Neira - Susan Ottiger - E-Book

Neira E-Book

Susan Ottiger

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Beschreibung

Ein untrennbares Band zwischen zwei Welten, ein bröckelnder Frieden und eine Jugendliche, von der alles abhängt.

Die fünfzehnjährige Chiara wünscht sich nichts sehnlicher, als ein ganz normaler Teenager zu sein. Doch seit Wochen wird sie von immer stärker werdenden Albträumen von Naturkatastrophen heimgesucht, die ganze Landstriche verwüsten und unzählige Opfer fordern. Als eine Vision sie auf eine Waldlichtung führt, gerät sie in einen Hinterhalt und wird nach Neira, dem bisher verborgenen Mond der Erde, gebracht. Die beiden Entführer erzählen Chiara, dass sie die Macht habe, einen Krieg zwischen den naturverbundenen Völkern Neiras zu verhindern. Chiara weigert sich zu glauben, dass sie eine Trägerin der Macht ist, und will nur eines: zurück auf die Erde. Ausgerechnet einer ihrer Entführer, der geheimnisvolle Sairo, bietet ihr an, sie zurückzubringen. Erst als der fragile Frieden auf Neira endgültig zu brechen droht und sich eine neue Naturkatastrophe aus ihren Albträumen ankündigt, ahnt Chiara, dass sie mehr mit dieser unbekannten Welt verbindet, als sie bisher gedacht hat …

Eine fesselnde, naturmagische Geschichte für Jugendliche, die gerne in verborgene Welten reisen, um dort Seite an Seite mit ihren Gefährten für Gerechtigkeit zu kämpfen.

Band 1 der Neira-Trilogie.

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Impressum

1. Auf­lage 2023Copy­right © 2023 Tamara Susan Otti­gerDach­lis­ser­strasse 8, 8932 Mett­mens­tet­ten, Schweizwww.susa­not­ti­ger.ch

Cover­ge­stal­tung: Constanze Kramer, coverboutique.de

Bildnachweise: ©Tissen Vadim, ©Sabphoto, ©tomertu, ©schankz – stock.adobe.com; ©pictureguy, ©jag_cz – depositphotos.com; rawpixel.com

Grafikdesign Karte: Cass Merry, cassmerry.com

Lek­to­rat/Kor­rek­to­rat: Sascha Rimpl, Lek­to­rat Text­Flow

E-Book Kon­ver­tie­rung: Con­stanze Kra­mer, cover­bou­tique.de

Alle Rechte vor­be­hal­ten. Das vor­lie­gende Werk darf weder in sei­ner Gesamt­heit noch in sei­nen Tei­len ohne vor­he­rige schrift­li­che Zustim­mung der Recht­e­in­ha­ber in wel­cher Form auch immer ver­öf­fent­licht wer­den. Das betrifft ­ins­be­son­dere jedoch nicht aus­schließ­lich elek­tro­ni­sche, mecha­ni­sche, phy­si­sche, audio­vi­su­elle oder ander­wei­tige Repro­duk­tion oder Spei­che­rung und oder ­Über­tra­gung des Wer­kes sowie Über­set­zun­gen. Davon aus­ge­nom­men sind kurze Aus­züge, die zum Zwe­cke der Rezen­sion ent­nom­men wer­den.

Für euch vier.

Pro­log

Sairo sah Chiara zum ers­ten Mal, als sie zwi­schen den Baum­stäm­men hin­durch auf die Lich­tung trat und in sei­nen und Bur­lins Hin­ter­halt lief.

Sie hatte den Kopf in erwar­tungs­vol­ler Hal­tung in den Nacken gelegt, und ihre Bli­cke schweif­ten über den Nacht­him­mel auf der Suche nach Neira. Unbe­wusst hielt Sairo den Atem an, ver­hielt sich voll­kom­men ruhig und ver­schmolz mit der Schwärze sei­ner Umge­bung, als er sich an Chiara her­an­pirschte. Selbst Bur­lin, der am gegen­über­lie­gen­den Rand der Gras­lich­tung lau­erte, schaffte es, kei­nen Mucks von sich zu geben.

Sairo spürte, dass ihre Vor­sicht nicht not­wen­dig war. Chiara war zu fokus­siert auf das Fir­ma­ment, um ihre Beschat­ter zu bemer­ken. Doch da war bloß der Mond am Him­mel, der sein Licht sanft über ihre Sil­hou­ette fal­len ließ und ihrem Haar einen mat­ten Schim­mer ver­lieh.

Als Chiara sich um die eigene Achse drehte, stol­perte sie über einen Ast, doch selbst das schien sie kaum zu bemer­ken. Sairo wider­setzte sich dem Drang, ebenso den Kopf zu heben. Er wusste, dass von Neira, dem zwei­ten Mond der Erde, nichts aus­zu­ma­chen war, und er durfte Chiara nicht aus den Augen ver­lie­ren. Ver­mut­lich ver­dutzt dar­über, dass sie kein frem­des Objekt am Him­mel ent­deckt hatte, stemmte sie die Hände in die Sei­ten. Sairo sah, wie jung sie war. Die Nar­ben an sei­ner lin­ken Brust schmerz­ten aus­ge­rech­net jetzt wie ein wie­der auf­flam­men­des Feuer. Er holte flach Luft, warf einen Blick über die Lich­tung zu Bur­lin und sah, wie der For­scher nickte.

Alb­träume

Die Gas­sen waren dun­kel, nur ver­ein­zelt leuch­tete an den Wän­den der alter­tüm­li­chen Häu­ser ein Stein auf, als Chiara Weber has­tig über die gro­ben Boden­plat­ten lief. Aus der Ferne glaubte sie ein Glu­ckern und Gur­geln zu hören, wie von Was­ser, das um ein Schiff schwappte. Doch nichts an ihrer ruhi­gen Umge­bung konnte Chia­ras auf­kei­mende Furcht min­dern. Sie spürte ihren Herz­schlag bis in die Kehle und konnte sich nur mit Mühe davon abhal­ten, panisch zu ren­nen.

Als sie zu einer Abzwei­gung kam, lenkte eine breite Gasse ihren Blick durch die Stadt hoch auf den Hügel mit dem wei­ßen Turm. Wie ein elfen­bein­fa­r­be­nes Kunst­werk schraubte er sich in die Höhe und schien das Licht der Sterne noch zu ver­stär­ken. Für Chiara wirkte er in die­sem Moment wie die Erlö­sung. Als sei der Turm alles, was zählte. Unkon­trol­liert am Kör­per zit­ternd blieb sie ste­hen, war­tete.

