Nein! Ich will keinen Seniorenteller - Virginia Ironside - E-Book

Nein! Ich will keinen Seniorenteller E-Book

Virginia Ironside

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Beschreibung

Älterwerden ist nichts für Feiglinge!

Marie Sharp, das Alter Ego der Journalistin Virginia Ironside, ist zu jung, um einen Treppenlift zu benutzen, aber doch reif genug, um den Vorteil bequemer Schuhe zu schätzen. Sie geht gern auf Beerdigungen, die sie viel unterhaltsamer findet als Hochzeiten, sie tauscht den Gynäkologen gegen einen Chiropraktiker, liest begeistert Todesanzeigen und fragt sich, ob sie wohl an Alzheimer erkranken wird. Denn Marie Sharp wird langsam alt – und ist verdammt froh darüber. Als ihr sechzigster Geburtstag näher rückt, beschließt Marie, ein Tagebuch zu beginnen und all die Ereignisse der nächsten Monate festzuhalten. Es wird ein turbulentes Jahr, in dessen Verlauf Marie Großmutter wird, aber auch ihren besten Freund verliert; ein Jahr, in dem sie Feste feiert, neue Bekanntschaften schließt und sich schließlich erneut in ihren Jugendschwarm Archie verliebt. Vor allem aber ist es eine Zeit, in der sie es genießt, endlich nicht mehr jung sein zu müssen …

Ein wunderbares Lesevergnügen für alle, die sich so alt fühlen, wie sie sind.

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Seitenzahl: 421

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Buch

»Ganz bestimmt nicht!«, erwidert Marie Sharp, als ihr eine Freundin anlässlich ihres 60. Geburtstags vorschlägt, sich doch einem Leseclub anzuschließen. »Diese Leute denken, wenn sie Bücher lesen, halten sie sich geistig fit. Aber entweder man ist geistig fit, oder man ist es nicht. Das ist heutzutage fast ein Zwang: Man muss permanent mit einem spitzen Stock in seinem Gehirn herumstochern, um es in Bewegung zu halten. Warum? Ich glaube nicht, dass Senioren, die mit achtzig durch die Mongolei radeln, gute Vorbilder sind. Es sind traurige Gestalten, die das Altwerden nicht akzeptieren können. Ich will jetzt Sachen für alte Leute machen, nicht für junge.«

Marie Sharp ist zu jung, um einen Treppenlift zu benutzen, aber doch reif genug, um den Vorteil bequemer Schuhe zu schätzen. Sie geht gern auf Beerdigungen, die sie viel unterhaltsamer findet als Hochzeiten. Sie tauscht den Gynäkologen gegen einen Chiropraktiker, liest begeistert Todesanzeigen und fragt sich, ob sie wohl irgendwann an Alzheimer erkranken wird. Denn Marie Sharp wird langsam alt – und ist verdammt froh darüber. Als ihr sechzigster Geburtstag naht, beschließt Marie, ein Tagebuch zu beginnen und alle Ereignisse der nächsten Monate festzuhalten. Es wird ein turbulentes Jahr, in dessen Verlauf Marie Großmutter wird, aber auch ihren besten Freund verliert; ein Jahr, in dem sie Feste feiert, neue Bekanntschaften schließt und sich schließlich sogar verliebt. Vor allem aber ist es eine Zeit, in der sie es genießt, endlich nicht mehr jung sein zu müssen …

Autorin

Virginia Ironside begann ihre berufliche Laufbahn als Journalistin und veröffentlichte im Alter von zwanzig Jahren ihr erstes Buch. In den Sechzigern schrieb sie eine Rockmusik-Kolumne für die Daily Mail und wechselte später als Kummerkastentante zur Zeitschrift Woman. Derzeit hat sie eine wöchentliche Kolumne mit Ratschlägen für alle Lebensfragen im Independent. Virginia Ironside hat bereits mehrere Ratgeber sowie Kinderbücher verfasst. Die Autorin lebt in London.

Mehr zu Virginia Ironside unter www.virginiaironside.org

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorinWidmung3. Oktober8. Oktober10. Oktober11. Oktober20. Oktober6. Novenber8. November9. November10. November14. November18. November1. Dezember2. Dezember3. DezemberCopyright

FÜR PATRICK

3. Oktober

Also gut. Hier ist es. Fünfzig Jahre zu spät, ich weiß, aber besser spät als nie. Ein Tagebuch. Und ja, es ist weder der 1. Januar noch der 1. November, aber irgendwann muss man ja anfangen. Carpe diem und all das. Außerdem: Wünschen wir uns nicht alle insgeheim, wir hätten mit zwanzig Tagebuch geführt? Oder mit dreißig! Oder vierzig! Aber nun, in meinem sechzigsten Lebensjahr – oder besser gesagt: meinem neunundfünfzigsten, oder vielleicht doch dem sechzigsten? Mir fällt da gerade dieser unangenehme Mensch ein, der mir neulich einen Vortrag darüber hielt, dass ich mich, obwohl erst neunundfünfzig, bereits in meinem sechzigsten Lebensjahr befände. Vollkommen konfus das alles, aber wie heißt es so schön: Der Klügere gibt nach. Aber egal, wie alt: Ich, Marie Sharp, pensionierte Kunsterziehungslehrerin, geschieden, ein Sohn, ein Kater und überzeugter Single, bin fest entschlossen, es auf meine alten Tage noch einmal zu versuchen. Mit einem Tagebuch. Nicht mit einer Beziehung.

Gott bewahre.

Mein erstes Tagebuch habe ich mit zehn geschrieben. Wenn man es so nennen kann. Kleine Kostprobe? Das wird Sie umhauen: »Heute Schule. In der zweiten Stunde Mathe – würg! Nach der Schule heimgegangen. Hausaufgaben gemacht. Abendessen gegessen. Ins Bett gegangen.« Als Teenager habe ich es dann noch einmal versucht, aber nur deshalb, weil ich total in Archie verknallt war. Der davon natürlich keine Ahnung hatte. Ich besitze immer noch drei oder vier Übungshefte, deren Seitenränder unter akutem Archie-Bewuchs leiden. Es finden sich dort geistreiche Ergüsse wie ICH LIEBE Archie! Oder ICH LIIIEBE ARCHIE!!! Oder die besonders clevere Variante: ein rotes Herzchen mit dem wunderschönen Wort ARCHIE.

Als David und ich geheiratet haben und dann Jack auf die Welt kam, haben wir ein gemeinsames Tagebuch geführt. Das war allerdings von vorne bis hinten erstunken und erlogen. Schließlich wussten wir beide, dass es der andere lesen würde. Ich war schließlich gezwungen, ein zweites, geheimes Tagebuch zu führen, weil ich in meiner Ehe derart unglücklich war. In unser gemeinsames Tagebuch schrieb ich: »Toller Tag! Sind mit Jack im Park spazieren gegangen und haben hinterher bei Hughie und James Tee getrunken. Gott, haben wir gelacht! Und der Tee war spitze!« In mein privates Tagebuch schrieb ich dagegen: »Kann David und seine schrecklichen Freunde nicht mehr ertragen. Die kommen sich immer wer weiß wie toll vor. Und ich fühle mich komplett ausgeschlossen. Gott, ich will frei sein! Ich will tanzen gehen! Ich will Affären haben!«

Was ich kurz danach ja auch hatte, und David und ich trennten uns, sind aber seltsamerweise Freunde geblieben. Außerdem: Wer weiß schon, was er in sein geheimes Tagebuch geschrieben hat! Ich bin übrigens auch mit Davids Halbbruder James und dessen Lebensgefährten Hughie in Verbindung geblieben. Sie gehören mittlerweile zu meinen besten Freunden. Und Archie natürlich. Archie und ich haben immer Kontakt gehalten, obwohl ich nie eine Affäre mit ihm hatte. Ich war zu seiner Hochzeit mit Philippa eingeladen, und wir sehen uns immer noch gelegentlich zum Lunch. Wie sich herausstellte, zog Archies Firma ausgerechnet Hughie als Anwalt zu Rate – Archie verdient sein Geld mit irgendwelchen Aktiengeschäften. Fragen Sie mich nicht nach Details. So schließt sich jedenfalls, wie so häufig, der Kreis meiner Freunde und Bekannten.

Als Lehrerin hatte ich keine Zeit für ein Tagebuch und auch nicht während des Studiums. Aber jetzt, wo ich sechzig bin – oder doch in wenigen Monaten sein werde –, da will ich es noch ein letztes Mal versuchen. Also dann …

8. Oktober

Mit tränenden Augen aufgewacht. Sehr schlechtes Zeichen. Ich meine, tränende Augen sind in Ordnung, wenn es kalt ist oder wenn einem der Wind um die Ohren pfeift, oder wenn man eine schlimme Erkältung hat und nicht mehr kriechen kann, geschweige denn zum Telefon greifen, um guten Freunden zu erzählen, dass man nicht mehr kriechen kann. Aber ganz ohne jeden Grund – oje! Ich kenne einen Siebzigjährigen, dessen Augen derart triefen, dass ihm permanent ein Tröpfchen an der Nasenspitze hängt. Das ist, ja, ich fürchte, ein Zeichen des Alters.

Das erinnert mich an neulich, als ich wegen Knieschmerzen bei meiner Hausärztin war. »Eine milde Form von Osteoarthritis, Marie«, sagte sie. »Damit muss man in unserem Alter rechnen.«

Als ich ihr erklärte, dass das nicht sein könne, weil ich nie Sport getrieben hätte und meine Knie daher, theoretisch, noch in einwandfreiem Zustand sein müssten – kein Kratzer, kaum gebraucht! Extrem niedrige Kilometerzahl! Nur ein Besitzer, weiblich! Ja, ich glaube, ich habe sogar noch irgendwo die Originalverpackung – da meinte sie, so funktioniere das leider nicht.

