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NaturKultur E-Book

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Beschreibung

Gegenwärtig scheint die von Humboldt beschriebene »Wechselwirkung« einer ungleichen Verteilung von Macht gewichen zu sein. Im Zeitalter des Anthropozäns, in dem der Mensch die uneingeschränkte Macht über den Planeten Erde für sich beansprucht, wird »Fortschritt« vor allem auf Kosten einer Natur erzielt, die zunehmend ausblutet. Wer die Beziehungskrise zwischen Mensch und Umwelt therapieren will, muss indes nicht nur ökonomische und politische, sondern auch kulturelle Faktoren berücksichtigen, wenn es darum geht, nach Ursachen und Lösungen für die Misere zu suchen. Denn es sind Weltbilder, Überzeugungen, Werte und Normen – kurzum: kulturelle Prägungen –, die dazu geführt haben, dass Natur in den westlichen Industrienationen zum »ganz anderen« stilisiert werden konnte, das zum einen romantisch überhöht, zum anderen gnadenlos ausgebeutet wird. Doch es geht beileibe nicht nur darum, Kultur als Verursacher von Missständen und als Brandbeschleuniger zu betrachten. Vielmehr ist Kultur auch Motor der Vorstellungskraft für eine bessere Zukunft, durch den Visionen Gestalt annehmen und Szenarien erprobt werden können, wie die ökologische Krise in ein harmonischeres Verhältnis alles Lebendigen überführt werden könnte. Diesem Potenzial der Kultur ist die vorliegende Publikation gewidmet.

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Ronald Grätz und Maike Weißpflug (Hg.)

NaturKultur

Steidl

Inhaltsverzeichnis

Ronald Grätz und Maike Weißpflug, Vorwort

Das Erbe von Humboldt

Ottmar Ette, Im Fluss

Sandra Rebok, NaturKultur im transatlantischen Dialog

Fundamente einer neuen NaturKultur

Ulrike Prinz, Die Rechte der Natur

Bernd Scherer, Sars-CoV-2 oder die Begegnung mit uns selbst

Friederike Fless, Palimpseste der Landschaft

Odila Triebel, Kultur und Natur in den Trümmern der Moderne

Künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Anthropozän

Bergit Arends, Ungleiche Erde

François-Joseph Lapointe, Die experimentelle Veränderung des menschlichen Mikrobioms als künstlerische Praxis

Rachel Mayeri, Orpheus im Verdauungskanal

Regine Rapp, Hybrid-Art

Barbara von Münchhausen, Gletschermusik

Henry Fair, Künstliche Natur

Michael Wang, Artifizielle Atmosphären

Foto-Essay

Kai Löffelbein, Death Metals – Mining for the first world

Ideen und Perspektiven weltweit

Barbara Göbel, Wem gehört die Natur? Lateinamerika und das Recht auf Selbstbestimmung

Jocelyn Joe-Strack, Mit Fischen und Fröschen zur Balance zurückfinden

Arno Pascht, Wandel mit dem Klimawandel: (Um-)Welten in Ozeanien

João Pacheco De Oliveira, Vollkommenheit ist nicht am Anfang oder am Ende: Naturmythen im Oberen Amazonas

Elsa Astrid Ulloa Cubillos, Subjekt statt Objekt: Natur bei den indigenen Völkern Lateinamerikas

Werner Krauß, Die Welt retten an der Nordseeküste

Aslak Holmberg, Lang lebe Deatnu, der große Fluss!

Die Museen als Vermittler zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Subjekten

Kathrin Meyer, Jenseits der Natur: Museen für eine mehr-als-menschliche Welt

Alexander W.A. Kellner, Was wird aus dem Naturkundemuseum?

Über die Beiträgerinnen und Beiträger

Vorwort

»NaturKultur« – der Titel dieses Bandes spielt mit zwei Begriffen, die in der Geschichte der westlichen Moderne lange ein Gegensatzpaar bildeten. Wir erleben gegenwärtig, dass der Dualismus von Natur und Kultur an sein Ende kommt. Die Handlungen und Wirtschaftsweisen, die er anleitet und hervorbringt, erzeugen immense ökologische und gesellschaftliche Probleme. Der Klimawandel, der Verlust der Biodiversität, die Zerstörung der Böden und Ökosysteme sind unmittelbare – in ihrer Gesamtheit häufig unter dem Begriff des Anthropozäns diskutierte – Folgen des modernen Verständnisses, das die Natur als scheinbar unerschöpfliche Ressource, als verfügbares Material begreift und das Fortschritt durch Wachstum postuliert und Ungleichheit legitimiert.