Ein plötz­li­cher Ruck fuhr durch den Boden und riss sie von den Füßen. Die Erde bebte, ließ die Fas­sa­den der Häu­ser erzit­tern. Dächer bra­chen ein, pol­ternd und stau­b­auf­wir­belnd stürz­ten Wände zusam­men. Men­schen rann­ten auf die Gasse, und ihre angst­er­füll­ten Schreie wur­den von der Gewalt des Erd­be­bens erstickt. Chiara stemmte sich hoch und blickte zum Turm, fixiert auf die helle Sil­hou­ette vor dem Nacht­him­mel, um die nun rie­sige Vögel kreis­ten. Es war, als würde der Turm ihr ein Zei­chen sen­den, er strahlte zu ihr her­un­ter und wollte sie zu sich locken.

Jemand stol­perte neben ihr, eine flie­hende Frau. Sie schlug sich die Hände blu­tig, doch bemerkte es anschei­nend nicht. Hin­ter ihr brach das Haus zusam­men, das sie gerade ver­las­sen hatte. Dann war das Beben vor­bei, die Erde kam zur Ruhe. Einen Moment blickte die Frau neben Chiara mit auf­ge­ris­se­nen Augen auf den Trüm­mer­hau­fen hin­ter ihr. Der Staub der ein­ge­stürz­ten Häu­ser umhüllte sie wie eine Wolke, und Chiara musste hus­ten. Die Frau begann zu schreien, ein Schrei, der Chiara ins Herz fuhr. Völ­lig außer sich krallte die Frau ihre Hände in die Haare und riss daran, wäh­rend sie nach ihrem Mann und ihren Kin­dern rief, die unter den Trüm­mern begra­ben waren. Sie schrie und schrie, und Chiara fühlte sich wie zer­bro­chen.

»Chiara, Chiara!«

Die Frau streckte ihre Hände nach den Trüm­mern aus. Ihre Arme, ihr Gesicht, ihre Haare waren staub­be­deckt.

»Chiara!«

Ein Gesicht beugte sich über Chiara. Doch sie konnte auf­grund des Stau­bes nicht erken­nen, wer es war.

»Chiara!«

Ihre Mut­ter. Und dane­ben ihre Schwes­ter Petra.

Chiara keuchte, ihre Fin­ger schmerz­ten. Sie bemerkte, dass sie diese mit aller Kraft in die Decke gekrallt hatte. Sie lag auf dem Boden in ihrem Schlaf­zim­mer. Noch nicht völ­lig los­ge­löst von den schreck­li­chen Ein­drü­cken warf sie den Kopf hin und her, doch keine Staub­wolke, keine schrei­ende Frau, keine Trüm­mer waren zu sehen. Sie war zu Hause. Es war alles nur wie­der ein Alb­traum gewe­sen.

»Chiara, ver­stehst du mich?«, fragte ihre Mut­ter und mus­terte sie aus grün­brau­nen Augen. Gabriele Weber behaup­tete oft, die vie­len fei­nen Linien in ihrem Gesicht kämen von der Arbeit oder von ihrem ent­flo­he­nen Ex-Mann, doch ihre unbän­di­gen Fri­su­ren beton­ten ihre stete Unbe­küm­mert­heit. Auch jetzt tanz­ten wie­der gefärbte Sträh­nen um ihr Gesicht.

Chiara nickte. Adre­na­lin rauschte durch ihren Kör­per und ließ ihr Herz rasen. Das klamme Gefühl der Angst hielt sie wei­ter­hin gepackt. Ihre Mut­ter legte ihr eine kühle Hand auf die Stirn, und sie schloss für einen Moment die Augen. Die ver­traute Berüh­rung tat ihr gut.

»Du hat­test wie­der einen Alb­traum.«

»Ich habe es gemerkt«, mur­melte Chiara. »Und wieso ist des­we­gen der ganze Fami­li­en­rat hier ver­sam­melt?« Sie blin­zelte zu ihrer älte­ren Schwes­ter hoch.

Petra setzte sich neben sie auf den Boden. »Weil du die ganze Zeit geschrien hast. Es hat ewig gedau­ert, bis wir dich wecken konn­ten. Du hast mit offe­nen Augen geschrien und durch uns hin­durch­ge­st­arrt wie ein Zom­bie. War echt abnor­mal.«

Chiara warf ihrer Mut­ter einen Blick zu und las in ihren Augen Bestä­ti­gung und Sorge.

»Jetzt lebe ich ja wie­der.«

Sie rieb sich über den Kopf, der sich unglaub­lich schwer und müde anfühlte, nun, da die Angst lang­sam nachließ. Ihr Mund war tro­cken und rau, als hätte sie Staub geschluckt. Sie ent­rollte sich aus ihrer ver­krümm­ten Stel­lung, stand auf und setzte sich an die Bett­kante, wäh­rend ihre Mut­ter ihr ein Glas Was­ser holte.

Petra sagte nichts. Doch aus ihrem Gesicht sprach Besorg­nis, was sel­ten war. Die bei­den Schwes­tern ähnel­ten sich vom Cha­rak­ter her kaum, trotz­dem wur­den sie oft für Zwil­linge gehal­ten. Petra hatte die glei­chen dun­kel­blon­den Haare, die im Bereich der Ohren vom Kopf abstan­den, ebenso die gespren­kel­ten brau­nen Augen und die schlanke Nase.

Chiara ärgerte sich immer, wenn sie mit Petra ver­wech­selt wurde.

Petra liebte es, in sol­chen Situa­ti­o­nen zu sagen: »Die­ses unschein­bare Ding? Nee, nicht mit mir ver­wandt. Bloß aus Ver­se­hen den­sel­ben Geburts­ka­nal wie ich erwi­scht.« Und sie ern­tete damit Geläch­ter – wobei ihr ekli­ger Freund oft­mals am lau­tes­ten lachte –, wäh­rend Chiara nichts ande­res übrig blieb, als ihrer Schwes­ter mit glü­hen­den Wan­gen bit­ter­böse Bli­cke zuzu­wer­fen. »Seht ihr? Viel zu wenig Humor. Und etwas mehr Sport würde ihr auch gut­tun, anstatt stän­dig mit den Losern ihrer Klasse abzu­hän­gen.«

Chiara hätte ihre Schwes­ter manch­mal erwür­gen kön­nen.

Nun saß Petra auf dem flau­schi­gen Tep­pich in Chia­ras Zim­mer direkt neben ihrem Schreib­tisch und dem mit Klei­dern über­häuf­ten Büro­stuhl und betrach­tete sie, als hätte sie mal wie­der etwas nicht auf die Reihe gekriegt. Nur am Rande regis­trierte Chiara, dass Petras herz­för­mi­ges Gesicht genauso erschöpft und ange­schla­gen aus­sah, wie sie sich fühlte. Um Petras Blick nicht mehr aus­hal­ten zu müs­sen, schloss Chiara die Augen. Sofort zuck­ten die Bil­der der zer­stör­ten Häu­ser hin­ter ihren Lidern vor­bei. Chiara hörte etwas blät­tern.