Höchst ungerecht, finde ich.

10. Oktober

Bin gerade von einer absolut schrecklichen Dinnerparty heimgekommen. Schmerz lass nach. Ich wäre nie hingegangen, hätte ich mich nicht von Marion, einer guten alten Freundin, wie eine Anfängerin übertölpeln lassen. Der bewährte Trick, Sie kennen ihn sicher: »Was machst du am Donnerstag?« Und statt misstrauisch zu fragen: »Warum?«, bin ich prompt in die Falle getappt.

»Nichts.«

Klonk.

Nun, Dinnerpartys können durchaus die eine oder andere positive Überraschung parat halten, aber im Großen und Ganzen ist es wie beim Lotto: Die Chancen auf einen Gewinn sind praktisch null. Das erste Problem ist, dass meist nie genug Männer vorhanden sind. Und jetzt, »im mittleren Alter«, wollte ich sagen, sollte aber wohl »im reiferen Alter« sagen, sind die Männer, die noch kommen, meist aus gutem Grunde noch zu haben: Sie sind entweder Nieten oder etwas sonderbar.

(Ich weiß allerdings nicht, ob diese Beschreibung nicht auf die meisten Männer zutrifft, egal, ob sie noch zu haben sind oder nicht. Was ja auch der Grund ist, warum ich zum SingleDasein übergetreten bin. Das soll natürlich nicht heißen, dass Männer nicht witzig, sexy, nett und faszinierend sein können. Aber manche vereinen all diese Eigenschaften in sich und sind trotzdem eine Niete.)

Das zweite Problem ist, dass man, je älter man wird – also, je älter ich werde –, keine neuen Bekanntschaften mehr schließen will. Es gibt genug Menschen in meinem Leben, deren Freundschaft ich gerne intensiver pflegen würde – und die Leute, die andere Leute toll finden, sind oft nicht die Leute, die ich toll finde. Und umgekehrt. Ich bin eigentlich nur auf eines noch neugierig: junge Leute. Aber da sind wir Alten alle gleich. Wir wollen »junge Leute kennen lernen«. Da sind wir wie Vampire, die Blut geleckt haben.

Ich weiß noch, wie ich mit siebzehn von alten Leuten geradezu »angefallen« worden bin. Sie waren wohl um die vierzig oder fünfzig, aber wenn man jung ist, scheint jeder über dreißig bereits mit einem Bein im Grab zu stehen. »Ach, weißt du was? Ich setz mich neben dich!«, sagten sie, mit schlaffen Lippen über nikotingelben, wackligen Zähnen. »Ich liebe junge Menschen!« Und ich versuchte, nicht allzu erkennbar zurückzuzucken, während sie gierig meine Jugend, meinen blühenden Teint, meine jämmerlich unreifen Ansichten, einfach alles in sich aufsogen.

»Jetzt sag mir doch mal: Warum zieht ihr euch heutzutage so schlampig an? Das ist dieser ›Hippielook‹, nicht?«

»Die jungen Männer heutzutage, mit ihren langen Zotteln – findet ihr Mädchen das wirklich schön?«

»Ach ja, dieser ganze Wirbel um die Beatles – so heißen sie doch, oder? Das musst du mir mal erklären! Ich finde das sooo faszinierend!«

»Ist euch in diesen Miniröcken nicht schrecklich kalt?«

Mittlerweile habe ich mehr Verständnis für dieses Verhalten, auch wenn ich mich selbst jungen Leuten nie derart hemmungslos an den Hals werfen würde.

Gestern habe ich mit Penny geredet, einer meiner besten Freundinnen, und ihr erzählt, dass wieder jemand aus meinem Freundeskreis gestorben ist: Philippa, die Frau von jenem Archie, für den ich als junges Mädchen so geschwärmt hatte. (Sie ist dieses Jahr schon die Vierte. Tatsächlich war ich seit Januar schon auf fünf Beerdigungen.) Und Penny sagte, dass ihr in den letzten achtzehn Monaten ganze sechs Freunde weggestorben seien.

»Und das Schlimmste ist«, klagte sie, »dass wir uns jetzt mit denen begnügen müssen, die noch übrig sind!«

»Außer wir ziehen uns ein paar junge Leute heran«, meinte ich.

»Was wir nicht tun werden!«

Nun ja, ich schon, muss ich zugeben – ein Eingeständnis, das sich ebenso sündig und gruselig ehrlich anfühlt, als würde man bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker aufstehen und laut zugeben, dass man dazugehört. Ich meine, wer bleibt denn übrig, wenn alle um einen herum umfallen wie die Fliegen? Je länger ich ausharre, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich am Ende das einzige vertrocknete Blatt bin, das noch am nackten Ast baumelt. Nein, da möchte man doch schon dafür sorgen, dass man in Gesellschaft einiger hübscher grüner Schösslinge ist.

Aber zurück zu dieser Dinnerparty. Marion und ihr Mann Tim wohnen in einem winzigen, altmodischen kleinen Häuschen in West-London. An den Wänden hängt immer noch die alte Laura-Ashley-Blümchentapete, die in den Sechzigern so beliebt war. Für mich gehören sie zu einer Gruppe von Bekannten, deren Wohnungen oder Häuser man unverändert in ein Museum verpflanzen möchte, wo sie als typische Beispiele für die Wohnkultur des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts neben elisabethanischen Salons und georgianischen Musikzimmern ausgestellt werden könnten.

Als ich das Zimmer betrat – und von einem Meer grauer Köpfe begrüßt wurde –, war mir sofort klar, dass ich in Schwierigkeiten steckte. Wenn man um Viertel nach acht eintrifft, kann man unmöglich vor elf Uhr gehen. Dinnerpartys können die reinste Gefängnisstrafe sein, allerdings ohne die Chance, wegen guter Führung früher entlassen zu werden.

Die Gesamtsituation wurde auch nicht besser, als eine weitere grauhaarige Dame eintraf, die ihre Handtasche schräg über ihrem Regenmantel an der rechten Hüfte trug, den Riemen über der linken Schulter. Offenbar hatte sie Angst vor einem möglichen Handtaschenraub. Unterstrichen wurde dieser allgemeine Eindruck altersbedingter Phobie und geistiger Verwirrung noch durch die Tatsache, dass ihre Brille an einer dieser Kettchen vor ihrer Brust baumelte. Ich finde, wenn man nicht mehr in der Lage ist, seine Brille zu finden, sollte man sie bitte schön die ganze Zeit aufbehalten. Oder, wenn nötig, hochschieben. Aber doch nicht anketten! Das wirkt so infantil wie diese Fäustlinge, die man Kleinkindern durch die Jackenärmel zieht, damit sie sie nicht verlieren.

Da ich früher Kunsterziehung unterrichtet habe, ein Beruf, der sich mit einiger Mühe in die Kategorie »sozial« einordnen lässt, hatten mir meine Gastgeber – sicher mit den besten Absichten – einen bärtigen Psychiater zu meiner Linken gesetzt. Ich gebe zu, ich bin nicht gerade scharf auf Psychiater. Diese nervtötende Gelassenheit, dieser salbungsvoll-einfühlsame Ton. Und sie schlagen nie die Beine übereinander oder verschränken die Arme. Offensichtlich haben sie Alexandertechnik und Ähnliches schon im Windelalter perfektioniert – wofür auch ihr penetrant sonorer Tonfall spricht. Und was Bärte anbelangt, habe ich auch so meine Probleme. Ich konnte im Lauf meines – langen – Lebens nämlich feststellen, dass Männer mit Bärten nicht einmal ansatzweise sexy sind. Das liegt nicht etwa daran, dass sie ein fliehendes Kinn unter dem Bart verstecken (das vielleicht auch), sondern vielmehr eine fliehende Männlichkeit. Finden Sie nicht auch, dass Männer mit Bärten oft richtig breite, feminine Hinterteile haben? (O Marie, was für ein hässlicher Gedanke, und das in deinem Alter!)

Dieser Bursche hatte zudem noch einen richtigen Schopf prächtiger weißer Haare. Es kann nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn ein Mann mit über sechzig noch so viele Haare hat. Er erinnerte mich an ein wolliges Schaf. Irgendwie weiblich.

Während wir uns also systematisch durch das Chili con carne arbeiteten – nicht nur Marions Haus scheint in einer Zeitschleife zu hängen, auch ihre Kochkunst –, würzte der Psychiater die Mahlzeit immer wieder mit Bemerkungen über Freud. Irgendwann meinte ich dann – ziemlich frostig, wie ich zugebe –, dass Freud meiner Ansicht nach ein schrecklicher Kerl gewesen sei, hatte er doch in einer seiner zahlreichen Inkarnationen seinen Patienten die Einnahme von Kokain empfohlen. Tatsächlich war er selbst zeitweise kokainsüchtig gewesen. Was für ein Heuchler, dieser Mann!

»Sind Sie sicher, dass Ihnen da nicht ein freudscher ›Verbrecher‹ entschlüpft ist?«, fragte der Psychiater salbungsvoll-gutmütig. Alle lachten, so wie es Engländer immer tun, wenn sie dadurch die Gelegenheit bekommen, ein Gespräch, das auch nur ansatzweise ernst oder gar unangenehm zu werden droht, wieder ins rechte Fahrwasser zu lenken.

Er freute sich über seinen eigenen Scherz auf diese herablassende Art, die typisch für seinen Berufsstand ist, und widmete sich wieder seinem Salat. Als ich sah, dass ein Stückchen Salat in seinen Bart hing, konnte ich mir eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen.

