NATRIUM CHLORID - Jussi Adler-Olsen - E-Book
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Jussi Adler-Olsen

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Beschreibung

Eine Mordserie biblischen Ausmaßes. Bizarre Todesarten. Das Sonderdezernat Q im Ausnahmezustand. Der neunte Fall für Kriminalkommissar Carl Mørck und sein Team  »Spreche ich mit Carl Mørck? Unser Kriminaltechniker hat heute in zwei Gräbern etwas gefunden, das Sie interessieren dürfte: Salz. Es wirkt fast so, als wären die Leichen eingesalzen worden. Ergibt das einen Sinn?« An ihrem 60. Geburtstag begeht eine Frau Selbstmord. Ihr Tod führt zur Wiederaufnahme eines ungeklärten Falls aus dem Jahr 1988, der Marcus Jacobsen mit seinem besten Ermittler Carl Mørck zusammengeführt hat. Carl, Assad, Rose und Gordon ahnen nicht, dass der Fall das Sonderdezernat Q an die Grenzen bringt: Seit drei Jahrzehnten fallen Menschen einem gerissenen Serienmörder zum Opfer, der tötet, ohne dass ihm ein Mord nachgewiesen werden kann. Eine erste Spur führt das Team tief hinein in ein System pervertierter Moral und grenzenloser Menschenverachtung. Und die Ermittler müssen sich beeilen, denn die Zeit läuft ... Die große skandinavische Bestseller-Reihe – spannender geht es nicht »Wie immer ein echter Pageturner.« Kieler Magazin »Ein empfehlenswerter Thriller vom dänischen Meister.« Schweriner Volkszeitung Neben der Carl-Mørck-Reihe sind bei dtv außerdem folgende Titel von Jussi Adler-Olsen erschienen: - ›Das Alphabethaus‹ - ›Das Washington-Dekret‹ - ›Takeover‹ - ›Miese kleine Morde‹

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Jussi Adler-Olsen

Natrium Chlorid

Thriller

Aus dem Dänischen von Hannes Thiess

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für Ellie,

unser schönes und kluges Enkelkind

Prolog

1982

Kaum fünf Minuten nachdem der Notruf eingegangen war, bremste der Rettungswagen auf dem Rasen, wo sich den Sanitätern ein Szenario darbot, so unbeschreiblich, dass es sich förmlich in die Netzhaut einbrannte: sechs leblose Körper um ein dampfendes Loch. Ein scharfer Geruch nach verbranntem Fleisch mischte sich mit dem stechend scharfen Gestank von Ozon, der nach dem Einschlag des Blitzes noch immer in der Luft hing.

»Zurück!«, rief einer der Sanitäter einer Gruppe von Studenten zu. Sie waren von der Universität auf der anderen Straßenseite herübergelaufen gekommen und bei diesem entsetzlichen Anblick wie angewurzelt stehen geblieben.

Sein Kollege zupfte ihn am Ärmel. »Hier können wir nichts mehr machen, Martin. Aber sieh mal da drüben!«

Er deutete auf einen älteren Mann, dessen Knie langsam in das aufgeweichte Gras sanken.

»Warum standen die denn nur so nahe beieinander, und warum schlug der Blitz nicht in einen der Bäume ein?« Er schluchzte. Und obwohl es inzwischen in Strömen goss und sein Mantel wie ein nasser Lappen an ihm klebte, registrierte er nichts von dem, was um ihn herum vorging.

Martin drehte sich zu den Gebäuden der Universität um, aus deren Richtung Blaulicht und Martinshorn signalisierten, dass Polizei und weitere Rettungswagen unterwegs waren.

»Wir geben ihm etwas zur Beruhigung, nicht dass er uns noch kollabiert«, sagte der zweite Sanitäter.

Martin nickte. Er kniff die Augen zusammen. Durch den Platzregen erkannte er an der Hecke, neben einer immer größer werdenden Pfütze, zwei Frauen.

»Kommen Sie! Schnell!«, riefen sie, und Martin packte seinen Verbandskoffer und spurtete los.

»Ich glaube, sie atmet«, rief eine der beiden Frauen, während sie mit der Hand den Kopf des siebten Opfers stützte.

Anders als die Übrigen schien die junge Frau keine schweren Verbrennungen erlitten zu haben, nur ihre Kleidung war schwarz versengt.

»Ich glaube, sie wurde vom Blitzschlag hier herübergeschleudert.« Die Stimme der Frau zitterte. »Können Sie nicht irgendetwas für sie tun?«

Und während Martin den hageren Körper aus der Pfütze zog, wurden hinter ihm Rufe laut. Seine herbeieilenden Kollegen hatten offenbar erkannt, dass sie nichts mehr ausrichten konnten.

Der Blitzschlag hatte alle sechs Menschen, die dicht beieinander im Regen gestanden hatten, getötet.

Martin brachte die Frau in die stabile Seitenlage, fühlte ihren Puls. Der war langsam und schwach, aber gleichmäßig. In dem Augenblick, als er sich aufrichtete und den Kollegen bedeutete, mit einer Trage herüberzukommen, lief ein Zittern durch ihren Körper. Es folgten ein, zwei tiefe Atemzüge, bei denen sich ihr Brustkorb wölbte, dann richtete sie sich mit einem Ruck auf den Ellbogen auf und sah sich um.

»Wo bin ich?« Ihre Augen waren rot geädert.

»Sie sind im Fælledpark in Kopenhagen«, antwortete Martin. »Der Blitz hat hier eingeschlagen.«

»Ein Blitz?«

Er nickte.

»Und die anderen?« Sie sah hinüber zu den hektischen Aktivitäten.

»Sie haben sie gekannt?«

Sie nickte. »Ja, wir waren zusammen hier. Was ist mit ihnen? Sind sie tot?«

Martin zögerte kurz, dann nickte er.

»Sie sind alle – tot?«

Er sah sie prüfend an, bevor er noch einmal nickte, kein Wunder, dass sie unter Schock stand. Aber was sich in ihrem Gesicht abzeichnete, war alles andere als Schock oder Trauer.

»Gut.« Sie klang vollkommen ruhig. Ihr Gesicht verzog sich – unverkennbaren Schmerzen zum Trotz – zu einem diabolischen Lächeln.

»Und wissen Sie was?« Sie erwartete keine Antwort. »Wenn ich das hier überlebt habe, dann kann ich mit Gottes Hilfe alles überleben.«

1

Maja

Dienstag, 26. Januar 1988

Zehn Tage nach Neujahr überzog der Eiswinter mit extremen Minusgraden und beißendem Wind das Land unerwartet hart. Maja sah den Eispanzer auf dem Hinterhof der Wohnblocks wachsen. Sie seufzte. Jetzt war sie schon den dritten Winter in Folge gezwungen, die Winterreifen aufziehen zu lassen. Aber so kurz nach Weihnachten hatte sie nicht das Geld für einen Reifenwechsel bei ihrem üblichen Mechaniker. Zum Glück bewarb in einer Stadtteilzeitung eine Werkstatt mit auffälligen Anzeigen ihren blitzschnellen, effektiven und supergünstigen Reifenservice. Und da Ove Wilders Garage ganz in der Nähe des Kindergartens ihres Sohnes am Sydhavn lag, entschied sie sich für die.

So sah die Realität einer alleinerziehenden Mutter meistens aus. Jede einzelne Öre zählte.

In der kombinierten Werkstatt und Lackiererei erwies sich der sehr maskuline Eigentümer und Meister der Werkstatt als der vertrauenerweckende Archetyp Mann, der mit den muskulösen Armen tief in einem Automotor aufgewachsen zu sein schien. Maja atmete erleichtert auf.

»Dürfte kein Problem sein«, sagte er und nickte zwei Mechanikern zu, die gerade dabei waren, den Unterboden eines Autos auf einer Hebebühne auszuleuchten.

»In zwei Stunden ist das erledigt.«

Schon eine Dreiviertelstunde später bekam sie einen Anruf an ihrem Arbeitsplatz.

Das ging aber schnell, dachte sie erfreut, als sie die Stimme des Meisters hörte. Aber dann schwand ihr Lächeln.

»Ich fürchte, dass wir es heute nicht schaffen«, sagte er. »Uns fiel gleich auf, dass die Sommerreifen hinten etwas schief abgefahren waren. Mein Kollege meinte, dass mit der Radaufhängung etwas nicht in Ordnung sein könnte. Aber das war es nicht: Es liegt an der Hinterachse, die ist kurz davor zu brechen. Damit können Sie unmöglich fahren, und für die Reparatur brauchen wir mehr Zeit.«

Maja umklammerte den Hörer. »Die Hinterachse? Aber die kann man doch sicher schweißen?«

Er klang ernst. »Das können wir natürlich versuchen. Ich würde mich aber lieber nicht mehr darauf verlassen, sie ist total marode. Wie es aussieht, werden wir die austauschen müssen.«

Maja atmete tief durch. Sie wagte gar nicht daran zu denken, was das wieder kosten würde.

»Wenn ich meinen Sohn im Kindergarten abgeholt habe, komme ich vorbei«, sagte sie und sah, wie ihre Hand auf dem Tisch zu zittern anfing. Wie sollte sie das bezahlen? Und wie sollte sie ohne Auto auskommen, falls …

»Ja, kommen Sie vorbei. Wir schließen um fünf«, antwortete er unbeeindruckt.

 

Kinder in Schneeanzüge zu stecken brauchte Zeit, und so war Maja reichlich abgehetzt, als sie mit Max im Buggy endlich loskam. Es war schon nach fünf, und deshalb atmete sie beim Anblick des offenen Werkstatt-Tors am Ende der Straße erleichtert auf. Da stand ihr Wagen, wenn auch bis zu den Radkappen eingeschneit.

