Schattenschrei - Erik Axl Sund - E-Book
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Schattenschrei E-Book

Erik Axl Sund

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Beschreibung

Während Jeanette Kihlbergs Ermittlungen endlich Erfolge zeigen, geht Sofia durch die Hölle. Ist Victoria Bergman schuldig?

Endlich zeigen sich mehr und mehr Erfolge in den Ermittlungen der Kommissarin Jeanette Kihlberg. Sie glaubt, zwei Frauen als Mörderinnen identifiziert zu haben. Aber damit sind die Verbrechen noch nicht aufgeklärt ... Und auch, was die unauffindbare Victoria Bergman mit den Morden zu tun hat, ist noch unklar. Derweil wird für Psychologin Sofia die Zusammenarbeit mit Jeanette immer schwieriger, weil sie dabei ihrem eigenen, persönlichen Kern immer näher kommt. Und das führt sie geradewegs in die Hölle.


"Krähenmädchen" (Band 1 der Victoria-Bergman-Trilogie) ist im Juli 2014 erschienen.
"Narbenkind" (Band 2 der Victoria-Bergman-Trilogie) ist im September 2014 erschienen.
"Schattenschrei" (Band 3 der Victoria-Bergman-Trilogie) ist im November 2014 erschienen.

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Seitenzahl: 533

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Was bisher geschah …

Die Mordfälle an den Jungen, in denen die Kommissarin Jeanette Kihlberg ermittelt, müssen vorerst hinten angestellt werden, als ein ranghoher Geschäftsmann auf bestialische Weise ermordet, ja regelrecht abgeschlachtet wird. Die Indizien lassen auf einen Racheakt schließen. Die Psychologin Sofia Zetterlund, zu der Jeanette inzwischen eine enge Verbindung hat, soll ein Täterprofil erstellen, doch dabei hat sie immer häufiger Bewusstseinsaussetzer. Und dann geschehen weitere Morde, an Frauen, die eines gemeinsam haben: Sie alle waren vor fünfundzwanzig Jahren auf einem Internat in Sigtuna, zusammen mit Victoria Bergman. Während Jeanette und ihre Kollegen immer größere Teile eines perfiden Netzwerkes aufdecken, verliert Sofia immer mehr die Kontrolle …

Über dieses Buch

Parallel zu Victoria Bergmans selbsttherapeutischen Fortschritten werden die Ermittlungen Jeanette Kihlbergs immer erfolgreicher. Es scheint einen Durchbruch zu geben, als sie zwei Frauen aus Sigtuna als Mörderinnen identifiziert zu haben glaubt. Aber damit sind die Verbrechen noch lange nicht aufgeklärt. Und für Sofia Zetterlund wird der fachliche Austausch mit Jeanette immer schwieriger, denn sie kommt dabei immer mehr mit ihrem eigenen innersten Kern in Berührung. Doch schließlich schafft sie es, Jeanette entscheidende Hinweise auf die Männer zu geben, die Victorias Leben zerstört haben. Und nicht nur ihres …

Weitere Informationen zu Erik Axl Sundsowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Erik Axl Sund

Schattenschrei

Psychothriller

Aus dem Schwedischenvon Wibke Kuhn

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Pythians Anvisningar« bei Ordupplaget, Stockholm.Nachweise der zitierten Quellen finden Sie am Ende

1. AuflageDeutsche Erstausgabe Dezember 2014Copyright © der Originalausgabe 2012 by Erik Axl SundCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHPublished by agreement with Salomonsson AgencyUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur MünchenUmschlagmotiv: FinePic®, München und gettyimages/Chris CloseRedaktion: Leena FleglerAG · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-14167-7www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Zum Gedenken an euch, die ihr vergeben habt.

Now I Wanna Sniff Some Glue.

Ramones

Damals

Glaub nicht, von allein würd’ es Sommer

in Garten und Wiese und Wald.

Den Sommer, den muss jemand wecken,

dann blühen die Blumen schon bald.

Ich lasse die Blumen erblühen,

lass sprießen das Gras und den Klee.

Ja, nun kann der Sommer beginnen,

denn schmelzen ließ ich schon den Schnee.

Bis auf sie selbst und die Möwen war der Strand einsam und leer. An das Kreischen der Vögel und das Rauschen der Wellen hatte sie sich schon gewöhnt, nur das Knattern der großen Windschutzplane aus dünnem blauem Plastik ging Madeleine auf die Nerven. Bei diesem Geräusch konnte man einfach nicht einschlafen.

Sie lag auf dem Bauch in der Sonne. Das große Badehandtuch lag zusammengefaltet über ihrem Kopf. Wenn sie ihn zur Seite drehte, konnte sie durch einen kleinen Spalt sehen, was um sie herum geschah.

Zehn Legofiguren.

Und Karls und Annettes kleine Tochter, die unbekümmert am Ufer spielte.

Alle waren nackt – bis auf den Schweinebauern, weil der ein Ekzem hatte, das vor der Sonne geschützt werden müsse, wie er behauptete. Er war unten am Wasser und beaufsichtigte das kleine Mädchen. Sein Hund war ebenfalls dabei, ein großer Rottweiler, dem sie nach wie vor nicht über den Weg traute. Auch die anderen Hunde trauten ihm nicht. Sie waren an einem Holzpfahl angeleint, der in einiger Entfernung in den Sand eingeschlagen worden war.

Sie lutschte an ihrem Zahn. Er wollte einfach nicht aufhören zu bluten, gleichzeitig löste er sich immer noch nicht aus dem Zahnfleisch.

Neben ihr saß wie immer ihr Pflegevater. Er war braun gebrannt, und sein Körper war über und über mit einem kurzen hellen Flaum überzogen, der in der Sonne schimmerte. Ab und zu fuhr er ihr mit der Hand über den Rücken oder rieb sie mit Sonnenöl ein. Zweimal hatte er sie schon gebeten, sich umzudrehen und sich auf den Rücken zu legen, aber sie hatte so getan, als würde sie schlafen und ihn nicht hören.

Neben ihm saß die Frau namens Regina, die von nichts anderem sprechen wollte als von dem Kind, das in ihrem Bauch strampelte und hinauswollte. Ein Mädchen würde es wohl nicht werden, denn ihr Bauch war riesig, während sie ansonsten nicht besonders dick geworden war – ein deutliches Zeichen für einen Jungen, behauptete sie.

Jonathan sollte er heißen, das war hebräisch und bedeutete Geschenk Gottes.

Sie unterhielten sich leise, fast flüsternd, und über das laute Knattern der Windplane konnte man kaum verstehen, was sie sagten. Aber als er der Frau lächelnd über den Bauch streichelte, lächelte sie zurück, und da hörte sie die Frau sagen, dass sie das angenehm finde. Dass seine Hände so weich seien.

Sie war schön mit ihrem langen dunklen Haar und dem Gesicht eines Fotomodells. So hätten bestimmt viele gerne ausgesehen.

Doch der Bauch der Frau war eklig. Der Nabel war nach außen gedrückt und sah aus wie eine kleine, geschwollene rote Kugel. Außerdem zog sich ein Streifen pechschwarzer Haare vom Nabel bis zur Scham. So viele Haare hatte sie bis jetzt nur bei Männern gesehen, und mehr wollte sie davon auch nicht zu Gesicht bekommen.

Sie drehte den Kopf unter dem Handtuch zur anderen Seite. Dort war der Strand völlig menschenleer, nichts als Sand bis zum Steg hinunter und der rot-weiße Leuchtturm in der Ferne. Nur die Möwen waren dort zahlreicher. Vielleicht hatte irgendein Urlauber seine Abfälle nicht mitgenommen.

»Hey, du bist ja aufgewacht.« Seine Stimme war sanft. »Komm, dreh dich mal auf den Rücken, sonst bekommst du noch einen Sonnenbrand.«

Schweigend gehorchte sie und schloss die Augen, während sie hörte, wie er die Flasche mit dem Sonnenöl schüttelte. Er strich ihr sorgfältig den Sand von der Haut, eine Art von Fürsorglichkeit, die sie nicht ganz verstand. Sie legte sich das Badehandtuch wieder übers Gesicht. Er protestierte nicht.