Doch es ist etwas in Bewegung geraten im Verhältnis unserer globalisierten Gesellschaften zur Natur. Protestbewegungen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion begehren gegen die unbegrenzte Ausbeutung der Natur auf und fordern eine Politik ein, die das Leben auf dem Planeten Erde auch für künftige Generationen sichert. Fragen der Nachhaltigkeit sind in den letzten Jahren weltweit zu einem stets präsenten Thema in den politischen Arenen, den Parlamenten und Gemeinschaften geworden. Das Bewusstsein, dass »alles Wechselwirkung« (Alexander von Humboldt) ist und wir ebenso Teil der Natur sind wie die Natur Teil unserer Kultur, wächst von Tag zu Tag. Ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel erscheint heute vielen dringend geboten.

Wie können wir Natur als Teil von Kultur – und Kultur als Teil der Natur – begreifen? Welche Ideen, Perspektiven und Vorstellungen können diesen Wandel befeuern, begleiten und Wirklichkeit werden lassen? Dieser Band ist aus der Überzeugung heraus entstanden, dass eine nachhaltige gesellschaftliche Transformation nur möglich ist, wenn wir die ihm zugrundeliegenden Ideen und Konzepte verstehen und begreifbar machen. Er lädt ein zu einer tour d’horizon und erkundet Begriffe, Erfahrungen und Lebensweisen jenseits der Trennung von Kultur und Natur. Er versammelt Geschichten und Bilder, in denen sich Natur und Kultur berühren, verschränken und einen Raum der Reflexion über das Naturverständnis der westlichen Moderne eröffnen. Denn der instrumentelle Naturbegriff der westlichen Moderne ist weder so selbstverständlich noch so weit verbreitet, wie dies zunächst erscheinen mag: In der Geschichte menschlicher Weltbilder stellt er sowohl historisch als auch geografisch eher die Ausnahme dar.

Schon innerhalb des westlichen Kanons ist die Trennung von Natur und Kultur umstritten, wie die Beiträge von Ottmar Ette und Sandra Rebok am Beispiel Alexander von Humboldts im ersten Kapitel zeigen. Das zweite Kapitel setzt die Auseinandersetzung mit dem westlichen Denken fort und stellt mit den Beiträgen von Ulrike Prinz, Bernd Scherer, Friederike Fless und Odila Triebe kritische Analysen des modernen Naturverständnisses in den Fokus. Dem gegenübergestellt sind Beiträge von Künstlerinnen und Künstlern sowie Kuratorinnen und Kuratoren, die ungewohnte Perspektiven auf NaturKultur erschließen, indem sie das Ineinandergreifen von Natur und Kultur im Anthropozän thematisieren und uns mit Schönheit und Schrecken der Naturzerstörung konfrontieren. Ein weiteres Kapitel dezentriert den theoretischen und von der Auseinandersetzung mit dem westlichen Naturbegriff geprägten Blick und erkundet globale Perspektiven und lokale Erfahrungen – vom Oberen Amazonas über Ozeanien bis an die Nordseeküste. Den Band beschließt ein Kapitel zu Museen als Orten der Reflexion und Vermittlung von Kultur und Natur, als lebendigen Orten einer kulturellen und gesellschaftlichen Transformation, die wir so dringend brauchen und die schon längst begonnen hat.

Die Bildstrecke dieses Bandes umfasst Fotografien, die der Künstler und Fotograf Kai Löffelbein für sein Projekt »Death Metals – Mining for the first world« aufgenommen hat. Sie zeigen, welche Folgen der teils illegale Abbau von Zinn in Indonesien für Mensch und Umwelt hat. Rund ein Drittel des weltweit abgebauten Zinnerzes, das als Lötzinn unter anderen für Smartphones und Tablets verwendet wird, kommt aus Indonesien. »In meinen Bildern möchte ich zeigen, was Globalisierung konkret für die Menschen des Südens bedeutet – kurzum: Was hat mein neues Smartphone mit dem Leben eines Fischers in Indonesien zu tun?«, beschreibt Löffelbein sein Anliegen. Auch in seinen weiteren Werken und Projekten beschäftigt er sich mit Globalisierungsprozessen im 21. Jahrhundert und ihren Auswirkungen auf den Menschen.