»›Petra ist eine bescheu­erte Küchen­schabe.‹ Spinnst du?«

Chiara öff­nete die Augen und sah, dass Petra ihr Traum­ta­ge­buch, das Chiara von ihrer Psy­cho­lo­gin erhal­ten und auf ihrem Büro­stuhl lie­gen hatte, auf­ge­schla­gen auf den Knien balan­cierte. Offen­bar genau an jener Stelle, an der sich Chiara, anstatt über ihre Alb­träume zu schrei­ben, über Petra aus­ge­las­sen hatte.

»Weißt du was, Chiara, du bist so erbärm­lich. Werd end­lich erwach­sen und mach dir nicht stän­dig in die Hosen wegen ein paar Träu­men.«

Petra warf das Tage­buch auf Chia­ras Pult, wo es das Chaos ver­grö­ßerte und einige Abdeck­stifte, zer­knüllte Taschen­tü­cher und ein Bild ihrer ver­stor­be­nen Gro­ß­el­tern zu Boden segeln ließ. Eine Hit­ze­welle stieg aus Chia­ras Bauch in ihren Kopf, doch ihre Schwes­ter huschte genau in dem Moment aus dem Zim­mer, als Gabriele mit einem Glas Was­ser zurück­kam.

»War es wie­der der­selbe Alb­traum? Von der Geburt?«, fragte ihre Mut­ter, als sie Chiara das Glas Was­ser reichte.

Chiara schüt­telte den Kopf. »Ein neuer Alb­traum.«

»Willst du erzäh­len, worum es ging?«

Chiara ant­wor­tete nicht. Sie wollte diese Alb­träume nicht. Sie wollte nicht abnor­mal sein, wie es Petra gesagt hatte. Und erst recht nicht wollte sie zu den Losern gehö­ren, wäh­rend ihre Mit­schü­ler über sie tuschel­ten, weil sie wie­der ver­pennt und unkon­zen­triert war.

Ehe die trü­ben Gedan­ken über­hand­neh­men konn­ten, hob sie das Glas an die Lip­pen und trank in gro­ßen Schlu­cken. Sie spürte, wie das Was­ser den Staub, der nicht da war, aus ihrer Kehle spülte.

»Ich will bloß schla­fen.«

Sie legte sich wie­der ins Bett, drehte sich zur Wand und zog die Decke bis zum Kinn. Chiara spürte die Anspan­nung ihrer Mut­ter und wie sie mit sich rang, sie auf die Ereig­nisse der letz­ten Wochen anzu­spre­chen. Wie stark sich die Alb­träume ver­schlim­mert hat­ten und Chia­ras Tage beein­fluss­ten. Doch statt­des­sen hörte sie sie sagen: »Gute Nacht.«

»Nacht«, mur­melte Chiara in ihr Kis­sen und lauschte dem Geräusch, als ihre Mut­ter leise die Tür ins Schloss zog.

Phy­sik­un­ter­richt

Warum konnte sie nicht wie­der ein ganz nor­ma­les fünf­zehn­jäh­ri­ges Mäd­chen sein? Warum konnte die Ent­schei­dung, ob sie nun Make-up tra­gen sollte oder nicht, nicht die schwie­rigste ihres Tages sein? Und warum, ver­dammt, warum konnte ihre Angst vor Pfer­den nicht die ein­zige Angst in ihrem Leben sein? Chiara stellte sich diese Fra­gen am nächs­ten Tag so inten­siv, dass sie kein ein­zi­ges Wort von dem ver­nahm, was Herr Bünzli, ihr Klas­sen­leh­rer, erzählte.

Aber die Erd­an­zie­hungs­kraft musste hier im Phy­sik­zim­mer beson­ders groß sein, denn Chiara war sich sicher, dass ihr Kopf unwei­ger­lich von der Tisch­platte ange­zo­gen wurde und ihre Stim­mung sowieso schon meh­rere Stock­werke tie­fer gestol­pert war. Dass die Luft im Klas­sen­zim­mer sti­ckig war und die Hitze von außen gegen die Fens­ter­schei­ben, an denen lahme Flie­gen krab­bel­ten, drückte, machte es nur schlim­mer. Selbst das Gekratze der Stifte, mit denen die Ober­stu­fen­schü­ler ihre Auf­ga­ben lös­ten, klang unmo­ti­viert.

Chiara warf einen Blick nach links zu Lina, die kon­zen­triert auf ihr Auf­ga­ben­blatt starrte und mit einer Hand in ihrer Tasche unter dem Pult wühlte, um ein paar Samen und Knol­len her­vor­zu­ho­len und in ihren Mund zu schie­ben. Wo auch immer sie diese mit ihrer Kli­ma­gruppe gesam­melt hatte.

»Sch«, machte Chiara leise.

Lina ver­schluckte sich bei­nahe. Sie hus­tete und strich sich eine lange gold­blonde Strähne aus dem Gesicht, um Chiara aus ihren sanft­mü­ti­gen Augen einen leicht vor­wurfs­vol­len Blick zuzu­wer­fen. Chiara war froh, dass sie in der letz­ten Bank­reihe saßen.

»Um was geht’s da gerade?«, hauchte Chiara und nickte zu Herrn Bünzli, der mit aus­führ­li­chen pan­to­mi­mi­schen Bewe­gun­gen sein Refe­rat unter­malte.

»Über den Absturz eines Mete­o­ri­ten hier in der Nähe«, ant­wor­te­te Lina leise, und der Vor­wurf schwand sofort aus ihrem Blick und machte Sorge Platz. Chiara wusste genau, was sie dachte: schon wie­der total ver­peilt. Nun ja, Lina würde nie­mals ver­peilt zu ihr sagen, aber unkon­zen­triert war auch nicht bes­ser. Chia­ras Herz fühlte sich an, als würde jemand einen Stift hin­ein­boh­ren.

»Über den Absturz eines Mete­o­ri­ten?«

»Astro­phy­sik halt.«

»Astro…?«, begann Chiara und fragte sich, wie jemand auf die Idee kam, am letz­ten Frei­tag­nach­mit­tag vor dem Beginn des Schul­la­gers noch Astro­phy­sik zu unter­rich­ten.

»Wenn die Damen end­lich ihre Auf­ga­ben fer­tig lösen wür­den, könn­tet ihr noch der Anek­dote lau­schen, wie der Mete­o­rit zuerst in einem nahe gele­ge­nen Klos­ter unter­ge­bracht wurde, ehe er von dort auf uner­klär­li­che Weise ver­schwand«, unter­brach Herr Bünzli ihre Unter­hal­tung.