Seine Hände waren warm, und sie wusste nicht, was sie fühlen sollte. Es war angenehm und unangenehm zugleich, genau wie ihr Zahn. Der juckte und kribbelte, und wenn sie mit der Zunge am oberen Rand entlangfuhr, schauderte sie, weil sie die raue Kante spürte. Genauso schauderte sie unter der Berührung seiner Hände.

»Du bist so süß«, sagte er.

Sie wusste, dass ihr Körper weiter entwickelt war als der von vielen anderen gleichaltrigen Mädchen. Sie war größer als die meisten anderen und bekam allmählich sogar Brüste. Auf jeden Fall glaubte sie das, denn sie fühlten sich geschwollen an, und es juckte, als würden sie wachsen. Genauso juckte es auch unter dem Zahn, der ihr bald ausfallen würde. Und dem alten Zahn würde ein neuer Zahn folgen, ein Erwachsenenzahn.

Manchmal glaubte sie, verrückt werden zu müssen von dem ganzen Jucken. Es juckte sogar in ihrem Skelett, als würde es so schnell wachsen, dass die Knochen am Fleisch scheuerten.

Er hatte behauptet, dass der Körper im Nu älter werde, aber dass dies nichts sei, wofür man sich schämen müsste. Schon in ein paar Jahren würde ihr Körper von all diesem Wachstum ganz mitgenommen sein. Voller Risse, kleiner Streifen, die sie bekommen würde, weil sich die Haut dehnte, wenn man wuchs. Ungefähr so wie über dem Bauch einer Schwangeren.

Er hatte auch betont, wie wichtig es sei, dass sie ihren Körper liebte und dass es förderlich für ihr Selbstbewusstsein sei, im Beisein anderer so oft wie möglich nackt zu sein. Er nannte es soziale Nacktheit, und das bedeutete, dass man anderen Menschen näherkam und sie akzeptierte, wie sie nun mal waren, mit all ihren körperlichen Makeln. Die Nacktheit gebe einem Geborgenheit.

Sie glaubte ihm nicht, fand aber trotzdem, dass seine Hände sich angenehm anfühlten, obwohl sie sich gleichzeitig dagegen sträubte.

Er beendete seine Berührungen schneller, als sie erwartet hatte.

Eine gedämpfte Frauenstimme bat ihn, sich hinzulegen, und sie hörte, wie sich seine Ellbogen in den Sand gruben.

»Leg dich hin«, flüsterte die Stimme sanft.

Vorsichtig wandte sie den Kopf. Durch den Spalt unter dem Handtuch sah sie, dass es die dicke Frau war, Fredrika, die sich lächelnd neben ihn setzte.

Sie dachte an Legofiguren. Kleine Menschen aus Plastik, mit denen man tun konnte, was man wollte, und die selbst dann noch lächelten, wenn man sie im Ofen schmelzen ließ.

Sie konnte den Blick nicht abwenden, als die Frau sich über seinen Bauch beugte und den Mund aufmachte. Durch den Spalt unter dem Handtuch sah sie, wie der Kopf der Frau sich langsam auf und ab bewegte. Sie war kurz vorher im Wasser gewesen, die Haare klebten noch an ihren Wangen, und alles sah nass aus. Rot und nass.

Ein Stückchen entfernt sah sie weitere Gesichter. Der Polizist mit dem Schnurrbart stand auf und kam zu ihnen herüber. Sein Körper war behaart und alt und sein Bauch fast so groß wie der Bauch der Schwangeren. Auch er war rot, allerdings von der Sonne, und untenrum war an ihm alles verschrumpelt.

Sie waren nur Legofiguren. Sie verstand sie nicht, konnte aber trotzdem den Blick nicht von ihnen abwenden.

Sie dachte daran, wie sie einmal in der Nähe von Skagen gewesen waren und ihr Pflegevater sie zum ersten Mal geschlagen hatte. Damals hatte sie sie genauso wenig verstanden.

Sie waren an einem belebten Strand gewesen, nicht annähernd so leer wie dieser, und sie alle hatten Badebekleidung getragen. Im Nachhinein wusste sie nicht einmal mehr, warum sie es getan hatte, aber sie war zu einem Mann hinübergeschlendert, der allein auf seiner Decke gesessen, Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht hatte. Sie hatte ihren Badeanzug vor ihm hinuntergezogen, weil sie geglaubt hatte, dass der Mann sie gerne nackt sehen wollte. Doch er hatte nur ein schiefes Grinsen für sie übriggehabt und beiläufig den Zigarettenrauch über sie hinweggepustet.

Ihre Pflegeeltern waren außer sich gewesen, und Papa Peo hatte sie an den Haaren davongeschleift. »Nicht hier!«, hatten sie ihr zugefaucht.

Jetzt gerade waren alle bloß neugierig, und ihre Körper verdeckten die Sonne.

Ihr Zahn juckte, und sie spürte, wie kalt es wurde, sobald sich ein Schatten über sie legte.

Der Rottweiler des Schweinebauern lief ebenfalls herbei. Der Sand spritzte unter seinen Pfoten auf, und er wedelte munter mit dem Schwanz. Die nass glänzende Zunge hing ihm aus dem Maul, und er hechelte, als wäre auch er voll und ganz bei der Sache.

Sie sahen zu. Sie sah zu. Hier gab es nichts, wofür man sich schämen müsste.

Eine der neuen blonden Frauen holte einen Fotoapparat hervor. Es war eine dieser Kameras, die die Bilder sofort ausspuckten. Polarkamera oder so ähnlich. Sie ließ die Moleküle gefrieren und erstarren.

Der Windschutz knatterte im Wind, und sie machte die Augen wieder zu, als die Kamera mit einem Klicken auslöste.

Da auf einmal begann ihr Zahn sich zu lösen.

Das Loch im Zahnfleisch schmerzte kalt und ziehend. Sie spielte mit dem Zahn, während sie weiter zusah.

Es juckte und schmeckte nach Blut.

Södermalm

Der Anfang vom Ende ist ein brennendes blaues Auto am höchsten Punkt des Tantoberget.

Wenn Kriminalkommissarin Jeanette Kihlberg eines bestimmt nicht erwartet hat, dann dass ein brennender Berg inmitten von Södermalm das letzte Stück sein würde, das ihr Bild vervollständigt. Als sie mit ihrem Kollegen Jens Hurtig in hoher Geschwindigkeit an Hornstull vorbeirast und zum Tantoberget hinaufblickt, sieht es aus, als stünde dort ein Vulkan.

Bevor das Gelände zwischen Ringvägen und Årstaviken zum Park wurde, war der Tantoberget im Großen und Ganzen eine Müllhalde, ein Friedhof für den Unrat der Menschen. Nun ist er erneut zu einen Ort geworden, an dem Unrat und Überreste abgeladen werden.

Von den meisten Standorten in Stockholm kann man das Feuer am höchsten Punkt des Parks sehen, denn die Flammen lodern weit über dem Auto auf und haben bereits auf eine herbstlich trockene Birke übergegriffen. Es knistert, Funken sprühen, und das Feuer droht auf die kleine Schrebergartensiedlung überzugreifen, die nur etwa zehn Meter entfernt angrenzt.

In diesem Augenblick hat Jeanette noch keine Ahnung, dass dies der Anfang vom Ende sein und dass bald alles seine Erklärung finden wird. Aber sie ist eben auch nur ein Mensch und erfasst daher nur einen Bruchteil des Ganzen.

Hannah Östlund und ihre Klassenkameradin von der humanistischen Lehranstalt Sigtuna, Jessica Friberg, sind zur Fahndung ausgeschrieben, weil sie in vier Mordfällen dringend tatverdächtig sind.

Das Auto, das gerade oben auf dem Berg von den Flammen verzehrt wird, ist auf Hannah Östlund angemeldet. Aus diesem Grund hat man Jeanette informiert.

Sie fahren über die Hornsgatan bis zum Zinkensdamm, wo sich in schnellem Tempo zwei Feuerwehrautos aus der Gegenrichtung nähern. Hurtig geht vom Gas und lässt sie vor, ehe er selbst rechts in den Ringvägen einbiegt, vorbei am Hockeyfeld und in den Park hineinfährt. Der Weg schlängelt sich den Berg hinauf.