Wir danken Dr. Mirjam Schneider für die redaktionelle Betreuung des Bandes und Daniel Frisch vom Steidl-Verlag für das Lektorat und die Zusammenarbeit. Allen Beiträgerinnen und Beiträgern gilt unser Dank für ihr Mitwirken.

Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, wünschen wir eine anregende Lektüre!

Ronald Grätz / Maike Weißpflug (Hg.)

Im Fluss

Von Ottmar Ette

Aus heutiger Sicht ist es verlockend und zugleich ein wenig riskant, das Erbe Alexander von Humboldts abzuschätzen. Denn als der Natur- und Kulturforscher im Mai 1859 am Ende eines langen Lebens verstarb, gab es schon längst zahlreiche »Nachkommen«, die Humboldt in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, aber auch weit außerhalb der Wissenschaften in Kunst und Literatur »beerbt« hatten. Die Hinterlassenschaften und das Erbe Alexander von Humboldts sind mindestens so vielgestaltig wie die wissenschaftlichen Betätigungsfelder des Philosophen und Schriftstellers selbst. Ich möchte den Versuch unternehmen, die vielfältigen Wirkungen des Verfassers des Kosmos einzuteilen in ein Erbe, das längst historisch geworden ist, in ein Erbe, das sich bis in unsere Gegenwart erstreckt und in ein Erbe, das immer noch Gültigkeit besitzt und künftige Herausforderungen an die Zukunft stellt. Denn Alexander von Humboldt mag zwar verstorben sein und insofern ein Erbe hinterlassen haben, sein Denken wie seine Wissenschaftskonzeption aber sind quicklebendig und inspirierender denn je.

Versucht man, zunächst das längst angetretene und historisch gewordene Erbe der Humboldt’schen Aktivitäten näher zu bestimmen und zu bezeichnen, so wäre dabei vor allem an seine Faszination als Reisender, mehr noch als Weltreisender zu denken. Ungezählte Forscherinnen und Forscher, zahlreiche Künstlerinnen und Künstler folgten seinen Spuren, indem sie Pläne und Konzepte entwickelten, um die großen transkontinentalen Reisen Alexander von Humboldts in die amerikanischen Tropen oder (seltener) ins russische Reich nachzuvollziehen. Nicht nur ein Adelbert von Chamisso ist ohne den Anstoß Humboldts nicht zu denken und kommt in seiner Reise um die Welt auch immer wieder auf Humboldt zu sprechen, nicht nur der große Landschaftsmaler Moritz Rugendas wäre ohne den Humboldt’schen Impuls niemals zu einem so in den Amerikas erfahrenen Künstler geworden. Es waren viele Generationen, die sich vom Lesen der Schriften Humboldts angeregt in Bewegung setzten und der unstillbaren Neugierde des großen Preußen nacheiferten. Man kann diesen Vorbildcharakter der Humboldt’schen Reisen und das von ihnen Bewirkte wohl kaum überschätzen, gelang es Humboldt doch, Menschen in den verschiedensten Teilen der Welt, von dem französischen Chile-Forscher Claude Gay über den Briten Charles Darwin, der Humboldts Reisebericht auf der Beagle mit sich führte, bis hin zum argentinischen Schriftsteller und späteren Staatspräsidenten Domingo Faustino Sarmiento, für andere Kulturen und Weltansichten zu begeistern. Auch heute noch reisen Menschen auf den Spuren des Verfassers von Asie Centrale, doch ist das Humboldt’sche Erbe auf diesem Gebiet wohl historisch geworden.

