Nebel über der Küste - H. Dieter Neumann - E-Book

Nebel über der Küste E-Book

H. Dieter Neumann

4,9

Beschreibung

Große Aufregung in Flensburg. Die Leiche von Hark Ole Harmsen wird mit Schusswunden am Strand gefunden. Der Staatssekretär des Kieler Wirtschaftsministeriums galt als der kommende Mann seiner Fraktion. Schnell gerät eine Parteikollegin Harmsens in Verdacht, denn die schärfste Konkurrentin des Opfers kann ihre Freude über den Tod des Erzfeindes nur schwer verhehlen. Wegen der politischen Brisanz ein heikler Fall für die frisch zur Oberkommissarin beförderte Helene Christ. Zu allem Überfluss muss sie sich mit einer neuen Vorgesetzten herumschlagen: Jasmin Brenneke kommt vom LKA nach Flensburg und setzt dort ganz eigene Prioritäten. Wenigstens kann Helene auf die Hilfe ihres Exkollegen Edgar Schimmel und ihres Freundes Simon Simonsen zählen. Die braucht sie auch dringend, denn bald droht sie in einem Sumpf aus politischen Grabenkämpfen und rücksichtslosen Intrigen zu versinken.

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H. Dieter Neumann

Nebel über der Küste

Kriminalroman

Bisher in dieser Reihe erschienen:

Die Tote von Kalkgrund

Mord an der Förde

Tod auf der Rumregatta

© 2017 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str.31, 44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Der Autor

H. Dieter Neumann, Jahrgang 1949, war Offizier in der Luftwaffe der Bundeswehr und in verschiedenen interna-tionalen Dienststellen der NATO. Anschließend arbeitete der diplomierte Finanzökonom als Vertriebsleiter und Geschäftsführer in der Versicherungswirtschaft, bevor er sich ganz aufs Schreiben verlegte.

Der passionierte Segler ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und lebt in Flensburg.

www.hdieterneumann.de

Für Rosi und Reinhard,

Prolog

Fast immer ist es still dort, wo das unscheinbare Holzhaus steht. So still, dass man glauben könnte, man befände sich in einer menschenleeren Wildnis, vielleicht in Masuren oder gar irgendwo in der Weite des kanadischen Buschlandes, weitab von jeder Zivilisation – was ein Irrtum wäre.

Inmitten einer eiszeitlichen Moränenlandschaft mit Dünen und Hochmooren, von einer Baumgruppe aus Kiefern, Birken und Erlen umstanden, duckt sich das Häuschen am Ufer eines schmalen Sees tief in die hügelige Landschaft. Von der Kreisstraße aus, die etwa zweihundert Meter entfernt vorbeiführt, ist es nicht zu erblicken – nicht einmal von den wenigen, die überhaupt wissen, dass es hier steht. Und auch der schmale Sandweg, der zur Hütte führt, ist leicht zu übersehen. Dort, wo er von der Straße abzweigt, gibt es kein Schild, nur eine winzige Lücke im dichten Gestrüpp auf der Böschung.

Sehr selten einmal biegt ein Fahrzeug auf diesen Weg ab. Wenn überhaupt, kommen die Autos in der Dunkelheit – immer einzeln und mit etwas Zeitabstand – und verschwinden schnell zwischen Büschen und Bäumen.

Hinter den kleinen Fenstern des Häuschens hängen dichte Vorhänge, kein Licht dringt heraus. Es ist das einzige Gebäude weit und breit. Einstmals als Jagdhütte erbaut, liegt es mittlerweile genau zwischen zwei ausgedehnten Naturschutzgebieten.

Natürlich wurden für die ganze Gegend seit langer Zeit keine Baugenehmigungen mehr erteilt. Lediglich die Bauunterhaltung gestatten die Behörden noch und wachen argwöhnisch darüber, dass keine Um- oder gar Anbauten erfolgen.

Außen dunkelbraun gestrichen, ist die Hütte ganz und gar unscheinbar. Und auch im Inneren geht es karg zu. Es gibt nur einen großen Raum, in dem ein massiver rechteckiger Tisch aus Kiefernholz und ein paar Stühle stehen – direkt vor dem Kaminofen.

Über der Eingangstür hängt der einzige Wandschmuck im ganzen Haus. Wo der Sechzehnender einmal geschossen wurde, dessen mächtiges Geweih scheinbar seit ewigen Zeiten den Giebel ziert, wüsste nicht einmal der Eigentümer der Hütte zu sagen. Er selbst geht nicht auf die Pirsch, ebenso wenig wie die Leute, die des Nachts hierherkommen.

Sie alle gehen nicht dem Waidwerk nach. Jedenfalls nicht mit Gewehren. Ihre Beute ist nicht das Wild.

Jäger sind sie dennoch.

1

Sanft, anfangs kaum wahrnehmbar, bald jedoch mit zwingender Macht verwandelte sich die Welt um ihn herum. Noch bevor sich der Nebel sichtbar aufs Wasser zu legen begann, konnte er ihn fühlen, klamm und drückend.

Bleierne Lautlosigkeit. Alle fernen Geräusche, jeglicher Hall versanken in distanzloser Dumpfheit. Wie ein dichtes Netz aus haarfeinen feuchten Fäden umfing der weiße Dunst, in dem alle Geräusche erstickten, das Boot. Allein das leise Plätschern des Wassers an der Bordwand und das träge Flappen des nutzlos hin und her wehenden Vorsegels drangen überlaut durch die nasse Watte.

Das Großsegel hatte Simon schon vor einer halben Stunde geborgen, als kaum noch Bewegung in der Luft gewesen war. Jetzt schlief der Wind völlig ein, und plötzlich schien es, als gäbe es seitab des Bootes nichts mehr – schon gar nicht das Land, das doch kaum eine Meile entfernt an Steuerbord lag.

Immer dunkler wurde es rundum, als die Abenddämmerung einsetzte. Himmel und Wasser verschmolzen zu lichtlosem Grau. Nur der starke Lichtstrahl des Leuchtturms Falshöft oben auf der Steilküste tastete sich matt durch die wattige Nässe.

Herbst an der Küste – Zeit, die Seeschwalbe ins Winterlager zu bringen. In Arnis an der Schlei hatte Simon einen Platz in einer beheizten Bootshalle gemietet. Während der langen Wintermonate erwarteten ihn ein paar dringende Überholungsarbeiten am Holzrumpf des über fünfzig Jahre alten Colin Archers.

Erst am Mittag war er endlich von seinem Schreibtisch in der Firma weggekommen, um am Liegeplatz im kleinen Hafen seines Heimatortes an der Flensburger Außenförde, nur wenige Hundert Meter von seinem Arbeitsplatz als Geschäftsführer von Simonsen Hoch- und Tiefbau entfernt, die Leinen loszuwerfen. Eigentlich hätte er es dennoch bis Arnis schaffen können, denn mit seiner Revierkenntnis und einem starken Bordscheinwerfer war es kein Problem, die Schlei auch nachts zu befahren, obwohl vor einigen Jahren die Betonnung stark ausgedünnt worden war.