Ich fürchte, ich hatte ziemlich schlechte Laune. Die hatte ich schon bei meiner Ankunft. Und daran war nicht nur der Psychiater schuld. Nein, auch das monströse Blumengesteck, das die Gastgeberin mitten auf den Tisch gestellt hatte, flankiert von langen Kerzen, sodass es den Gästen auf der einen Seite des Tisches unmöglich war, die Gäste auf der anderen zu sehen. Es waren tropische Blumen, die Sorte, die aussieht wie Penisse und Vaginen – Neuzugänge auf der Floraszene und absolut grässlich. Es gelang mir mit einer verzweifelten Charme-Offensive und zahlreichen Entschuldigungen, die Gastgeberin dazu zu bewegen, das Monster zu entfernen (»Das Gesteck ist wunderschön, aber, Darling, ich will dich doch sehen, wenn ich mich mit dir unterhalte!«). Was jedoch die Kerzenleuchter betraf, da konnte ich schlecht auch noch meckern, und so blieb uns Gästen nichts anderes übrig, als uns den ganzen Abend lang die Hälse zu verrenken, wenn wir mit unserem Gegenüber reden wollten. Ich kam mir vor wie beim Dinner im Buckingham Palace.

O ja, ich war wirklich nicht bei bester Laune. Ich werde auf Dinnerpartys mit zunehmendem Alter zu einer scharfen Granate – in einem nichtsexuellen, negativen Sinn. In neun von zehn Fällen kann ich charmant und witzig sein, aber im zehnten fange ich an, Gift und Galle zu speien. Zum Beispiel wenn ich nach meinen Ansichten zum Thema Euthanasie und Abtreibung gefragt werde. Oder ob ich finde, dass Entwicklungshilfe Afrika mehr schade als nütze. Dann merke ich, wie die anderen Gäste unbehaglich auf ihren Stühlen hin und her rutschen und vor Verlegenheit einen roten Kopf bekommen. Ich habe gehört, dass diese Offenheit von einer Atrophie der Synapsen in den Stirnlappen des Gehirns kommt. Oder so ähnlich. Aber ich denke, es liegt einfach daran, dass man mit zunehmendem Alter diese unglaubliche, ja beinahe lächerliche Selbstsicherheit entwickelt. Diesmal brachte uns die Dame mit der angeleinten Brille auf das Reizthema. Sie meinte, sie wäre vor kurzem sechzig geworden und hätte nun ihren Freedom Pass erhalten, und wie herrlich es doch sei, die öffentlichen Verkehrsmittel von nun an ganz umsonst benutzen zu dürfen.

Ich sagte, ich würde in ein paar Monaten ebenfalls sechzig und könne es kaum noch erwarten.

»Ja«, erwiderte die Dame mit der angeketteten Brille in einem Ton, mit dem sie sich offenbar bei mir einschmeicheln wollte, »man ist immer nur so alt, wie man sich fühlt. Sechzig Jahre jung!«

»Ach was, das ist doch kein Alter!«, trompetete der Psychiater. »Da hat man doch praktisch sein ganzes Leben noch vor sich!«

»Ich muss Ihnen da entschieden widersprechen«, sagte ich. »Sechzig ist sechzig. Und sechzig ist alt. Ich freue mich darauf, alt zu sein, und ich will nicht, dass mir ständig gesagt wird, wie jung ich doch noch sei, obwohl ich es gar nicht bin. Ich will nicht mehr jung sein. Ich habe es satt, jung zu sein. Jung war ich in den Sechzigern, da habe ich, ob ihr’s glaubt oder nicht, sogar mit einem der Beatles geschlafen. Alles schon mal gemacht, alles da gewesen. T-Shirt mit passendem Spruch gekauft, abgetragen, in die Kleidersammlung der Seniorenhilfe gegeben. Als ich zwanzig war, waren Leute mit sechzig alt. Als ich dreißig war, vierzig und fünfzig, war man mit sechzig immer noch alt. Warum jetzt auf einmal die Ziellinie verschieben? Das ist doch Unsinn.«

»Ich bin sechzig«, sagte Marion, während sie lächelnd die Teller abräumte. (Ist Ihnen auch schon einmal aufgefallen, dass Männer nie reagieren, wenn die Teller abgeräumt werden? Der Psychiater, der sich ganz bestimmt etwas auf seine professionelle Sensibilität einbildete, saß dick und breit vor seinem leeren Teller und schien überhaupt nicht zu bemerken, dass größere Operationen im Gange waren, für die seine Mithilfe benötigt wurde.) »Aber ich fühle mich wie dreißig!«

»Aber Marion, merkst du denn gar nicht, wie erbärmlich das ist?«, rief ich. »Wenn ich mir vorstelle, mich ein ganzes Leben lang wie eine Dreißigjährige fühlen zu müssen. Gott, wie langweilig! Ein Alptraum! Ich sehne mich danach, sechzig sein zu dürfen! Und mich auch so zu fühlen! Und warum auch nicht? Was soll daran falsch sein?«

»Das Schöne am Alter ist«, meinte der Psychiater, dessen Frau sich schließlich erbarmt und seinen Teller eingesammelt hatte, »dass es nie zu spät ist. Man kann noch so vieles machen. Noch einmal studieren. Bungee-Jumping. Eine neue Sprache lernen …«

»Aber es ist sehr wohl zu spät!«, widersprach ich hitzig. »Das ist doch gerade das Schöne am Alter. Man muss nichts mehr studieren oder sich an einem Gummiband in die Tiefe stürzen! Gott sei Dank! Wie lange habe ich mich mit Schuldgefühlen herumgeschlagen, weil ich keine weitere Fremdsprache mehr gelernt habe. Aber jetzt, wo ich alt bin, brauche ich keine Gewissensbisse mehr zu haben. Aus und vorbei! Ich hätte ja gar nicht mehr genug Zeit, eine neue Sprache zu sprechen, bevor ich ins Grab sinke! Es wäre vollkommen sinnlos!«

»Also, ich bin der Meinung«, warf der Psychiater trotzig ein, »dass jetzt, wo ich fünfundsechzig bin, alles möglich ist.«

»Ganz im Gegenteil«, widersprach ich. »Vieles ist eben nicht mehr möglich. Ich denke«, fügte ich hinzu und legte milde lächelnd meine Hand auf seinen Arm, damit er glaubte, ich meine es nicht böse, »dass Sie den Tatsachen nicht ins Auge sehen wollen. Wie nennt man das in Ihren Kreisen? Verdrängung?«

Diesmal hatte ich die Lacher auf meiner Seite, aber es war ein billiger Triumph, und ich schämte mich sofort.

Bei der Heimfahrt tat mir der Psychiater richtig leid. Er hatte es sich auch nicht ausgesucht, neben einer alten Schachtel wie mir zu sitzen. Ich wurde auf einmal von Schuldgefühlen geplagt und wünschte, ich wäre nicht so gemein zu ihm gewesen. Der arme Mann hätte wahrscheinlich, genauso wie ich, viel lieber neben frischem, jungem Gemüse gesessen statt neben einer vertrockneten alten Pflaume wie mir.

11. Oktober

Fühlte mich beim Aufwachen ganz elend. Scheußlicher Gesichtsmuskelkater vom ständigen falschen Lächeln gestern. Mir war klar, dass es mindestens einen Tag dauern würde, bis das Gift vom Abend zuvor wieder abgebaut wäre.

Und obendrein sah ich auch noch ganz elend aus. Gestern hatte ich vor der Party noch einmal in den Spiegel geschaut und eine rassige Schönheit mit makellosem, olivenfarbenem Teint, hohen Wangenknochen und zartem Kussmündchen erblickt. Heute starrte mir Charles Laughton im Morgenmantel entgegen. Mein Gesicht sah aus wie Kuchenteig. Kleine Schweinsäuglein, faltiger, schmallippiger, blasser Mund, tiefe Falten in der Stirn. Gesamteindruck: aufgequollen. Abstoßend. Was geschieht bloß mit einem während der Nacht? Da kommt doch sicher jemand und – kassiert die Rechnung. Oder lag es etwa am Rioja? Nein, schuld ist der Psychiater. Hat mich wahrscheinlich – verständlicherweise – mit einem Fluch belegt.

Sprang rasch in die Wanne – nun, »sprang« ist übertrieben, »hievte mich ächzend« trifft es schon eher; und ja, ich habe da drin auch eine von diesen komischen Gummimatten mit Saugnäpfen liegen – und musste feststellen, dass außer meinem Gesicht nichts aufgequollen war – alles faltig wie eine Jalousie. Wenn ich mich jetzt anschaue, dann sehe ich die Arme meiner Großmutter, und auch meine Haut wird langsam so papierdünn und glänzend, wie die ihre war. Weil ich sie so mochte, machte mir der Anblick wenig aus. Aber ich bin erst neunundfünfzig. Bald sechzig. Und ich meine: wirklich bald. In drei Monaten. Da fragt man sich schon: Was wird noch alles kollabieren?

Selbst jetzt, wenn ich meine noblen zehn Minuten Yoga pro Tag absolviere, sehe ich, wie gewisse Hautpartien nur darauf warten, mir die Schenkel herunterzurutschen. Besonders deutlich wird das, wenn ich eine Kerze mache. Da sind überall so feine Äderchen an meinen Beinen – wahrscheinlich Vorboten von Krampfadern. Und von meinen Oberarmen hängt dieser Schwabbel. Auf den Handrücken habe ich braune Altersflecken. Wann sind die auf einmal aufgetaucht? Vor ein paar Jahren wahrscheinlich, als ich mich noch im seligen Glauben wiegte, um die dreißig zu sein (so viel zum Thema Verdrängung!). Und jetzt schreit mir mein ganzer Körper entgegen: Du bist alt, Marie! Alt! Aber das Seltsamste daran ist, dass es mir im Grunde überhaupt nichts ausmacht. Im Gegenteil, es ist ein schönes, tröstliches Gefühl, alt zu sein. Es ist passend.