Jeanette Kihlberg sieht, dass sich schon ein paar Menschen eingefunden haben, die den Brand beäugen, aber da das Risiko besteht, dass der Tank explodiert, halten sie einen gewissen Sicherheitsabstand. Vereint in ihrer Hilflosigkeit, weil sie nicht eingreifen können, stehen sie da und teilen die Scham über ihre Feigheit. Sie sehen einander nicht an, und einer blickt sogar zu Boden, kratzt mit dem Schuh über den Kies und schämt sich dafür, kein Held zu sein.

Als Jeanette aussteigt, riecht sie den heißen, giftigen schwarzen Rauch. Es stinkt nach Öl, Gummi und geschmolzenem Kunststoff.

Auf den Vordersitzen zwischen den tödlich heißen Flammen kann sie die Silhouetten zweier lebloser Körper ausmachen.

Barnängen

Der Abendhimmel badet im gelben Schein der Straßenlaternen aus Stockholms Stadtmitte, und nur der Polarstern ist noch mit bloßem Auge zu erkennen. Durch das künstliche Licht der Lampen, Neonröhren und Glühbirnen wirkt der Platz unterhalb der Skanstull-Brücke dunkler – als würde die Stadt völlig im Dunkeln liegen und der Sternenhimmel wäre die einzige Beleuchtung.

Die vereinzelten Nachtschwärmer, die an der Brücke vorbeikommen und ein Auge zum Norra Hammarbyhamnen werfen, sehen bloß Schatten und Licht in mal greller, mal geradezu blendender Giftigkeit.

Sie sehen die gebückte Gestalt nicht, die an dem alten, stillgelegten Gleis entlanggeht, sie sehen nicht, dass sie einen schwarzen Plastiksack trägt, das Gleisbett verlässt und sich an die Kante des Kais stellt, um schließlich von den Schatten der Brücke verschluckt zu werden.

Und es sieht auch keiner, wie der Sack vom schwarzen Wasser verschluckt wird.

Als ein Frachtschiff mit einer Schar Möwen im Schlepptau gemächlich in den Hammarby Sjö gleitet, steckt sich die Person am Kai eine Zigarette an, und man sieht die Glut wie einen roten Punkt im Dunkeln. Der rote Punkt steht einen Moment still, dann bewegt er sich zurück, überquert erneut die Gleise und bleibt bei einem Auto stehen. Dort fällt die Glut mit ein paar roten Funken zu Boden.

Die Gestalt öffnet die Tür und setzt sich ins Auto, macht das Licht an und holt einen Stapel Papiere aus dem Handschuhfach. Nach ein paar Minuten wird die Innenbeleuchtung wieder ausgeschaltet, und das Auto springt an.

Der große weiße Geländewagen fährt vom Parkplatz und dann in Richtung Norden, den Polarstern als Leitstern über der Windschutzscheibe.

Die Frau im Auto erkennt den kränklich gelben Lichtschein von anderen Orten wieder.

Sie sieht, was andere Menschen nicht sehen.

Unten am Kai beobachtete sie, wie kleine Wagen voll mit toten Menschen vorbeiratterten. Draußen auf dem Wasser lag eine Fregatte unter sowjetischer Flagge, deren Bestatzung nach Monaten auf dem Schwarzen Meer unter Skorbut litt, wie sie wusste. Der Himmel über Sewastopol auf der Krim war damals genauso senfgelb wie dieser hier, und in den Schatten unter den Brücken lagen die Trümmer zerbombter Häuser und Schlackehaufen mit dem Abfall aus den Raketenfabriken.

Den Jungen im Sack hat sie vor über einem Jahr an der U-Bahn-Station bei Babyn Jar in Kiew gefunden. Die Station hat immer noch denselben Namen wie das Konzentrationslager, das die Nazis hier während des Krieges errichtet hatten und in dem so viele, die sie gekannt hatte, systematisch hingerichtet worden waren.

Syrez.

Sie hat immer noch den Geschmack des Jungen im Mund. Es ist ein gelber, flüchtiger Geschmack, der an Rapsöl erinnert, an lichtvergiftete Himmel und Getreidefelder.

Syrez. Das Wort allein trieft nur so von diesem gelben Geschmack.

Die Welt ist zweigeteilt, und nur sie weiß davon. Es gibt zwei Welten, und die unterscheiden sich voneinander wie ein Röntgenbild vom menschlichen Körper.

Der Junge im Plastiksack befindet sich in diesem Moment in beiden Welten. Wenn man ihn findet, wird man erkennen, wie er aussah, als er neun Jahre alt war. Sein Körper ist konserviert wie auf einer alten Fotografie, einbalsamiert wie ein Kindkönig aus der Antike. Ein Kind für immer.

Die Frau fährt in nördlicher Richtung weiter durch die Stadt. Sieht die Menschen, an denen sie vorüberfährt.

Ihre Sinne sind aufs Äußerste geschärft, und sie weiß, dass niemand auch nur ansatzweise ahnt, wie es in ihrem Innern aussieht. Niemand weiß, was in ihrem Innersten vor sich geht. Sie sieht die Angst, die präsent ist, wo immer Menschen sind. Sie sieht die bösen Gedanken in der Atmosphäre. Aber niemand weiß, was sie in den Gesichtern der Menschen sieht.

Sie selbst sieht man nicht. Ihr Äußeres ist unauffällig, tadellos diskret. Sie hat die Fähigkeit, sich in einem Zimmer voller Menschen unsichtbar zu machen. Ihr Bild bleibt auf niemandes Netzhaut hängen. Und doch ist sie immer anwesend, beobachtet ihre Umgebung und versteht sie.

Und sie vergisst niemals ein Gesicht.

Eine Weile zuvor hat sie eine Frau allein zum Kai in Norra Hammarbyhamnen gehen sehen. Die Frau war für die Jahreszeit ungewöhnlich leicht bekleidet und saß fast eine halbe Stunde unten am Wasser. Als sie schließlich aufstand und ging und das Licht einer Straßenlaterne auf ihr Gesicht fiel, erkannte sie sie wieder.

Victoria Bergman.

Die Frau fährt weiter durch ein schläfriges Stockholm, in dem sich die Menschen hinter vorgezogenen Gardinen und Jalousien verstecken, in dem die Straßen tot sind, obwohl es gerade erst elf ist.

Sie muss an Victoria Bergmans Augen denken. Es ist über zwanzig Jahre her, dass sie sie zum letzten Mal gesehen hat. Damals brannten diese Augen, sie schienen geradezu unsterblich zu sein. In ihnen wohnte eine unvorstellbare Kraft.

Jetzt konnte sie eine gewisse Mattheit in ihnen entdecken, eine Art Müdigkeit, die sich in ihrem ganzen Wesen ausgebreitet hat, und ihre Erfahrung mit menschlichen Gesichtern sagt ihr, dass Victoria Bergman bereits tot ist.

Vita bergen

Sofia Zetterlund geht die Renstiernas gata entlang und blickt an der Felswand zu ihrer Linken empor. Im Gestein dreißig Meter unter der Sofia-Kirche liegt die größte Serverhalle Schwedens.

Es sieht aus, als würde der Berg brennen, aber das liegt nur an der Luft aus dem unterirdischen System, die auf die Kühle der Außenwelt trifft. Der Dampf liegt weiß über der Straße, und die kühlen Böen des Herbstabends fegen ihn über die holprigen Steinhänge.

Abwärme. Als würde dort drinnen irgendetwas kochen.

Sie weiß, dass die Transformatoren und Dieselgeneratoren im Berg im Fall einer Katastrophe für die Sicherung sämtlicher Daten sorgen, über die die schwedischen Behörden verfügen, auch wenn die Stadt dem Erdboden gleichgemacht werden sollte. Unter jenen Daten befinden sich auch die streng geheimen Akten über sie selbst. Über Victoria Bergman. Informationen, die in den Neunzigerjahren im Krankenhaus Nacka digitalisiert wurden, um anschließend in Form von Sicherungskopien unter dem Vitabergspark eingelagert zu werden. Neben ihrer Wohnung in der Borgmästargatan liegt so ihr Leben aufbewahrt für alle Zukunft, und dagegen kann sie nichts unternehmen, es sei denn, sie sprengt den ganzen Berg und erstickt das Feuer, das dort unten brennt.