Bei solchem Nebel jedoch wäre eine Weiterfahrt mehr als fahrlässig. Schleimünde lag noch etwa fünf Seemeilen entfernt. Die Seeschwalbe hatte kein Radar an Bord, und bei Dunkelheit nur nach dem Kartenplotter durch dichten Nebel blind in die enge Einfahrt des lang gezogenen Ostseefjords hineinzufahren, kam nicht infrage. Er würde Helene anrufen und ihr sagen müssen, dass sie ihn und Frau Sörensen erst morgen in Arnis abholen konnte. Das würde ihr nicht gefallen, wusste Simon. Er hatte ihr versprochen, die zugige Hintertür des alten Hauses zu reparieren, das sie vor zwei Monaten bezogen hatten.

Nun, dann musste es dort eben noch eine Nacht länger ziehen. Von einem derart rasanten Wetterumschlag war schließlich in keiner Vorhersage die Rede gewesen. Das kam im Frühjahr und auch jetzt im Oktober immer wieder vor in diesem Revier. Küstennebel traten ganz unvermittelt auf – lästige Gespenster, die niemand voraussehen konnte.

Simon fuhr zusammen, als Frau Sörensen widerwillig knurrend mit ihren Fledermausohren schlackerte. Überlaut drang das klatschende Geräusch bis zu ihm nach achtern an den Steuerstand. Das Boot war gerade mal vierzehn Meter lang, aber er konnte die Hündin schon nicht mehr sehen, die vorn im Nebel am Bug stand und wohl versuchte, die winzigen Wassertröpfchen, die ihr in die Ohren gedrungen waren, herauszuschütteln.

»Wir werden hier ankern müssen, Frau Sörensen!«, rief er in die graue Wand hinein, griff um das Ruderrad herum, drehte den Zündschlüssel und startete den Motor. Sofort erfüllte das sonore Brummen des Diesels die Luft. Simon rollte mit der Reffleine die Selbstwendefock ein, die in der Flaute wie ein feuchter Sack am Stag gehangen hatte. Dann schaltete er in den Vorwärtsgang und gab etwas Gas. Langsam, den Tiefenmesser immer im Auge, steuerte Simon das Boot auf die Küste zu. Nach wenigen Minuten nahm die Wassertiefe rasch ab. Als das Lot vier Meter anzeigte, stoppte er und ging auf den feuchten Planken nach vorn zum Ankerkasten, wo ihn Frau Sörensen bereits schwanzwedelnd erwartete.

»Mal sehen, wie schnell der Spuk wieder vorbei ist«, sagte er. »Wenn wir Pech haben, müssen wir bis morgen früh warten, dass der Wind auffrischt und das Zeug wegbläst.« Simon beugte sich zu der kleinen schwarz-weißen Hündin unbestimmbarer Rasse hinunter und kraulte ihr den Nacken. Dabei blickte er angestrengt über den Bug und versuchte, die Konturen des Strandes auszumachen, der nur noch wenige Hundert Meter entfernt liegen musste, doch die Nebelwand war für das Auge undurchdringlich.

Kurz danach fiel der Anker auf den Grund, Simon steckte genügend Kette und sorgte mit einem kurzen Gasstoß rückwärts dafür, dass das Eisen sich in den Sand eingrub und das Boot sicher auf seiner Position hielt. Als er den Motor ausgeschaltet hatte, sprang ihn sofort wieder die beklemmende Stille an.

Niemals fühlte er sich auf dem Wasser einsam – außer bei solchem Wetter. Aufmerksam lauschte er in die schnell dunkler werdende Wand hinein, die ihn rundum umgab. Zwei- oder dreimal tönte weit entfernt von See her das Tuten starker Nebelhörner. In der direkten Umgebung der Seeschwalbe jedoch herrschte völlige Stille.

Nachher würde er noch das Ankerlicht im Mast anschalten. Solange der Nebel so dicht blieb, würde es auf einem anderen Boot zwar erst gesehen werden, wenn dies bereits auf zehn Meter herangekommen wäre, doch darüber machte sich Simon keine Sorgen. Er hatte dicht genug unter Land geankert, um sicherzugehen, dass niemand ihn über den Haufen fuhr.

Natürlich war es dennoch wichtig, die Ohren offen zu halten. Aber das war an Bord der Seeschwalbe Frau Sörensens Job, den sie zuverlässig verrichtete. Sie hatte sich bereits auf ihrer Decke unter der Sprayhood über dem Niedergang eingerollt. Die ganze Nacht würde sie dort liegen und bei jedem Geräusch, das sie beunruhigte, sofort Laut geben. Sie war zwar nicht mehr die Jüngste, aber ihr Gehör war immer noch viel besser als das des Skippers. Und auf ihre Wachsamkeit hatte Simon sich bisher auf jedem Törn verlassen können.

»Zeit, einen Tee zu kochen«, erklärte er seiner kleinen Hündin. »Ich bring dir dann gleich auch ein feines Fressi hoch. Pass nur schön auf, dass uns niemand zu nahe kommt, altes Mädchen!«

Frau Sörensen hob kurz ihren Kopf von den Pfoten und ließ ihre Schwanzspitze leicht zucken, was hieß, sie habe natürlich jedes Wort verstanden.

Simon grinste und stieg den Niedergang hinab, um den Teekessel aufzusetzen.

Tief und fest schlief Simon nie, wenn er mit dem Boot irgendwo vor Anker lag. Er döste eher in einer Art Halbschlaf, hatte zwar kurze Träume – ein Teil von ihm horchte dennoch immer ins Boot. Deshalb war er sofort hellwach, als von oben das aufgeregte Bellen Frau Sörensens an seine Ohren drang.

»Was ist los?«, rief er, während er seine Beine aus der Koje schwang. »Was hast du gehört?«

Er griff nach der Taschenlampe auf dem Salontisch und knipste sie an. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es zehn Minuten nach drei war.

Als er bereits die Niedergangstreppe hinaufstieg, traf plötzlich ein Stoß den Rumpf, verbunden mit einem dumpfen Dröhnen. Simon spürte einen Ruck, der durch das Boot lief. Sofort wusste er, dass irgendetwas die Eichenholzplanken der Seeschwalbe gerammt hatte.

Ein eher sanfter Anprall – unüberhörbar zwar in der nächtlichen Stille, jedoch kein Krachen oder gar Splittern. Frau Sörensen bellte dennoch in höchster Erregung und ohne Pause.

»Still!«, befahl Simon, und das heisere Gekläff ging in ein unwilliges Knurren über. Die Hündin stand mit hoch aufgerichteter Rute backbord an der Reling und starrte in den dichten Nebel. Simon trat heran. Im starken Lichtstrahl seiner Lampe schälten sich schemenhaft die Umrisse eines Motorbootes aus der Dunkelheit – etwa so lang wie die Seeschwalbe –, das neben der Bordwand lag, als wäre es dort längsseits gegangen.

Langsam ließ Simon den Lichtkegel über den plötzlich aufgetauchten Nachbarn gleiten, ein hypermodernes weißes Kunststoffboot mit futuristisch geformtem Kajütaufbau und einer Flybridge. Kein Licht schien durch die ovalen Bullaugen, und auch an Deck brannte keine Lampe, nicht einmal die Positionslichter. Gespenstisch still dümpelte der Plastikkasten neben dem Holzrumpf der alten Seeschwalbe.

