den Urlaub zu fahren.

Lars Pettersson, Mikaels Vater.

Der einzige Grund, warum sie ein Verhältnis mit Mikael anfing, war, dass sie sich an Lasse rächen wollte. Doch inzwischen kommt ihr das Ganze völlig sinnlos vor. Leer und jämmerlich. Lasse ist tot, und Mikael ist langsam, aber sicher immer uninteressanter für sie geworden, obwohl sie mittlerweile versucht ist, ihm zu verraten, wer sie wirklich ist.

In den letzten Monaten haben sie sich nur sporadisch gesehen. Mikael hatte viel zu tun und war oft länger auf Dienstreise. Wenn er zu Hause war, hatte sie im Job viel um die Ohren, und die wenigen Male, die sie miteinander redeten, klang er schroff und mürrisch, was in ihr den Verdacht keimen ließ, dass er sich mit einer anderen traf.

Ich mache Schluss, beschließt sie und zieht die Hände aus dem Wasser, dreht den Wasserhahn auf und lässt eiskaltes Wasser darüberlaufen. Erst fühlt sich das gut an und lindernd, doch dann wird die Kälte übermächtig, und wieder zwingt sie sich, den Schmerz auszuhalten. Der Schmerz muss besiegt werden.

Je mehr sie in sich hineinspürt, desto weniger vermisst sie Mikael. Ich bin seine Stiefmutter, stellt sie fest, und gleichzeitig seine Liebhaberin. Ihm die Wahrheit zu sagen wäre ein Ding der Unmöglichkeit.

Sie dreht das Wasser ab und zieht den Stöpsel. Nach einer Weile bekommen ihre Hände allmählich wieder ihre normale Farbe, und als der Schmerz ganz verflogen ist, setzt sie sich zurück an den Küchentisch.

Dort liegt ihr Handy. Sie weiß, dass sie Jeanette anrufen sollte. Aber das widerstrebt ihr. Sie weiß nicht, was sie zu ihr sagen soll. Was sie sagen müsste.