»Mein Auto!«, rief Max. Er liebte es.

Als sie am Zaun vorbeigingen, fiel ihr auf, dass die Beine eines Mannes unter dem Wagen hervorschauten.

Sonderbar. Warum lag er bei dieser Kälte im Schnee? Das hatte sie gerade noch denken können, als die erste Detonation die Scheiben des Gebäudes zum Bersten brachte und die Splitter wie ein Sturzregen aus Glas durch die Luft flogen. Eine Sekunde später detonierte eine weitere Explosion mit einer Druckwelle, die ihr den Kinderwagen mit Max aus der Hand riss und sie selbst mehrere Meter rückwärtsschleuderte.

Schlagartig war da nichts mehr als Flammen und Rauch. Als sie sich aufrichtete, sah sie, dass die Werkstatt vor ihr komplett eingestürzt war und ihr Auto zwei Meter von ihr entfernt auf dem Dach lag.

Maja drehte und wendete sich in alle Richtungen, das Herz klopfte wie wild.

»Max!« Sie schrie, ohne die eigene Stimme hören zu können.

Da erfolgte eine weitere Explosion.

2

Marcus

Montag, 30. November 2020

Kein schöner Anblick, dachte Marcus Jacobsen, als er seinen Vizepolizeikommissar mit geschlossenen Augen und offenem Mund tiefenentspannt hinter dem Schreibtisch sitzen sah.

Er schob vorsichtig die Füße beiseite.

»Hoffentlich störe ich dich nicht bei etwas Wichtigem, Carl?« Er lächelte süffisant.

Der schläfrige Mann war offenbar noch zu apathisch, um auf so etwas wie Ironie zu reagieren. »Ach Marcus, das ist alles eine Frage der Definition.« Er gähnte. »Ich musste nur mal testen, ob der Abstand von der Tischkante zu meinen Füßen stimmt.«

Der Chef der Mordkommission nickte. Die Renovierung des Kellers unter dem Polizeipräsidium hatte den Kollegen des Sonderdezernats Q mächtig zugesetzt. Und ehrlich gesagt war er selbst auch nicht glücklich, nach dem Umzug der Ermittlungseinheit ins neue Domizil nach Teglholm am Sydhavn das anarchistischste Dezernat des Landes so nahe bei sich zu haben. Die Kombination von Carls verkniffener Miene und Roses ewiger großer Klappe würde jeden fertigmachen. Tatsächlich wünschte er sich Carl & Co. manchmal zurück in die Tiefen des Präsidiumskellers. Aber das würde nicht passieren, das war Marcus klar. Nur gerade in diesem schrecklichen Corona-Jahr wäre es für alle besser gewesen, hätte das Sonderdezernat Q im Keller des alten Präsidiums bleiben können.

»Sieh dir das mal an, Carl.« Er öffnete einen Aktenordner und zeigte auf eine Todesanzeige. Jemand hatte die Seite aus einer Zeitung herausgerissen.

Carl rieb sich die Augen und las.

Maja Petersen

*11. November 1960 – †11. November 2020

Schmerzlich vermisst.

Die Familie

Er sah auf. »Na ja, die Frau starb an ihrem sechzigsten Geburtstag. Aber sonst sagt mir das nichts. Was ist damit?«

Marcus sah ihn ernst an. »Weißt du noch, wann wir uns zum ersten Mal begegnet sind?«

»Keine Ahnung. Wann war das denn? Und warum denkst du bei dieser Anzeige daran?«

»Carl, das war im Januar 1988. Du warst Polizeiassistent auf der Wache Store Kongensgade und ich Vizekriminalassistent in der Mordkommission.«

Carl nahm die Beine vom Tisch und richtete sich auf. »Warum um Himmels willen erinnerst du dich jetzt daran? Kannten wir uns da wirklich schon?«

»Ich erinnere mich daran, weil du und dein Kollege als Erste bei einer brennenden Autowerkstatt ankamen, die gerade in die Luft geflogen war, und dann wegen der Art, wie du dich einer halb bewusstlosen Frau angenommen hast, deren Kind bei der Explosion ums Leben gekommen war.«

Marcus’ bester Ermittler starrte einen Augenblick stumm vor sich hin. Dann nahm er die Zeitung und blickte auf die Anzeige. Sollten seine Augen etwa feucht glänzen? Schwer zu glauben.

»Maja Petersen«, sagte er langsam. »Ist das die Maja Petersen?«

Marcus nickte. »Ja, das ist sie. Vor zwei Wochen hat man Terje Ploug und mich zu ihrer Wohnung gerufen. Dort hatte sie schon ein paar Tage im Flur gehangen. Es brauchte kaum eine weitere Untersuchung, um sicher zu sein, dass sie sich das Leben genommen hatte. Auf dem Fußboden unter ihr lag das Foto eines kleinen Jungen, das sie vermutlich bis zum Augenblick des Todes in der Hand gehalten hatte.« Er schüttelte den Kopf. »Im Esszimmer stand eine angegammelte Torte auf dem Tisch, vollkommen unberührt. In zierlicher Schrift waren darauf mit hellblauer Glasur zwei Namen geschrieben: Maja 60 Jahre. Max 3 Jahre. Und darüber hinaus war der Kuchen, etwas untypisch, darf man wohl sagen, statt mit Kerzen mit zwei Kreuzen dekoriert. Eins für jeden Namen.«

»Okay.« Carl legte die Zeitung beiseite und ließ sich zurücksinken. »Das klingt traurig. Selbstmord, sagst du. Und da bist du dir sicher?«

»Ja, klar. Vorgestern fand die Beisetzung statt, ich habe teilgenommen. Und bis auf den Pfarrer, mich und eine ältere Dame war die Kapelle absolut leer, viel trauriger geht es kaum. Ich habe anschließend mit der Dame gesprochen, sie war eine Cousine der Verstorbenen. Wie sich zeigte, war sie es, die die Todesanzeige aufgegeben und mit ›Die Familie‹ unterzeichnet hatte.«

Carl sah ihn nachdenklich an. »Und du warst damals auch am Ort der Explosion? Seltsam, daran habe ich gar keine Erinnerung mehr. Ich erinnere mich an den Schnee und die eisige Kälte und an vieles andere, aber nicht an dich.«

Marcus zuckte die Achseln. Das war mehr als dreißig Jahre her. Warum sollte er auch?

»Das Feuer war gewaltig, und die Brandtechniker konnten nicht mit Sicherheit feststellen, was die Ursache für den Brand und die Explosionen war«, sagte Marcus. »Aber es kam heraus, dass zur Werkstatt eine nicht autorisierte Lackiererei gehörte. Im Gebäude befand sich mehr als genug von diesem leicht entflammbaren Zeug, ohne das es niemals zu diesen verheerenden Schäden gekommen wäre. Und ja, ich kam kurz nach dem Unglück dorthin, eher zufällig, weil ich ein paar Straßen entfernt zu tun hatte.«

Carl nickte in Gedanken. »Ich erinnere mich gut, dass der kleine Junge tot war, das sah ich sofort. Der zarte kleine Körper lag quer über der Bordsteinkante, der Kopf war in den Schnee gepresst. So ein Anblick lässt einen nicht so leicht los. Ich musste seine Mutter sehr festhalten, sie wollte zu ihm, aber das musste ich verhindern, damit sie ihn in diesem Zustand nicht sah.«

Er hob den Blick und sah Marcus an. »Warum bist du zu ihrer Beisetzung gegangen, Marcus?«

»Warum?« Er seufzte. »Der Fall hat mich nie losgelassen. Und schon damals dachte ich, dass da etwas faul war, der Fall stank zum Himmel.« Er klopfte auf die Mappe. »Jetzt hatte ich ein paar Tage Zeit, um die Akte wieder zu lesen und darüber nachzudenken.«

»Und zu welchem Schluss bist du gekommen? Dass die Explosionen kein Unfall waren?«

»Das habe ich eigentlich nie geglaubt. Aber hier auf Seite zwei des technischen Berichts bin ich über einen Satz gestolpert, der mir damals nicht aufgefallen ist, und wozu es vor über dreißig Jahren vielleicht auch keinen Grund gab.«

Er nahm das Blatt aus der Mappe und schob es zu Carl hinüber.

»Ich habe den Satz mit Marker hervorgehoben.«

Die Unterarme auf die Lehnen seines Bürostuhls gestützt, beugte Carl sich vor. Er las den gelb markierten Satz mehrere Male, dann blickte er auf und sah Marcus mit einem Ausdruck an, der seine Augen dunkler erscheinen ließ.

»Salz?«, sagte er bloß und wiederholte es noch zweimal.

Marcus nickte. »Ich seh’s dir an, du hast dasselbe gedacht.«

»Das mit dem Salz, ja. Aber wann war das? Hilf mir auf die Sprünge.«

»Ich weiß nicht genau, in irgendeinem deiner Fälle war doch mal was mit Salz. Oder?«

»Ja, schon.«

Unverkennbar dachte der Mann nach, dass der Kopf rauchte. Offenbar aber vergebens.

»Vielleicht können sich Rose oder Assad erinnern«, meinte Carl.