»Hallo, ist jemand an Bord?«, rief Simon laut hinüber, und Frau Sörensen begann wieder zu bellen. »Sei still! Es reicht, wenn ich rufe!«, wies er die Hündin zurecht, die daraufhin ihr Gekläff einstellte und beleidigte Grunzgeräusche ausstieß.

Simon ging ein paar Schritte an der Reling entlang, bis der Strahl seiner Taschenlampe den schwungvollen goldenen Schriftzug am Bug der Motoryacht erfasste. Tequila Sunrise stand da.

»Tequila Sunrise! Hallo, ist jemand an Bord?« Er schüttelte sich, als sein Ruf im feuchten Grau verklang. Dämlicher Name. So hießen Yachten an der Côte d’Azur oder in der Karibik. Wer kam auf die Idee, ein Schiff so zu nennen, das auf der Ostsee herumschipperte? Aber Tequila Sunrise passte immerhin zu diesem Angeberboot, auf dem sich immer noch nichts rührte.

Niemand antwortete auf Simons Ruf. Er fühlte auf einmal ein merkwürdiges Ziehen in seinem Bauch, spürte die Stille wie ein beklemmendes Gewicht, das körperlich auf ihm lastete. Unwillkürlich schossen ihm ein paar besonders ekelhafte Bilder aus dem Horrorfilm The Fog – Nebel des Grauens durch den Kopf.

Widerwillig schüttelte er sich, schimpfte sich innerlich einen Idioten und ging an der Reling entlang, bis das Licht seiner Taschenlampe das Heck der Yacht erfasste und auf die Flagge fiel: Es war die deutsche. Nass und schlapp hing sie an ihrem Stock herunter.

Nun war er doch neugierig, aus welchem Heimathafen diese scheußliche – und sicher auch scheußlich teure – Motorquatze stammte. Er lehnte sich über die Reling, um das Heck beleuchten zu können. Schwach trat der Schriftzug Kiel aus dem Nebel hervor.

Ein lautes Knirschen und Quietschen ließ Simon zusammenfahren, ein widerwärtiges Geräusch, das von der Scheuerleiste der Tequila Sunrise kam, die sich im leichten Auf und Ab der Dünung am Holzrumpf der Seeschwalbe zu reiben begann.

»Mist«, murmelte Simon, ging schnell nach achtern und holte drei Fender und ein paar Leinen unter der Sitzbank hervor. Kurz darauf waren die beiden Boote sicher miteinander vertäut. Solange der Wind nicht auffrischte, würde der Anker die zusätzliche Last durchaus halten können.

Noch einmal leuchtete Simon das Motorboot vom Bug bis zum Heck ab. »Hallo, ist da jemand? Hallo, Tequila Sunrise!«

Keine Reaktion, kein Licht, kein Geräusch.

Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als hinüberzusteigen und nachzusehen, ob wirklich niemand an Bord war. Gerade hatte er diesen Entschluss gefasst, da hörte er Frau Sörensens unverkennbares Knurren vom Achterdeck der Motoryacht, gefolgt von einem kurzen, hellen Kläffen. ›Komm schnell her, ich habe was gefunden!‹, hieß das. Offenbar war die neugierige Hündin bereits hinübergesprungen, während er noch mit dem Ausbringen der Fender und dem Vertäuen der Boote beschäftigt gewesen war. Wieder ließ sie ihr heiseres Bellen hören.

»Ich komme ja, altes Mädchen.« Simon kletterte über die elegante, mit poliertem Mahagonihandlauf versehene Reling der Tequila Sunrise an Bord. »Was hast du denn hier zu suchen?«, schimpfte er in die Richtung, aus der wieder ein mutwilliges Kläffen kam. »Ich habe dir nicht erlaubt, auf das fremde Schiff …« Der Rest seiner Standpauke blieb ihm im Hals stecken. Der Lichtkegel der Taschenlampe fiel auf die kleine Hündin, die mit wedelnder Rute und der Nase tief auf dem Boden an ein paar dunklen Flecken schnüffelte, die auf dem Teakdeck vor der gläsernen Schiebetür zum Salon verteilt waren.

Simon ging in die Knie. Ein eisiger Schauer überlief ihn, als er erkannte, was Frau Sörensen so aufregte. Rostbraun schimmerten die Flecken im weißen Lichtkegel der Taschenlampe. Widerwillig betastete er mit seinem linken Mittelfinger einen kleineren Spritzer direkt vor seinen Füßen.

Die Flüssigkeit war längst trocken und schon in die Oberfläche des hölzernen Deckbelags eingesickert.

Was, zum Teufel, mochte hier passiert sein? Er musste sofort zurück auf die Seeschwalbe und die Wasserschutzpolizei verständigen. Alles sah danach aus, als wäre hier ein Verbrechen geschehen.

Unsinn, schalt er sich, reine Spekulation! Immer das Gleiche: Nur weil Helene bei der Mordkommission arbeitete, vermutete er wieder einmal die gräulichsten Verbrechen, wo es genauso gut eine ganz unspektakuläre Erklärung geben konnte. Obwohl … Das hier war Blut, da war sich Simon sicher. Eine Menge Blut.

Plötzlich durchfuhr ihn ein alarmierender Gedanke. Was, wenn es ein scheußlicher Unfall gewesen war? Was, wenn jemand schwer verletzt im Salon lag – oder sonstwo im Schiff – und dringend Hilfe brauchte?

Simon leuchtete die gläserne Schiebetür zum Salon an. Sie stand halb offen. Schemenhaft erkannte er dahinter einen Teil der Einrichtung, ein paar helle Sessel und eine Eckbar.

Entschlossen stand Simon auf.

Zunächst musste er die Motoryacht durchsuchen. Erst wenn feststand, dass tatsächlich niemand hier Hilfe benötigte, würde er seinen Anruf tätigen.

Zehn Minuten später wusste Simon, dass keine Menschenseele an Bord der Tequila Sunrise war – keine tote und erst recht keine lebendige. Er scheuchte Frau Sörensen zurück auf die Seeschwalbe, kletterte selbst hinterher und stieg den Niedergang hinunter. Funkverkehr konnte er sich sparen. So dicht unter der Küste hatte das Handy ein einwandfreies Netz. Er konnte also die Wasserschutzpolizei in Flensburg direkt anrufen. Wozu Leute aufwecken, die das hier gar nichts anging – und dann noch wegen eines solch brisanten Vorfalls?

Eines nämlich würde er der Polizei gleich mitteilen müssen: Da war noch mehr Blut auf der verlassenen Yacht, viel mehr. Das obszöne Bild der rotbraunen Flecken auf dem cremeweißen Hochflorteppich im Salon wollte Simon nicht aus dem Kopf gehen.

2

Das ehemalige Bauernhaus stand kaum dreihundert Meter entfernt vom Wasser auf einer Anhöhe, etwas abseits eines kleinen Ortes am Südufer der Flensburger Außenförde. Ein schmaler geteerter Wirtschaftsweg, gesäumt von knorrigen Linden, führte vom Dorf hierher, vorbei an einem bewirtschafteten Gehöft, und endete auf dem gepflasterten Platz vor der Eingangstür.

Über dem eingeschossigen Gebäude wölbte sich das in die Jahre gekommene, an manchen Stellen schon grün bemooste Reetdach. Rechts und links neben der breiten Vordertür waren je vier ehemals weiße Sprossenfenster, die sichtbar nach neuer Farbe verlangten, in die rote Backsteinfassade eingelassen.