Nun gut, meine Haut ist nicht mehr prall wie ein Pfirsich und hat auch nicht mehr diese zarten, daunenweichen Härchen. Aber es ist eine gute Haut, wie ein teures altes Ledersofa in einem Herrenklub in der Pall Mall.

Je älter ich werde, desto entschlossener bin ich, nicht so sehr wie eine ausgebombte alte Turnhalle auszusehen, sondern eher wie eine wunderschöne alte Klosterruine. Eine, wie Poussin sie malte oder dieser andere Maler, dessen Name auch mit P beginnt. Oder war es ein C?

Als ich aus der Wanne kletterte und nach dem Handtuch griff, musste ich an meine Kindheit denken und wie ich diese fantastische neue Art, mich abzutrocknen, entdeckt hatte.

Aufgeregt war ich zu meinem Vater gerannt. »Na, und wie machst du das?«, hatte er gefragt. Ich ergriff je eine Ecke des Handtuchs hinter meinem Rücken mit einer Hand und zog abwechselnd daran.

»Ist das nicht eine tolle Methode?«, hatte ich gefragt.

Mein Vater hatte nachsichtig gelächelt. »Ich weiß noch, als ich so alt war wie du, habe ich genau dieselbe Entdeckung gemacht.«

Das war das erste Mal, dass mir klarwurde, dass das, was ich für einen bahnbrechenden Gedanken hielt, schon unzählige Male von Menschen vor mir gedacht worden war. Und es kommt noch schlimmer: Oft habe ich Ideen, die ich für völlig neu halte, schon mehrmals in meinem Leben gehabt. Es ist so deprimierend, dieses »Und ewig grüßt das Murmeltier«-Leben, diese Tretmühle, aber gleichzeitig seltsam tröstlich und vertraut. Obwohl es natürlich auch schön wäre, wenigstens einmal im Leben einen völlig neuen, originellen Gedanken zu haben. Da fällt mir ein, dass mir erst vor kurzem bewusst wurde, dass man zwei Gefühle gleichzeitig haben kann. Dass man jemanden zugleich hassen und gernhaben, sich nach einer Zigarette sehnen und das Rauchen aufgeben wollen kann.

Als jemand, der das Leben eher schwarz-weiß sieht – starke Hass- und starke Liebesgefühle –, habe ich immer versucht, alles in eine Art Grau zu verwandeln. Aber der Trick besteht darin, genau das nicht zu tun. Man sollte beide Kontraste in sich bewahren, beides zugleich empfinden. Das Ergebnis ist ein viel vitalerer, erfrischenderer Ansatz. Ziemlich spät, so etwas zu entdecken, aber es hat die Beziehungen zu meinen Mitmenschen um einiges leichter gemacht. Und komischerweise auch viel gütiger.

Danach zog ich mich an. Kein leichtes Unterfangen. Ich glaube, ich habe früher auf einem Bein gestanden, während ich mir die Seidenstrümpfe überstreifte. Heutzutage muss ich mich aufs Bett setzen und wie ein Igel auf den Rücken rollen, wo ich mich mit zappelnden Beinen in die Strümpfe quäle.

20. Oktober

Meine neue Untermieterin ist da. Nun, eigentlich ist sie keine wirkliche Untermieterin, eher ein Hausgast. Michelle ist die Tochter von Pariser Freunden und sucht bei mir vorübergehend Unterschlupf, bis sie ein schickes Londoner Apartment gefunden hat. Sie ist wirklich reizend. Und so jung! Und blond! Sie ist erst neunzehn, aber französische Mädchen sind in der Regel viel naiver als englische. Ich denke, man könnte sie mit einem englischen Mädchen von sechzehn vergleichen. Sie hat ganz offensichtlich keine Ahnung, wie bildhübsch sie ist, obwohl sie sich sehr modisch kleidet. Es war ein grauer, regnerischer Tag, und sie stand in einer dreiviertellangen schwarzen Radlerhose und einem dünnen Baumwolltop vor mir, das einen ganzen Streifen Bauch frei ließ. Um sie herum standen fünf gigantische Koffer.

»’allo«, sagte sie. »Isch bin Michelle.«

Und das war’s im Großen und Ganzen mit ihren Sprachkenntnissen. Ach ja, »danke«, das konnte sie auch noch und gebrauchte es häufig. Sie schien sehr zufrieden zu sein mit ihrem Zimmer, obwohl es dunkelrot gestrichen und mit lauter Bücherregalen vollgestopft ist und im Schrank nicht mehr Platz ist als für drei Kleidungsstücke. Und nicht einmal die Kommode hat sie für sich, die Hälfte der Schubladen ist mit meinem Krimskrams belegt: Werkzeug, Schrauben, Bohrer und Sicherungen.

»Ist groß!«, sagte sie.

Nun ja, ich nehme an, das Zimmer ist tatsächlich relativ groß, wenn man es mit den Schuhschachteln vergleicht, mit denen sich ausländische Mädchen in London heutzutage abfinden müssen. Ich hielt ihr in meinem mangelhaften Französisch den üblichen Vortrag. Schärfte ihr ein, dass wir außer Bad und Küche nichts miteinander teilen würden, dass wir vollkommen separate Leben führen müssten, dass ihr lediglich die linke Hälfte des oberen Kühlschrankfachs zur Verfügung stünde und wir die Milch des anderen nicht anrühren dürften. Ach ja, und dass der Garten allein für mich reserviert sei.

Gott, ich komme mir immer so gemein vor, wenn ich diese Rede halte. Aber sie beruht auf langjähriger, leidvoller Erfahrung mit Untermietern. Vor vielen Jahren, als mein Sohn Jack zwei Jahre alt war, musste ich nach dem Aufstehen entdecken, dass er fröhlich mit einem Monster von Hund spielte. Als ich mich nach dem Besitzer umsah, fand ich ihn laut schnarchend im Bett mit meiner Untermieterin. Es war ein riesiger, tätowierter Kerl. Und außerdem standen drei brennende Kerzen um das Bett herum.

Aber später, als Michelle und ich zusammen im Wohnzimmer saßen, musste ich mich regelrecht dazu zwingen, ihr zu erklären, dass wir unter gar keinen Umständen zusammen kochen oder gemeinsame Mahlzeiten einnehmen würden. Und obwohl sie mich natürlich jederzeit fragen könne, wenn sie etwas nicht wusste, würde jeder sein eigenes Leben führen. Ich spürte nämlich deutlich, wie Muttergefühle in mir aufwallten, als hätte ich eine Art Droge genommen.

Später kam sie dann die Treppe heruntergeschlichen und blieb unschlüssig vor dem Zimmer stehen, in dem ich mich gerade mit diesem und jenem beschäftigte. Ich konnte förmlich riechen, wie sehr sie sich davor fürchtete, mich zu stören. Ich war gerade dabei, einen gesalzenen Brief an die Stadtverwaltung zu schreiben, um mich über die wachsenden Müllberge in unserem Viertel zu beschweren. Doch ich stellte das Tippen ein und rief sie zu mir herein. Sie wollte wissen, wo man hier einkaufen könnte. Sie sah derart hilflos und verletzlich aus, dass ich nicht anders konnte, als nach meiner Handtasche zu greifen und zu sagen: »Ich muss sowieso noch Küchenrolle besorgen. Komm, ich zeige dir, wo alles ist.« »Schätzchen«, fügte ich sogar noch hinzu.

Das ist auch so eine kuriose Alterserscheinung. Mehr und mehr ertappe ich mich dabei, dass ich Leute mit »Schätzchen« oder »Liebes« betitele und – noch seltsamer – es sogar ehrlich meine. Als ich jung war, wäre mir das nie im Traum eingefallen. »Schatz« und »Liebling« nannte ich damals nur die Männer, die ich liebte.

Wenn man jung ist, hat man im Grunde nur Beziehungen zu Gleichaltrigen oder Älteren. Man nimmt also die Rolle des Gleichen unter Gleichen ein oder die Rolle des Kindes. Aber je älter man wird, desto vielfältiger werden die Beziehungen. Bei Menschen um die achtzig fühle ich mich noch immer wie ein Kind. Bei Menschen meines Alters fühle ich mich als Gleiche unter Gleichen. Und bei jungen Leuten – ich empfinde das als Bonus – fühle ich mich wie eine Mutter oder eine mütterliche Freundin. Ich möchte sie beschützen, mich um sie kümmern. Und das sind schöne Gefühle, nachdem man den Großteil seines Lebens damit verbracht hat, sich zurückgesetzt, ungerecht behandelt oder zerrissen zu fühlen, wie es bei mir war.

»Pardon?«, fragte sie. Armes Mädel. Je schneller sie eine Bleibe bei fröhlichen jungen Menschen findet, statt bei einer verrückten alten Schachtel zu hausen, die ihren Mutterinstinkt nicht unter Kontrolle hat, desto besser. Alte Schachtel? Klingt gar nicht so schlecht, Marie. Ja, jetzt bin ich wirklich eine alte Schachtel. Wie befreiend.