Sie schreitet durch den dichten Nebeldampf, und für einen kurzen Augenblick ist ihre Sicht gleich null. Nur wenig später steht sie vor der Tür zu ihrem Mietshaus. Sie wirft einen Blick auf die Uhr. Viertel nach zehn. Sie hat einen Spaziergang von knapp viereinhalb Stunden gemacht.

Sie kann sich nicht mehr erinnern, an welchen Straßen und Plätzen sie vorbeigekommen ist, sie kann sich ja kaum noch daran erinnern, worüber sie bei diesem Spaziergang nachgedacht hat. Es ist ganz so, als versuchte sie, einen Traum wieder heraufzubeschwören.

Ich schlafwandle, denkt sie, während sie an der Tür den Sicherheitscode eingibt.

Sie nimmt die Treppe, und das harte Echo ihrer Stiefelabsätze macht sie wieder richtig wach. Sie schüttelt das Regenwasser von ihrem Mantel und aus ihren Haaren, zupft ihre feuchte Bluse zurecht, und als sie schließlich den Schlüssel ins Schloss steckt, kann sie sich an gar nichts mehr von ihrem langen Spaziergang erinnern.

Sie weiß nicht mehr, dass sie in ihrem Büro saß und sich Södermalm als Labyrinth vorstellte, dessen Eingang in der Sankt Paulsgatan hinter der Tür des Hauses liegt, in dem sich ihre Praxis befindet, und der Ausgang an ihrer Wohnungstür in Vita bergen.

Sie weiß nicht mehr, dass sie sich eine Viertelstunde später von ihrer Sekretärin Ann-Britt Eriksson verabschiedet und die Praxis verlassen hat.

Sie weiß auch nicht mehr, dass sie sich an der ersten Verzweigung des Labyrinths entschlossen hat, rechts abzubiegen und die Swedenborgsgatan bis zum Südbahnhof zu nehmen, in der Hoffnung, noch einmal die Frau zu sehen, der sie zuvor auf derselben Straße gefolgt war. Eine Frau mit einem wohlbekannten wiegenden Gang, mit am Hinterkopf zu einem ordentlichen Dutt gestecktem grauen Haar und nach außen gedrehten Fußspitzen. Eine Frau, die sie schon zweimal gesehen hat.

Sie erinnert sich auch nicht mehr an den Mann, den sie an der Bar im Clarion Hotel, unten am Skanstull, getroffen hat, mit dem sie aufs Zimmer ging und der sich sichtlich darüber wunderte, als sie kein Geld von ihm verlangte. Sie weiß nicht mehr, dass sie anschließend durch die Lobby stolperte, den Ringvägen in östlicher Richtung hinab und dann die Katarina Bangata zum Norra Hammarbyhamnen hinunterging, um aufs Wasser, auf die Kähne und die Lagergebäude am gegenüberliegenden Kai zu starren. Oder dass sie wieder zum Ringvägen zurückkehrte, der im Norden eine Kurve macht und in die Renstiernas gata übergeht, die unterhalb der steilen Felsen von Vita bergen entlangführt.

Sie weiß nicht mehr, wie sie nach Hause gefunden hat, zum Ausgang des Labyrinths.

Das Labyrinth ist nicht Södermalm, es ist das Hirn eines Schlafwandlers, Kanäle und Nervensysteme mit unzähligen Windungen, Waagschalen und Sackgassen. Eine Wanderung durch Straßen im Dämmerlicht, der Traum eines Schlafwandlers.

Der Schlüssel knirscht im Schloss, sie dreht ihn zweimal nach rechts und macht die Tür auf.

Sie hat aus dem Labyrinth herausgefunden.

Sofia sieht auf die Uhr, und sie will nur noch eines: schlafen.

Sie zieht ihre Straßenkleidung aus und geht ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch liegen Papierstapel, Ordner und Bücher. Ihre gesammelten Versuche, Jeanette in dem Fall mit den ermordeten Flüchtlingsjungen mit einem Täterprofil zu helfen.

Vergeblich, denkt sie und blättert zerstreut in den Unterlagen. Es hat ja doch nirgendwohin geführt. Sie sind miteinander im Bett gelandet, und Jeanette hat die Sache nach jener Nacht in Gamla Enskede nie mehr erwähnt. Vielleicht hat sie das Profil ja nur als Vorwand benutzt, um sich mit ihr zu treffen?

Sie ist unzufrieden, weil sie die Arbeit nicht abgeschlossen hat, und Victoria kann ihr auch nicht helfen. Sie schickt ihr keine Erinnerungsbilder, überhaupt nichts.

Dass sie Martin getötet hat, weiß sie.

Aber die anderen? Die namenlosen Kinder und den weißrussischen Jungen?

Keine Erinnerungen. Nichts als die ewig selben Schuldgefühle.

Sie tritt vor das Bücherregal, hinter dem sich das schallisolierte Zimmer verbirgt. Als sie den Haken löst, um das Regal wegschieben zu können, weiß sie, dass sie das Zimmer dahinter leer vorfinden wird. Das Einzige, was sich darin befindet, sind die Reste ihrer selbst und der Geruch ihres eigenen Schweißes.

Gao Lian hat niemals auf dem Heimtrainer in der hinteren linken Ecke gesessen, doch sein Schweiß ist aus ihrem Haar geflossen, über ihren Rücken und ihre Arme.

Sie ist mehrmals um die Erde gefahren, während die Räder in der Luft surrten, und ihr Körper ist dabei stark geworden. Trotzdem ist sie keinen Zentimeter vorwärtsgekommen. Nichts ist passiert. Sie hat nur in zentrifugalen Kreisen auf der Stelle gestrampelt.

Gao Lian aus Wuhan ist überall in diesem Zimmer, obwohl er gar nicht existiert. Er ist auf Zeichnungen, Zeitungsausschnitten, Notizblättern und auf einer Apothekenquittung, auf der sie die Anfangsbuchstaben ihrer Einkäufe mit einem Stift eingekreist hat, sodass sich die Kombination GAO bildete.

Gao Lian aus Wuhan kam zu ihr, als sie jemanden brauchte, durch den sie ihre Schuld kanalisieren konnte. Die Rechnungen begleichen konnte, die sie der Menschheit schuldete.

Sie hat geglaubt, dass all diese Texte, all die Zeitungsausschnitte mit Artikeln über das tote Kind von ihr selbst handelten. Und während sie verfolgte, was geschah, suchte sie Erklärungen und fand sie in sich selbst. Ihre Lösung lautete Gao Lian aus Wuhan. Die Inspiration zu dieser Person lässt sich in ihrer unmittelbaren Umgebung, in ihrer Wohnung finden.

Sie tritt an das Regal und nimmt das alte Buch mit dem gesprungenen Ledereinband heraus.

Gao Lian, Acht Essays über die Lebenskunst.

Sie hat das Buch für dreißig Kronen auf einem Flohmarkt erstanden und es kaum je aufgeschlagen, aber der Name des Verfassers hat die ganze Zeit auf dem Buchrücken gestanden und das Buch wiederum an seinem Platz im Regal, auf dem Regalbrett direkt neben dem Schloss zum geheimen Zimmer.

Sie stellt das Buch zurück und geht in die Küche. Auf dem Tisch liegt eine aufgeschlagene Zeitung. Ein Artikel über Wuhan, die Hauptstadt der chinesischen Provinz Hubei, mit einem Bild, das einen achteckigen Turm zeigt, eine Pagode. Sie faltet die Zeitung zusammen und legt sie auf den Küchentisch.

Was noch?

Ein kopierter Auszug aus einem Bericht vom Migrationsamt über Kinder ohne Papiere, ein weiterer Bericht über die Adoptionsbedingungen in Ostasien und einer, der sich speziell mit dem Menschenhandel aus China nach Westeuropa beschäftigt.