Auf der Rückseite jenseits des verwitterten Zauns um den großen, reichlich verwilderten Garten wuchsen bis zum Ostseestrand hinunter windschiefe Birken und Krüppelkiefern auf dem mit Strandhafer, Dünenquecken und Stranddisteln bewachsenen Sandboden.

Helene hatte sich sofort in dieses Stückchen Erde verliebt. Als sie vor einem Vierteljahr bei strahlendem Sonnenschein mit Simon hierhergefahren war, im warmen Sommerwind auf die weißen Schaumkronen draußen auf dem Wasser geblickt, im Garten an den alten Rosen geschnuppert und im Haus die schön geschnittenen Räume mit den Eichenbalken unter den Decken besichtigt hatte, war es um sie geschehen gewesen – und um ihre Vernunft, das hatte sie sich mittlerweile schon häufiger vorgeworfen.

So wie jetzt.

Wütend stemmte sie sich mit der Schulter gegen die klemmende Hintertür, die schließlich mit einem lauten Knall aufsprang, und trat hinaus auf die kleine Terrasse, von der man einen freien Blick auf das Meer in der Ferne hatte – vorausgesetzt, es herrschte einigermaßen gute Sicht. Dann sah man bis hinüber zu den grünen Wiesen auf der dänischen Seite der Förde im Norden, und im Osten konnte man sogar den Leuchtturm von Kalkgrund erkennen, der etwa zehn Kilometer entfernt mitten im Wasser stand.

Heute sah Helene nicht einmal den Zaun hinter dem Garten. Es regnete nicht, und dennoch tropfte ihr bereits nach einer Minute Aufenthalt im Freien das Wasser aus ihren dichten weißblonden Haaren in den Kragen hinein. Es schien, als rage die Erhebung, auf der das Haus stand, mitten in eine grauweiße pitschnasse Wolke, die sie in völliger Windstille bewegungslos umschlossen hatte.

Am Morgen war sie bei klarer Sicht zur Polizeidirektion nach Flensburg gefahren, doch auf dem Rückweg vor einer Stunde hatte sie kaum fünfzig Meter weit gesehen, obwohl die Dämmerung noch gar nicht eingesetzt hatte.

Helene schüttelte sich fröstelnd. Sie konnte sich gut vorstellen, was dieser plötzliche Nebel für Simon und seinen Törn ins Winterlager bedeutete. Daher war sie über seinen Anruf vorhin keineswegs erstaunt gewesen. Sie segelte selbst seit ihrer Kindheit und wusste natürlich, dass man bei solch einem plötzlichen Wetterumschwung besser unter Land vor Anker ging. Eine Weiterfahrt in derart dichtem Nebel wäre unverantwortlich. Geärgert hatte sie sich aber doch, dass ihre Pläne auf diese Weise über den Haufen geworfen wurden. Und ihr Unmut war noch nicht verflogen, im Gegenteil.

Sie warf einen vernichtenden Blick auf die verzogene Tür hinter sich. Oben klemmte sie im Türstock, sodass man sie kaum aufbekam, aber unten drang der Wind wie aus einem starken Gebläse durch eine Spalte, weil viele Fenster im Haus ebenfalls nicht richtig dicht waren. ›Düseneffekt‹ nannte Simon das immer lachend. Und hatte ihr gestern, als der alte Ölbrenner wieder auf Störung gegangen war und Helene gerade das dritte Paar Wollsocken über ihre eiskalten Füße zog, hoch und heilig versichert, dafür zu sorgen, dass vor dem Winter noch alles in Ordnung gebracht würde.

»Versprochen! Ich will doch auch nicht frieren, mein Schatz. Alle Teile sind bestellt: die Fenster, die Hoftür, die neue Heizung – das ganze Material. Lass mich nur rasch noch die Seeschwalbe ins Winterlager nach Arnis überführen. Wenn sie dann trocken in der Halle steht, kümmere ich mich um das Haus. Du wirst sehen: Vor dem Winter ist das alles erledigt.«

›Vor dem Winter‹. Helene schüttelte unwirsch die Nässe aus ihren Haaren. Wann war denn ›vor dem Winter‹, wenn nicht jetzt?

Der Mann konnte einem den letzten Nerv rauben. Geschäftsführer eines Bauunternehmens, und dennoch war nie jemand aus der Belegschaft entbehrlich, um die zugige Bude winterfest zu machen, verdammt noch mal. Immer erklärte er ihr, er könne nicht einfach Leute von lukrativen Aufträgen abziehen, um sie auf seinem Privatgrundstück arbeiten zu lassen. Er mochte damit ja recht haben, aber so hatte sie sich ihren Wohnkomfort nun wirklich nicht vorgestellt. Zumindest nicht bei der Besichtigung im Sommer.

»Bitte, Simon, schieb es nicht immer wieder hinaus«, hatte sie ihm ins Gewissen geredet, und er hatte ihr hoch und heilig versprochen, sein Wort zu halten.

Dabei hätte sie all die Unbequemlichkeiten durchaus vermeiden können, gestand sich Helene ein. Schließlich war sie es gewesen, die sich strikt geweigert hatte, zu Simon in sein schönes modernes Haus im Ort zu ziehen, das er inzwischen verkauft hatte.

Er hatte es vor wenigen Jahren gemeinsam mit seiner Frau gebaut. Den Mord an Lisa Maria Simonsen hatte die Kommissarin aufklären können – in ihrem Haus leben, das konnte sie nicht.

Seufzend drehte sie sich um, ging hinein und zog die vermaledeite Tür, die in den Hauswirtschaftsraum führte, mit lautem Krachen hinter sich zu.

Einen Augenblick lang blieb sie stehen und lauschte auf die Geräusche aus dem Heizungsraum nebenan. Der altersschwache Ölbrenner verrichtete lautstark seine Pflicht. Helene hatte die angenehme Wärme sofort dankbar gefühlt, als sie vorhin nach Hause gekommen war. Bei völliger Windstille fror man hier drinnen nicht. Aber die Tage wurden kürzer, der Wind an der Küste stärker und kälter. Die Stürme würden erst noch kommen …

›Düseneffekt‹, also wirklich! Nun, sie würde keine Ruhe geben, bis dieser und alle sonstigen ›Effekte‹, die in einem Wohnhaus nichts zu suchen hatten, der Vergangenheit angehörten, schwor sie sich trotzig und ging in die Küche.

Sie brauchte jetzt einen starken, heißen Tee.

»Sag das noch mal! Das ist ja … nee, das glaub ich einfach nicht!« Helene trat zurück ins Haus. »Moment mal, Simon, ich wollte gerade losfahren …« Sie schloss die Tür wieder und ließ sich in den abgeschabten Ohrensessel fallen, der in der Diele stand. Gerade hatte sie zu einem beherzten Spurt zu ihrem weißen Cinquecento angesetzt, der ein paar Meter entfernt im strömenden Regen auf dem Hofplatz stand, da war der Song Sing Me to Sleep von Alan Walker, ihr aktueller Handyklingelton, durch den rauschenden Regen an ihr Ohr gedrungen.