Zu jenem Teil seines Erbes, das sich lebendig bis in unsere Gegenwart erstreckt, ja in unserer Gegenwart seine eigentliche Bedeutung entfalten konnte, zählt ohne jeden Zweifel das Netzwerkdenken Alexander von Humboldts. Es ist so, dass der 250. Geburtstag des großen Gelehrten weltweit nur deshalb auf ein so enormes Echo stieß, weil wir heute an einem Punkt der Entwicklung der Menschheit stehen, dessen fundamentalen Herausforderungen adäquat nur durch ein Denken in vernetzten Strukturen begegnet werden kann. Die Humboldt’sche Wissenschaft in ihrer transdisziplinären, einzelne Disziplinen miteinander verbindenden und zusammendenkenden Anlage wie in ihrer transarealen, nicht nur weltweit denkenden, sondern unterschiedlichste Gebiete miteinander verschränkenden Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis erscheint als eine Denk- und Handlungsstruktur, welche den Problemen unserer Zeit gerecht wird. Darüber hinaus versuchte Humboldt, dem Leben ebenso im Bereich der Natur wie der Kultur auf die Spur zu kommen und somit lebenswissenschaftlich zu arbeiten. Wir wissen heute, dass man darauf spezialisiert sein kann, disziplinär nicht spezialisiert zu sein, und dass es notwendig ist, bei aller großartigen Ausdifferenzierung in Teildisziplinen die Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichsten Bereichen nicht zu übersehen, kurzum: die Ökonomie aller Dinge ökologisch zu verstehen. Nicht umsonst ist Humboldts formelhafter Satz aus seinen Amerikanischen Reisetagebüchern heute so populär geworden: Alles ist Wechselwirkung.

Diese ins Blickfeld gerückten Wechselwirkungen betreffen heute insbesondere das Verhältnis des Menschen zur Natur. In einer Zeit, in der Raumfahrt mit dem Hinweis betrieben wird, dass unsere Erde eines nahen Tages vielleicht unbewohnbar werden könnte, die sich in der nur noch von wenigen, aber einflussreichen Populisten geleugneten Klimakrise mit ihrer rapiden Erderwärmung in einer für ihr Überleben gefährlichen Situation befindet, die die schon vor langer Zeit erkundeten Grenzen des Wachstums nicht länger oder nur noch auf Kosten ihres eigenen Unterganges zu leugnen vermag, in einer solchen Zeit fällt das Erbe der Wissenschaftsvision Alexander von Humboldts auf fruchtbaren Boden. Humboldt glaubte an die Wissenschaft und verschaffte ihr gegen alle Leugner auch politisch den notwendigen Einfluss.

Man konstatiert verblüfft, dass Humboldt in seinem Naturgemälde der Tropenländer schon vor mehr als 200 Jahren alle Faktoren untersuchte, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemein zu haben scheinen und sich doch für die anthropogen verursachten Veränderungen unseres Klimas verantwortlich zeichnen. Wir haben eine Sensibilität dafür entwickelt, dass die zum Äquator hin ansteigende Schneegrenze und der Permafrostboden, die zerstörerischen Monokulturen der Plantagenwirtschaft und die ungeregelte Aufzucht von Tieren zur Fleischgewinnung, die Beschaffenheit unserer Atmosphäre und die Verwendung von Arbeitssklaven, die uns in der heutigen third slavery historisch nicht ferne sind, etwas miteinander zu tun haben. Humboldts vernetztes Denken ist wie gemalt für ein Netzzeitalter, das sich des Computers bedienen kann und doch wie zu Humboldts Zeiten nur Daten generiert, die von unterschiedlichsten Politikern einfach ignoriert werden können. Der preußische Wissenschaftsorganisator ließ dies nicht zu.

Mit den Amerikanischen Reisetagebüchern begann in Alexander von Humboldts Wirken aber auch eine zweite Phase, die ein Erbe hinterließ, das bis heute nicht abgegolten ist. Sein relationales Denken in Netzwerken vermag auch in unserer Zeit noch immer zu inspirieren. Wir haben im Grunde Humboldts Lektion gelernt – und wir könnten hinzufügen, dass es nur noch mit der Umsetzung hapert. Ob wir diese politische Umsetzung mit einer Menschheit, die sich lieber Feinde sucht als Partner, die lieber Kriege führt als friedliches Zusammenleben in Differenz praktiziert, noch rechtzeitig erreichen werden, steht in den Sternen und wird schon an die nächste Generation schwer zu bewältigende Herausforderungen stellen. Doch Humboldts Botschaft, dies zeigt sich allenthalben, ist angekommen.

Bleibt der dritte, der noch uneingelöste Teil des Erbes Alexander von Humboldts. Wir verfügen heute über eine Vielzahl von Forschungsinstituten, die zum Teil den Namen des preußischen Gelehrten tragen und fleißig Daten sammeln, um unsere zahlreichen Krisen meistern zu können. Wenn es sich bei diesen Forschungen um rein naturwissenschaftliche handelt, dann entsprechen sie nicht dem Denken Alexander von Humboldts. Denn seine heute noch immer nicht eingelöste Herausforderung an unser Denken lautete, Natur und Kultur, Kultur und Natur auf fundamentale Weise zusammenzudenken. So wie wir den Menschen nicht begreifen, wenn wir ihn entweder als allein der Natur oder allein der Kultur zugehörig sehen, müssen wir unseren Planeten als eine Welt verstehen – und im germanischen Wort für Welt oder World ist etymologisch der Mensch gegenwärtig –, in der wir die Phänomene der Natur nur dann meistern können, wenn wir zugleich die Probleme der Kulturen des Menschen besser begreifen und angehen.