Marcus schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, denn das war vor ihrer Zeit. Aber vielleicht Hardy?«

»Marcus, Hardy ist wieder zu irgendeiner Behandlung in der Schweiz.«

»Das weiß ich, Carl. Aber du hast sicher schon von einer ziemlich cleveren Erfindung gehört, die sich Telefon nennt, nicht wahr?«

»Ja, ich rufe an, ist ja gut.« Er runzelte die Stirn. »Marcus, du hattest ein bisschen Zeit, um darüber nachzudenken. Würdest du vielleicht bitte so freundlich sein und den Schleier lüften, was du damals am Sydhavn erlebt hast?«

Marcus nickte. Das würde fast eine Erleichterung sein.

 

Beim zweiten Knall seien alle Scheiben der Wohnung, die er in der Nähe der Werkstatt gerade durchsuchte, so heftig eingedrückt worden, dass sich die Glasscherben tief ins Holz und die Möbel drückten. Gott sei Dank hielten er, Marcus, und die Kollegen sich gerade im Schlafzimmer zum Hof hin auf, so dass ihnen nichts passierte. Aber der Bewohner, ein erbärmlicher Junkie, der für die übelsten Elemente von Vesterbro Waffen versteckte, brach vollkommen zusammen und faselte etwas von damals, als er ein kleiner Junge war und das Gaswerk von Valby in die Luft geflogen war.

Marcus war auf Zehenspitzen über die Glassplitter zur Küche und in die sibirische Kälte gegangen, die ungehindert durch die zerbrochenen Fensterscheiben drang. Er sah den rabenschwarzen Rauch und die Flammen, die einige Straßenzüge entfernt über den Häuserdächern in die Höhe schlugen – mindestens fünfundzwanzig Meter hoch.

Zwei Minuten später bogen Marcus und sein Assistent in die Straße ein, wo bereits ein Streifenwagen mit Blaulicht quer vor dem Tor stand. Ein paar Meter weiter auf dem Hof saß ein junger Kollege und drückte eine Frau an sich. Chaos allerorten, und von brennenden Gebäudeteilen und vom Asphalt stieg weiterhin schwarzer Rauch auf. Ein Kleinkind links von Marcus war offenbar direkt an dieser Stelle getötet worden, denn der zierliche Körper lag ganz still da, das Gesicht in den Schnee gepresst.

Von der Gebäudemitte schlugen die Flammen jetzt mindestens vierzig Meter in die Höhe, und die Hitze warf einen schier um. Das Wrack eines Citroën Dyane lag auf dem Dach, überall Mauerbrocken und Autoteile im Schmelzwasser, das rasch den größten Teil des Areals bedeckte. Ein paar Autos, die zum Verkauf links an der Hofwand gestanden hatten, waren zusammengepresst wie ausrangierte Fahrzeuge bei einem Schrotthändler.

Ganz vorne lag eingedrückt unter den Brocken ein Lieferwagen, darunter ragten zwei verkohlte Beine hervor. In dem Moment war das das einzige Zeichen, dass im Gebäude Menschen gewesen waren.

Es dauerte Stunden, ehe die Feuerwehr die Flammen unter Kontrolle hatte, aber Marcus war dortgeblieben und hatte die Arbeit der Kollegen und der Brandtechniker aufmerksam verfolgt.

Bis Mitternacht hatte man vier weitere Leichen im Gebäude gefunden. Sie waren so stark verkohlt, dass sich kaum ihr Geschlecht feststellen ließ. Und auch wenn alle ihre Schädel ziemlich vergleichbare Verletzungen zeigten, konnte man vor Ort nicht mit Sicherheit feststellen, ob diese Verletzungen von der gewaltigen Explosion mit einem Geschossregen aus Tonnen von Metallstückchen verursacht worden waren.

Obwohl alles dafür sprach, dass es sich hier um ein Unglück handelte, spielte Marcus in den folgenden Tagen im Rahmen der Ermittlungen eine Reihe möglicher Motive durch, um zu klären, ob es sich womöglich doch um Brandstiftung handelte. Den Gedanken an einen Versicherungsschwindel musste man aufgeben, denn die Werkstatt verfügte allen Vorschriften zum Trotz über keinerlei Versicherungsschutz. Außerdem war bei der Gelegenheit auch der Inhaber der Werkstatt umgekommen. Was also hätte er von einem vorsätzlich gelegten Feuer haben sollen? Auch ein Bandenverbrechen konnte man ausschließen, denn keines der Todesopfer, die nach und nach als Mechaniker identifiziert wurden, war im Vorstrafenregister erfasst.

Obwohl die Witwe des Werkstattbesitzers unter Schock stand, war sie doch bereit, Marcus ein paar Informationen zum Betrieb zu geben.

»Hatten Ihr Mann oder Ihre Familie vielleicht noch mit irgendjemandem eine Rechnung offen?«, fragte er. »Gab es nicht zurückgezahlte Kredite? Irgendwelche privaten Feindseligkeiten? Oder wurde Ihr Mann von Konkurrenten bedroht?«

Aber die Frau schüttelte jedes Mal nur den Kopf. Sie könne sich überhaupt keinen Reim darauf machen. Ihr Mann sei ein fleißiger und erfolgreicher Handwerker gewesen, sagte sie immer wieder, nur mit dem Papierkram habe er sich immer schwergetan. Aber war das bei den Handwerkern nicht immer so?

Für diesen Betrieb galt das in jedem Fall, dachte Marcus. Hier hatte es weder einen Buchhalter noch einen Steuerberater gegeben. Und sollte es irgendwelche Geschäftsunterlagen, Korrespondenzen, Kundenkarteien, Rechnungen gegeben haben, waren die jetzt ohnehin in Flammen aufgegangen.

Als das Grundstück Monate später geräumt wurde, war man keinen Schritt weitergekommen. Nur dieses unscheinbare Detail, das ein aufmerksamer Kriminaltechniker im Bericht notiert hatte, stach heraus. Allerdings erst Jahre später …

Dort stand:

»Einige Meter vor dem Eingangstor, direkt am Gitter, befand sich ein neun Zentimeter hoher Haufen Salz.«

Und danach, extra noch hinzugefügt, die kleine Anmerkung, die auch damals schon Erstaunen und Nachdenken hätte auslösen müssen:

»Und das war Kochsalz, kein Streusalz.«

3

Carl

Dienstag, 1. Dezember 2020

»Carl, im Archiv lag eine Kopie der Akte.«

Rose schmiss sie ihm hin. »Ich und Gordon haben das Ding heute früh gelesen. Da steht, du wärst als Erster vor Ort gewesen?«

»Ja, scheint so.« Carl nickte und deutete auf Marcus’ Exemplar. »Dieser Bericht hat in all den Jahren in Marcus’ diversen Büros herumgelegen und Staub gesammelt. Euch ist vermutlich klar, was das bedeutet?«

»Ja, dass der Fall ihn nicht losgelassen hat«, lautete Gordons naiv-logische Antwort. »Und jetzt hätte er vielleicht gern, dass wir ihm den von den Schultern heben.«

Carls Daumen ging in die Höhe. »Spot on. Und deshalb übernehmen wir den Fall, legen alles andere beiseite und lösen ihn. So machen wir das.«

»Wir legen alles andere beiseite? Carl, das ist jetzt nicht dein Ernst?«, murmelte Rose. »Wir haben wirklich mehr als genug wichtige Fälle auf dem Tisch!«

Das war ihm nicht wirklich neu, und er verzichtete auf einen Kommentar. Aber schließlich hatte hier immer noch der Chef der Mordkommission das Sagen. Außerdem hatte dieser Fall eine für ihn selbst überraschend verletzliche Stelle in ihm getroffen. So viele Jahre waren vergangen, aber noch immer tat es weh, an den toten kleinen Jungen zu denken und an die Mutter, die ihr Allerliebstes verloren hatte. Er hielt es auch nach all den Jahren kaum aus, sich mit geschlossenen Augen an das entsetzliche Unglück zu erinnern. Sofort spürte er wieder das Zittern der Frau, als wäre es gestern gewesen. War das vielleicht so, weil er inzwischen selbst Vater geworden war?

»Ihr habt natürlich gesehen, was Marcus ganz am Schluss des Berichts markiert hat. Ich brauche euch also nicht zu erklären, welche Priorität dieser Teil des Falls hat. Und zwar nicht nur um Marcus’ willen, sondern ebenso sehr für uns, das Sonderdezernat Q.«

»Du meinst die Sache mit dem Kochsalz?«, fragte Gordon nach.

Carl nickte. »Rose, du bist seit 2008 hier im Sonderdezernat, ist dir in all den Jahren nicht irgendein Fall auf den Tisch gekommen?«

»Ein Fall mit Kochsalz?« Sie schüttelte den Kopf.

»Bitte, überleg noch mal. Irgendwas war da doch, ich bin mir ganz sicher, es gab da mal einen Fall, der ad acta gelegt wurde, in dem irgendetwas mit Salz eine Rolle gespielt hat. Marcus konnte sich auch dunkel erinnern, aber das mag, wie gesagt, einige Jahre her sein. Wenn du dich an keinen entsprechenden Fall seit 2008 erinnerst, dann such mal in den Jahren zwischen 2000 und 2005. Vielleicht stößt du da noch auf was.«

»Und du bist sicher, dass wir nach Hinweisen auf Kochsalz suchen?« Ihr Blick ließ keinen Zweifel daran, was sie davon hielt.

»Ja, Rose. Wenn es nicht zu viele Umstände macht. Wie gesagt: Ich erinnere mich tatsächlich vage an einen anderen Fall, bei dem in der Nähe des Tatorts ein Haufen Salz gefunden wurde. Wirklich.«

»Na, dann habe ich ja eine wahrhaft fantastische Aufgabe zugeteilt bekommen, vielen Dank, Carl Mørck aus Vendsyssel. Und je länger ich darüber nachdenke: Da liegt doch tatsächlich ein ordentlicher Haufen Salz draußen in Ganløse auf dem Hof meines Vetters. Soll ich ihn vorsichtshalber gleich mal verhaften lassen?«

Carl zog die Augenbrauen hoch. Wenn die dumme Gans so eine Laune hatte, setzte man am besten gleich den Stopper.