6. Novenber

Ich überlege, ob ich nicht umziehen soll. Aber überlegen ist das eine, tun das andere. Penny, die aufgrund ihres Jobs in der PR-Branche schon eine Million Mal umgezogen ist, findet es »ungesund«, dass ich schon seit dreißig Jahren in ein und demselben Haus lebe. Schon komisch, dass es für die Herzöge von Westminster, oder wer auch immer in Blenheim Palace wohnt, scheinbar unbedenklich ist, seit Generationen im selben Schloss zu residieren. Aber dreißig Jahre Shepherd’s Bush sollen schädlich sein. Da fällt mir dieser Witz ein über diese Frau, die nach Northumberland zog und auf einer Party gefragt wurde, wie lange sie denn nun schon hier lebe. »Ach, seit fünfzehn Jahren. Und Sie?« Antwort: »Seit dem Mittelalter.«

Shepherd’s Bush ist mir jedenfalls ans Herz gewachsen. Andere mögen es für ein Scherbenviertel halten, aber ich liebe es, seit ich Kensington, wo ich geboren und aufgewachsen bin, aus finanziellen Gründen aufgeben musste. Früher war das meine spirituelle Heimat, aber mittlerweile bekomme ich Anfälle von Klaustrophobie, wenn ich dort zu Besuch bin – all diese reichen weißen Mittelschichtbürger. Ich komme mir dann vor wie in Bath oder Broadway in den Cotswolds. Tweed, Tweed, wohin das Auge blickt; ein Meer von Kordhosen, Berge handgeflochtener Körbe, Massen von tipptopp gepflegten Hunden. Fischhändler mit Namen Hugo. Und an jeder Ecke irgendwelche Mitglieder von Lesekreisen.

In meinem Teil von Shepherd’s Bush gibt es keine Weinbar, kein Bistro, kein Starbucks, keinen Bodyshop. Nur Wettbüros, zwielichtige Nagelstudios, westindische Take-aways und Mr. Minits, wo man Schlüssel nachmachen und seine Schuhe neu besohlen lassen kann. Und es gibt einen Laden, der die ganze ethnische Vielfalt dieses Viertels in seinem Titel trägt: »Bush Bagel Bar-Halal Pizza Takeaway«. Ist das nicht prächtig? Gleich daneben kommt ein finster wirkender Laden mit einer unglaublich hohen Theke, der sich schlicht und einfach »Money Shop« nennt. Auf der anderen Seite befindet sich die Empire Fish Bar und daneben die Bush Dental Clinic, mit »besonderen Einrichtungen für Nervöse«. Dann gibt es da noch einen grabbeligen Laden mit dem Titel »Women’s Clothes and Islamic Books« – Damenbekleidung und islamische Bücher? Dazwischen jedoch findet man jede Menge wunderbarer nahöstlicher Supermärkte, dazu die sogenannte »libanesische Metzgerei«, die die örtliche Moschee beliefert.

Wir haben sogar ein Delikatessengeschäft in Shepherd’s Bush, aber das wird von so wenigen Leuten frequentiert, dass der Käse immer eine ranzig angeschwitzte Schmierschicht aufweist. Ich hoffe, dass es mir nicht auch so geht, wenn ich noch älter werde. Nein, Shepherd’s Bush mag ja »ein außergewöhnlicher, lebendiger Mix verschiedener Ethnien sein« (ich zitiere aus einem meiner zahlreichen Leserbriefe an die Shepherd’s Bush Gazette), aber der Nachteil ist, dass die Gehsteige (alle geteert – für Steinplatten sind wir nicht fein genug) vor Kaugummis starren und an jeder Ecke »Hoodies« herumlungern, diese Jugendlichen mit ihren typischen Kapuzenpullis.

Shepherd’s Bush ist eines jener Viertel, die ewig »im Kommen« sind, es aber nie wirklich geschafft haben. Genau wie viele sogenannte »aufstrebende Autoren«. Wir sind zwar auch nicht »im Gehen«, aber man könnte sagen, dass wir nie angekommen sind.

Aber im Vergleich zu Brixton, wo mein Sohn Jack und seine Freundin Chrissie wohnen, ist Shepherd’s Bush direkt ein besseres Viertel. Nach allem, was ich so über Brixton gehört habe, traue ich mich kaum, dort noch irgendeinem Passanten in die Augen zu schauen. Jack meint, hier gebe es auch nicht mehr Verrückte und Banditen als anderswo, aber er redet sich leicht. Er hat Psychologie studiert und weiß alles über Körpersprache. Penny hat mir neulich erzählt, dass es in Süd-London seit neuestem eine Gang gibt, die nachts mit ausgeschalteten Scheinwerfern durchs Viertel kurvt. Und dem ersten Fahrer, der sie mit einem freundlichen Scheinwerferblinken auf ihr Versehen aufmerksam macht, jagen sie nach und bringen ihn um. Als eine Art Initiationsritual. Klingt wie ein urbaner Mythos, aber Penny hat bei der Polizei nachgefragt, und es stimmt tatsächlich.

8. November

Heute Abend war Penny bei mir zum Essen, und über Seebarbe und einem deliziösen portugiesischen Weißwein – nur neun Prozent! – haben wir uns über unsere Ärzte unterhalten. Wir sind beide schreckliche Hypochonder, und ich pflege Penny zu beruhigen, wenn sie sich einbildet, an Knochenkrebs erkrankt zu sein. Sie wiederum beruhigt mich, wenn ich wieder einmal fest davon überzeugt bin, Speiseröhrenkrebs zu haben. Meine Angst rührt daher, dass ich schon immer gern ein Gläschen getrunken habe und mir selbst jetzt noch jeden Abend eine gute halbe Flasche Weißwein gönne. Mindestens. Ich fürchte, jemand, der den Alkoholgehalt des Weins kennt, den er gerade trinkt, erahnt am Horizont schon die Umrisse der Entzugsklinik.

Solange man jung ist, kann man trinken, was das Zeug hält. Aber je älter man wird, das habe ich zu meinem Schrecken in einem Artikel in der Daily Mail gelesen, desto mehr greift die Säure des Alkohols die Speiseröhre an. So kann sich nicht mehr genug Speichel sammeln und die Röhre feucht halten, die austrocknet und zu einem idealen Brutplatz für Krebsbakterien, Sporen oder was auch immer wird.

Ich erzählte Penny, dass ich am nächsten Tag einen Termin bei einem Facharzt hätte, um meine Füße untersuchen zu lassen. Meine Füße sind der reinste Alptraum – trocken und rissig. (Ich glaube »knorrig« ist das richtige Wort. Knorrige Füße.) »Ist es schon so weit gekommen?«, erkundigte sich Penny. »So weit gekommen«: Das ist ein Ausdruck, den ich in Zukunft wohl noch oft zu hören bekommen werde.

Aber das eigentliche Problem mit meinen Füßen ist dieser Riesenknubbel, den ich am Fußballen habe und der sich entzündet hat. Ein Erbstück meiner Mutter. Mein Podologe meint, wenn der Knubbel erst einmal weg sei, würden auch die Schmerzen verschwinden. Podologen hat es zu meiner Zeit noch gar nicht gegeben. Gott, was hat mir der Mann bereits Geld abgeknöpft für Spezialschuhe, Einlagen, Stützen und anderes.

Was er nicht schon alles versucht hat: Er hat mir einen Katalog mit Spezialschuhen gegeben, die ich allesamt nicht einmal im Traum anziehen würde. Die meisten davon sind »steingrau« und werden von strahlenden jungen Modellen vorgeführt, die solche Schuhe privat nicht einmal mit vorgehaltener Pistole anziehen würden. Im wahren Leben werden solche Schuhe hauptsächlich von einer bestimmten Sorte Frau getragen, die sich gern in Reparaturwerkstätten herumtreibt. Frauen mit dick geschwollenen Fußgelenken und rot entzündeten Knien, die in blitzsauberen beigen Hosen stecken. Frauen mit männlich kurzem Drahthaarschnitt.

Penny plagt sich derzeit mit den Wechseljahren herum. Sie macht eine Hormonersatztherapie und ist ständig damit beschäftigt, die richtige Balance zwischen Östrogen und Progesteron zu finden. Sie ist überzeugt, dass ein Zuviel vom einen (oder anderen) Panikattacken bei ihr auslöst. Ich habe die ganzen Hormone zum Glück schon vor drei Monaten abgesetzt, und ich muss sagen, ich merke nicht den geringsten Unterschied. Es geht mir eher besser als schlechter. Ich sehe besser aus und fühle mich auch besser. Ich kann inzwischen genau sehen, wann eine Frau auf HET ist – sie sehen alle wie aufgepolstert aus, mit gewaltigem Busen.

Ich weiß nicht, ob ich überhaupt viel von Hormongaben halte. Ich habe früher einmal in einer Mädchenschule unterrichtet und in dieser Zeit gehört, dass Frauen dazu neigen, gemeinsam zu menstruieren, wenn sie zu dicht aufeinanderhocken. Ich erinnere mich noch, dass ich im Lift jedes Mal die Luft anhielt, wenn andere Frauen zustiegen, falls es meinem Zyklus einfallen sollte, sich zu synchronisieren. Der Gedanke, wir könnten alle zur selben Zeit munter vor uns hin bluten, war mir unerträglich.

Was für ein Segen, das alles endlich los zu sein! Es ging mir nicht ums Bluten, das war schon in Ordnung, sondern um das allmonatliche Notieren im Kalender, das mir schrecklich auf die Nerven ging. Ich weiß noch, dass ich etwa eine Woche bevor eine Periode fällig war, warnend in mein Tagebuch schrieb: »Achtung, Stimmungswechsel möglich«, um mich daran zu erinnern, dass meine Gefühle in dieser Zeit mit Vorsicht zu genießen waren. Ich finde die Vorstellung schrecklich, dass Schwankungen im Hormonspiegel die ganze Persönlichkeit beeinflussen können. Aber das ist jetzt aus und vorbei, hoho! Als ich jung war, haben wir es immer »den roten Fluch« genannt, doch leider ist diese treffende Bezeichnung der politischen Korrektheit zum Opfer gefallen. Und nicht nur diese, auch andere essenzielle Vokabeln, wie »Krüppel«, »Spasti«, »Neger«, »alte Fregatte«, einige davon auf mich zutreffend.

»Benutzt du eigentlich Zahnseide?«, fragte ich Penny, als sie schon im Aufbruch war.