Lina lief rot an und tippte auf­for­dernd auf Chia­ras Auf­ga­ben­blatt.

Notiere die nicht selbst leuch­ten­den Him­mels­kör­per (5), stand da, und Chiara fragte sich, was schlim­mer war: die Tat­sa­che, dass sie keine Ahnung hatte, was nicht selbst leuch­tende Him­mels­kör­per waren, oder der Fakt, dass sie schon wie­der an ihre Alb­träume dachte. Denn nichts ande­res als die Alb­träume führte dazu, dass sie sich nicht kon­zen­trie­ren konnte.

Es hatte vor einem hal­ben Jahr ange­fan­gen; gele­gent­lich war sie in nass geschwitz­tem Bett­zeug erwacht, weil die Qua­len einer Gebä­ren­den sie in ihren Träu­men heim­ge­sucht hat­ten. Seit­her riss sie die Panik, die sie beim Anblick der Frau in dem dunk­len, rau­chi­gen Zim­mer ver­spürte, immer öfter aus dem Schlaf. Sie kannte das Gesicht der Frau mitt­ler­weile bei­nahe so gut wie ihr eige­nes Spie­gel­bild. Die weiße, von einem Schweiß­film über­zo­gene Haut, die lan­gen, sträh­ni­gen Haare, so schwarz, dass sie jedes Licht schluck­ten, das von den fla­ckern­den Ker­zen ver­brei­tet wurde. Die blauen Augen, erst auf­ge­ris­sen und dann in purer Erschöp­fung und Freude ver­zo­gen, wenn sie zum ers­ten Mal ihren Sohn sah.

»Gopf«, mur­melte Chiara leise, blin­zelte und starrte auf das leere Auf­ga­ben­blatt. Sie setzte den Stift an, um irgend­eine plau­si­ble Ant­wort auf die erste Frage nie­der­zu­schrei­ben, wäh­rend sie daran dachte, dass sie wie­der ein­mal nichts hin­kriegte. Wenn es schlimm kam, würde Bünzli vor der gan­zen Klasse ver­kün­den, dass das Papier für Chia­ras Auf­ga­ben reinste Res­sour­cen­ver­schwen­dung war, Phil­ipp, der Klas­sen­clown, würde einen behäm­mer­ten Spruch los­wer­den, und alle wür­den lachen – wie immer.

Sie frös­telte, auch wenn nichts an die­sem hei­ßen Wet­ter zum Frös­teln war. Ein Schauer rann über ihre Arme, und sie zog unwill­kür­lich die Schul­tern hoch, wäh­rend sich in ihr alles zu ver­en­gen begann. Das Klas­sen­zim­mer um sie herum löste sich in Schwärze auf. Es war wie ein Wegdrif­ten. Ihr Herz trom­melte in ihrer Brust, und sie klam­merte sich an den Tisch. Sie wurde nicht bewusst­los, sie sah ein­fach nicht mehr ihre wirk­li­che Umge­bung.

Die Dun­kel­heit formte sich zu Kon­tu­ren, sie erkannte Bäume, die sanft raschel­ten. Da war eine Lich­tung vor ihr in einem Wald, es war Nacht. Sie streifte ziel­stre­big durch das Unter­holz dar­auf zu. Dann hatte sie freie Sicht nach oben – und am schwa­r­zen Nacht­him­mel tauchte klar und deut­lich ein Pla­net auf. Eine grau­grüne Kugel, nicht viel grö­ßer als der Mond. Fas­zi­na­tion durch­strömte sie wie ein Vibrie­ren, und sie wünschte sich unwill­kür­lich, die­ses Bild fest­hal­ten zu kön­nen.

Doch da war ein Wis­pern, nein, eine Stimme, sie wurde lau­ter und kla­rer in ihrem Kopf. Die Dun­kel­heit hellte auf, ihre Umge­bung ver­än­derte sich und nahm wie­der die For­men eines Klas­sen­zim­mers an. Die neu­gie­rige Auf­re­gung, das Drän­gen in ihr, löste sich in Ver­wir­rung auf.

»Bitte schließt lang­sam die Auf­ga­ben ab«, bat Herr Bünzli.

»Chiara, was ist los?«, hauchte Lina sie von der Seite her an, und Chiara schrak voll­ends aus ihrem Traum. Ihre Hand streifte Linas Etui, und die Stifte kla­cker­ten auf den Boden. »Eines Tages geht noch die Welt wegen dei­ner Toll­pat­schig­keit unter«, mur­melte Lina, aber ihre Stimme war warm dabei.

Phil­ipp, besag­ter Klas­sen­clown, saß in der Reihe vor ihnen und drehte sich um. »Bist du ein­ge­pennt? Brauchst du ein Kopf­kis­sen?« Er grinste, und die Som­mer­spros­sen auf sei­nem Gesicht ver­scho­ben sich in Rich­tung Ohren.

»Solange es nicht dei­nes ist«, ant­wor­tete Chiara leise.

»Du willst das Kopf­kis­sen mit mir tei­len? Ohoo, Chiara.«

Chiara wusste nicht, ob Wut oder Scham mehr über­hand­nahm, als einige Mit­schü­ler lach­ten. Sie ballte die Fäuste. Doch ehe Chiara schreien oder in den Boden ver­sin­ken konnte, beru­higte Linas sachte Berüh­rung am Arm sie. Bünzli pochte ener­gisch gegen das Whi­te­board, um die Auf­merk­sam­keit sei­ner Schü­ler wie­der auf sich zu len­ken. Der Kno­ten in Chia­ras Bauch löste sich auf, dafür hätte sie jetzt am liebs­ten los­ge­heult. Lina sam­melte ihre Stifte ein und streckte dann Chiara ihren Beu­tel mit Samen und Kräu­tern hin, doch Chiara schüt­telte den Kopf. Sie krit­zelte unten auf Linas Auf­ga­ben­blatt: Ich habe etwas gese­hen. Dabei unter­strich sie »gese­hen«, wor­auf Lina ihr einen bedeu­tungs­schwan­ge­ren Blick zuwarf.

Es geschah bereits zum zwei­ten Mal, dass Chiara plötz­lich, mit­ten am hell­lich­ten Tag, Dinge sah, die andere nicht sahen. Vor zwei Tagen waren es die Nach­wir­kun­gen eines Alb­trau­mes gewe­sen. Nachts hatte sie von einer Stein­la­wine geträumt, die einen Hang mit sich riss. Und dann, tags­über, hatte sie plötz­lich das Pol­tern der Steine ver­nom­men und die Schat­ten von umkni­cken­den Bäu­men gese­hen.