»Ich bedanke mich für den Sarkasmus, Salome. Rose, hast du eigentlich noch auf dem Schirm, was Marcus für dich getan hat? Er hat dich zurück zur Arbeit geholt, zurück zu einigermaßen derselben Form wie vor fünf Jahren, zurück auf einen besseren Posten, und es war nicht zu deinem Schaden. Meinst du nicht, Marcus hat es verdient, dass du alles in deiner Macht Stehende tust, um die Last dieses Falls von seinen Schultern zu nehmen?«

Sie seufzte. »Du warst wirklich lustiger, als du nur ein mürrisches altes Arschloch warst und kein heiliges, mürrisches altes Arschloch. Aber klar, wenn du mich damit quälen willst, dass ich alle alten Fälle auf das Stichwort ›Salz‹ hin scanne, während Assad die aktuellen auf unseren Schreibtischen löst, nur zu.«

Noch ehe Carl etwas entgegnen konnte, hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht. Verdammt irritierend.

Er wandte sich an Gordon, der sich als Nächster einen Anschiss abholen würde.

»Und du, Gordon«, sagte Carl dann auch mit so viel Nachdruck, dass der arme Kerl zusammenzuckte. »Du wirst mir helfen.«

Gordons Schultern sanken auf halb acht.

»Du machst die Witwe des Werkstattbesitzers ausfindig. Und diese alte Frau, die neulich an der Beisetzung in der Kapelle teilgenommen hat, Maja Petersens Cousine. Wenn du sie gefunden hast, bringst du die beiden zu mir. Und das bitte pronto!«

 

Carls neues Büro im ersten Stock war eines von denen, wie sie zwölf aufs Dutzend gehen, mit standardisiertem Inventar, leicht zu putzen. Er öffnete das Fenster, legte Marcus’ Bericht auf die Fensterbank und ging ihn systematisch durch. Dafür verbrauchte er fast eine Viertelpackung Zigaretten. Der Bericht war so detailversessen wie alle, die Marcus Jacobsen seinerzeit als Vizekriminalassistent geschrieben hatte. Hier allerdings schien er sich ganz besonders ins Zeug gelegt zu haben, er war ja auch fast Augenzeuge des Geschehens gewesen, und die Verzweiflung der jungen Mutter hatte ihn schon damals nicht losgelassen.

Gleich auf der ersten Seite hatte Marcus seiner Unzufriedenheit Ausdruck verliehen, dass der damalige Chef der Mordkommission seine Nachforschungen einfach gestoppt und die Akte mit dem Vermerk »Unfall« geschlossen hatte.

Auf den folgenden Seiten fanden sich Auszüge aus Marcus’ Zeugenvernehmungen – die jedoch in der Tat nicht sehr ergiebig waren, auch beim besten Willen nicht.

Es gab keine einzige Spur, nicht mal einen Hinweis, dem er hätte nachgehen können. Diese junge Frau, die ihr Kind bei dem »Unfall« verloren hatte, hatte noch den Grund für ihren Werkstattbesuch zu Protokoll gegeben – irgendetwas war wohl mit der Hinterachse ihres Citroën Dyane nicht in Ordnung gewesen. Doch als es dann darum ging, sich an den Augenblick der Explosion zu erinnern, den Moment, an dem der Buggy mit ihrem dreijährigen Sohn in die Luft geflogen war, war sie zusammengebrochen.

Dann stieß Carl noch auf ein paar Aussagen der Witwen der umgekommenen Mechaniker. Alles in allem fanden sich jedoch keinerlei Hinweise darauf, dass es sich um etwas anderes als ein fleißiges, junges und kompetentes Werkstattteam gehandelt hatte. Alle machten Überstunden, der Lohn kam immer pünktlich und war außerdem nicht schlecht, ganz im Gegenteil, hatte eine der Frauen zu Protokoll gegeben.

Genau das unterstrich Carl jetzt fett.

 

»Die Witwe zu finden war nicht so schwer, Carl. Die Frau, die damals mit dem Werkstattbesitzer verheiratet war, hat zwar wieder geheiratet und trägt jetzt einen anderen Nachnamen. Aber sie wohnt noch immer an derselben Adresse.«

»Gordon, für wann hast du sie herbestellt?«

»Sie wartet drinnen bei Rose.«

Carl nickte. So langsam musste er wohl einsehen, dass der Jüngste im Dezernat schon fast trocken hinter den Ohren war.

»Und diese Cousine, die die Traueranzeige aufgegeben hat, die kommt in einer Stunde. Sie war ein bisschen nervös und verunsichert, dass du mit ihr sprechen willst. Aber ich habe ihr gesagt, dass du für gewöhnlich nicht beißt.« Er lächelte breit.

»Für gewöhnlich nicht beißt«? Was sollte das denn jetzt? So ganz trocken hinter den Ohren war dieser Typ wohl doch noch nicht.

Carl schloss die Akte. Die Bilder von den Opfern am Unglücksort waren sicher nicht für die Augen der Witwe geeignet.

Er hatte keine Ahnung, wie die frühere Frau des Werkstattbesitzers vor zweiunddreißig Jahren ausgesehen hatte, aber für eine Sechzigjährige wirkte sie doch recht jugendlich. Es war wohl eher nicht Gottes Einfluss, der bei der Erschaffung dieses Gesichts gewirkt hatte, dachte er, als sie den Mund-Nasen-Schutz abgenommen hatte. Sie versuchte ein Lächeln, aber das schien wie festgetackert zu sein.

In den ersten Minuten tastete er sich mit den Fragen langsam vor, aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt, dachte er, und stellte dann eine Frage, die ihr laut Bericht noch nicht gestellt worden war. Ein glatter Schuss in den Nebel.

»Können Sie sich eigentlich erklären, woher Ihr Mann diese großen Geldsummen hatte, die Ihnen ja offensichtlich zur Verfügung standen? Wussten Sie eigentlich, was da so reinkam?«

Sie strich sich das Haar hinter ein Ohr, während eine einzelne Falte versuchte, sich ihren Weg auf die Stirn zu bahnen. »Na, wir konnten immer alle unsere Rechnungen pünktlich bezahlen. Das war schon sehr schön.«

»Und wie war das mit Extras? Teure Autos, edle Kücheneinrichtung, Luxuskleidung, all so etwas?« Er hatte natürlich keine Ahnung, ob er damit richtiglag.

Sie sah aber ganz erleichtert aus, ein paar konkrete Anhaltspunkte zu bekommen.

»Na ja, Ove hat doch dieses Sommerhaus gekauft. Das habe ich immer noch. In Tisvilde.«

Carl pfiff durch die Zähne. »Das war damals bestimmt der richtige Zeitpunkt, um ein Sommerhaus in Tisvilde zu kaufen. Heutzutage ist das ja kaum noch zu bezahlen.«

Mit einem gewissen Stolz richtete sie sich kurz auf.

»Was mussten Sie denn damals dafür hinlegen? So viel, dass man es noch bar bezahlen konnte?«

Sie nickte und schien nachzudenken, was allerdings kaum Falten auf ihrer Stirn hervorrief. Herr im Himmel, wie schnell sie bereit war zu plaudern.

»Etwas über hunderttausend, glaube ich. Klar, Ove hat das bar bezahlt.« Sie nickte zur Bekräftigung.

»Die Werkstatt lief also gut?«

Wieder nickte sie. »Ove arbeitete wirklich viel. Das taten sie alle.«

Die restliche Unterhaltung dauerte zwanzig Minuten, und das würde wohl das letzte Mal gewesen sein, mehr war hier nicht zu holen.

 

»Ich glaube, in dem Laden war mehr los als in den meisten Autowerkstätten«, sagte Carl zu Rose, nachdem die Witwe gegangen war.

Sie hörte nicht zu. »Bist du dir darüber im klaren, Carl, was du mir da eingebrockt hast?« Roses Mimik verfügte über viele Facetten, aber der Gesichtsausdruck, den sie gerade zeigte, gehörte zu denen, die er überhaupt nicht leiden konnte. Wer hatte eben noch von mürrischen Arschlöchern gesprochen?

»Die Fälle von 2000 bis 2005 sind noch nicht digitalisiert, ich blättere mir hier einen Wolf. Du kannst schon mal den Überstundenzettel unterschreiben, wenn du willst, dass ich damit weitermache.«

Dieses Gemotze hatte andererseits auch etwas sehr Vertrautes.

»Du sagst einfach, wie viele Stunden du dafür brauchst, und ansonsten machst du weiter mit deiner fantastischen Arbeit.«

Hatte sie ihm ernsthaft gerade die Zunge rausgestreckt?