»Nein, eher selten. Wieso?« »Weil ich auf einmal diese riesigen Lücken zwischen den Zähnen habe. Mein Mund sieht aus wie der Zinnenkranz eines mittelalterlichen Burgturms.«

»Das liegt daran, dass dein Zahnfleisch zurückgegangen ist«, erklärte Penny. »Das ist nun mal so, wenn man älter wird.«

»O Gott. Das Problem ist, sobald ich Zahnseide benutze, spüre ich nicht nur sämtliche Plomben wackeln, mein Zahnfleisch fängt außerdem an zu bluten. Du kennst nicht zufällig einen guten Zahnarzt?«

»Doch«, sagte Penny und wühlte in ihrer Handtasche herum, »sogar einen sehr guten. War letzte Woche dort …«

Ein paar Fotos flatterten versehentlich aus ihrer Tasche. Ich hob eins davon auf. Da stand ein Mann in lederner Motorradkluft neben einem riesigen Motorrad. »Ein Freund von dir?«, fragte ich scherzhaft, während ich ihr das Foto zurückgab.

»Äh, ach nein«, sagte Penny höchst verlegen und stopfte das Foto hastig in ihre Tasche zurück. »Ich muss sausen. War ein schöner Abend. Tschüsschen.«

Später

Irgendwie ging mir die Sache mit dem Foto nicht mehr aus dem Kopf. Ob das Pennys illegitimer Sohn war? Aber soweit mir bekannt ist, hat sie keinen. Sie hat nur Lisa, ihre missratene, dreiunddreißigjährige Tochter, die, zum großen Kummer ihrer Mutter, von Sozialhilfe lebt und deren biologische Uhr so laut tickt, dass man sie von Herefordshire, wo sie wohnt, bis hierher hört.

Doch dann fiel der Groschen. Oder besser gesagt: der Penny. Es konnte nur eins sein: ein Mann von Dating Direct. Penny hatte mir erzählt, dass sie überlegt, sich dort anzumelden, aber ich hätte nie gedacht, dass sie es tatsächlich tun würde. Ich rannte nach oben zu meinem Computer und rief eilig die entsprechende Website auf. Es dauerte gar nicht lange, und ich hatte sie gefunden. Gott, war ich baff. Da war ein Bild von ihr. Das musste aus einer Zeit stammen, bevor wir uns kannten – sie sah aus wie fünfzehn –, und daneben standen die Worte: »Fröhlich, intelligent, gute Figur. Hobbys: Lesen, Spazierengehen und Singen. Vegetarierin, isst aber Fisch. Sucht gleichgesinnten Nichtraucher. Alter: 48.«

Achtundvierzig! Mir klappte der Unterkiefer herunter. Sie ist doch nur ein kleines bisschen jünger als ich! Aber ich durfte nichts sagen, das wäre zu peinlich für sie gewesen.

Ich selbst habe mich noch nie in eine dieser Internet-Partnervermittlungen verirrt. Allerdings muss ich zugeben, dass ich gelegentlich in den Kontaktanzeigen der Zeitungen gewildert habe. Da klingen die Männer auch meist ganz ansprechend, aber sobald man sie dann über Chiffre anruft und den – offensichtlich wohl einstudierten – Text anhört, kommt einem das Grausen.

»Hallo!«, leiert da eine feiste Stimme in gespielter Munterkeit von einem verschwitzten Manuskript herunter, »ich bin fünfundsechzig Jahre jung, habe einen ausgeprägten Sinn für Humor und noch ein bisschen Abenteuerlust in mir!« (Gekünsteltes anzügliches Glucksen.) »Ich bin, wie mir all meine weiblichen Bekannten versichern, trotz Halbglatze und kleinem Schmerbauch noch recht präsentabel!« (Weiteres Glucksen.) »Aber das musst du entscheiden! Ich gehe gern ins Theater; Wandern und Spazierengehen mag ich sehr, und ich liebe romantische Abende zu zweit, bei einem guten Essen und einer schönen Flasche Vino. Ich höre gern Musik und gehe zwei- bis dreimal pro Woche ins Fitnessstudio. Ich habe zwei Hunde – falls du also keine Tiere magst, bist du nicht die Richtige für mich! Ich bin äußerst umweltbewusst. Mein idealer Tag würde folgendermaßen aussehen: ein flotter Morgenspaziergang, gefolgt vom Einkehrschwung in ein malerisches Country Pub. Dort etwas Hübsches essen, ein gutes Tröpfchen, dabei Leib und Seele baumeln lassen! Danach vielleicht ins Kino, einen guten Film anschauen oder ein anregendes Gespräch über ein Buch, das wir beide gelesen haben. Ich weiß, du bist irgendwo da draußen! Aber wie immer du dich entscheidest, ich wünsche dir alles Glück der Welt bei der Suche nach deinem Traummann!«

Natürlich kann ich mich kaum halten vor Lachen, während ich gemütlich zu Hause sitze und mir diesen Unsinn anhöre. Geht dreimal pro Woche ins Fitnessstudio? Hat er nichts Besseres zu tun? Was das »anregende Gespräch« über Bücher betrifft: Vergiss es! Es gibt nur zwei Arten, etwas über ein Buch zu sagen. Nummer eins: »Brillant! Umwerfend! Musst du unbedingt lesen!« Nummer zwei: »Absoluter Müll. Lass die Finger davon.« Was die »romantischen Abende zu zweit« betrifft: ein-, zweimal ausgehen, dann wird vor dem Fernseher gehockt, Pizza gegessen und Bier getrunken. Sehr romantisch.

Ich weiß, ich bin eine gemeine alte Kuh. Das Schreckliche ist, dass diese alten Burschen, trotz aller abscheulichen Angewohnheiten, manchmal wirklich sehr süß klingen. Aber Gott bewahre mich vor ASFH und EHUZ (Ausgezeichneter Sinn Für Humor, Eigenes Haar Und Zähne)! Himmel!

Ich bin im Grunde erstaunt, wie viele meiner weiblichen Bekannten es schaffen, in harmonischen Beziehungen mit Männern zu leben. In harmonischen sexuellen Beziehungen. Bei mir waren Beziehungen immer fürchterlich komplizierte Angelegenheiten, als würde man versuchen, den Videorecorder im Voraus zu programmieren, um einen Film aufzunehmen: Das endet doch immer nur in Tränen. Ich denke, ich sollte Männer auf die lange Liste der Dinge setzen, die ich nie meistern werde, so wie den Aktienmarkt, die Geschichte Chinas, die Struktur der Europäischen Union und Stepptanzen. Ich denke ernsthaft darüber nach, es einfach aufzugeben – das mit den Männern. Obwohl, das mit dem Stepptanzen wohl auch.

Pouncer, mein Kater, strich mir um die Beine und riss mich aus diesen tiefschürfenden Gedanken. Ich entfernte sorgfältig sämtliche Gräten aus den Überresten der Seebarbe und hielt ihm ein paar Bröckchen hin. Er schnüffelte kurz daran und schaute dann mit einem so zornig-verletzten Ausdruck zu mir auf, als hätte ich ihm Arsen angeboten. Katzen sind schwer zu verstehen. Seebarbe kostet immerhin acht Pfund das Pfund. Gottchen, müssen wir jetzt nicht mit diesen Gramm-Dingern rechnen? Also, das gehört definitiv auch auf die Liste der von mir auf meine »alten Tage« nicht mehr zu meisternden Dinge: Gramm-Dinger und metrische Maßeinheiten.

9. November

Heute Vormittag habe ich mal bei Michelle angeklopft, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist.

»Isch bin gut«, sagte sie, den Blick starr geradeaus gerichtet. Sie lag auf dem Bett und hatte eine Art Bettjäckchen an, das nur aus orangefarbenen Federn zu bestehen schien, dazu eine Pyjamahose. Sie schaute Frühstücksfernsehen. Ich fragte sie, ob sie sich denn schon nach einer anderen Wohnung umgesehen hätte. »Non, kein bisschen«, antwortete sie. »Isch mag hier. Sie sind wie mein Mamá.«

Da ihre Mamá, soweit ich mich erinnere, eine gertenschlanke, hinreißende Blondine ist, die aussieht wie eine Neunzehnjährige, sich am liebsten von Kopf bis Fuß in Leder kleidet und Visitenkarten bei sich trägt, auf denen – auf Französisch – steht: »Marie Fontaine: Lebenskünstlerin. Spezialgebiete: Shopping und Partys!«, wusste ich nicht so recht, was ich mit diesem Kompliment anfangen sollte. Wenn es denn eines war.

Ich dagegen bin der No-Nonsens-Typ, voll stiller Würde, der mit einem leisen Ächzen Tag für Tag die harte protestantische Arbeitsethik schultert. Ich achte buchstäblich auf jeden Penny. Ich bin der geborene Geizhals, ich werfe keinen Faden, keine Schnur weg, wickle alles sorgfältig für späteren Gebrauch auf und bügle benutztes Geschenkpapier, um es noch einmal zu verwenden. Und wenn meine Seidenstrümpfe eine Laufmasche haben, schneide ich das kaputte Bein ab und ziehe das unversehrte später mit einer ebenso beschnittenen Strumpfhose an, um auch ja das letzte bisschen Nutzen aus den Strümpfen herauszuquetschen! »Unmöglich! Das machst du nicht im Ernst!«, hat Penny ungläubig ausgerufen, als ich es ihr erzählte. »Doch, mach ich!« Ich mag ja ein wildes Kind der Sechziger sein, das immer noch eine Schwäche für tolle Klamotten von Whistles und agnès b. hat. Aber ich bin darüber hinaus leider auch ein asketisches Nachkriegskind. Verrückte Kombination, ich weiß.