Rasch warf sie einen Blick auf die alte Standuhr, die Simon und sie arg ramponiert unter allerlei Gerümpel auf dem Dachboden gefunden und fachmännisch reparieren und aufarbeiten lassen hatten. Halb sieben. Noch war also genug Zeit, um pünktlich auf ihrer Dienststelle in Flensburg anzukommen, trotz des miesen Wetters.

Bei ihrem schnellen Frühstück in der Küche – zwei Tassen Tee und ein Müsli – hatte sie durch das Fenster gesehen, dass der Nebel über Nacht völlig verschwunden war. Stattdessen wehte nun ein frischer Wind, der dunkle Wolken über den grauen Himmel trieb und die Regentropfen wie Schrotkugeln an die Fensterscheiben prasseln ließ.

Trostloses Herbstwetter.

Auch hier in der Diele war die Zugluft spürbar, die über den Fußboden fegte. Kalt strich sie über Helenes Beine. Simons ›Düseneffekt‹.

»So, nun sag das noch mal, Simon. Oder nein, lass mal, eigentlich habe ich genug gehört. Langsam wirst du mir unheimlich, mein Lieber.«

»Was soll ich machen?« Er lachte trocken auf. »Ich hätte mir die Nacht hier vor Anker auch ruhiger vorgestellt, das kannst du mir glauben.«

»Dass dir auch immer wieder …« Helene brach ab und schüttelte den Kopf. »Und was ist jetzt mit dem Motorboot? Ich meine, was sagen denn die Kollegen von der Wasserschutzpolizei?«

»Die sind ja erst seit einer Stunde hier, mussten sich langsam und vorsichtig durch den Nebel ins flache Wasser tasten. Aber inzwischen ist Wind aufgekommen und hat die dicke Suppe weggeblasen.«

»O ja, ich weiß«, gab Helene gedehnt zurück. »Den Wind habe ich hier auch. Im ganzen Haus. Das Pfeifen müsstest du eigentlich sogar durchs Telefon hören.«

»Nun übertreib mal nicht so schamlos, mein Schatz!«, protestierte Simon lachend. »Egal, das gehört sowieso bald der Vergangenheit an. Sehr bald sogar.«

»Gott sei Dank. Das habe ich ja kaum noch zu hoffen gewagt. Aber sag mal: Was wollen die Kollegen jetzt unternehmen? Haben die sich dazu schon geäußert?«

»Sie werden die Tequila Sunrise – idiotischer Angebername übrigens, wenn du mich fragst – in Schlepp nehmen und irgendwo hinbringen, wo man eine kriminaltechnische Untersuchung durchführen kann.«

»Sie gehen also von einem Verbrechen aus?«

»Wovon würdest du denn ausgehen?«

»Es könnte auch ein Unfall gewesen sein.«

»Da ist reichlich Blut im Salon und überall an Deck, und kein Mensch ist mehr an Bord. Es gab überhaupt keine Funksprüche, sagt die Wasserschutzpolizei, schon gar kein SOS, nichts dergleichen.« Simon schwieg ein paar Sekunden. »Sieht mir nicht gerade nach einem Unfall aus.«

»Haben sie schon herausgefunden, wem die Yacht gehört?«

»Sie haben das wohl in die Wege geleitet. Aber mir werden sie kaum viel dazu sagen, selbst wenn sie etwas in Erfahrung bringen. Ich bin schließlich kein Polizist und …«

»Nee, du stolperst nur immer wieder mal über die Spuren irgendwelcher Bluttaten«, erwiderte Helene glucksend.

»Was kann ich denn dafür, dass …«, beklagte sich Simon, wurde aber gleich von seiner Lebensgefährtin unterbrochen: »Schon gut, ich hab’s nicht bös gemeint. Ist bloß sonderbar, dass dir das immer wieder passiert, findest du nicht?«

»Und wie. Allerdings könnte ich gut auf diese Erlebnisse verzichten, das darfst du mir glauben.« Er schnaufte unwillig. »Na ja, solange du mich nicht wieder als Tatverdächtigen festnimmst …«

Pause. Das vielsagende Schweigen brachte Helene die alten Bilder zurück, ob sie wollte oder nicht. Sie räusperte sich und sagte: »Ich werde nachher mal bei den Kollegen nachfragen, was sie über das verlassene Motorboot wissen.«

»Ich glaube, du wirst dich sehr bald selbst damit beschäftigen müssen. Wenn ich mich nicht irre, ist das ein Fall für die Mordkommission, oder was denkst du?«

Damit hatte er wohl recht. Die Wasserschutzpolizei würde zur Spurenauswertung ganz sicher die Kripo hinzuziehen. Und wenn es keine harmlose Antwort auf die Fragen nach dem Verbleib des Skippers und der Herkunft des vielen Blutes gab, roch das alles geradezu nach einem Gewaltverbrechen. Eigenartig, dass Simon das offenbar früher klar geworden war als ihr.

»Na, wir werden ja sehen«, erwiderte sie und wechselte das Thema: »Wann wirst du denn weiterfahren? Ich kann dich heute erst später am Abend abholen. Ich habe zu viel auf dem Schreibtisch, auch ohne dass noch ein neuer Fall dazukommt.«

»Mach dir keine Gedanken. Ich schätze, ich werde hier in spätestens einer Stunde den Anker lichten können. Dann bin ich gegen Mittag in Arnis. Die Werft habe ich schon verständigt. Der Kran wäre am Nachmittag frei, um das Schiff aus dem Wasser zu heben. Bis die Seeschwalbe in der Halle steht und ich loskomme, wird es sicher später Nachmittag. Ich rufe dich dann an. Hab dich lieb, mein Schatz!«

»Ich liebe dich auch, Simon. Passt auf euch auf, ihr beiden. Und grüß Frau Sörensen von mir!«

3

Wirklich seltsam, ging es Helene Christ durch den Kopf, als sie in ihrem kleinen Wagen saß und unter den hin- und herjagenden Scheibenwischern auf die nasse Landstraße blickte. Sogar ein wenig unheimlich, dass Simon so oft in etwas hineintappte, was sich bald darauf als Spur zu einem Kapitalverbrechen entpuppte.

Drei Jahre war es jetzt her, dass sie ihn unter den ungünstigsten Umständen kennengelernt hatte, die man sich nur vorstellen konnte: Sie hatte ihn festnehmen müssen, weil er des Mordes an seiner Ehefrau Lisa verdächtigt wurde – ein Verdacht, der sich zum Glück aber rasch als falsch herausgestellt hatte.

Ihr erster Fall; gerade war sie damals als junge Kriminalkommissarin nach Flensburg gekommen.

Doch der ehemals Mordverdächtige, in den sie sich zu ihrer eigenen Überraschung zunächst höchst widerwillig, dafür aber umso heftiger verliebt hatte, war auch aus den Ermittlungen in einigen der Fälle, die sie später aufzuklären hatte, nicht wegzudenken. ›Dein Hilfssheriff‹, nannte Edgar, ihr griesgrämiger alter Kollege, ihn bald nur noch.

Helene zuckte zusammen, und die bekannte dumpfe Leere breitete sich wieder in ihrem Magen aus. Edgar Schimmel, von allen nur ›der Graue‹ genannt, würde nicht länger an ihrer Seite stehen.