4

Carl

Dienstag, 1. Dezember 2020

Carl öffnete den Bericht und studierte akribisch die Fotos der Toten in der Autowerkstatt und die Berichte dazu. Doch weder aus den Untersuchungen am Fundort noch aus denen am Obduktionstisch wurde er wirklich schlau. Der Rechtsmediziner, der die Leichen obduziert hatte, schrieb etwas umständlich über eines der Opfer:

 

»Da der Tote unter einem Stahltisch gefunden wurde und er außer einer Verletzung am Hinterkopf keine weiteren Körperbeschädigungen aufwies, muss man davon ausgehen, dass die Verletzung an seinem Hinterkopf auch die Todesursache war. Diese Verletzung stammt offenbar von einem Objekt, das bei dem Aufprall (oder Schlag?) intakt geblieben ist, es wurden keine Fragmente davon im Schädel gefunden. Dasselbe trifft auf zwei weitere Opfer zu. Auffallend ist, dass in allen drei Fällen die Verletzungen nahezu identisch sind. Vermutlich standen diese drei Personen nahe beieinander, so dass das Objekt oder die Objekte, die ihre Verletzungen herbeigeführt haben, womöglich bei der Explosion auf einer Höhe durch den Raum geschleudert worden sind.«

 

Carl las die sprachlich ungelenke Erklärung mehrmals und studierte parallel dazu die Fotografien. Auch die beiden letzten Leichen wiesen Kopfverletzungen auf, allerdings etwas näher an der Schläfe. Und ihre Körper waren von vielen weiteren Verletzungen gezeichnet. Einem der Opfer hatten sich so viele Metallstückchen dicht an dicht in den Torso gebohrt, dass man unweigerlich an ein Nagelbrett dachte.

Dann blätterte er weiter zu den Aufnahmen der Grabungsarbeiten, bei denen die Opfer freigelegt worden waren. Was für eine furchtbare Aufgabe.

Als er zur Fotodokumentation vom Zustand des Werkstatthofs gekommen war, hörte er Schritte auf dem Gang. Er schloss die Mappe und wartete.

 

Die Cousine der Verstorbenen trat ein. Die Situation schien sie sehr zu verunsichern, doch Carl beschloss, sie lieber gleich direkt zu befragen.

»Ach, es ist so furchtbar, dass sich Maja ausgerechnet an ihrem Geburtstag das Leben nehmen musste. Dabei hatte sie mich eingeladen. Ich musste aber im letzten Moment absagen, es ist so entsetzlich! Ich bin Krankenschwester, und Sie wissen sicher, wie es auf den Corona-Stationen gerade zugeht, deshalb musste ich doch … ich wusste doch nicht …« Sie presste die Lippen zusammen und versuchte sich zu fassen. »Wenn ich doch nur gekommen wäre, dann … vielleicht …«

Sie sah Carl mit einem Blick an, als wünschte sie, er könne es ihr erlassen, weiterzusprechen.

Carl überlegte, nach ihrer Hand zu greifen, aber angesichts des Mund-Nasen-Schutzes, der inzwischen unter ihrer Nase hing, besann er sich. »Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, es war Majas Entscheidung. Es wäre fatal, wenn Sie die Schuld bei sich suchten. Nach meiner Erfahrung sorgt die Mehrzahl der Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, dafür, dass nicht zu viel Zeit vergeht, bis sie gefunden werden. Maja hätte das sowieso getan, bevor Sie kamen, da bin ich mir sicher. Sie hätten sie nur etwas früher gefunden.«

Sie nickte. »Ja, das habe ich auch gedacht. Aber danke, dass Sie es sagen. Aus Maja schlau zu werden war sehr schwer. Nach dem Tod ihres kleinen Max war sie nie mehr die alte. Sie funktionierte, das schon, stürzte sich in die Arbeit, aber jeder, der mit ihr zu tun hatte, spürte, dass das Leben ihr eigentlich nur noch eine Last war.«

»Wie ich das sehe, haben Sie ihr sehr nahegestanden. Sie haben die Todesanzeige im Namen der Familie aufgegeben.«

»Ja, ich bin aber auch die Einzige, die sie gut kannte. Mit ihren Arbeitskollegen pflegte sie kaum privaten Umgang, und zu ihrem Exmann, Max’ Vater, hatte sie gar keinen Kontakt. Aber der war schon vor dem Unglück abgebrochen, und selbst danach hat er sie nicht unterstützt in ihrer Trauer. Auch das hat sie sehr verletzt, es war schließlich ihr gemeinsames Kind.«

»Aber Maja und Sie, Sie sahen sich regelmäßig?«

Sie nickte. »Ja. Aber wir haben in all den Jahren nie mehr wirklich über dieses Unglück gesprochen. Na ja, ganz am Anfang natürlich, da drehte sich alles um Max’ Tod. Aber irgendwann verstummte Maja, und danach hat sie das Thema nie wieder angesprochen.«

Sie wischte einen Tropfen weg, der aus ihrer Nase lief. Seltsam, dachte Carl, wie viel Würde sie sogar in dieser Situation ausstrahlt.

»Ach, es gab so viel, das sie quälte. Sie verfluchte sich dafür, dass sie diese Werkstatt ausgewählt hatte, nur um einige Hundert Kronen zu sparen. Sie verfluchte sich auch dafür, so ein Mistauto gekauft zu haben. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie damit überhaupt hatte fahren wollen, als es Winter wurde. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr die Selbstvorwürfe ihr Leben bestimmten. Kam das Thema auf Kinder, Autos, Unfälle – egal, in welchem Zusammenhang –, brach sie von einem Moment auf den anderen zusammen. An ihrem Arbeitsplatz müssen sie sehr tolerant gewesen sein, dass sie es mit ihr ausgehalten haben, ja, das müssen sie wohl.«

»Dem Obduktionsbericht entnehme ich, dass der kleine Junge an einem Bein eine Schiene trug. Wissen Sie, was für ein Problem er hatte?«

»Ja. Max hatte Probleme mit seinem rechten Knie, irgendetwas Angeborenes. Deshalb musste er in den ersten Jahren ziemlich oft operiert werden.«

»Aber er konnte gehen?«

»Er lernte es gerade einigermaßen, ja. Auch das war Majas Verdienst. Während der Vater des Kindes die Familie nur wenige Monate nach Max’ Geburt verließ, weil er es einfach nicht aushielt, ›mit einem behinderten Kind zu leben‹ und mit einer Frau, die sich um nichts anderes mehr kümmerte, setzte Maja alles daran, Max die beste Behandlung zukommen zu lassen, die möglich war. Da ist dieser Mann ja leider kein Einzelfall: abhauen, wenn’s schwierig wird.«

 

Carl ließ sich die Telefonnummer von ihrem Arbeitsplatz geben, so dass er sie jederzeit anrufen konnte, falls sich weitere Fragen ergeben würden. Aber Carl schwante schon, dass von ihr wohl kaum noch entscheidend Neues kommen würde.

Am besten, er würde sein Gehirn jetzt noch mal auf null setzen und alle bisherigen Theorien beiseiteschieben. Da war zuallererst die Behauptung der jungen Maja: Sie hatte vor der ersten Explosion am Werkstatttor zwei Beine unter ihrem Wagen hervorlugen sehen. Auch wenn ihre Erinnerung vielleicht nicht ganz präzise war und die Beine in Wahrheit unter dem Fahrgestell des Lieferwagens und nicht unter ihrem Wagen hervorragten, so entschied er sich, ihrer Aussage Glauben zu schenken. Es war zumindest ein Bild, das sich ihr besonders eingeprägt hatte.

Was machte ein Mann im Winter unter einem Wagen? Für Inspektion und Reparaturen gab es Hebebühnen. War es denkbar, dass er schon vor den Explosionen … tot war?

Carl durchdachte das Szenarium. Falls der Mann schon tot war, war er sicher keines natürlichen Todes gestorben. Und schon standen verschiedene neue Fragen Schlange.

Zum Beispiel die: Wie war es zu den Verletzungen am Kopf der Leichen gekommen? Waren sie wirklich im Zuge der Explosionen erfolgt? Versuchte der Mann am Eingang der Werkstatt zu fliehen? Warum war es keinem der Mechaniker gelungen, aus der Werkstatt herauszukommen? Waren auch sie schon vor den Explosionen getötet worden? Dem Grundriss der Werkstatt nach zu urteilen lagen vier der Leichen ziemlich dicht beieinander beim Umkleideraum in der Mitte des Gebäudes. Aber wie konnte man eine ganze Gruppe von Männern töten, ohne dass die Widerstand leisteten? Oder hatte es womöglich Widerstand gegeben? Und wodurch genau wurden die Explosionen ausgelöst? Eine Erklärung in der Tatortanalyse besagte, die erste Explosion sei von Tanks mit Toluol ausgegangen, einem starken Lösungsmittel, aber stimmte das? Und was war das mit diesem Häuflein Salz vor dem Gebäude? Hatte jemand ernsthaft geglaubt, damit den vereisten Gehwegen zu Leibe rücken zu können? Hatte das jemand absichtlich dort platziert oder war jemand mit einer undichten Tüte Salz vorbeigegangen? Aber warum um Himmels willen sollte jemand an diesem gottverlassenen Ort mit einem Loch in einer Salzpackung vorbeikommen? Carl merkte selbst, wie seine Fragen ihn in die Wüste führten. Das brachte ihn jetzt alles wirklich nicht weiter. Woher aber kam dieses Gefühl, plötzlich verstehen zu können, dass Marcus sich so festgebissen hatte an diesem Fall? Da rumorte etwas in den hinteren Arealen seines Hirns, das noch zu flüchtig war, um es zu greifen.

Nach allen Grübeleien blieb eigentlich nur eine einzige konkrete Frage: Sollte es sich hier tatsächlich um ein Verbrechen gehandelt haben? Und was wäre dann das Motiv?

Ein vager Ansatz könnte der für eine Kfz-Werkstatt ungewöhnlich hohe Umsatz sein – das konnte man indirekt ableiten aus den Aussagen der Witwen zu den Gehältern der Angestellten. Offenbar verdiente man in Ove Wilders Garage ein hübsches Sümmchen über dem Durchschnitt. Wodurch? Drogen? Geldwäsche? Betrügereien in größerem Stil?