Ich hoffe, Michelle fackelt mir nicht das Haus ab, während ich weg bin. Ich fahre nämlich übers Wochenende zu meiner guten Freundin Lucy.

10. November

Bin schon um sechs aufgestanden und habe den ganzen Vormittag lang überall gelbe Haftzettelchen verteilt, damit Michelle auch ja nichts vergisst. »Hast du auch zweimal abgesperrt? «, steht auf einem Zettelchen an der Haustür. »Vergiss nicht, Pouncer zu füttern!!«, klebt an ihrer Zimmertür. Eine Spur von Haftzettelchen mit Pfeilen drauf führt durch die Diele in mein Wohnzimmer bis zum Fenster, daneben die Anweisung: »Abends bitte immer die Jalousien runterlassen!« Auf dem Gasherd prangt die gelbe Warnung: »Vor dem Zubettgehen immer kontrollieren, ob auch alles Gas abgedreht ist!« Auf dem Boden, neben Pouncers Wassernapf: »Muss immer gefüllt sein!«

Und auf dem Küchentisch liegt ein DIN-A4-Zettel mit sämtlichen Telefonnummern, die Michelle möglicherweise brauchen könnte: Hughies und James’ Nummer (mein Ex-Halbschwager), Pennys, meine Handynummer, die Nummer von Lucy auf dem Lande, die Nummer des Tierarztes, die Nummer des Veterinär-Notdienstes … dazu noch andere wichtige Informationen, zum Beispiel, wo der Schalter der Alarmanlage ist, wo man anrufen muss, wenn sie versehentlich losgeht, wo sich der Sicherungskasten befindet … Das Haus sieht aus, als hätte ich es für eine ausgiebige Schnitzeljagd vorbereitet.

Bin gegen Mittag dann, völlig erschöpft, losgekommen. Musste erst noch alles bügeln, einpacken, wieder auspacken, wieder einpacken, mir den Kopf darüber zerbrechen, ob eine Flasche Sekt als Mitbringsel reicht oder nicht doch lieber zwei Flaschen? Oder wäre das angeberisch?

Bin schließlich losgefahren und habe mir überlegt, auf dem Weg noch beim Grab meines Vaters vorbeizuschauen. Er ruht auf einem hübschen kleinen Dorffriedhof.

Immer wenn ich den Leuten erzähle, ich hätte das Grab meines Vaters besucht, werden sie sehr ernst und kummervoll und behaupten, das wäre »tapfer« von mir, oder fragen, ob es »mich nicht zu sehr belaste« oder sonstige Klischees. Aber wenn ich ihn besuche, dann denke ich nicht nur daran, wie sehr ich ihn vermisse, ich denke außerdem, wie dankbar ich ihm doch bin, dass er sich gewissermaßen »rechtzeitig« verabschiedet hat. Er ist mit siebzig gestorben, aber ich kenne einen Mann, der ist fünfundsiebzig und besucht tatsächlich noch immer seine uralte, verhutzelte, verwirrte Mutter. Gott, was für eine Belastung das sein muss, sich mit arthritischen Knien die Stufen zum Pflegeheim hinaufzuschleppen, um eine lebende Leiche zu besuchen, die einen sowieso nicht mehr erkennt. Was für ein Leben. Oder besser gesagt, was für ein schrecklich langsamer Tod.

Meine Eltern sind beide tot, sind glücklicherweise der Generation, »die nicht sterben darf«, entkommen. Ich selbst hoffe den Ärzten ebenfalls irgendwann, mit viel Mut und Tücke, von der Schippe zu springen. So traurig es auch sein mag, dass sie tot sind, ich denke, man wird nie richtig man selber, solange die Eltern noch leben. Denn dann ist man immer noch irgendjemandes »Kind«.

Als mein Vater starb, war ich sehr traurig, aber ich fühlte mich auch wie ein Pflänzchen, das versucht hat, neben einem riesigen, üppig wuchernden Rhododendronbusch zu überleben, einem Busch, der Jahr für Jahr so herrliche Blüten trieb, dessen Blätter so dick und grün und glänzend waren, dass für mich kaum Platz zum Atmen blieb.

Deshalb habe ich mich bei seiner Beerdigung in Wahrheit bei ihm bedankt. Er fehlt mir erst wirklich, wenn ich überlege, wie sehr er gelacht hätte, wenn er das gehört hätte.

Lucy wohnt in einem Cottage auf dem Lande. Sie ist ein nachdenklicher, einfühlsamer, humorvoller und ausgesprochen mitfühlender Mensch. Sie leitet eine Wohltätigkeitsorganisation für Asylsuchende und verbringt, soweit ich dies beurteilen kann, ihre ganze Zeit damit, irgendwelche armen Rumänen zu besuchen (oder heißen die nicht »Roma«?), die in schrecklichen Unterkünften hausen müssen, und hilft ihnen beim Ausfüllen irgendwelcher Formulare, damit sie von dort weg können. Oder sammelt Spenden. Oder organisiert Protestkundgebungen für ihre Rechte.

Nun, jedenfalls erzählte mir Lucy während des Wochenendes, dass sie der britische Staat zum MBE, zum Member of the British Empire, ernennen wolle – mit Orden und allem. Leider nimmt der MBE nur die unterste Stufe im Ordensranking ein; sie würde sich also nicht künftig »Dame Lucy« nennen dürfen, denn die Knighthood, den Ritterschlag, bekam man nur zusammen mit dem OBE, dem Order of the British Empire. Aber als ich sie fragte, wie sie diese – nicht zu verachtende – Auszeichnung zu feiern gedenke, sagte sie zu meinem blanken Entsetzen, sie würde nur »runter nach London fahren, das Dings abholen, irgendwo eine Pizza essen und wieder heimfahren«.

Ich konnte es nicht fassen. »Aber das muss doch gefeiert werden!«, rief ich. Ich feiere schrecklich gern, bin das reinste Partyhäschen. Jeder Vorwand ist willkommen. »Ich werde eine Party für dich geben!«

14. November

Jetzt, wo ich Einladungen an wildfremde Menschen schreibe – Lucy hat mir eine Gästeliste mitgegeben –, wird mir allmählich schwummrig. Schlimm genug, selbst eine Party zu geben, aber für jemand anderen? Da muss alles perfekt sein. War das, wie mein Vater zu sagen pflegte, auch klug von mir?

18. November

Als ich heute früh herunterkam, saß Maciej, meine polnische Putzfee, heulend am Küchentisch. Wie sich herausstellte, ist seine schwangere Freundin mit seinem besten Freund durchgebrannt. Ich habe Maciej wirklich ins Herz geschlossen. Er hat so feine Gesichtszüge wie Chopin und herrliche lange Haare, die er zu einem Pferdeschwanz zusammenbindet – der einzige Mann, den ich kenne, dem das wirklich steht. Und mit dem Staubsauger ist er der reinste Zauberer. Natürlich hat er daheim in Polen Biochemie oder Gehirnchirurgie oder so etwas studiert und muss nun, da er keine Anstellung findet, anderer Leute Dreck wegputzen.

Ich legte den Arm um ihn, drückte ihn an mich, machte ihm eine Tasse Tee und hörte mir die ganze leidige Geschichte an, während er eine Zigarette rauchte. Aber als Michelle auftauchte, riss er sich rasch am Riemen und begann den Lappen zu schwingen.

1. Dezember

Penny half mir beim Einkaufen für die Party, was ich sehr nett von ihr fand. Denn sie selbst kann gar nicht kommen. Sie muss zu ihrer Tochter, Lisa, die versucht, sich von einer gescheiterten Beziehung zu erholen.

»Männer!«, schnaubte Penny in der Gefriergutabteilung von Marks and Spencer, wo wir hofften, tausend tiefgefrorene Würstchen im Schlafrock für einen Zehner zu finden. Aber alles, was wir fanden, war eine Packung mit vierzehn »indischen Cocktailsnacks« für eine Million Pfund.

»Wir brauchen ungefähr hundert davon«, sagte ich. »Viel zu teuer.«

»Dann bleibt uns nur noch eins: Wir müssen zu Iceland.« »Müssen wir wohl«, bestätigte ich bekümmert. »Was soll’s. Männer! Arme Lisa. Ich selbst habe vor, Männer komplett zu streichen.«

»Wüsste nicht, dass du welche hättest, die du streichen könntest«, sagte Penny. »Na jedenfalls, dieser Freund von Lisa, der war so richtig nett! Und dann kommt er daher und sagt, eine ernste Beziehung würde ihn überfordern, und schwupps! lässt er sie fallen wie eine heiße Kartoffel! Und wann kriege ich endlich Enkel?«

»Tja, ich habe Jack neulich gefragt, wann ich denn nun das Tapsen kleiner Füßchen zu hören bekommen würde. Er hat ein bisschen gereizt geantwortet, wenn ich das Tapsen kleiner Füßchen hören will, soll ich mir einen Hund zulegen. Dann könnte ich gleich vier kleine Füßchen tapsen hören!«

Penny meinte: »Ich hab immer zu Lisa gesagt, warte, bis du verheiratet bist, bevor du schwanger wirst! Und dann: ›Warte, bis du eine feste Beziehung hast.‹ Jetzt sage ich: ›Schätzchen, wirf die Pille weg und schlaf mit dem Nächstbesten, aber schenk mir bitte Enkelkinder!‹«

2. Dezember

Es war ein eiskalter Tag, aber ich schleppte mich trotzdem in die Harley Street zum Fußdoktor. Ein netter Bursche – keiner von diesen piekfeinen Ärzten mit Fliege am blütenweißen Hemd und arrogantem Näseln in der Stimme. Er sprach den Londoner Cockney-Dialekt und hatte eine handfeste Art, eher wie ein Bauarbeiter als ein Arzt.