Schon Humboldt wusste, dass wir die weltumspannenden Probleme der Globalisierung – von den mit ihr einhergehenden und von ihm untersuchten Epidemien bis hin zu den massiven Abholzungen des Regenwaldes – niemals erfassen, wenn wir allein die Phänomene der Natur erforschen. Wir haben die klimatischen Folgen der Abholzung detailliert untersucht, nicht aber ihre kulturellen Beweggründe und ethischen Dimensionen. Ebenso die Phase beschleunigter Globalisierung, die er untersuchte – die Zeit des Kolumbus, dessen Beobachtungsgabe er bewunderte –, wie jene Phase, der er selbst angehörte und zu deren weiterer Beschleunigung er beitrug, waren für ihn Erscheinungen, die man allein aus der Sicht von Natur und Kultur adäquat beurteilen kann. Öffnen wir uns endlich auch für diesen Teil seines Erbes und warten wir dafür nicht seinen 300. Geburtstag ab.

Diesen Teil des Erbes Humboldts haben wir noch nicht andeutungsweise verstanden oder gar implementiert. Die Naturwissenschaften glauben, anderer Wissenschaften mit anderen Logiken nicht zu bedürfen, und die Geistes- und Kulturwissenschaften haben auf sträfliche Weise ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Wann begreifen wir, dass nicht allein die Weltwirtschaft, sondern zudem das Weltklima auch von kulturellen Faktoren abhängt? Wann nehmen wir Humboldt auch auf diesem Gebiet endlich ernst? Erst wenn wir Kultur und Natur zusammendenken, erst wenn wir ein polylogisches Denken im Vernetzungsraum von Kultur und Natur entfalten, erst dann sind wir im vollen Wortsinne die Erben Alexander von Humboldts.

Bewegt wie die Natur: Alexander von Humboldts Kunst

Weltweit sind Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher (ART) ein Faszinosum – nicht nur, weil sie das wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamste Manuskript des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellen und nicht nur, weil sie im nationalen wie im internationalen Maßstab ebenso die Sicht auf die Neue Welt wie unser Verständnis der Erde im Lichte eines zukunftsoffenen Weltbewusstseins vorformulieren, auch nicht nur, weil uns in ihnen jene »glückliche Revolution« vor Augen tritt, die Humboldt in den Wissenschaften um 1800 heraufziehen sah – und zugleich jene Unabhängigkeitsrevolution der künftigen Länder Lateinamerikas, für die das Humboldt’sche Denken und Schreiben nach eigenem Bekunden die Geburtsurkunde war. Die Amerikanischen Reisetagebücher setzen an die Stelle eines monadischen, in sich abgeschlossenen Verstehens ein nomadisches Denken, das sein Wissen aus der Bewegung schöpft, aus einer Bewegung in Raum und Zeit, durch verschiedenartigste Kulturen, durch unterschiedlichste Gesellschaften, durch die Sprachen der Wissenschaften wie durch die Sprachwelten der Völker Europas und Amerikas. Die ART sind das Mobile eines sich (und uns) ständig bewegenden und verändernden Wissens – und sie sind als handschriftliche Originale in ihrer Originalität ein Stück großer Kunst.

Alexander von Humboldt hat an ihnen im Verlauf jener epochemachenden Reise, die ihn gemeinsam mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland von 1799 bis 1804 durch die amerikanischen Tropen führte, geradezu besessen geschrieben: tagsüber »im Angesicht der Dinge« und nachts in Zusammenfassungen des auf der Reise Gesehenen und des Gedachten. Sie sind Bewegungsbilder von motions wie von emotions: zu Papier gebracht in jener winzigen, nach rechts oben ansteigenden Handschrift, die für Humboldts Schreiben so charakteristisch ist (und sie so schwer entzifferbar macht).