Sie weiß, wie sie ihn erfunden hat. Er war nicht nur ein Substitut für ihre Schuldgefühle, er war auch ein Surrogat für das Kind, das sie nicht behalten durfte. Gaos Erziehung war ihre eigene Erziehung, und die Isolierung geschah zum Zweck der Reinigung, einer Schärfung der Sinne bis zum Äußersten. Eine Stärkung der Seele wie auch des Körpers.

Doch irgendwo auf diesem Weg hat sie die Kontrolle über Gao verloren.

Er wurde nicht zu der Person, die sie sich vorgestellt hatte. Deswegen hörte er zum Schluss auf zu existieren. Sie glaubt nicht mehr an ihn.

Sie weiß, dass dort drinnen niemand ist.

Gao Lian aus Wuhan hat niemals existiert.

Sofia betritt das geheime Zimmer, holt die zusammengerollten Titelseiten der Abendzeitungen hervor, wickelt sie auf und legt sie auf den Boden. DIE MUMIE AUS DEM GEBÜSCH und MAKABRER FUND IM STOCKHOLMER STADTZENTRUM.

Sie liest von dem Mord an Juri Krylov, dem elternlosen Jungen aus Maladzieèna in Weißrussland, der draußen auf Svartsjölandet tot aufgefunden wurde. Sie interessiert sich besonders für die Passagen, die sie in diesem Artikel bereits angestrichen hat. Details, Namen und Orte.

Habe ich das getan?, denkt sie.

Sie dreht die alte Matratze um. Der Luftzug lässt die Papiere und kleinen Zettel vor ihr herumwirbeln. Der Papierfaserstaub sticht ihr in der Nase.

Herausgerissene Blätter aus einer deutschen Ausgabe von Zbarskis Standardwerk zur russischen Einbalsamierungskunst. Ausdrucke aus dem Internet, Unterstreichungen und Verweise auf Zbarski in ihrer eigenen Handschrift. Eine umfassende Beschreibung der Einbalsamierung von Wladimir Iljitsch Uljanow – Lenin –, ausgeführt von einem gewissen Professor Vorobjov am Anatomischen Institut in Charkiw in der Ukraine.

Wieder ihre Handschrift auf ein paar karierten Blättern, die von oben bis unten mit Ziffern bekritzelt sind. Mathematische Berechnungen der geeigneten Menge von Chemikalien im Verhältnis zur Körpergröße.

Zu guter Letzt ein kopierter Artikel über ein Privatunternehmen, das in den Neunzigerjahren Einbalsamierungen ermordeter russischer Mafiagrößen durchführte. Manche waren vergiftet, andere durch Autobomben getötet worden, und das Unternehmen berechnete dem Syndikat die Kosten je nach Umfang der Verletzungen.

Sofia legt die Artikel aus der Hand. Da klingelt ihr Telefon, und sie erkennt auf dem Display Jeanettes Nummer. Als sie aufsteht, um das Gespräch entgegenzunehmen, sieht sie sich um.

Der Boden ist mit einer dicken Schicht Papier bedeckt, es gibt kaum eine freie Fläche. Aber der Sinn, die Erklärung, das große Warum?

Die Antwort ist hier, denkt sie sich und nimmt den Hörer ab.

Die Gedanken eines Menschen, zerrissen in kleine Papierfetzen. Ein explodierendes Gehirn.

Gamla Enskede

Das ganz normale Leben, denkt Jeanette Kihlberg, als sie vor ihrem Haus in Gamla Enskede parkt. Im Moment fehlt ihr das Einfache, das Vorhersehbare. Das zufriedene Gefühl nach einem langen, anstrengenden Arbeitstag und vor allem die Möglichkeit, nach Feierabend all ihre beruflichen Sorgen beiseitezuschieben. Frei zu sein von allen Gedanken an die Arbeit, sobald die Zeit beginnt, in der sie nicht mehr für diese Gedanken bezahlt wird.

Johan schläft in der Stadt bei Åke und Alexandra, und als sie den Flur betritt, fühlt sie sofort die Leere im Haus. Das Fehlen einer Familie. So egozentrisch Åke vor der Scheidung auch gewesen sein mag, fehlen ihr doch ihre gemeinsamen Gespräche bei einem Bier am Küchentisch oder das freundliche Gekabbel vor dem Fernseher, wenn sie sich Kommentare über irgendeinen unrealistischen amerikanischen Krimi nicht verkneifen konnte. Trotzdem sind sie immer liebevoll zueinander gewesen, haben sich trotz allem geliebt.

Jetzt ist die Küche still, nur das leise Knacksen des Kühlschranks und das schwache Summen der Heizkörper sind zu hören.

An der Kühlschranktür hängt eine Postkarte von ihren Eltern. Ein Gruß von ihrer China-Reise, und Jeanette spürt den Anflug eines schlechten Gewissens, weil sie sich überhaupt keine Sorgen um sie macht. Weil sie schon eine ganze Weile nicht mehr an sie gedacht hat. Vor allem aber, weil sie ihr tatsächlich gar nicht fehlen.

Seit Åke ausgezogen ist, riecht es auch anders im Haus. Widerwillig gesteht sie sich ein, dass sie den schweren Geruch von Ölfarbe, Leinöl und Terpentin vermisst. Andererseits findet sie es angenehm, nicht die ganze Zeit befürchten zu müssen, sich gleich in einen Klecks Pariserblau zu setzen oder plötzlich einen karminroten Fleck an der Wand zu entdecken. Trotzdem denkt sie mit einer gewissen Wehmut an ihre gemeinsame Zeit zurück und vergisst einen Moment lang ihre Befürchtungen, finanziell nicht mehr zurechtzukommen. Åkes verantwortungsloses und nonchalantes Verhältnis zu Geld. Letztendlich ist für ihn alles gut ausgegangen, und sein Traum, eines Tages von seiner Kunst leben zu können, ist Wirklichkeit geworden. War sie zu ungeduldig mit ihm? Zu schwach, um ihm den Schubs in die richtige Richtung zu geben, als er an seinem Talent zweifelte? Vielleicht. Aber das ist jetzt alles nicht mehr wichtig. Ihre Ehe ist zerbrochen, und nichts von all dem, was er jetzt tut, geht sie noch etwas an. Außerdem hat sie mit ihrer Arbeit genug zu tun und nicht viel Zeit, darüber nachzugrübeln, wie sie die Dinge anders hätte handhaben können.

Bei den Frauen aus dem Autowrack handelt es sich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit um Hannah Östlund und Jessica Friberg. Ivo Andrić arbeitet derzeit daran, ihren Verdacht zu bestätigen. Morgen wird sie die Antwort bekommen, und wenn sie recht hat, wird die Angelegenheit auf den Schreibtisch des Staatsanwalts wandern und der Fall für abgeschlossen erklärt werden.

Zunächst allerdings muss eine Hausdurchsuchung bei den beiden Frauen durchgeführt werden. Man wird Beweise für ihre Schuld sichern, und dann müssen Hurtig und sie nur mehr das ganze Material zusammenstellen und es Kenneth von Kwist übergeben.

Sie hat nicht das Gefühl, besonders gute Arbeit geleistet zu haben. Sie ist nur einem verschlungenen Weg gefolgt und mit mehr Glück als Verstand und mit einer gewissen Routine der Lösung auf die Spur gekommen.

Fredrika Grünewald, Per-Ola Silfverberg, Regina Ceder und ihr Sohn Jonathan sind allesamt von zwei rachsüchtigen Frauen ermordet worden. Folie à deux. Die symbiogene Psychose, wie so etwas auch heißt, kommt normalerweise fast nur innerhalb einer Familie vor, eine Mutter und eine Tochter beispielsweise, die von der Außenwelt isoliert leben und beide an derselben Geisteskrankheit leiden. Nach Jeanettes Informationen sind Hannah Östlund und Jessica Friberg zwar nicht verwandt, aber sie sind miteinander aufgewachsen, haben dieselben Schulen besucht und sich schließlich entschieden zusammenzuleben.