Mit ihrer fein­glied­ri­gen Hand schrieb Lina eine Ant­wort.

Heute Abend um 8 Uhr bei mir.

Chia­ras Augen brann­ten, als sie Lina hin­ter­her­schaute, die eilig ihre Sachen packte und davon­düste. Dann bemerkte sie, dass sie nun ohne Linas Schüt­zen­hilfe war. So schnell sie konnte, stopfte sie ihre Schul­un­ter­la­gen in ihre Tasche, wobei die Hälfte wie­der her­aus­fiel. Eine fremde Hand fing ihr iPad auf, das hin­ter­her­zu­rut­schen drohte, und Chiara schaute hoch in Phil­ipps run­des Gesicht. Sofort spannte sie sich an und wapp­nete sich inner­lich gegen irgend­ei­nen däm­li­chen Spruch, als sie ihm das iPad aus der Hand riss.

»Stimmt’s, dass du zu einer Psy­cho-Tante musst?«

Chiara starrte Phil­ipp an und hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Ein­fach nicht anfan­gen zu heu­len.

»Alter, was geht ab bei dir, hörst du Stim­men?« Phil­ipp machte einen Schritt zurück, als fürch­tete er, von ihr ange­steckt zu wer­den. Kaum zu glau­ben, dass es noch nicht lange her war, dass sie für die­sen Idi­o­ten geschwärmt hatte.

»Küm­mer dich um dei­nen eige­nen Scheiß«, brachte Chiara her­vor. Sie schmiss die Tasche über ihre Schul­ter, und kurz dar­auf hatte sie das Klas­sen­zim­mer ver­las­sen und stürmte durch das Schul­haus auf den Hof hin­aus.

Zwei Schwes­tern

Etwas drückte Chiara auf den Brust­korb, als sie nach Hause kam. Im Flur des Mehr­fa­mi­li­en­hau­ses über­prüfte sie auf dem dunk­len Bild­schirm ihres Han­dys ihr Aus­se­hen und ver­rieb die getrock­ne­ten Trä­nen auf ihren Wan­gen. Sie sah schreck­lich aus, müde und erschöpft und erschla­gen.

Eine Bewe­gung ließ sie zusam­men­zu­cken, und erst jetzt erkannte sie Petra, die sich gerade von der Wand im Flur löste. Es sah so aus, als hätte sie dort eine … Pause machen müs­sen. Aber jetzt stol­zierte sie ihr wie ein Pfau ent­ge­gen, und die Art, wie sie ihre Lip­pen kräu­selte, ließ Chiara bereits das nächste Unheil erwar­ten.

»Gott, Chiara, du siehst aus wie eine Lei­che vor der Beer­di­gung.«

Chia­ras Ohren rausch­ten, als sie sich kom­men­ta­r­los an ihrer Schwes­ter vor­bei­drü­cken wollte. Doch Petra ergriff sie am Arm, und Chia­ras Sicht ent­schwand plötz­lich in weite Ferne. Nicht schon wie­der, dachte sie panisch, als das blei­che Gesicht ihrer Schwes­ter ver­blasste.

»Was ist los mit dir, Chiara?«, hörte sie Petra sagen, wäh­rend sie ver­zwei­felt gegen die Bil­der ankämpfte, die vor ihren Augen zu fla­ckern began­nen. Die Geburt, der schweiß­nasse Ober­kör­per der blei­chen Frau, der sich bei jedem gepress­ten Atem­zug hob und senkte, wäh­rend der Geruch nach Aus­düns­tun­gen und Rauch schwer in der Luft lag.

Für einen Moment sah Chiara wie­der kla­rer, und sie fragte Petra: »Hast du Phil­ipp erzählt, dass ich zur Psy­cho­lo­gin muss?«

Petras Freund war Phil­ipps älte­rer Bru­der. Petra ver­drehte die Augen, doch schon ver­schwand ihr Gesicht wie­der, und Chiara sah die Gebä­rende schreien. Panik über­rollte sie und ver­stopfte ihre Gedan­ken. Ein Mann, der Vater des Kin­des, hob ein Bün­del nahe an sein Gesicht und flüs­terte zärt­lich: »Mein Sohn.«

»Du sollst etwas ent­spann­ter damit umge­hen«, drang Petras Stimme durch die Watte in Chia­ras Kopf. Mit aller Kraft ver­drängte sie die Panik und schob die Bil­der die­ser Hal­lu­zi­na­tion von sich. »Außer­dem bist du nicht die Ein­zige, die krank ist.« Petra klang, als wolle sie damit einen Preis gewin­nen.

»Ich bin nicht krank. Und wenn du’s bist, dann ver­reck doch daran.«

Sofort wünschte sie sich, die Worte nie­mals aus­ge­spro­chen zu haben, als sie den ungläu­bi­gen Aus­druck in Petras Augen sah.

»Wenn das so ist … Aber dir ist schon klar, dass ich dir nur hel­fen will? Du bist immer­hin meine kleine Schwes­ter.« Petra ließ Chia­ras Arm los und stol­zierte zum Aus­gang. Ihr Gang wirkte ange­schla­gen, und Chiara brachte es nicht fer­tig, irgen­d­et­was zu sagen.

Chia­ras Mut­ter wer­kelte auf der klei­nen Ter­rasse, die zu der Miet­woh­nung gehörte, die sie mit ihren bei­den Töch­tern teilte.

Chiara stopfte sich eine Banane in den Mund, als sie in den schma­len Schat­ten­strei­fen auf der Ter­rasse trat. Sie musste die Übel­keit los­wer­den und das Schuld­ge­fühl, das sich wie eine manns­hohe Welle vor ihr auf­türmte. Wieso waren ihr bloß diese Worte raus­ge­rutscht? Und wieso hatte Petra ein kom­plett ande­res Ver­ständ­nis von Hilfe als sie?

Ihre Mut­ter schnip­selte etwas, wäh­rend sie nah an der Abtren­nung zur Nach­bar­ter­rasse stand, und hatte ihr den Rücken zuge­kehrt. Ihre Beine steck­ten in wei­ten Jeans, und sie hatte die Haare zu einer unor­dent­li­chen Fri­sur hoch­ge­steckt. Ein iPad lag neben ihr auf der Erde, und eine ble­cherne Stimme erzählte von einer son­der­ba­ren Erkran­kung, die seit eini­gen Tagen für Auf­ruhr sorgte: »… in den USA wird nach wie vor davon aus­ge­gan­gen, dass die Erden­krank­heit, wie sie genannt wird, stark mit dem Pes­ti­zi­d­ein­satz in der Land­wirt­schaft zusam­men­hängt. Aller­dings brei­tet sich die Krank­heit von Nord­ame­rika aus­ge­hend welt­weit aus, auch in Gebie­ten, die kaum pes­ti­zid­be­las­tet sind. Die Zahl der Toten steigt rapide an …«

Chiara beob­ach­tete, wie ihre Mut­ter immer wie­der von ihrer Arbeit auf­schaute und ver­stoh­len über die nied­rige Holz­pa­li­sade in den benach­bar­ten Gar­ten schielte. Neu­gie­rig lief Chiara in die brü­tende Hitze hin­aus auf Gabriele zu.