Kopfschüttelnd betrachtete Carl noch ein weiteres Mal die Fotos in der Fall-Akte. Das war jetzt über dreißig Jahre her. Hatten sie überhaupt eine Chance?

 

»Hast du etwas aus den Damen herausbekommen, die ich herbestellt hatte?« Gordons Neugier war legendär und ging Carl sofort wieder auf die Nerven. »Konnten sie irgendetwas Substanzielles beisteuern?«

Bedächtig wiegte Carl den Kopf. »Tja. Auf jeden Fall weiß ich jetzt mehr über die Frau, die ihr Kind verloren hat … bei der Explosion«, sagte er und zögerte beim letzten Wort. Er hatte Unglück sagen wollen, aber er konnte nicht.

»Ja. Dieses traurige Schicksal, wenn man sich vorstellt, wie ein ganzes Leben von so etwas zerstört werden kann. Vielleicht nur ein Funken, und dann … bummmm!« Gordon schüttelte den Kopf, runzelte aber plötzlich die Stirn, als sein Blick auf das oberste Foto in der Mappe fiel. Dann zog er sich den Stuhl von der Wand heran, setzte sich wie in Zeitlupe und hielt dabei den Blick starr auf das gestochen scharfe Foto gerichtet.

»Ist das nicht Majas Citroën Dyane, der dort auf dem Dach liegt?«

Carl nickte. Genau so stand es doch auf dem unteren Rand des Fotos.

»Dieses Foto war nicht in unserer Mappe mit den Kopien.« Gordons Stimme war plötzlich ganz dunkel.

»Aha. Und was ist darauf so Besonderes zu sehen?«

»Hast du ein Vergrößerungsglas in der Schublade?«

Carl wühlte und wurde tatsächlich fündig.

Gordon führte die Lupe ein paarmal über dem Foto hin und her. »Verdammt«, sagte er dann.

Er zog die Mappe zu sich heran und blätterte die Seiten systematisch durch, bis er fand, wonach er suchte.

Er las die Textpassage ein paarmal durch, um auch ganz sicher zu sein, schüttelte ungläubig den Kopf und schob das Blatt zu Carl hinüber.

»Sieh mal, Carl. Das ist Marcus’ Verhör von Maja, einen Monat nach dem Unglück.« Er tippte auf den Text.

»Ja, habe ich gerade gelesen. Sie bekam vom Meister Ove Wilder den Bescheid, die Hinterachse müsse ausgetauscht werden, weil sie verschlissen sei.«

»Genau. Und sieh dir dann das Foto von ihrem Auto an, das auf dem Dach liegt. Was siehst du?«

Carl führte das Vergrößerungsglas ein paarmal hin und her.

»Ich sehe, dass sie die Hinterachse ausgewechselt haben, wie sie gesagt hatten. Na gut, ganz neu sieht sie nicht aus, aber sie ist auf jeden Fall intakt. Vermutlich haben sie ein Reserveteil benutzt, das sie noch vorrätig hatten.«

»Okay. Aber überleg mal: Die Werkstatt ruft Maja nur fünfundzwanzig Minuten vor der Explosion an, und ihr wird gesagt, sie müssten die Hinterachse austauschen.«

»Ja.«

»Verzeih, wenn ich das sage, aber du verstehst offenbar nicht viel von Autos: Glaubst du wirklich, man könne eine Hinterachse so schnell austauschen?«

»Du meinst, sie hätten das schon erledigt, bevor sie angerufen haben? Ist doch super. Wo ist das Problem?«

»Da ist keine ausgetauschte Hinterachse und der Boden ist überall gleich schmutzig. Die sieht also ziemlich original aus. Wenn du mich fragst, wurde da gar nichts ausgetauscht. Weil es überhaupt keinen Grund gab, sie auszutauschen.«

»Ich höre dir zu«, sagte Carl und warf einen Blick auf die Zigaretten. Warum zum Teufel durfte ein Mann keine Kippe rauchen, wenn das den Gedanken auf die Sprünge helfen konnte?

Er seufzte und sah Gordon an. »Du meinst, die haben sie angelogen? Sie haben ihr eine Reparatur angekündigt, die gar nicht nötig war? Willst du das damit sagen?«

»Ja. Oder sie wollten die Reparatur gar nicht durchführen, sondern nur die Bezahlung dafür kassieren. Und egal, ob sie das eine oder andere vorhatten, sie hätten die Frau auf jeden Fall ganz gezielt um eine Menge Geld betrogen.«

Carl nickte und sah noch einmal auf das Foto.

»Du willst also sagen, dass Ove Wilders Werkstatt ihre Kunden einfach beschissen hat? Verstehe ich das richtig?«

»Ja, verdammt! Ist dir klar, was auf diese Weise aufs Konto kommt, wenn man nur genug Kunden hat? Und die hatten sie, glaube ich, so wie sie die Leute mit ihren niedrigen Preisen lockten. Unter Garantie fanden sie immer irgendetwas bei den Autos, die man ihnen zur Inspektion oder Reparatur brachte – etwas, das nicht zwingend gemacht werden musste. Und welcher Kunde kennt sich gut genug aus, um zu checken, was genau gemacht wurde? Meinst du nicht, dass das sein kann?«

Carl runzelte die Stirn. Vielleicht sollten sie sich auch noch mal einen Überblick über das Konsumverhalten und den Lebenswandel der anderen Mechaniker verschaffen.

Ob die vielleicht auch so viel Bargeld in Händen hatten und sich damit Sommerhäuser und dergleichen gekauft hatten?

5

Nördlich von Kopenhagen

Dienstag, 1. Dezember 2020

Auf dem Tisch lagen neben der ruhig vor sich hin brennenden Adventskerze die Papiere der beiden für die nächste Liquidierung ausersehenen Kandidaten. Über ihren Gesichtern auf den Fotokopien lag ein selbstzufriedenes Lächeln, ihre Blicke waren stahlhart. Aus den Lebensläufen sprangen einen die abstoßend egoistischen Karriereverläufe förmlich an. Beide waren gleichermaßen zynische Machtmenschen, die keine Mittel scheuten, um ihre Vorhaben durchzusetzen. Wer also sollte vor wem drankommen?

Die Entscheidung war wie immer nicht leicht. Der eine stand mittlerweile seit Jahren auf der Liste, während der andere erst in den letzten Monaten auf der Bildfläche erschienen war. Sollte man sich für denjenigen entscheiden, der bereits am meisten Unheil angerichtet hatte? Oder eher für den, dessen Leben am leichtesten zu beenden und bei dem das Risiko, entdeckt zu werden, am geringsten war? Vor diesem Dilemma stand man ja jedes Mal. Und die Entscheidung wollte sorgfältig durchdacht sein.

 

Dass der erste Kandidat allein lebte, sprach ganz deutlich für ihn als erste Wahl. Außerdem machten extrovertierte Menschen wie er unaufhörlich neue Bekanntschaften, so dass der Freundeskreis andauernd ausgewechselt oder erweitert wurde. Das hatte den Vorteil, dass sich die Ermittlungen der Polizei schön komplex und langwierig gestalteten und auf viele falsche Fährten führten. Der andere Kandidat hingegen lebte in zweiter Ehe, zusammen mit einer ziemlich chaotischen Patchwork-Familie. Niemand konnte da mit Sicherheit vorhersagen, wo sich die Familienmitglieder zum Zeitpunkt der Entführung gerade aufhielten. Der erste Kandidat war mittlerweile in einem Alter, in dem die Liquidierung möglicherweise durch den natürlichen Tod des Betreffenden vereitelt werden könnte. Andererseits wirkte er momentan noch gesund und munter. Gegen den zweiten Kandidaten sprach das aktuelle und sehr kontrovers diskutierte Zeitungsinterview, das auf dem Tisch lag. Auf wen sollte die Wahl nun fallen? Die Entführung sollte in genau einer Woche stattfinden. Und die Vorbereitungen waren ja komplex und zeitaufwendig.

 

Ein greller Lichtstrahl fiel durch das Fenster auf die beiden Fotos. Jemand war also auf den Plattenweg getreten und befand sich auf dem Weg zur Haustür.

Es klingelte. Wer kam zwanzig Minuten vor Mitternacht?

Es wäre wohl besser, eine grüne Schreibunterlage über die Fotokopien zu legen, und ein zweischneidiges, nadelspitzes Papiermesser aus der Schublade zu nehmen. Vorsichtsmaßnahmen dieser Art waren um diese Uhrzeit schon seit vielen Jahren obligatorisch.

Das Gesicht auf dem Monitor verschwamm. Durch das blinkende Licht an der Tür war es fast gar nicht mehr zu erkennen. Aber es war nur eine Person, und die stand ganz still. Mit dem Papiermesser in der Hand auf dem Rücken wurde die Haustür vorsichtig einen Spaltbreit geöffnet.

Die Gestalt, die jetzt ins Licht des Vorbaus trat, war bekannt.

»Ach du bist es, Debora, warum hast du nicht angerufen?«

»Du weißt doch, dass ich das nicht tue, wenn wir über jemanden sprechen müssen, der exkludiert ist.«

»Exkludiert, sagst du? Aber das ist doch schon lange her, seit Eva ausgeschlossen wurde. Zwei Monate?«

»Ja, und sie hatte lange nach dem Ausschluss getrachtet.«

»Bekommen wir Probleme?«

»Ich bin bei ihr nicht ganz sicher, das ist alles. Man hört dies und das.«

»Ist sie sich der vollen Konsequenz bewusst, wenn das Schweigen gebrochen wird?«

»Das hoffe ich sehr für sie. Doch, ja.«

Um das zu unterstreichen, trat sie mit gelassener Miene in die offene Tür.