Der Aura dieses weitgereisten und erst gegen Ende seines Lebens in Schweinsleder gebundenen Manuskripts, dessen Transkription viereinhalbtausend Seiten umfasst, vermag sich niemand zu entziehen. Wie die berühmten Graphismen von Cy Twombly zeigt uns die Kunst der Humboldt’schen Tagebücher, dass die Handschrift nicht allein auf die Übermittlung von Botschaften und das Verzeichnen von Verstehensprozessen zielt. Humboldts Graphismen zeichnen die Bewegungen seiner Reise buchstäblich nach, dokumentieren das leibhaftige Erleben der Bewegung: vom Schreiben und Zeichnen am Wegesrand über kurze Notizen an Bord einer schaukelnden Piroge bis hin zum verzweifelten Anschreiben gegen Schwärme von Mosquitos, in denen der Dante-Leser das Inferno erblickte.

Zugleich aber wusste sich Humboldt im Paradies: in einem Eldorado nicht nur der Wissenschaften, sondern eines Wissenschaftsprojekts, das sich in den amerikanischen Tropen – »Die Tropenwelt ist mein Element« – Seite um Seite in ein Lebensprojekt zu verwandeln begann. Wie Voltaire wusste Humboldt, dass man »ohne ein wenig Enthusiasmus« nichts Großes zu schaffen vermag – weder in den Wissenschaften noch in der Literatur oder den Künsten.

Wenn er bereits in seinen bis heute populär gebliebenen Ansichten der Natur programmatisch die »Verbindung eines litterarischen mit einem rein scientifischen Zweck« ankündigte, so dürfen wir in seinen Amerikanischen Reisetagebüchern die gelungene Verknüpfung zwischen den Wissenschaften und den Künsten erkennen. Hier entsteht, was in der Wissenschaftsgeschichte als die »Humboldt’sche Wissenschaft« (Humboldtian Science) bezeichnet wird: eine sich vernetzende, transdisziplinäre, interkulturelle, transmediale und demokratisierende Lebenswissenschaft, die sich anders als die heutigen Life Sciences der Tatsache bewusst ist, dass bios gerade auch die kulturellen Dimensionen des Lebensbegriffes miteinschließt. Humboldt war Naturwissenschaftler und Kulturwissenschaftler in einer Person.

Die ART demonstrieren, wie in Humboldts Handschrift die moderne Pflanzengeographie als Disziplin ebenso entsteht wie die Altamerikanistik mit ihrem Wissen von den Kulturen der Völker Amerikas. Hier bildet sich jene doppelte, »Natur« und »Kultur« aufeinander beziehende Stoßrichtung heraus, die in späteren Buchprojekten wie den Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas zum Tragen kommt. Alexander von Humboldt war kein Universalgelehrter, er war der Pionier eines neuen, transdisziplinären Verständnisses einer Wissenschaft, die Ethik und Ästhetik zu integrieren suchte.

Neben die Entstehung einer Humboldtian Science tritt in den ART folglich die Entfaltung eines Humboldtian Writing: jenes Schreibens im Angesicht der Dinge, in dem er sich (wie im Gemälde von Friedrich Georg Weitsch) an seinem Schreibtisch am Orinoco oder (wie im Gemälde von Julius Schrader) an seinem Schreibtisch am Chimborazo selbst wieder(er) fand. Wo könnte dieses Schreiben aus der Bewegung, das sich in einen klaren Gegensatz zu den nie verlassenen europäischen Arbeitszimmern eines Kant, eines Buffon, eines de Pauw setzt, anschaulicher demonstriert werden als in den Amerikanischen Reisetagebüchern? Die Hand-Schriften Humboldts zeichnen ekphrastisch die unterschiedlichsten Landschaften, verzeichnen die Messdaten von Luft- und Wassertemperatur, von Klima und Schneegrenze, von geologischen und vulkanologischen Phänomenen und porträtieren mit ebenso sparsam wie präzise ausgeführten Pinselstrichen die unterschiedlichsten Gesprächspartner: Gouverneure, Kaziken, Minenarbeiter, indigene Bergführer, Latifundisten, einfache Bauern – sie alle erscheinen in oft meisterhaften Vignetten, festgehalten in ihren Bewegungen mit raschen Strichen.