»Maaann, Lady, da ham Sie ja ’nen richtigen Oschi dran«, sagte er und bewunderte meinen Fuß mit der angeekelten Faszination eines Gärtners, der einen besonders üppigen Blattlausbefall entdeckt hat. Und es stimmt: Es ist in der Tat ein richtiger »Oschi«, ein riesiger, rot entzündeter Knubbel. Ich passe in keinen Schuh mehr hinein. Das heißt, in keinen, der nicht »Birkenstock« heißt. Nicht dass ich mir die unbequeme Sorte kaufen wollte, aber es wäre schon nett, wenn man ab und zu in einen hübschen Emma Hope oder Jimmy Choo schlüpfen könnte, ohne gleich vor Schmerz schreien zu müssen.

»Der ist vererbt, wissen Sie?«, sagte er, während er eifrig etwas in ein Notizbuch kritzelte. »Wer hat’s sonst noch in Ihrer Familie?«

»Alle«, gestand ich, nicht ohne Stolz. »Und alle solche Oschis wie den hier. Ist bekannt unter dem Namen ›Sharp-Beule‹. Meine Mutter, die auch eine hatte, hat mich von klein auf in Gesundheitsschuhe gesteckt und mich ständig zum Fußröntgen ins Schuhgeschäft geschickt. Das war, bevor man merkte, dass diese Teufelsapparate die ganze Kundschaft verstrahlten. Sie hat mich sogar zu Dr. Scholl geschleppt und mich gezwungen, drei Jahre lang Fußstützen zu tragen. Aber es hat nichts geholfen.«

Der Fußdoktor stieß ein verächtliches Schnauben aus. »’türlich nicht«, sagte er. »Also, wann wollen Sie kommen?«

»Moment mal, nicht so schnell!« Ich fühlte mich ziemlich überrumpelt. »Was käme da auf mich zu?«

Wie sich herausstellte, muss man heutzutage nicht sechs Wochen lang im Gips liegen, puh! Alles geschieht ganz rasch, bei örtlicher Betäubung. Dann muss man ein, zwei Wochen lang ein Paar ganz komische Schuhe tragen, dann sechs Wochen lang ein Paar weniger komische und dann – »Manolo Blasig, ich komme!«, unterbrach ich ihn triumphierend.

»Blahnik«, korrigierte er mich. »Und es tut nicht weh. Nach zwei Stunden können Sie schon wieder laufen.«

»Schon überredet«, sagte ich.

Wir haben es auf den Januar gelegt.

Ach du liebes bisschen. War das klug?

3. Dezember

Der große Tag. Die Party. Es war ein trüber Donnerstagnachmittag, und ich hatte sämtliche Wohnzimmersessel an die Wände geschoben und einen künstlich blumigen Raumduft versprüht, den mir einmal jemand in grauer Vorzeit zu Weihnachten geschenkt hatte. Der Salamiaufschnitt lag, hübsch arrangiert, auf einer Platte im Wohnzimmer; die Chips waren in Schüsseln verteilt, und auch die Cracker mit Crème fraîche und Kaviar hatten ihren Platz gefunden. Der Sekt kühlte im Kühlschrank, überall frische Blumen, die Gläser auf Hochglanz gebracht. Und tausend Würstchen im Schlafrock brutzelten in dieser Sekunde im Backofen vor sich hin.

Das Gläserpolieren gewinnt mit zunehmendem Alter immer mehr an Bedeutung. Jacks Patenonkel, der inzwischen verstorben ist, wohnte mit seiner Frau in einem grässlichen Bungalow in einer privaten Wohnanlage unweit der Themse. Uns graute deshalb vor den Besuchen, weil es dort, je älter sie wurden, immer schmutziger aussah: überall Katzenhaare, sämtliche Oberflächen staubig und klebrig. Und dann diese dreckigen Gläser! Und nicht nur das: Sie benutzten als Ersatz für Eiswürfel diese bunten Plastikkugeln, in deren Einkerbungen die graue Schmiere hauste.

Als Folge davon achte ich ganz besonders auf meine Gläser. Hughie sagt, je älter man wird, desto mehr muss man auf Sauberkeit achten. Zweimal pro Tag das Hemd wechseln ist seine Devise. Und die Krawatte stündlich nach Flecken absuchen. Der Hosenboden muss ebenfalls überwacht werden, falls man sich in irgendwas gesetzt hat, und die Schuhe müssen jeden Morgen geputzt werden.

Als ich mich in meinem Wohnzimmer umblickte, verspürte ich diese gewisse, typische Vorfreude. Ich schloss die Fensterläden, machte das Licht an und legte einen dezenten Pianoboogie auf. Dann setzte ich mich hin und rang mit meinem Gefühlswirrwarr: einerseits gespannte Vorfreude, andererseits das kalte Grausen. Wie, zum Teufel, war ich bloß auf die Schnapsidee gekommen, diese Party zu geben? Ich kannte niemanden von den Gästen, alle würden denken, die arme Frau, hat sie keine Freunde? Und mir bliebe nur die Rolle des Dienstmädchens: Häppchen servieren, nachschenken et cetera. Zum Glück hatte Hughie versprochen zu kommen und mir mit den Getränken zu helfen.

Das Telefon hörte gar nicht mehr auf zu klingeln. Eine Person fragte nervös: »Ist es auch ganz bestimmt ungefährlich, in Ihrem Viertel zu parken?« Typisches Landei.

Im Kamin flackerte das künstliche Feuer vor sich hin. Auf dem Kaminsims stand in einem Silberrahmen ein Foto von Jack und Chrissie. Chrissie sah umwerfend aus wie immer, mit langen blonden Haaren und einem beinahe lasziven Gesichtsausdruck. Jack wirkte blass und angespannt; er rauchte, und seine Augen waren albinorot vom Blitzlicht. Er trug – Wunder über Wunder! – einen Anzug. Das Foto war vor einem Jahr aufgenommen worden, beim Leichenschmaus für seine Großmutter in Irland. Es war ein kalter, grauer Tag gewesen, den wir mit viel Sekt, Gelächter und Erinnerungen an ihr koboldhaftes Irischsein, ihre Verrücktheit gefeiert hatten.

Einmal hatte ich bei ihr in Kensington vorbeigeschaut, und da hing ein aus einer alten Cornflakesschachtel herausgerissenes Pappschild im Fenster, auf dem stand: »Wer hat die Eule im Avondale Park umgebracht? Mord! Mord! Ich weiß, wer die Eule getötet hat!« Als ich klopfte, rief sie: »Wer da?« Und als ich sagte, dass ich es sei, brüllte sie: »Verschwinde, du dreckiger Dieb!«

Schon wieder klingelte das Telefon. »Was sollen wir anziehen? « Ein bisschen spät, mich das zu fragen, dachte ich. Ich selbst trug einen hübschen, grün-orange getupften Rock von Hobbs, ein schwarzes T-Shirt vom Shepherd’s Bush Market und eine fette Tonbrosche, die meine Mutter fabriziert hatte. Ich fand, ich sah smart und ein wenig wunderlich aus. Tolle Mischung.

Draußen auf der Straße brüllte jemand »Fuck off!« in ein Handy. Jedenfalls glaube ich, dass er es in ein Handy brüllte. Keine Antwort. Ein Hund fing an zu bellen und ein Säugling zu weinen. »Verfickte Schlampe!«, brüllte jemand anders. »Wer is hier ne verfickte Schlampe?« Die sich streitenden Stimmen entfernten sich allmählich. »Du hast gesagt …« »Hab ich nich …« »Scheißdreck, natürlich haste …«

Wieder klingelte das Telefon. Es war Jack. »Kannst du reden?«, sagte er. Komische Frage. »Ach, hallo, Darling«, antwortete ich. »Weißt du, ich sitze gerade im Wohnzimmer und komme mir wie ein Vollidiot vor, weil ich auf völlig wildfremde Leute warte, für die ich eine Party gebe. Und wie geht’s dir?«

»Gut, Mutter«, sagte er. »Ich habe Neuigkeiten, aber das ist jetzt wohl nicht der richtige Zeitpunkt.« Er klang aufgeregt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, worum es ging. Würde ein Artikel von ihm in Psychology Today erscheinen? Hatte er von einem entfernten Verwandten seines Vaters ein Vermögen geerbt?

»Nein, erzähl’s mir ruhig«, bat ich. »Es ist noch niemand da.«

»Hughie auch nicht?«

»Nein. Verspätet sich mal wieder.«

»Ja, also: Chrissie ist schwanger.«

Ich traute meinen Ohren nicht.

»Was?«, stieß ich wie der vorhin beschworene Vollidiot hervor. »Was?«

Ich spürte, wie langsam etwas in mir aufwallte. Als hätten diese Worte einen Kohlebrocken aufgebrochen, als ob der Himmel über mir bis jetzt von einer dicken, grauen Wolkendecke verhangen gewesen wäre und nun ein blendend heller Lichtstrahl aus ihm hervorbrach. Ich war überwältigt vor Glück, nein, ich ertrank im Glück, ich suhlte mich geradezu darin. Es war ein völlig neues, vollkommen unbekanntes Gefühl. Als wäre mir der Teppich unter den Füßen weggezogen worden. Als wäre ich in eine goldene Grube gefallen, in der all das Glück lag, dem ich mein Leben lang hinterhergejagt war.

»Aber sag’s niemandem«, mahnte er mich, ohne zu ahnen, welchen innerlichen Aufruhr er soeben ausgelöst hatte. »Wir müssen noch drei Monate abwarten, bis es sicher ist. Aber wir wollten es dir sagen. Was meinst du?«

Mein Schweigen hatte ihn wohl unsicher gemacht. Ich rang nach Luft. »Darling«, stieß ich erstickt hervor, »Darling … das ist … das ist … einfach wundervoll! Gott, wie wundervoll! «