Wie hatte er ihr, der unerfahrenen jungen Kollegin, anfangs das Leben schwer gemacht! Sein Sarkasmus und seine bisweilen zynischen Kommentare waren für Helene kaum zu ertragen gewesen. Und die Teilnahmslosigkeit, mit der der alte Hauptkommissar auf die vielen Verbrechen seiner langen Dienstzeit zu blicken schien, hatte sie erschreckt. Angst war in ihr aufgekommen, ein solcher Verlust an Empathie wäre der Preis für diesen Beruf, den auch sie eines Tages würde zahlen müssen.

Doch der Schein trog.

Helene hatte bald erkannt, dass Schimmels Gebaren, die barschen Umgangsformen, seine manchmal schneidend scharfe Ausdrucksweise, nichts anderes war als der verzweifelte Versuch eines längst Desillusionierten, die fortwährenden Begegnungen mit den schlimmsten menschlichen Abgründen auf Abstand zu halten.

Sie würde nie den Blick des Grauen vergessen, als ihm klar wurde, dass sie ihn durchschaut hatte. Es war der Blick eines Ertappten gewesen, dessen Augen sie inständig baten, ihr Wissen als gemeinsames Geheimnis zu hüten. Und niemals darüber zu sprechen.

Nur mit unglaublich viel Glück und Dank der Kunst der Ärzte war er vor ein paar Monaten mit dem Leben davongekommen. Eine Kugel hatte den Grauen in die Brust getroffen, den linken Lungenflügel zerfetzt und schwere innere Blutungen verursacht. Auch der Herzbeutel war gestreift und angerissen worden. Hätte der Schusskanal nur ein wenig mittiger gelegen, wäre jede Hilfe zu spät gekommen.

Doch auch so hatte das Leben des kauzigen alten Kriminalers lange am seidenen Faden gehangen. Drei Wochen hatte Schimmel auf der Intensivstation mit dem Tod gerungen, bis endlich doch sein Lebenswille gesiegt hatte. Zumindest war dieser Begriff gefallen, als die Mediziner Helene mitteilten, der Graue sei über den Berg. Er selbst wollte von ›Lebenswillen‹ nichts hören, lehnte jede Diskussion über seine Befindlichkeiten kategorisch ab und sprach allenfalls von ›Glück‹ und von einer ›halbwegs anständigen Arbeit der Quacksalber‹.

Helene fand einen freien Parkplatz in der Speicherlinie, stieg aus und hastete durch den Regen die kurze Strecke zu dem imposanten weißen Gebäude in der typischen Architektur der Gründerzeit, in dem die Polizeidirektion Flensburg untergebracht war. In Gedanken war sie immer noch bei ihrem alten Kollegen.

Inzwischen hatte man ihn aus dem Krankenhaus entlassen. In der Rehaklinik in Damp, dem nur etwa sechzig Kilometer entfernt gelegenen Ostseebad, versuchte der Graue nun, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sein Berufsleben ein jähes Ende gefunden hatte.

Sicher, noch vor ein paar Jahren schien ihm nichts wichtiger gewesen zu sein als seine baldige Pensionierung. Aber auf wundersame Weise hatte sich diese Haltung fast unmerklich in der Zeit seiner Zusammenarbeit mit Helene geändert. Schimmel wäre der Letzte gewesen, der das jemals zugegeben hätte, aber Helene wusste genau, wie viel ihm sein Beruf bedeutete – trotz allem Abscheu vor der jahrzehntelangen Konfrontation mit der Trostlosigkeit von Mord und Totschlag. Und wie wichtig es ihm gewesen war, so viel wie möglich von seinen Erfahrungen und seinem Wissen an die junge Kollegin weiterzugeben.

Als die Kommissarin den Diensthabenden an der Eingangskontrolle im Vorbeigehen grüßte, fiel ihr wieder ein, was Schimmel gestern herausgerutscht war, als sie mit ihm telefoniert hatte.

»Tja, Miss Marple, jetzt bestimmen andere über mich.«

Mehr hatte er nicht zu sagen brauchen. Helene wusste allzu gut, wie schwer er sich damit tat, das Unvermeidliche zu akzeptieren, ohne irgendetwas daran ändern zu können. Und in seinem Falle hieß das: vorzeitige Pensionierung wegen Dienstunfähigkeit.

»So schlimm das sein mag, Edgar«, hatte sie lahm geantwortet, »aber du bist immerhin noch am Leben. Mach dir endlich klar, dass du genauso gut …« Mehr hatte sie nicht sagen können. Doch von ihm war nichts gekommen, kein einziges Wort. Nicht einmal einer seiner unwilligen Grunzer, die sie immer so auf die Palme gebracht hatten.

Und da war ihr eine Idee gekommen.

Noch hatte sie nicht alles bis zum Ende durchdacht. Und ihr war klar, dass sie mit List vorgehen musste, um dem Grauen ihre Überlegungen schmackhaft zu machen. Wenn ihr das aber gelänge, würde es ihm vielleicht ein bisschen Lebensfreude zurückbringen. Keine Begeisterung natürlich; derlei Überschwang der Gefühle war dem Alten ein Gräuel, aber immerhin …

Ein leichtes Grinsen flog über Helenes Gesicht, und sie öffnete die Tür zu ihrem Büro.

Kommissaranwärter Nuri Önal schien nur auf seine Chefin gewartet zu haben.

Helene sah durch die geöffnete Tür zum Nebenraum, dass der junge schwarzhaarige Mann mit der auffälligen Undercutfrisur eilfertig von seinem Tisch aufsprang und zu ihr herüberkam.

»Es gibt wichtige Neuigkeiten, Frau Komm… äh, Frau Christ!«

»Ihnen auch ein fröhliches Moin, Moin«, erwiderte Helene grinsend, als sie erkannte, dass Önal vor Mitteilungsbedürfnis fast platzte.

In edle Markenjeans, knöchelhohe dunkelrote Sneaker und einen eng anliegenden schwarzen Pullover gekleidet, der seinem durchtrainierten Oberkörper schmeichelte, die Haare gegelt und in den intensiven Duft eines aromatischen Rasierwassers gehüllt, baute sich der kaum mittelgroße Kommissaranwärter vor seiner Vorgesetzten auf und blickte irritiert zu ihr hoch.

»Äh, ja, Moin, Frau Christ.« Er warf einen kurzen Blick auf den Zettel in seiner Hand und sprudelte hervor: »Die Kollegen vom Wasserschutz bitten um unsere Hilfe. Da gibt es wohl ein Boot, auf dem ein Mord passiert ist, und …«

»Das steht auf Ihrem Zettel?« Helene ging zu ihrem Schreibtisch und setzte sich in den Drehstuhl. »Haben die das tatsächlich so gesagt?«

»Na ja«, wand sich der junge Mann. »Sie haben von Blutspuren gesprochen. Und gesagt, dass die Spurensicherung schon dran arbeitet.«

»Ja, gut. Aber haben die Kollegen wirklich das Wort ›Mord‹ benutzt, Herr Önal? Es wurde schließlich keine Leiche gefunden, oder?« Ein wenig schämte sich Helene für den billigen Triumph.