Alles ist in den Humboldtschen Reisetagebüchern in Bewegung: die aus Asien eingewanderten indigenen Kulturen, die aus Europa über Amerika hereingebrochenen iberischen Eroberer, die aus Afrika verschleppten Sklavinnen und Sklaven, die Kapitäne und Matrosen, die im Atlantik wie im Pazifik unterwegs sind, die europäischen Tiere, die in den Amerikas heimisch wurden, die amerikanischen Nutzpflanzen, die längst in Europa angebaut werden, ja selbst die Kontinente – wird sich Humboldt doch auf seiner Reise zunehmend der Bezüge bewusst, die im Sinne der späteren »Kontinentaldrift« Alfred Wegeners das amerikanische mit dem afrikanischen Festland verbinden. Mit diesen Migrationen von Menschen, Tieren, Pflanzen, Kontinenten und Archipelen gehen die Wege des Wissens einher, jene Zirkulationen von Kenntnissen, Migrationen von Sprachen, Transfers von Traditionen, die Humboldt als der wohl erste Globalisierungstheoretiker erkennt. Die ART geben den Blick frei auf das neue Weltbewusstsein einer längst schon vernetzten und sich weiter vernetzenden Welt, die nur in Bewegung und aus der Bewegung heraus adäquat verstanden werden kann.

In den ART entwickelte Humboldt eine Theorie der Landschaft, die sich in ihren ständigen Veränderungen nur als Bewegungsbild erfassen lässt. Er skizzierte, wie etwas einst ausgesehen haben mag, wie etwas dereinst aussehen könnte. Aber er fand in den amerikanischen Tropen auch seine Landschaften der Theorie: Landschaften folglich, die sein Denken, seine Vorstellungen von der Welt sichtbar machten. Da ist zum einen das Bild jenes Chimborazo, mit dem sich Humboldt auch ikonographisch stets sehr bewusst in Verbindung brachte: gewiss, weil er hier bergsteigerisch einen Höhenweltrekord aufgestellt hatte, aber auch und vor allem, weil er den Gipfel dieses Bergriesen, der damals als der höchste Berg der Welt galt, nicht zu erreichen vermochte. Humboldt ging es nicht um das Ankommen, sondern um das Auf-dem-Wege-Sein. Denn nur aus der Bewegung, so wusste er noch am Ende seines vielbewegten Lebens, kann neues Wissen entstehen.

Die andere große Landschaft der Theorie, mit der sich Humboldt verband, war die Flusslandschaft von Orinoco und Amazonas: miteinander verzweigt über jene Flussgabelung des Casiquiare, die er sorgsam beschrieb und deren Kartographie er mit größtmöglicher Akribie vorantrieb. Die sich miteinander vernetzenden Flüsse und Ströme visualisieren ein Denken, in dem sich die unterschiedlichsten Ursprünge und Wege, Herkünfte und Zukünfte, Aktivitäten und Disziplinen, Künste und Wissenschaften unauflöslich miteinander verbinden: eine Welt im ständigen Fluss, in der jeder Teil für alles stehen und einstehen kann. Eine Welt, die unter der Feder des Schreibenden im Angesicht der Dinge entsteht: eine Welt, in der sich im Fluss der Tinte kunstvoll jene Vernetzungen entfalten, die ein Leben als Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler bewegen. In den blendend erhaltenen Manuskripten wird all dies zum ästhetischen Erlebnis – und für uns alle lebendig.

NaturKultur im transatlantischen Dialog

Von Sandra Rebok

Alexander von Humboldts Naturstudien sowie seine Überlegungen zur Wirkung des Menschen auf seine Umwelt haben in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit erregt. Insbesondere im Zusammenhang mit seinem 250. Geburtstag, im Jahr 2019 auf beiden Seiten des Atlantiks gefeiert, wurden seine Kommentare zu diesen Themen vielseitig diskutiert. Ohne Zweifel hat uns Humboldt bedeutende Überlegungen zu seinem globalen und ganzheitlichen Verständnis der Natur hinterlassen, und wir werden uns der Gültigkeit bewusst, die sein vernetztes Denken heute mehr denn je hat. Mit seiner Grundannahme, dass der Mensch nicht isoliert von seiner Umwelt verstanden werden kann und mit seiner Sicht auf die Kultur und die Natur als einem System voneinander abhängiger Teile, leistete Humboldt wichtige Beiträge zur Entwicklung dessen, was wir heute unter dem Begriff Ökologie verstehen.