»Was machst du da?«

Ihre Mut­ter schreckte zusam­men und wir­belte herum. »Chiara! Was machst du da?«

»Das habe ich dich gefragt.«

Irgend­wie wirkte ihre Mut­ter wie ein Schul­mäd­chen, das bei etwas erwi­scht wor­den war.

»Ich, äh, ich mache Brenn­nes­sel­dün­ger.«

»Brenn­nes­sel­dün­ger?«

»Genau.« Ihre Mut­ter wedelte mit einer Pflanze in der Luft herum und deu­tete auf das iPad, das wei­ter­hin über die Krank­heit berich­tete.

»Brenn­nes­sel­dün­ger her­stel­len«, las Chiara auf der Seite, die Gabriele geöff­net hatte. »Wofür brauchst du Brenn­nes­sel­dün­ger?«

»Na, für meine Pflan­zen.«

»Für wel­che Pflan­zen?«

»Chiara, ich habe Pflan­zen auf mei­ner Ter­rasse. Die­ser Dün­ger soll gewähr­leis­ten, dass sie etwas län­ger über­le­ben. Ich weiß schon, was ich mache.«

Chiara blickte über die wel­ken und trau­rig drein­bli­cken­den Pflan­zen in ihren Töp­fen. Ihre Mut­ter hatte den ungrüns­ten Dau­men, den sie je gese­hen hatte.

»Und was soll das brin­gen?«, fragte Chiara und hörte ihrer eige­nen Stimme an, wie schlecht gelaunt sie klang.

Ihre Mut­ter schaute auf, spähte kurz über den Zaun in den Nach­bar­gar­ten und betrach­tete dann ihre Toch­ter. »Was hast du denn für eine Welt­un­ter­gangs­stim­mung?«

Chiara ver­zog das Gesicht und wich der behand­schuh­ten Hand ihrer Mut­ter aus, die wohl ihre Wange hatte tät­scheln wol­len.

»Zuvor haben sie berich­tet, dass eine reli­gi­öse Grup­pie­rung behaup­tet, unsere Erde habe sich gegen uns gewandt und die Welt gehe dem­nächst unter«, erklärte ihre Mut­ter und nickte zu dem iPad. »Ich dachte, ich schaue, dass wenigs­tens noch ein paar Pflänz­chen leben, sollte die Mensch­heit uner­war­tet aus­ge­rot­tet wer­den.« Sie lächelte sanft.

Chiara hob einen Mund­win­kel an.

»Gabriele, schau, das will ich dir zei­gen.«

Fabius, ihr neuer Nach­bar, trat an die Pali­sade. Die Art, wie ihre Mut­ter bei sei­nem Anblick mit ihren erd­ver­krus­te­ten Hand­schu­hen ihre unor­dent­li­che Fri­sur zu rich­ten ver­suchte, ver­riet Chiara, dass sie des­we­gen stän­dig so hin­über­ge­späht hatte. Fabius war um die Kör­per­mitte herum deut­lich beleibt und hatte kurze Haare, die sich um eine Halb­glatze form­ten wie die ver­dorr­ten Blät­ter um die Blu­men­töpfe ihrer Mut­ter. Mit sei­nen dicken Fin­gern blät­terte er in einem Gar­ten­heft­chen.

»Oh, hallo, Chan­tal, nicht wahr?«

»Chiara. Hallo.«

»Ah, genau. Wusste, etwas mit C. Wie läuft’s in der Schule?«

Die Banane, die Chiara zuvor geges­sen hatte, lag plötz­lich unan­ge­nehm schwer in ihrem Magen, und es musste ihr bestimmt anzu­se­hen sein, wie übel­kei­ter­re­gend diese Frage für sie war. Aber Fabius lächelte sie bloß freund­lich an.

»Ja, alles klar«, mur­melte Chiara.

Fabius nickte zufrie­den und beugte sich danach über die Holz­pa­li­sade, wobei er fast sei­nen Bauch, der bei der Bewe­gung unter sei­nem T-Shirt her­vor­rutschte, an einem spit­zen Pfahl auf­spießte.

»Nanu«, sagte er erstaunt, »was machst du denn mit den Taub­nes­seln, Gabriele? Du hast sie doch hof­fent­lich nicht mit Brenn­nes­seln ver­wech­selt, um dar­aus Jau­che zu machen?«

Chiara wandte sich ab, um ein Grin­sen zu ver­ber­gen und die bei­den alleine zu las­sen. Seit ihr Vater sie vor Jah­ren wegen einer ande­ren ver­las­sen hatte, schien es das erste Mal zu sein, dass sich Gabriele für einen ande­ren Mann inter­es­sierte.

»Gehst du noch weg heute Abend?«, rief ihre Mut­ter ihr nach, als sie bereits halb durch die Ter­ras­sen­tür in die ange­nehme Kühle der Woh­nung getaucht war.

»Ich treffe mich mit Lina.«

»Könn­test du dann, ehe du gehst, Petras Wäsche zusam­men­le­gen?«

»Das kann sie sel­ber machen.«

»Sie fühlt sich nicht so gut.«

Chiara lag bereits eine Ant­wort auf der Zunge, doch sie schluckte sie wütend hin­un­ter. Lina war die Ein­zige, mit der sie reden konnte.

Zu viel Fan­ta­sie

Linas Zim­mer sah aus wie das Büro einer Mor­d­er­mitt­lung. Die Wand hin­ter ihrem Schreib­tisch, auf dem ein Film auf dem Lap­top lief, war so ver­han­gen und zuge­klebt, dass die blass­rosa Tapete kaum noch zu erken­nen war. Unter gro­ßen Titeln, die das Noti­zen-Wirr­warr in eine gewisse Ord­nung brach­ten, hing womög­lich jede ein­zelne Nach­richt, die jemals über die geheim­nis­volle Erden­krank­heit gebracht wor­den war. Seit Chia­ras letz­tem Besuch war der Wand­be­hang explo­si­ons­ar­tig gewach­sen.

»Wieso …?«, begann Chiara und starrte die Wand an.

»Weil … das ist … irgend­was«, sagte Lina aus­wei­chend.