»Nein, wenn Sie so fragen – das Wort ›Mord‹ ist wohl nicht gefallen, aber …« Er brach ab, als ihm aufging, was seine Chefin gerade gesagt hatte, und starrte sie an. »Woher wissen Sie denn, dass da keine Leiche …«

»Das Boot wurde heute in den frühen Morgenstunden vor Falshöft an der Küste gefunden. Und es war niemand an Bord, weder tot noch lebendig«, antwortete Helene gleichmütig. Als sie sein fassungsloses Jungengesicht sah, lachte sie auf. »Machen Sie sich keine Gedanken, Herr Önal, ich bin keine Hellseherin. Zufällig war es mein Lebensgefährte, der auf das verlassene Boot gestoßen ist und es der Polizei gemeldet hat. Er hat mich angerufen, daher weiß ich von der Sache.«

Die schwarzbraunen Augen des türkischstämmigen Mannes blitzten fröhlich. »Und ich dachte schon, Sie hätten so eine Gabe wie meine Nine.«

»Ihre wer?«

»Meine Oma. Die ist in der ganzen Familie als Falcı bekannt, als Wahrsagerin. Ich musste gerade an sie denken. Sie hat heute Geburtstag.«

»Spökenkieker nennt man solche Leute hier bei uns an der Küste«, gab Helene amüsiert zurück. »Bin ich aber eher nicht. Na gut, lassen wir das. Wie alt wird denn die Oma?«

»Dreiundachtzig, glaube ich.«

»Dann richten Sie ihr meine Glückwünsche aus, wenn Sie dran denken. Übrigens: Wissen Sie denn, was genau die Kollegen von uns wollen? Oder, anders gefragt: Haben sie ausdrücklich nach der Mordkommission verlangt?«

»Nein, Frau Christ«, erwiderte Önal, wieder ernst geworden. »Das Boot liegt jetzt am Steg vor dem Gebäude der Wasserschutzpolizei, aber, genau genommen, kommt die Anforderung von einem Oberkommissar Nissen. Der ist vor Ort und hat eben angerufen.«

»Kollege Nissen ist Spezialist bei den Kriminaltechnikern und ein erfahrener Spurensicherer.« Die Kommissarin nickte. »Wenn der uns herbeiruft, dann ist an Ihrem angeblichen Mord was dran.« Sie stand auf. »Also los, gehen wir rüber. Sind ja bloß ein paar Hundert Meter die Straße hoch.«

Önal hastete in das Nachbarzimmer, nahm seine schwarze Lederjacke von der Stuhllehne und zog sie an. Als er mit einer gut gefüllten Papiertüte in der Hand wieder in das große Büro zurückkam, sah Helene, dass sein Blick den leeren Stuhl streifte, der ihrem gegenüber am zweiten Schreibtisch stand. Schimmels Stuhl.

»Nee, mein Lieber«, sagte sie forsch, »gewöhnen wir uns besser daran, unseren Job ohne ihn zu machen.« Sie dachte an die grantigen Anschnauzer des Grauen, die der junge Anwärter noch hatte einstecken müssen. »Hauptkommissar Schimmel geht aus der Reha direkt in Pension. Kann mir auch kaum vorstellen, dass Sie ihn allzu sehr vermissen werden.«

Önal sagte nichts. Aber Helene sah einen Ausdruck in seinen dunklen Augen, den sie nicht deuten konnte. Fast hatte sie den Eindruck, als ob der Kommissaranwärter ihre Behauptung nicht billigte. »Was haben Sie denn da in der fettigen Tüte?«, fragte sie.

»Baklava. Von meiner Großmutter selbst gebacken. Musste ich mit zum Dienst nehmen, sonst wäre sie böse geworden. Sind aber auch die besten, die es gibt.«

»Auf jeden Fall hat Oma nicht an Butter gespart«, sagte die Kommissarin und zeigte auf die fettgetränkte Tüte. »Aber nun mal los!«

»Darf ich Sie noch rasch etwas fragen?«, nahm Önal seinen Mut zusammen. »Werden Sie jetzt die Leitung des Kommissariats übernehmen?«

»Wohl kaum«, gab Helene zurück. »Dazu bin ich noch nicht lang genug im Geschäft. Demnächst werden wir einen neuen Chef vorgesetzt bekommen, wir beide. Das Personalkarussell dreht sich bereits, habe ich gehört.« Sie öffnete die Tür. »Kommen Sie jetzt, die Kollegen warten. Im Moment müssen wir das allein hinkriegen.«

Nuri Önal trat hinter ihr hinaus auf den Flur und sagte eifrig: »Das schaffen wir schon.«

Helene lächelte müde. Putziges Kerlchen, ihr jugendlicher Kollege.

4

Polizeihauptmeister Asmus Mommsen, seit über zwanzig Jahren Vertreter des Gesetzes in dem kleinen Ort am Südufer der Flensburger Außenförde, lehnte sich zurück und streckte sich behaglich. Genüsslich sog er das Aroma des Kaffees ein, der in einem Becher mit dem Aufdruck Schleswig-Holstein – der echte Norden vor sich hin dampfte. Während des heiße Gebräu sich auf Trinktemperatur abkühlte, blickte der alte Dorfsheriff durch das Fenster direkt vor seinem Schreibtisch.

Alles, was er sah, war grau. Die sonst so grellen Werbeflaggen an den Masten entlang des kleinen Supermarktes schräg gegenüber, die dichten Gischtschleppen, die die Autos auf der Dorfstraße wie Schleier hinter sich herzogen, die Schirme der wenigen Menschen, die durch die Nässe ihrem Ziel entgegenhasteten – alles grau. An den steif auswehenden Fahnen konnte Mommsen sehen, dass es ein heftiger Nordwest war, der die Küste im Griff hatte und den dichten Regen lautstark gegen die Fensterscheiben der altehrwürdigen Amtsstube peitschte.

»Schietwetter«, murmelte Mommsen, der die Dinge gern beim Namen nannte, führte den heißen Becher vorsichtig an seine Lippen und nahm einen Schluck.

Nichts Besonderes natürlich, solches Wetter im Herbst an der Küste. Auch eine Windstille mit dichtem Nebel, wie sie gestern bis in die Nacht hinein geherrscht hatte, gehörte zu dieser Jahreszeit, doch hielt sie nie lange an.

Asmus Mommsen war hier geboren. Sturm und Regen gehörten für ihn ebenso selbstverständlich zu seinem Leben wie blauer Sommerhimmel mit rasch dahinziehenden weißen Wölkchen, der Duft von blühenden Rapsfeldern und salzige Luft, die vom nahen Meer herüberwehte. Alles zu seiner Zeit.

Versonnen wanderten die Augen des alten Polizisten über den Tresen und die vertrauten Möbelstücke in seinem Dienstzimmer, und leise Wehmut breitete sich wieder einmal in ihm aus.

›Auslaufmodell‹ hieß der Begriff, den die Kollegen aus Kiel im Mund geführt hatten. Das alles hier würde sehr bald der Vergangenheit angehören. Spätestens mit Mommsens Pensionierung. Dieser Posten auf dem Land passte wie viele andere dörfliche Polizeistationen nicht mehr in die Planung des Innenministeriums. Zentralisierung war seit Langem das Motto der Organisatoren. »Effizienzsteigerung durch Bündelung der Kräfte«, hatte das einer der Verwaltungsbeamten genannt, die den alten Polizisten vor einigen Monaten hier heimgesucht hatten.