Irgendjemand hat einen Strauß gelber Tulpen neben Fredrika Grünewald abgelegt. Und an dem Abend, an dem Karl Lundström starb, hatte er ebenfalls gelbe Tulpen bekommen. Haben sie vielleicht auch ihn getötet? Ja, warum nicht? Karl Lundström und Per-Ola Silfverberg waren beide Pädophile, die sich an ihren Töchtern vergriffen hatten. Die beiden Tode müssen einfach zusammenhängen, und die gelben Tulpen und die Schule in Sigtuna sind der gemeinsame Nenner.

Sie schaltet die Küchenlampe ein, geht an den Kühlschrank und nimmt Butter und Käse heraus.

Rache, denkt sie. Wie kann Rache nur so extreme Formen annehmen?

Während sie im Gefrierfach nach dem Toastbrot sucht, wandern ihre Gedanken zu Jonathan Ceder. Sie haben einen unschuldigen Jungen getötet – wahrscheinlich ging es den Täterinnen darum, seiner Mutter den größtmöglichen Schmerz zuzufügen, ehe sie auch die Mutter selbst umbrachten. Für Jeanette ist die Tat schier unbegreiflich.

Sie nimmt das gefrorene Brot aus dem Gefrierfach, bricht ein paar Scheiben herunter und steckt sie in den Toaster. Sie weiß, dass sie nicht damit rechnen darf, auf alles eine Antwort zu bekommen.

Himmel, Jeanette, denkt sie, du musst endlich lernen, dass du als Polizistin nicht davon ausgehen solltest, alles so gründlich aufzuklären, bis du selbst zufrieden bist. Man kann einfach nicht alles verstehen.

Sie setzt sich an den Küchentisch und blättert zerstreut im Ikea-Katalog. Vielleicht wäre es gar keine so dumme Idee, jetzt schon neue Möbel zu kaufen? Der Verkauf des Hauses wird sich gewiss noch eine ganze Weile hinziehen, und sie möchte in der Zwischenzeit nicht ständig an ihr altes Leben erinnert werden. Manchmal, wenn sie ins Wohnzimmer geht, sieht sie geradezu vor sich, wie Åke auf dem zerschlissenen Sofa sitzt. Den Küchentisch und die Stühle haben sie zusammen gekauft, kurz nach Johans Geburt, auf dem Emmaus-Flohmarkt in der Nähe von Uppsala. Und auch die Lampen und Teppiche waren gemeinsame Anschaffungen. Sogar das Schuhregal. Alles scheint von Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben durchtränkt.

Der Toaster scheppert, und sie fügt ihn im Stillen der Inventarliste ihrer gemeinsamen Anschaffungen hinzu, als das Telefon klingelt.

Du wirst sentimental, Jeanette, denkt sie, schlägt den Ikea-Katalog zu und nimmt das Gespräch entgegen.

Natürlich ist es Åke, als hätte er gewusst, worüber sie gerade nachgedacht hat.

»Hallo«, sagt sie kurz angebunden.

»Hallo, wie geht’s?«

»Gut.«

Leere Phrasen. Was gibt es außer den praktischen Dingen noch zu sagen?

»Wie geht es Johan?«, fragt sie daher.

»Johan? Ach ja, ganz gut … Er schläft.«

Es wird still, und sie wird nervös. »Du hast mich angerufen, also nehme ich an, dass du irgendein Anliegen hast. Ist etwas mit Johan?«

Er räuspert sich. »Na ja … Ich wollte ihn übers Wochenende mit nach London nehmen. Zu einem Fußballspiel. Nur er und ich. Mal wieder Papa sein sozusagen …«

Papa sein? Wird aber auch Zeit, denkt sie sich. »Meinetwegen. Ist er einverstanden?«

Åke lacht leise. »O ja, ohne Zweifel. London-Derby, du weißt schon.«

Sie ertappt sich dabei, wie sie Åkes Lachen mit einem lautlosen Lächeln beantwortet. »Prima, das wird ihm sicher guttun. Fahrt wirklich nur ihr zwei? Was ist mit Alexandra?«

Wieder ein Moment Stille. Geistesabwesend blickt sie zum Toaster hinüber. Zwei goldbraune Brotscheiben ragen daraus hervor und werden wahrscheinlich gerade wieder kalt.

»Sie organisiert gerade eine neue Ausstellung und hat schon einen ganzen Schwung Gemälde verkauft. Willst du mal raten, wer sie gekauft hat?«

»Sie? Die Katze im Sack?«, fragt sie zurück.

»Ach, hör schon auf … Das Untersuchungsgefängnis Kronoberg. Das ist doch fast dein Arbeitsplatz, Mann.« Er lacht. »Alexandra bleibt in Stockholm. Mehr Gemälde verkaufen, wenn du verstehst. Es läuft gerade echt gut.«

»Aha. Gratuliere«, sagt sie. »Wie schön, dass es für dich so gut läuft.«

Sie hört, wie er am anderen Ende der Leitung schluckt. »Wie geht es überhaupt deinen Eltern?«, fragt er auf einmal, und Jeanette erkennt seine Art wieder, abrupt das Thema zu wechseln. »Sind sie immer noch in Japan?«

Sie grinst in sich hinein, als sie daran denken muss, wie wenig Åke ihren Vater leiden kann. »Sie sind in China und kommen in zwei, drei Wochen wieder.«

Åke verstummt. Jeanette denkt wieder an ihr gemeinsames Leben zurück, das ihr mittlerweile unendlich fern vorkommt.

»Du …«, sagt er schließlich, »du hast nicht zufällig Lust auf ein Mittagessen, bevor Johan und ich abreisen?«

Sie zögert. »Ein Mittagessen? Hast du dafür denn Zeit?«

»Ja, deswegen frage ich ja«, erwidert er gereizt. »Kannst du morgen?«

»Übermorgen wäre besser. Außerdem warte ich darauf, dass ich grünes Licht für eine Hausdurchsuchung bekomme. Es kann daher sein, dass ich unsere Verabredung kurzfristig absagen muss.«

Er seufzt. »Okay. Dann melde dich, wenn du kannst.« Und mit diesen Worten legt er auf.

Sie erwidert seinen Seufzer, wenn auch in einen stillen Hörer, steht auf und nimmt das Brot aus dem Toaster. Schlecht, denkt sie, während sie die Brotscheiben belegt. Das Ganze ist nicht gut für Johan. Nicht das geringste bisschen Stabilität.

Sie erinnert sich an den Kommentar ihres Kollegen Jens Hurtig, als sie nach Svavelsö hinausgefahren sind, wo Hannah Östlund und Jessica Friberg die Ceder’sche Familientragödie vollendet hatten. »In diesem Alter kriegt alles langsam seine Proportionen«, hat er gesagt, und im Fall von Östlund und Friberg hat sich dies als so wahr entpuppt wie kaum etwas anderes.

Aber Johan? Ihr Teenagersohn? Erst die Scheidung, dann die Ereignisse in Gröna Lund, und nun dieses Hin und Her zwischen ihr, die kaum Zeit für ihn aufbringen kann, und Åke und Alexandra, die sich selbst wie Teenager aufführen und keine zwei Tage im Voraus planen.

Sie würgt einen Bissen trockenen, kalten Toastbrots hinunter und nimmt das Telefon wieder in die Hand. Sie braucht jetzt jemanden zum Reden, und die einzige Person, die ihr geeignet erscheint, ist Sofia Zetterlund.

Während das Freizeichen ertönt, schaudert sie in der Brise, die vom Küchenfenster herüberzieht. Der Herbstabend ist sternenklar und funkelnd schön, und während Jeanette noch darüber nachgrübelt, was eigentlich schiefläuft mit den Menschen, dass sie immer alles so hoffnungslos verbocken, nimmt Sofia ab.

»Du fehlst mir«, sagt sie.

»Du mir auch.« Jeanette spürt, wie die Wärme in ihren Körper zurückkehrt. »Es ist einsam hier draußen.«

Sofias Atemzüge klingen ganz nah. »Bei mir auch. Ich will dich bald wiedersehen.«

Jeanette schließt die Augen und stellt sich vor, dass Sofia jetzt gerade bei ihr ist, dass sie an ihrer Schulter liegt und ihr etwas ins Ohr flüstert.