»Das ist gut, Debora, sehr gut. Und klappt das mit ihrer Nachfolgerin?«

»Ja, sie ist ein Goldstück. Ich nenne sie Ruth. Ein guter biblischer Name, scheint mir, aber sie heißt Ragnhild. Ragnhild Bengtsen.«

6

Ragnhild

1993

Ragnhild saß auf einer alten Bettdecke. Unter dem Bett waren Pappkartons voll mit altem Mist, wie ihr Vater immer sagte. Ihr Vater, der hatte ein Herz aus Stein, so wurden Menschen manchmal, das hatte sie im Fernsehen gehört. Hart wie Stein, das war nicht gut. Denn wenn das Herz aus Stein war, sollte man sich vor diesen Menschen besser in Acht nehmen.

Ragnhild saß fast immer allein im Wohnzimmer auf der Decke über den Pappkartons. Tatsächlich gab es sonst keinen Platz, auf dem man sitzen konnte, denn das Sofa und der Sessel waren voller ekliger alter Sachen, und auf dem Fußboden wollte sie nicht sein, denn dort krabbelten alle möglichen kleinen Tiere herum. Schon beim Anblick kribbelte es überall.

Wenn sie sagte, dass es bei ihren Freundinnen ganz anders war, flippte ihre Mutter aus. Dann schüttelte sie sie immer, und hinterher tat das im Kopf und im Nacken richtig weh. Deshalb passte Ragnhild auf und blieb, wenn sie konnte, einfach für sich.

Ihre Mutter und ihr Vater zofften sich jeden einzelnen Tag. Ihr Vater brüllte sie an, die Mutter schrie zurück, Ragnhilds Herz schlug dann immer ganz schnell.

Ragnhild verstand das alles nicht, und es betrübte sie.

Am Abend war ihr Vater nie zuhause, und die Mutter saß drinnen in der Kammer hinter dem Schlafzimmer und stellte Sachen von einer Seite auf die andere, hin und zurück. An solchen Abenden saß Ragnhild vor dem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher, ohne dass die Erwachsenen kamen und sie verjagten, und war froh.

Ragnhild liebte vieles in diesem Fernseher. Es machte ihr überhaupt nichts, dass es nicht in Farbe war wie bei ihren Freundinnen zuhause, denn das war Ragnhilds ganz eigener Fernseher. Keines der anderen Kinder sah, was sie sah. Sendungen mit wilden Tieren, und spät am Abend, wenn die anderen Kinder ins Bett mussten, dann blieb Ragnhild manchmal bis nach Mitternacht auf, wenn es einen guten Film gab.

Gute Filme waren immer solche mit einem Mann, so alt wie ihr Vater, einem, der nett war zu den Guten und die verprügelte, die es nicht waren. Am allerbesten fand sie die Filme mit John Wayne. Er konnte so spöttisch lächeln, und er ging so langsam und lässig, und er hatte große Hände und viele Revolver, so dass andere Angst vor ihm hatten. Und wenn sie sich trotzdem nicht fürchteten, dann sollten sie bloß mal aufpassen, denn dann bekamen sie ordentlich Prügel, und dann lächelte John Wayne wieder spöttisch. John Wayne und Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone, die waren toll, und deshalb hatte sie ihre Namen ganz oft geübt. Und an manchen Tagen redete sie in der Schule so viel von ihnen, dass die anderen schließlich keine Lust mehr hatten, zuzuhören. Einmal sagte eine ihrer Freundinnen, sie glaube nicht, dass diese Typen etwas Besonderes seien. Und sie sei sich gar nicht sicher, ob es solche in Wahrheit überhaupt gibt. Das machte Ragnhild ziemlich wütend.

An manchen Tagen, wenn es draußen sehr warm war, konnte es im ganzen Haus sehr eklig riechen, und dann kam ihr Vater auch tagsüber nicht nach Hause. Wenn er ganz besonders sauer war, sagte er die ganze Zeit so Wörter, die die Lehrer drüben in der Schule nicht leiden konnten, das sagten sie ihr jedenfalls immer, wenn sie mal eins davon benutzte. Ragnhilds Vater knallte ihr auch schlimme Wörter an den Kopf, und manchmal so, dass sie sich richtig erschrak. Im letzten Sommer, als sie sechs Jahre alt geworden war und die Sonne schön schien, hatte sie eine Menge Sommersprossen bekommen, weshalb andere Menschen sie anlächelten. Nur nicht ihr Vater. Er sagte, das käme davon, wenn man ein schlechter Mensch sei, so wie ihre Mutter, und dass das Schlechte nur aus der Haut herauskommen wollte. Dann versuchte er die Sommersprossen mit einem Lappen wegzuwischen und griff an ihre Schenkel und zwischen die Beine und sagte, von da würden sie kommen, aber die Sommersprossen verschwanden nicht.

Auch in diesem Jahr, als sie nicht so viele Sommersprossen hatte, machte er das, und Ragnhild konnte es gar nicht leiden. Und wenn sie ihm das sagte, wurde es nur noch viel schlimmer.

Ragnhild wollte gern eine Katze haben, denn dann hätte sie etwas, was man kraulen und womit man reden konnte, aber ihre Mutter wurde fuchsteufelswild und schrie, Katzen würden stinken, und mit der ganzen Pisse und dem Fisch, das könnte sie nicht ertragen. Und deshalb sollte Ragnhild ja nicht wagen, so etwas ins Haus zu schleppen.

Aber Ragnhild war das egal, denn es stank sowieso im ganzen Haus, und als die Katze der Nachbarn Junge bekam, schenkten sie Ragnhild ein Kätzchen mit braunen Streifen.

Als ihr Vater es miauen hörte, bekam er einen puterroten Kopf und trat mit seinen großen Schuhen danach, und Ragnhild fing an zu heulen und riss das Kätzchen an sich. Aber ihr Vater war nicht zu beruhigen, und so fing er an, Ragnhild zu schlagen statt der Katze.

Mitten hinein kam ihre Mutter ins Wohnzimmer und schrie: Wenn sie schon nicht gehorchen wollte, dann hätte sie es auch nicht besser verdient. Da bekam es Ragnhild mit der Angst zu tun. Denn zum ersten Mal in Ragnhilds sieben Jahren waren sich ihr Vater und ihre Mutter bei etwas einig. Und da dachte Ragnhild zum ersten Mal, dass es ihr ohne ihre Eltern vielleicht besser gehen würde.

7

Marcus

Mittwoch, 2. Dezember 2020

Es war einer dieser Anrufe, wie ihn Marcus an einem übervollen Tag so gar nicht brauchen konnte. Der Anrufer, Leif Lassen alias »Spürhund«, Polizeikommissar des Drogendezernats, klang auch nicht so, als wäre ihm wohl dabei, eine Information weitergeben zu müssen, die er selbst offenbar gerade erst bekommen hatte.

»Mehr weiß ich ehrlich gesagt auch nicht, Marcus. Ich wollte dich nur rechtzeitig vorwarnen. Aber die holländische Polizei, die Polizei von Slagelse und unser Dezernat hier in Kopenhagen sind dabei, eine Anklageschrift gegen Carl Mørck, möglicherweise auch gegen Hardy Henningsen und posthum gegen den verstorbenen Anker Høyer vorzubereiten. Allen dreien wird vorgeworfen, bis zu Ankers Tod 2007 in großem Umfang mit Kokain gehandelt zu haben. Ich spreche von dem Fall, den wir alle jahrelang als Druckluftnagler-Fall bezeichnet haben, du wirst ihn sicher noch genauso auf dem Schirm haben wie alle anderen Beteiligten. Es tut mir leid für dich, Marcus, es ist ja kein Geheimnis, wie viel Carl dir und deinem Dezernat bedeutet.«

Marcus öffnete den Mund und holte tief Luft.

»Marcus, bist du noch dran?«

Der schluckte den Kloß im Hals runter und atmete aus. »Ja. Aber zum Teufel, du erwartest ja wohl nicht, dass ich Freudensprünge mache. Kokain sagst du? Das ist doch nicht euer Ernst: Hardy und Carl verwickelt in Kokainhandel? Also wirklich! Aber wie lautet noch mal die Anklage? Ich meine, was genau sollen Carl und Hardy damit zu tun haben? Ich kann euch nur raten, handfeste Beweise in petto zu haben, schließlich sprichst du von zwei außerordentlich geschätzten Kollegen.«

»Das ist mir klar. Aber die Lage ist ernst. So wie sich die Sache darstellt, muss Carl mit einem Strafmaß von Minimum sechs Jahren Gefängnis ohne Bewährung rechnen. Hardys Rolle ist noch nicht ganz klar, es liegen jedoch wasserdichte Beweise gegen Anker Høyer vor. Wäre er noch am Leben, ich schätze, er bekäme zwölf Jahre, mindestens!«

»Du sagst, ›so wie sich die Sache darstellt‹. Leif, in meinem Dezernat reicht das nicht. Trotzdem bedanke ich mich für die Vorwarnung, ich weiß das zu schätzen. Ich werde sie für mich behalten. Und ich gehe davon aus, dass du mich über die weitere Entwicklung auf dem Laufenden hältst.«

Marcus war schockiert. Dass Hardys und Carls Kollege Anker Høyer in so etwas verwickelt war, das konnte er sich gerade noch vorstellen. Allein, dass sie bei der Obduktion Kokain in seinem Körper gefunden hatten, sprach nicht gerade für ihn. Aber Carl? Das konnte und wollte er nicht glauben. Doch er kannte den »Spürhund«. Wenn der eine Fährte aufgenommen hatte, ließ er sich von der Nase leiten.