Das war nicht mehr Asmus Mommsens Welt. Er selbst war ein Auslaufmodell – das war ihm durchaus bewusst. Und dennoch fühlte er ein tiefes Unbehagen in sich aufsteigen, wenn er daran dachte, dass die Menschen auf dem Lande sehr bald keinen Ansprechpartner mehr haben würden, der als Polizist mitten unter ihnen wohnte, ihren Alltag mit ihnen teilte, ihre Sorgen kannte – eben einer von ihnen war.

Mommsen blickte hinaus in die graue Welt und nahm einen tiefen Schluck von dem starken, mittlerweile leicht abgekühlten Kaffee.

Sie hatten ihm vorsichtig signalisiert, dass er auf diesem Dienstposten in den Ruhestand gehen könne. Ein Entgegenkommen, immerhin. Und er würde wohl weiterhin hier wohnen dürfen.

›Sien Dörp‹ – einen anderen Ort auf der Welt als ›sein Dorf‹ gab es nicht, zu dem es ihn hinzog. Bald würde er nun selbst erleben, ob sich das Konzept der Zentralisierung bewährte. Was die Menschen dazu sagen würden, dass niemand mehr abends durch die Straßen ging, ansprechbar für jeden, der etwas auf dem Herzen hatte …

Das schrille Klingeln des Telefons riss Mommsen aus seinen immer trüber werdenden Gedanken. Er griff zum Hörer und meldete sich.

»Moin, Asmus, Jens Hansen hier«, kam es aus dem Hörer.

»Jens Hansen? Gifft dat veel vun!«

»Jens Post, Asmus.«

Mommsen musste grinsen. Seine Bemerkung, dass es viele Leute dieses Namens gab, war durchaus berechtigt gewesen, denn er kannte allein hier im Ort vier Männer, die Jens Hansen hießen. Mit ›Jens Post‹ hatte der Anrufer sich als der Briefträger des Dorfes nun einwandfrei identifiziert.

An den norddeutschen Küsten gab man den Leuten gern solche unverwechselbaren Spitznamen. Natürlich hatte auch Mommsen seinen – und einen besonders originellen noch dazu.

Der alte Polizist war im Dorf bekannt als ›Asmus Kelle‹, weil er sich hin und wieder gern an der Straße hinter der Fischerhütte, dem Dorfkrug, auf die Lauer legte und Autofahrer mit der Kelle anhielt, um sie einem Alkoholtest zu unterziehen. Übrigens sehr zum Missfallen des Wirtes Hinrich, genannt ›Hinrich Korn‹, der immer versuchte, dem Hüter des Gesetzes ein Schnippchen zu schlagen und dabei zur Frühwarnung seiner Gäste großen Einfallsreichtum entwickelte.

»Wat gifft dat denn, Jens?«

»Ja, also … Ich weiß gar nicht, wie ich …«

»Was ist das überhaupt für eine komische Nummer, von der du anrufst?«, unterbrach ihn Mommsen mit einem Blick auf das Display der Telefonanlage. Er hatte ins Hochdeutsche gewechselt, weil ihm eingefallen war, dass der Postzusteller ein aus Sachsen Zugezogener war – trotz seines einheimischen Namens. Seine Familie stammte ursprünglich aus Eckernförde, soweit Mommsen sich erinnerte, aber Jens Hansen war erst ein paar Jahre nach der Wende als junger Mann wieder in die Heimat seiner Vorfahren zurückgekehrt.

»Meine Handynummer ist das. Bin auf Zustelltour. Dachte, ich ruf lieber die Polizei an. Weil das hier … Na ja, das ist eben … komisch, was ich sehe.«

»Aha. Wo bist du denn? Hoffentlich nicht am Tresen bei Hinrich Korn. Das ist doch dein zweites Wohnzimmer.«

»In der Wirtschaft? Na, hör mal, doch nicht schon um diese Zeit! Nee, nee, ich steh hier neben Jette Steensen in ihrer Küche und schau aufs Wasser raus. Sie hat mich reingeholt, als ich ihr ein Einschreiben gebracht habe.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Da draußen schwimmt nämlich was. Allerdings schwer zu erkennen bei dem Regen.«

Jens Post war nicht gerade ein Meister des Wortes, daher musste der Dorfpolizist noch ein paarmal nachfragen, bis er erfahren hatte, worum es eigentlich bei diesem Anruf ging. Das Haus der Witwe Steensen lag, wie Mommsen wusste, als letztes an einem Wirtschaftsweg, der direkt zum Strand hinunterführte. Und die alte Jette, die nicht mehr gut zu Fuß war, saß gern hinter ihrem Küchenfenster und blickte durch ein Fernglas stundenlang aufs Meer hinaus. Als der Postbote geläutet hatte, war sie mit ihrem Rollator aufgeregt an die Tür gekommen und hatte ihm berichtet, sie hätte gerade einen Körper im Wasser entdeckt – keine hundert Meter draußen vor dem Strand.

»Und, was soll ich sagen«, fuhr Hansen fort, »da schwimmt tatsächlich etwas … Seltsames. Hab’s eben selbst durch das Fernglas gesehen!«

»Jens, mach mich nicht irre! Was soll das heißen: ›etwas Seltsames‹? Das kann auch ein Baumstumpf sein oder so was. Schwimmt doch genug Zeug rum auf dem Wasser.«

»Nu ja«, erwiderte Jens Post bedächtig, »aber es gibt keine Bäume mit Händen, oder?«

»Mit …«

»Ich glaube, ich habe eine Hand gesehen. Ganz bestimmt sogar. Die Wellen werfen diesen … diese Sache hin und her, und einmal kam plötzlich ‘ne Hand an die Oberfläche und …« Er verstummte. »So sah es jedenfalls aus.«

Mommsen seufzte tief, warf einen traurigen Blick auf seinen halb vollen Kaffeebecher und anschließend in den windgepeitschten Regen draußen vor dem Fenster. In wenigen Minuten würde er völlig durchnässt sein, das war unvermeidlich. Und wofür? Um mit ziemlicher Sicherheit festzustellen, dass der Briefträger einem Trugbild aufgesessen war. Aber es half alles nichts, er musste …

»Asmus? Warte mal, Jette Steensen hat gerade nach mir gerufen …«, tönte es plötzlich aufgeregt durch den Hörer. »Moment bitte …«

Mommsen seufzte erneut, während sich im Hintergrund ein Stimmengewirr entwickelte, aus dem das klirrende Falsett der alten Witwe unangenehm laut heraustönte.

Schließlich war Jens Post wieder am Hörer und sagte: »Jetzt hat sie noch was gesehen, Asmus!«

»Was denn? Sag schon!«, knurrte Mommsen.

»Ein äh … ein … nun ja, ein Gesicht! Sie sagt, sie hat ganz deutlich ein Gesicht in den Wellen gesehen!«

5

»Alles Blut hier stammt vermutlich von ein und derselben Person«, sagte Oberkommissar Kay Nissen vom Landeskriminalamt. »Die Kollegen haben im Labor ein paar Schnelltests gemacht. Gerade kam ihr Anruf.«

Helene kannte den erfahrenen Kriminaltechniker bereits von früheren Fällen und schätzte seine akribische Arbeitsweise, auch wenn er kein sonderlich umgänglicher Zeitgenosse war. »Also hat kein Kampf stattgefunden?«