»Ich war gerade eingeschlafen«, sagt Sofia. »Ich hab von dir geträumt.«

Jeanette hat die Augen immer noch geschlossen, lehnt sich zurück und lächelt. »Was hast du denn geträumt?«

Sofia lacht leise, fast schüchtern. »Ich drohte zu ertrinken, und du hast mich gerettet.«

Rechtsmedizinisches Institut

Der Pathologe Ivo Andrić nimmt seine Baseballkappe ab und legt sie auf eine Bahre aus rostfreiem Stahl. Mit schweren Schritten und gequälter Miene geht er zum Waschbecken, wo er ein bisschen Seife aus dem Spender pumpt und sich dann sorgfältig Hände und Unterarme wäscht. Als er fertig ist, trocknet er sich ab, streckt die Hand nach dem Behälter neben dem Spiegel aus und nimmt sich ein Paar mit Talkpuder bestäubte Einweghandschuhe, zieht sie über und dreht sich wieder zu den Bahren um.

Die zwei grauen Leichensäcke stinken nach Rauch und Benzin.

Er sieht auf die Uhr und weiß im selben Moment, dass er die ganze Nacht hier verbringen wird.

Ivo Andrić ist stolz auf seine Fertigkeiten. Er hat lange gebraucht, um seine Kenntnisse der Materie zu vertiefen, und es hat ihm große persönliche Opfer abverlangt. Er hat in Sarajevo Medizin studiert und das Praktikum zu Hause in Prozor absolviert. An diese Zeit erinnert er sich mit besonderer Freude. Da er der Einzige am Ort war, der eine Hochschulausbildung besaß, waren seine Eltern über alle Maßen stolz auf ihn und genossen den Respekt, den seine Tätigkeit mit sich brachte.

Dabei war er nicht einfach nur ein guter Student gewesen – davon hatte es mehrere gegeben –, er hatte außerdem genügend Ehrgeiz und wusste seine Begabung richtig einzusetzen. Von dieser Sorte gab es nicht viele. Während sich die anderen jungen Männer auf dem Marktplatz versammelten, um zu rauchen und Bier zu trinken, saß er zu Hause und studierte englische Lehrbücher. Als dann die Politiker begannen, einander zum Krieg aufzuhetzen, und das Militär den Befehl bekam, auf den Straßen zu patrouillieren, beschloss er, sich aus allem herauszuhalten. Er hatte seinen Militärdienst zwar mit guten Bewertungen abgeleistet, ohne sich dabei jedoch besonders ausgezeichnet zu haben.

Als sowohl Slowenien als auch Kroatien ihre staatliche Souveränität anstrebten, hatte man auch in Bosnien ein entsprechendes Referendum abgehalten. Die Frage der Zugehörigkeit zu Jugoslawien hatte sowohl die Ortschaft als auch ganze Familien gespalten. Als absehbar wurde, dass keine Einigkeit mehr erzielt würde, brach schließlich die Hölle los, und Nachbarn, die früher ganz normalen Umgang miteinander gepflegt hatten, begannen auf einmal, einander zu hassen. Am Ende kam der Krieg auch nach Prozor.

Ivo Andrić betrachtet die beiden Leichensäcke und beschließt, mit demjenigen anzufangen, der höchstwahrscheinlich die verkohlten Überreste von Jessica Friberg enthält. Der Reißverschluss klemmt ein wenig, und er muss kräftig daran ziehen, bevor er aufgeht. Der Rauchgeruch wird intensiver.

Er beginnt mit der Entnahme von Gewebeproben. Er muss so schnell wie möglich mithilfe eines Gentests die Identität der Toten feststellen. Danach wird er den Kohlenmonoxidgehalt im Blut bestimmen. Das wird Aufschluss über die Todesursache geben.

Ein Staubsaugerschlauch hat die giftigen Auspuffgase ins Wageninnere geleitet, und da die beiden Frauen noch angeschnallt waren, geht Ivo Andrić davon aus, dass sie gemeinsam Selbstmord verübt haben.

Die Frau, die vor ihm liegt, sieht aus wie Mitte vierzig. Das Alter, das doch eigentlich das beste sein soll.

Ivo Andrić schließt den Reißverschluss wieder, wendet sich dem zweiten Sack zu und öffnet ihn mit einem tiefen Seufzer. Auch hier glaubt die Polizei, die Identität des Opfers bereits zu kennen. Nach den Angaben, die er erhalten hat, soll sie Hannah Östlund heißen und ein ganz spezielles Kennzeichen aufweisen.

Als Erstes sieht er die charakteristischen Brandhämatome, die keine Folge mechanischer Gewalteinwirkung sind. Die Frau ist durch das Feuer zu Tode gekommen. Ihr Schädel wurde stark erhitzt, das Blut fing an zu kochen, und zwischen dem Schädel und der schützenden Hirnhaut sieht Ivo Andrić eine zwei Zentimeter dicke Schicht aus rosafarbenem, schwammig-sprödem koagulierten Blut.

Er hebt die rechte Hand der Frau an und sieht die Angaben bestätigt.

Die Beschreibung stimmt.

Der Frau, deren Körper immer noch warm ist, fehlt der rechte Ringfinger.

Vita bergen

Der Sternenhimmel über dem Dach ist klar, aber unten auf der Borgmästargatan ist es dunkel und grau. Sofia Zetterlund legt das Telefon aus der Hand und sackt auf dem Boden zusammen. Sie hat mit Jeanette gesprochen, aber sie weiß nicht mehr, worüber sie geredet haben.

Eine vage Erinnerung an gegenseitige Zärtlichkeitsbekundungen. Eine unklare Sehnsucht nach Wärme.

Warum ist es so schwierig zu sagen, was man wirklich empfindet?, denkt sie. Und warum fällt es mir so schwer, das Lügen bleiben zu lassen?

Sie muss auf die Toilette, steht auf und geht ins Bad. Als sie sich die Unterhose herunterzieht und sich setzt, ahnt sie, dass sie am frühen Abend im Clarion Hotel gewesen sein muss. Der Mann, den sie dabei wahrscheinlich getroffen hat, hat Spuren auf der Innenseite ihrer Oberschenkel hinterlassen.

Eine dünne Kruste vertrockneten Spermas ist in ihrem Schamhaar hängen geblieben, und sie wäscht sich am Waschbecken. Hinterher trocknet sie sich gründlich mit dem Gästehandtuch ab und geht zurück ins Zimmer hinter dem Bücherregal, das einmal Gaos Zimmer war, inzwischen jedoch zu einem Museum für Victorias Irrfahrt durchs Leben geworden ist. Odysseus, denkt sie. Hier drinnen liegt die Antwort. Hier drinnen liegt der Schlüssel, der die Schlösser zur Vergangenheit öffnet.

Sie blättert in Victoria Bergmans Papieren, versucht, sämtliche Skizzen, Notizen und herausgerissene Zeitungsartikel zu sortieren. Sie weiß, was sie da vor sich sieht, aber gleichzeitig zweifelt sie daran.

Sie sieht ein Leben, das einmal das ihre war und das in der Rekonstruktion allmählich wieder zu einem Leben wird; wenn auch nicht zu ihrem, so doch zu dem von Victoria. Zu Victoria Bergmans Leben.

Und dieses Leben ist eine Geschichte des Verfalls.

In den Notizen taucht immer wieder ein Name auf, der rätselhaft klingt und starke Gefühle in ihr weckt.

Madeleine.

Victorias Tochter – und Schwester. Sofias Tochter und Schwester. Ihre Tochter und Schwester.

Madeleine ist das Kind, das sie einst von ihrem eigenen Vater bekam, von Bengt Bergman, einem anerkanntermaßen engagierten Beamten einer Organisation für Entwicklungshilfe und zugleich dem Mann, der Victoria während ihrer ganzen Kindheit und Jugend missbraucht hat. Und der auch der Grund dafür war, warum sie sich ihre alternativen Persönlichkeiten schuf.

Alles nur, um zu überleben. Alles, um die Kraft zum Weiterleben zu finden.

Madeleine ist das Mädchen, das sie zur Adoption an Per-Ola und Charlotte Silfverberg freigeben musste.