Er stand auf und trat auf den langen Gang. Gerade konnte er es nicht ertragen, mit diesen Gedanken allein in seinem Büro zu sitzen.

»Äh, Lis«, sagte er zur omnipräsenten Sekretärin und Assistentin des Dezernats. »Tu mir einen Gefallen und stell mir ein Dossier zum sogenannten Druckluftnagler-Fall zusammen. Lass dir ruhig Zeit, es eilt nicht.«

Als er »Druckluftnagler« sagte, schielte er hinüber zu den beiden Büros des Sonderdezernats Q. Mit so etwas musste er hier besser aufpassen, denn hier hatten die Wände Ohren.

Die Tür zu Carls Büro war wie immer angelehnt, während die Tür zu Gordons, Assads und Roses Büro wie immer weit offen stand. Soweit er sehen konnte, saß nur Gordon am Platz, sehr beschäftigt mit Headset und Schreibblock.

Lächelte er?

Vom Ende des Gangs her waren energische Schritte zu hören, und da es im ganzen Dezernat nur einen gab, der eine solche Energie ausstrahlte, wartete Marcus.

»Hallo Assad, magst du mal kurz zu mir hereinkommen?«, sagte er, als der auf ihn zumarschierte.

Inzwischen waren die schwarzen Locken von grauen Fäden durchsetzt, die letzten beiden Jahre hatten ihm ganz schön zugesetzt. Auch deshalb rief Marcus ihn zu sich, ehe Assad wieder in die wunderliche und geschlossene Welt des Sonderdezernats Q verschwand.

»Du bist dienstlich unterwegs gewesen?«

Assad nickte und gähnte gleichzeitig, als sie in Marcus’ Büro Platz genommen hatten. »Ja, entschuldige, ich putze seit sieben Uhr draußen Klinken.«

»Der alte Fall in Hedenhusene, nehme ich an?«

Wieder gähnte Assad. »Ja. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass wir damit weiterkommen, Marcus. Der Fall ist inzwischen einfach zu alt.«

Marcus runzelte die Stirn. Wenn Assad so etwas sagte, gab es nicht mehr viel Hoffnung auf Aufklärung. Das aber widersprach zutiefst Marcus’ Überzeugung: Kein Mordfall durfte jemals in Vergessenheit geraten. Und wenn es nach ihm ging, dieser schon gar nicht.

Er sah Assad verständnisvoll an. »Wie läuft’s denn bei dir zuhause? Geht es einigermaßen?«

Assad versuchte zu lächeln. »Du weißt doch, wenn das Kamel im Zoo geschlachtet werden soll, dann zieht es sich das Fell mit den Flecken über und versteckt sich bei den Giraffen.«

Marcus lächelte angestrengt, aber er begriff. Ging es Assad tatsächlich so?

»Aber deine Frau kommt gut zurecht?«

»Ja, Marwa ist diejenige, die am besten zurechtkommt, und das ist wohl auch kein Wunder. Sie fühlt sich dänisch, und sie ist sehr dankbar, wieder zurück zu sein. Nella kommt einigermaßen zurecht, sie hatte ja in den langen Jahren im Irak ihre Mutter als Stütze, und sie hat mit Marwa immer Dänisch gesprochen. Aber all die Vergewaltigungen, die Ermordung ihres Kindes und Ronias neugeborener Kinder, auch die vielen Jahre in Lebensgefahr, das ist nichts, was man mal eben wegtherapieren kann.« Er unterbrach sich kurz, musste etwas aus seinen braunen Augen wischen. »Ich tue, was ich kann, aber es wird viel, viel Zeit vergehen, ehe sie nachts ruhig schlafen können. Für Ronia ist es am schwierigsten. Die Zeit im Irak und in Syrien hat sie gebrochen, sie ist total verändert. Obwohl sie jahrelang durch die Hölle gegangen ist, spricht sie immer noch und eigentlich so gut wie nur Arabisch. Und auf mich wirkt sie zunehmend radikalisiert. Sie lehnt alles Dänische zutiefst ab.«

»Assad, das tut mir sehr leid. Das klingt wie das Stockholm-Syndrom: Ronia hat sich emotional denen angeschlossen, von denen sie abhängig war. Obwohl sie ihr Leid zugefügt haben. Aber sie bekommt doch sicher Unterstützung und auch psychologischen Beistand?«

»Das bekommen wir alle, ja, und schon seit über einem Jahr. In der Hinsicht ist Dänemark ein wunderbarer Ort. Meine Familie hat mehr Glück als die meisten, denen es geht wie uns.«

Marcus nickte. »Und dein Sohn?«

»Ja. Danke, dass du fragst. Bei ihm ist das schwieriger. Alfi ist im Irak geboren, also kein dänischer Staatsbürger, deshalb braucht er Asyl, und das ist das größte Problem. Wir haben momentan das Glück, dass er bei uns wohnen kann, während sein Asylantrag verhandelt wird. Aber was sollen wir machen, wenn er ausgewiesen wird? Sollen wir dann alle zurück in den Irak?«

Marcus kannte die rigiden Asylgesetze, schüttelte aber den Kopf. »Wir können dich hier nicht entbehren, Assad. Das werde ich auch weiterhin in alle Richtungen kommunizieren und damit hoffentlich das Schlimmste verhindern.«

Assad lächelte vorsichtig. Es war gut gemeint von Marcus, aber selbst dessen Einfluss war begrenzt, sagte das Lächeln. Und vermutlich hatte er recht.

»Wenn sie uns ausweisen, dann werden sie uns im Irak umbringen. Aber Alfi wird die vielen Tests nicht bewältigen. Er kann doch kaum sprechen, wie soll er dann eine weitere Sprache lernen. Wir wissen ja nicht einmal genau, warum Alfis Entwicklung so verzögert ist. Marwa sagte, die Geburt sei ganz normal verlaufen. Immerhin: Er wird hier regelmäßig untersucht und ärztlich begleitet. Aber auch wenn er jetzt ein junger Mann von fast neunzehn Jahren ist, wirkt er noch immer wie ein kleiner Junge: physisch und psychisch.«

»Ja, aber Assad, das ist doch auch kein Wunder. Er ist unter äußerst primitiven Bedingungen aufgewachsen und wurde überhaupt nicht unterstützt oder gefördert.«

»Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich nicht einmal genau, wie er aufgewachsen ist.« Einen Moment blickte er zu Boden und hatte wieder Tränen in den Augen. Dann sah er auf. »Die Beziehung zwischen ihm und seinem Entführer Ghalib, möge das Schwein in der Hölle verrotten, glich in erster Linie dem zwischen Herr und Hund. Wir sind uns sicher, dass Alfi jahrelang völlig isoliert gelebt hat, ohne großen Kontakt zu anderen Menschen und ohne Reize von außen. Marwa und ich sind inzwischen so weit, nicht mehr daran zu glauben, dass er sich ganz normal entwickeln kann, auch wenn wir versuchen, ihn zu motivieren und zu fördern, so gut es geht. Bevor er nach Dänemark kam, hatte er zum Beispiel noch nie ein Handy benutzt. iPad, Computer, Streaming-TV – das hatte es in seiner Welt nicht gegeben. Als er zum ersten Mal im Fernsehen Fußball sah, schrie er, als säße er auf der Zuschauertribüne. Inzwischen sitzt er tagelang vor dem Computer, spielt und sieht fern, und man hat das Gefühl, er versucht, alles in sich aufzusaugen. Letzte Woche hat er sogar versucht, ein paar Worte zu sprechen. Also scheint er doch etwas lernen zu können. Aber es ist einfach bedrückend: Marwa und ich mit den drei Kindern in der Wohnung, die ganzen Restriktionen wegen Corona, und das jetzt schon seit vielen Monaten. So langsam wird’s wirklich …« Er seufzte. Mehr musste er auch nicht sagen.

Assad sah Marcus an. »Ich habe dir das schon früher gesagt, Marcus. Aber ich kann dir gar nicht genug dafür danken, dass du mir und meiner Familie so viel Zeit gelassen hast. Diese sechs Monate, in denen ich nach den Ereignissen in Berlin zusammen mit meiner Familie zuhause sein konnte, ich glaube, die haben uns das Leben gerettet. Also sag mir bitte, wie ich mich dafür revanchieren kann. Du brauchst nur mit den Fingern zu schnipsen, dann bin ich da. Rasen mähen, Akten sortieren, Zäune streichen: sag einfach Bescheid.«

Marcus sah, wie Assad sein Angebot mit dem Schnipsen illustrieren wollte, hörte aber keinen Ton. Er hob abwehrend die Hände.

»Halt, halt, Assad. Ich habe doch überhaupt keinen Rasen!«

»Aha. Na, aber wenn du einen stabilen Magen hast, dann mache ich dir eine Tasse echten irakischen Kaffee, den wirst du dein Lebtag nicht vergessen!«

Da musste Marcus lachen. Gott sei Lob und Dank, dass sie ihn noch hatten.

»Vielen Dank, ich glaube, darauf freue ich mich. Assad, weshalb ich auch mit dir sprechen wollte: Ich brauche dich dringend in dem Fall, an dem Carl und die Truppe gerade arbeiten. Bitte sag ihm, dass du sie ab sofort unterstützt – mir ist erst jetzt, nach vielen Jahren, klar geworden, welche Bedeutung dieser Fall hat. Womöglich nicht nur für mich …«

Assad nickte. Dann verließ er das Zimmer, ohne eine einzige Rückfrage.