»Ach ja?«

Chiara plumpste auf das win­zige Sofa, das sich zwi­schen Schreib­tisch und Bett kau­erte, und zog die Pop­corn­schüs­sel auf ihren Schoß, wäh­rend sie einige Stich­wör­ter über­flog, die Lina an die Wand gepinnt hatte: Ursprung? Kein mensch­li­cher Aus­lö­ser! Grö­ße­rer Zusam­men­hang?So viele Tote? Chiara wusste manch­mal nicht so recht, ob sie über Linas Ver­bis­sen­heit stau­nen oder sich davor fürch­ten sollte.

»Ich habe mir auch Gedan­ken über deine Träume gemacht«, sagte Lina. Das war nichts Neues, doch die Art, wie sie es aus­drückte, ließ Chiara ver­mu­ten, dass es irgendwo auch eine Wand gab, die ebenso voll­ge­schrie­ben war mit Chia­ras Pro­ble­men.

»Es wird immer schlim­mer«, mur­melte Chiara und erzählte dann sto­ckend, was im Unter­richt und danach genau pas­siert war. Lina saß stumm und mit vor­ge­neig­tem Ober­kör­per neben ihr, wäh­rend sie jedes Detail von Chia­ras Schil­de­run­gen in sich auf­sog.

»Und du bist sicher, dass du nicht ein­fach … müde warst und ein­ge­schla­fen bist? Oder dich Herrn Bünz­lis Erzäh­lun­gen über den Mete­o­ri­ten so sehr in den Bann gezo­gen haben?«

»Ts, das würde viel­leicht dir pas­sie­ren.«

»Na ja …«

Chiara griff in die Schüs­sel und träu­felte ein Pop­corn nach dem ande­ren in ihren Mund.

»E’sch wa’ wie ein D’ängen«, sagte sie mit voll­ge­stopf­tem Mund, ehe sie schluckte.

»Wie ein Drän­gen?«

»Die erste … Hal­lu­zi­na­tion. Ich wollte unbe­dingt die­sen Pla­ne­ten sehen, als wäre es das Ein­zige, was zählt. Echt wild. Und als ich ihn dann end­lich gese­hen hatte, vibrierte alles.« Chiara pickte einige beson­ders dicke Exem­plare aus der Pop­corn­schüs­sel, um Linas Blick nicht zu begeg­nen. »Und danach war’s noch­mals die Geburt, als ich Petra getrof­fen hab.«

Sie schwie­gen. Es raschelte, als Lina sich aus ihrem Säck­chen selbst­ge­sam­melte Kerne und Kräu­ter in den Mund schob. Sie kaute so lang­sam, dass es wirkte, als würde sie alle Ener­gie fürs Den­ken benö­ti­gen.

»Dann sind es jetzt also drei Natur­ka­ta­s­tro­phen-Träume.« Lina stellte ihre Gesund­heits­din­ger auf die Seite. »Und wir haben ebenso drei Kate­go­rien.«

»Was für Kate­go­rien?«

Lina stürzte zu ihrem Schreib­tisch, fischte ein Notiz­buch her­vor und blät­terte darin herum, bis sie eine leere Seite fand. Dort zeich­nete sie drei Kreise. »Die erste Kate­go­rie ist die Geburt. Sie hat eine tie­fere Bedeu­tung. Ist womög­lich nur eine Meta­pher.«

»Eine …? Lina, was ist das für Zeugs, und was macht das mit dir?« Chiara schwenkte Linas Raschel­säck­chen hin und her, doch Lina warf ihr bloß einen stren­gen Blick zu, ehe sie den ers­ten Kreis mit Geburt aus­füllte.

»Die zweite Kate­go­rie bein­hal­tet Natur­ka­ta­s­tro­phen. Bis­her hast du von drei Kata­s­tro­phen geträumt. Zuerst kam der Vul­kan­aus­bruch. Du stehst an einem schwa­r­zen Hang, spürst die Hitze, hörst das Grol­len des Vul­ka­nes. Dann ist da Lava, die fau­chend aus­bricht. Wie­der hast du diese Panik. Spä­ter kamen die Träume der Stein­la­wine dazu; wie­der stehst du an einem Hang, dies­mal ist er bewal­det. Du siehst weit ins Land hin­aus, über die Wäl­der bis zu der fer­nen Berg­kette, als die Stein­la­wine ihren Anfang nimmt. Du schwebst über die Lawine hin­weg, siehst Geröll und Schlamm, die Bäume wie Zünd­höl­zer umkni­cken las­sen. Schwärme von Vögeln stei­gen auf, um sich in Sicher­heit zu brin­gen. Anders als bei der Geburt ist deine Angst hier gerecht­fer­tigt. Denn wei­ter unten, in der Schneise der Lawine, befin­den sich Hüt­ten. Men­schen ver­su­chen zu flie­hen, doch sie wer­den begra­ben unter der töd­li­chen Gewalt.«

Unwill­kür­lich spürte Chiara ein Schau­dern bei Linas leb­haf­ter Nach­er­zäh­lung ihrer Alb­träume.

»Und ges­tern Nacht dann das Erd­be­ben. Sind diese Kata­s­tro­phen tat­säch­lich pas­siert? Oder was bedeu­ten sie?«

Chiara zuckte mit den Schul­tern. Es war nicht das erste Mal, dass Lina diese Fra­gen stellte, und Lina hatte tat­säch­lich schon mehr­mals nach Ant­wor­ten geg­oo­gelt. Aber alle Fotos von Ereig­nis­sen, die wirk­lich gesche­hen waren, hatte Chiara mit einem Kopf­schüt­teln abge­tan.

»Und was ist die dritte Kate­go­rie?«, fragte Chiara, als Lina nicht fort­fuhr.

»Die dritte Kate­go­rie ist die Wald­lich­tung mit dem frem­den Pla­ne­ten. In einem unter­schei­det sich die­ser Traum deut­lich von den ande­ren«, stellte Lina fest und tauchte ihre Hand in die Pop­corn­schüs­sel.

»Du meinst, dass ich wäh­rend­des­sen nicht geschla­fen habe?«

»Aber nein, das macht wohl kei­nen Unter­schied, ob du schläfst oder nicht. Eine Vision holt dich dann ein, wenn sie kommt, egal wel­che Tages­zeit gerade ist.«

Chiara wider­sprach Linas Logik nicht, aber sie fragte sich, ob ihre beste Freun­din sich viel­leicht zu viele fan­tas­ti­sche Geschich­ten rein­ge­zo­gen hatte. Der auf­ge­regt fla­ckernde Bild­schirm von Linas Lap­top, auf dem gerade eine Fan­tasy-Serie lief, zeugte davon.