Zu den Notizen über Madeleine gehört auch ein Foto, das Sofia in ihrer Jackentasche gefunden hat, auch wenn sie immer noch nicht weiß, wie es dorthin gekommen ist. Das Polaroidfoto eines Mädchens von ungefähr zehn Jahren, das in Rot und Weiß gekleidet an einem Strand steht.

Sofia betrachtet das Bild eingehend und ist davon überzeugt, dass es ihre Tochter zeigt, denn sie erkennt Züge ihrer selbst im Aussehen des Mädchens wieder. Sein Gesicht sieht gequält aus, und wenn Sofia das Foto betrachtet, wird ihr unbehaglich zumute. Was für eine Erwachsene ist Madeleine geworden?

Auf einem anderen Zettel liest sie von Martin. Dem Jungen, der bei einem Jahrmarktbesuch verschwand und den man später ertrunken aus dem Fyrisån barg. Dem Jungen, dem sie mit einem Stein auf den Kopf geschlagen und den sie dann ins Wasser geworfen hatte. Die Polizei stellte die Ermittlungen ein, weil sie von einem Unfall ausging, doch sie selbst hat seitdem mit den erbarmungslosen Schuldgefühlen gelebt, die jene Tat mit sich brachte.

Sofia erinnert sich auch noch an ihren Besuch in Gröna Lund, bei dem Jeanettes Sohn Johan verschwand. Das Ereignis ähnelt dem mit Martin, aber sie ist trotzdem sicher, dass sie Johan niemals hatte schaden wollen. Entweder ist er von selbst verschwunden, oder er wurde von jemand anderem entführt. Von jemandem, der es sich jedoch anders überlegte, weil Johan wenig später unverletzt wiedergefunden wurde.

In keinem der Aufzeichnungen steht auch nur ein einziges Wort zu Johan.

Sie kann sich noch erinnern, wie sie mit ihm im Free Fall saß. Doch danach gerät alles durcheinander, und sie sieht vor ihrem geistigen Auge nur mehr ein Bild davon, wie sie mit ihm auf einer Bank sitzt. Aber das kann nicht wirklich sie selbst gewesen sein. Hat sie dort vielleicht Madeleine gesehen?

Sie schüttelt den Kopf. Das wäre unlogisch. Was für ein Interesse sollte Madeleine an Johan haben?

Sie sammelt die Zettel zusammen, legt sie mitsamt dem Foto in eine Plastikmappe und kennzeichnet die Mappe mit einem »M«. Sie hat den Verdacht, dass sie wieder darauf zurückkommen wird.

Sofia Zetterlund sucht weiter in ihren Erinnerungen. Legt ein Blatt Papier aus der Hand und greift nach dem nächsten. Sie sieht es an, liest und erinnert sich wieder daran, was sie in jenem Augenblick dachte, in dem sie es niederschrieb. Damals lebte sie in einem Nebel aus Medikamenten und Alkohol und versuchte, die unangenehmen Erinnerungen zu verdrängen. Teile von sich selbst unter der Oberfläche zu halten.

Jahrelang hat das funktioniert.

An den dünnsten Stellen ist die Oberfläche, die Haut, einen Fünftelmillimeter dick, doch sie bildet trotzdem eine undurchdringliche Verteidigungslinie zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen rationaler Wirklichkeit und irrationalem Chaos. Jetzt gerade, in diesem Augenblick, ist die Erinnerung nicht verschwommen und vage, sondern völlig glasklar. Nur weiß sie nicht, wie lange dieser Zustand anhalten wird.

Sofia liest Victorias Tagebuchaufzeichnungen aus ihrer Zeit am Internat Sigtuna. Mehr als zwei Jahre sogenannter Initiationsriten, Mobbing und psychischer Folter. Die wiederkehrenden Vokabeln in dem Tagebuch lauten Rache und Vergeltung, und sie weiß, dass sie damals davon träumte, eines Tages zurückzukehren und die ganze Schule in die Luft zu sprengen. Jetzt sind zwei derjenigen Personen, um die es in ihren Aufzeichnungen ging, tot.

Sie weiß, dass Victoria nichts mit den Morden zu tun hat. Sie kann keine Notiz oder irgendetwas Ähnliches finden, was darauf hindeuten würde. Was in diesem Tagebuch steht, betrifft ausschließlich ihre Schulzeit. Später, als Victoria herangewachsen war, schien sie das Interesse an den einstigen Mitschülerinnen verloren zu haben.

Doch selbst wenn sie unschuldig an diesen Morden ist, weiß sie doch, was sie getan hat.

Sie hat ihre Eltern getötet. Ihr Elternhaus angezündet, das Haus in Grisslinge auf Värmdö, und danach saß sie in ihrem schallisolierten Zimmer und malte mit einem Kohlestift das brennende Haus, wieder und wieder.

Dann denkt Sofia an Lasse, ihren Ex. Für ihn fühlt sie längst nicht mehr denselben Hass wie für ihre Eltern. Bodenlose Enttäuschung beschreibt ihr Gefühl viel besser. Für einen Augenblick wird sie von Zweifeln befallen. Hat sie ihn wirklich umgebracht?

Die Erinnerungen daran sind gefühlsmäßig sehr stark, aber sie kann den Verlauf der Tat nicht vor sich sehen – was ein Hinweis darauf wäre, dass sie es getan hat.

Aber sie weiß auch: Die Tatsache, dass sie mindestens ein Mal getötet hat, ist etwas, womit sie für den Rest ihres Lebens zurechtkommen muss. Was sie lernen muss zu akzeptieren.

Judarskogen

Zwischen Ängby und Åkeshov im westlichen Stockholm liegt das älteste Naturreservat der Stadt. Eis und Stein haben die Landschaft geformt, eine Gegend von knapp hundert Hektar, die sowohl Wälder und offene Felder umfasst als auch einen kleinen See. Die Spuren des Eisschilds sind noch heute erkennbar in Form von großen Findlingen und hundert Meter langen und bis zu sechs Metern hohen geröllbedeckten Moränenrücken. Das Eis hat den Boden erst tausend Meter hinabgepresst, ihn dann aufgerissen und schließlich mit den Steinbrocken übersät, die es vom Berg losgerissen hatte.

Hier und da stößt man im Wald auf die Reste einer Mauer, die nicht vom Eis, sondern von Menschenhand errichtet wurde. Russische Kriegsgefangene sollen die Steine aufeinandergestapelt haben, und man darf annehmen, dass sie gebeugt dastanden und sehnsüchtige Blicke über die Moränenrücken warfen.

Der See mitten im Wald heißt Judarn. Der Name leitet sich zwar von »ljud« ab – Schwedisch für Laut, Geräusch –, doch hat er nichts mit den Klagelauten der ausgemergelten Strafarbeiter und auch nichts mit den Schreien zu tun, die just in diesem Moment durch den Wald gellen.

Eine junge blonde Frau in einem kobaltblauen Mantel blickt zwischen den Bäumen hindurch zum Sternenhimmel empor. Tausende und Abertausende Kugeln aus Eis und brennendem Gestein.

Nachdem sie sich noch einmal die Wut aus dem Leib geschrien hat, marschiert Madeleine Silfverberg zurück zu ihrem Auto, das in dem an den See grenzenden Wäldchen steht.

Zum dritten Mal schreit sie im Auto, fünf Minuten später, als sie bereits mit knapp neunzig Stundenkilometern unterwegs ist. Ihre Welt ist eine Windschutzscheibe mit Asphalt in der Mitte und verschwommenen Bäumen an den Rändern ihres Blickfelds. Sie schließt die Augen und zählt bis fünf, während sie auf das Geräusch ihres Motors horcht und auf die Reifen über dem Straßenbelag. Als sie die Augen wieder aufschlägt, ist sie ganz ruhig.

Alles ist nach Plan verlaufen.

Schon bald wird die Polizei dem Haus in Fagerstrand einen Besuch abstatten. Neben dem großen Strauß gelber Tulpen, der auf dem Küchentisch steht, werden sie dort auch eine Reihe von Polaroidbildern finden, die eine Serie von Morden dokumentieren.