Es ist daher aufschlussreich, unsere Bedenken hinsichtlich der Zukunft unserer sich verändernden Welt und dem notwendigen Schutz unseres Planeten mit seinen inspirierenden Gedanken zu verbinden. Hierbei sollte darauf geachtet werden, dass nicht lediglich Zitate aus seinen Schriften in isolierter Form extrahiert und in unseren Diskurs eingefügt werden, um unsere Belange mit seinen Aussagen zu untermauern. Diese müssen vielmehr im Kontext seines umfassenden Naturverständnisses und seiner wissenschaftlichen Methodik verstanden werden, die wir heute unter dem Begriff Humboldt’sche Wissenschaft zusammenfassen. Dafür ist es hilfreich, sein ganzheitliches Denken in den Grundzügen zu verstehen, da es für unsere heutige Zeit zweifellos impulsgebend sein kann – jetzt, da nach einer langen Phase der kontinuierlichen Spezialisierung in den Wissenschaften, die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte, wieder verstärkt holistische, globale und systemische Ansätze gefragt sind. Ebenso wichtig ist es, seine Aussagen in den zeitgenössischen transatlantischen Diskurs einzuordnen, innerhalb dessen sich sein Denken geformt hat und wo es über die Jahre genährt wurde. Ein Loslösen aus diesem Kontext führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität. Daher sollten auch im Rahmen unserer Auseinandersetzung mit der Humboldt’schen Natur- und Kulturbeschreibung diejenigen Vorgänger nicht aus unserem Blickfeld geraten, durch die der preußische Gelehrte in der Entwicklung seines Denkens angeregt wurde und auf deren Arbeiten sich seine Analysen bezogen, genauso wie die Zeitgenossen auf beiden Seiten des Atlantiks, mit denen er in intensivem wissenschaftlichem Austausch stand. Die Humboldt’sche Methode zeichnet sich dadurch aus, dass sie darauf bedacht ist, vorhandenes Wissen zusammenzufügen, zu analysieren und zu vergleichen, sowie im Dialog innerhalb und außerhalb der Wissenschaft weiterzuentwickeln.

Europas Degenerationsthese und Reaktionen aus der Neuen Welt

Eine bedeutende philosophische Debatte, die sich im 18. Jahrhundert im transatlantischen Kontext entwickelte und die auch innerhalb der Naturwissenschaften heftig diskutiert wurde, war die Annahme einer »Minderwertigkeit« und Unterlegenheit der Neuen Welt im Vergleich zu Europa. Aufgrund des kalten und feuchten Klimas in Amerika wären Tiere und Pflanzen dort stets kleiner und schwächer als auf dem alten Kontinent und, so die These, diese ungünstigen Bedingungen wirkten sich auch auf den Menschen und somit auf die Entwicklung der Kultur aus. Propagiert wurde die These von dem französischen Naturforscher Comte de Buffon (1707–1788), jedoch waren ähnliche Ideen auch vor ihm geäußert worden und wurden von Zeitgenossen wie Guillaume-Thomas Raynal oder Cornelis de Pauw weitergeführt. Die Degenerationsthese konnte nur solange Bestand haben, wie sie nicht mit einer empirischen Untersuchung konfrontiert wurde, durchgeführt von Personen, die über die erforderlichen wissenschaftlichen Daten verfügten. Sowohl in Nord-, als auch in Südamerika fühlte man sich besonders herausgefordert – aus wissenschaftlicher Perspektive sowie in persönlicher Hinsicht als Bewohner der Neuen Welt. Um eine adäquate und fundierte Antwort zu geben, begann man sich intensiv mit der amerikanischen Natur und dem Einfluss der unterschiedlichen Klimaverhältnisse auf den Menschen auseinanderzusetzen.

Zu den bedeutendsten Repliken aus Spanisch-Amerika in dieser transnationalen Wissenschaftsdebatte zählten Francisco Javier Clavijero Echegarays Arbeit über die Geschichte Mexikos (Storia antica del Messico, 1780-1781), Juan Ignacio Molinas Studie zur Geographie Chiles (Compendio della storia geografica, naturale, e civile del Regno del Chile, 1776), Juan de Velascos Text zur Geschichte Quitos (Historiamoderna del Reyno de Quito,1789), José Hipólito Unanue y Pavóns Beobachtungen über das Klima von Lima (Observaciones sobre el clima de Lima, 1806), sowie auch Francisco José de Caldas Ausführungen über den Einfluss des Klimas auf den Menschen (El influjo del clima sobre los seres organizados