»Nein, ich meine, dass du keine Angst dabei ver­spürt hast. In allen ande­ren Träu­men ist immer diese Angst dabei, selbst bei der Geburt, bei der ja beide Eltern glü­ck­lich zu sein schei­nen und das Kind gesund. Als du in dei­ner Vision auf die Wald­lich­tung trittst und den Pla­ne­ten siehst, bist du so fas­zi­niert davon, dass alles in dir vibriert.« Lina schien es nicht zu küm­mern, dass es über­haupt kei­nen Sinn ergab, am Him­mel einen frem­den Pla­ne­ten zu sehen. »Es war also ganz anders als der Traum der Geburt oder der Kata­s­tro­phen«, fuhr Lina fort. »Du hast dich hin­ge­zo­gen gefühlt. Fast so … fast wie ein Ruf.« Ihre sanf­ten Augen wei­te­ten sich, und sie starrte Chiara mit ver­schwom­me­nem Blick an.

»Lina!«, sagte Chiara dro­hend. Wenn das so wei­ter­ging, würde jeden Moment Linas Fan­ta­sie mit ihr durch­ge­hen. Und Chiara hatte gerade keine Ener­gie mehr dafür, sich durch Linas abge­drehte The­o­rien von Mord, Tot­schlag und über­sinn­li­chen Fähig­kei­ten zu kämp­fen. Sie wollte nur, dass die Alb­träume auf­hör­ten. Plötz­lich hatte sie kei­nen Appe­tit mehr, und sie stellte die Pop­corn­schüs­sel zur Seite. Lina blin­zelte, und ihr ent­rück­ter Blick fokus­sierte sich wie­der.

»Ach, Chiara, tut mir leid. Ich ver­renn mich manch­mal ein biss­chen.«

»Nur wenig.«

Lina schaute schul­dig und besorgt zugleich. Chiara streckte ihr die Zunge raus, und Lina deu­tete dies offen­sicht­lich als Ver­söh­nung, denn sie ver­zog die Mund­win­kel zu einem Lächeln.

»Ist ja eh klar, dass man im Unter­richt träu­men muss, bei die­sem Leh­rer«, sagte Chiara.

»Na ja, also wenn ich im Unter­richt träu­men würde, dann würde ich mir defi­ni­tiv einen bes­se­ren Traum aus­su­chen. Zum Bei­spiel davon, end­lich sel­ber vorne zu ste­hen. Wieso träumst du nicht davon, Leh­re­rin zu sein?«

»So was kannst ja auch nur du träu­men.«

»Na, dann träumst du halt andere, gute Träume. Davon, wie sich all deine Wün­sche erfül­len. Oder wie du zu dei­nem Traum­prin­zen fin­dest. Ja, das ist es! Dein Traum­prinz ret­tet dich vor all den Kata­s­tro­phen!«

Chiara lachte prus­tend auf. »Lina, jetzt hast du sie nicht mehr alle. Du hast zu viele Mär­chen gele­sen.«

Lina lehnte sich lächelnd auf dem Sofa zurück. »Na ja, das mit dem Prin­zen ist viel­leicht eine doofe Idee. Stell dir vor, der kommt auf einem Pferd ange­rit­ten. Du wür­dest aus Angst vor dem Pferd tot umfal­len. Selbst wenn der Prinz viel bes­ser als Phil­ipp aus­se­hen würde …«

Lina schloss die Augen, formte ihre Lip­pen zu einem Kuss­mund und ver­teilte Küsse in die Luft. Chiara schoss ihr grin­send ein Kis­sen in den Bauch. Und schon waren sie in die wil­deste Kis­sen­schlacht ver­wi­ckelt, die Linas Schlaf­zim­mer je gese­hen hatte. Selbst die Pop­corn­schüs­sel musste dran glau­ben.

Alte Gemäuer

Chiara hatte ein­mal beob­ach­tet, wie die Katze ihres neuen Nach­barn eine Maus gejagt hatte. Die Maus war den Kral­len der Katze ent­wischt, doch – wusch! – hatte die Katze die Maus wie­der gefan­gen. Sie spielte so lange, bis die Maus auf­gab oder zu ver­letzt war, um noch­mals zu flie­hen.

Am Sonn­tag­abend lag Chiara im schma­len Bade­zim­mer auf dem Boden, fühlte sich wie besagte Maus und wusste nicht, ob sie die Kraft hatte, eine wei­tere Nacht durch­zu­ste­hen. Die Alb­träume hat­ten sie gejagt, hat­ten sich in ihre Seele gebohrt und ihre stän­dige Hoff­nung auf Befrei­ung zer­schla­gen. Die Visi­o­nen, wie Lina sie nannte, hol­ten sie aus dem Schlaf, zer­ris­sen die Nächte und Tage, als wären sie nicht mehr als ein Stück Sei­den­pa­pier. Nichts mehr schien an die­sem Wochen­ende Chia­ras Schleier der Panik zu durch­drin­gen, weder Erstau­nen bei der über­schwäng­li­chen Begeis­te­rung ihrer Mut­ter, als Fabius ihr zeigte, wie sie Brenn­nes­sel­jau­che machte, noch Scha­den­freude oder echte Besorg­nis bei der Tat­sa­che, dass Petra so krank war, dass sie den Aus­flug mit ihrem Freund absa­gen musste.

Chia­ras Magen rebel­lierte vor Übel­keit, und sie wand sich auf dem Bade­zim­mer­bo­den, als wür­den ihr die kal­ten Flie­sen Abhilfe ver­schaf­fen. Ihre Mut­ter kniete sich neben sie und zog Chia­ras Kopf auf ihren Schoß, wäh­rend die Trä­nen ihrer Toch­ter auf ihre Pyja­ma­hose tropf­ten.

»Mami, wieso muss mir das pas­sie­ren? Ich kann nicht mehr.«

»Gib nicht auf, Chiara. Es wird bes­ser wer­den. Du schaffst das. Ich weiß es. Du schaffst das.«

»Ich … will nur … dass es auf­hört!«

»Es wird irgend­wann auf­hö­ren. Ganz sicher. Ich werde mor­gen den Haus­a­rzt anru­fen.«

»Ich will nicht zum Arzt! Mor­gen … star­tet … das Klas­sen­la­ger …« Chiara ver­suchte, die Schluch­zer, die unkon­trol­liert aus der Tiefe ihres Kör­pers hoch­stie­gen, zu unter­drü­cken. »Lass mich ein­fach nur ein nor­ma­les Mäd­chen sein. Ich möchte nur ein nor­ma­les Mäd­chen sein …«

»Aber das bist du doch. Du brauchst nur Hilfe.«

Chiara presste die Augen und den Mund zu. Nein, sie war kein nor­ma­les Mäd­chen. Sie lag im Bad auf dem Boden und heulte im Schoß ihrer Mut­ter, weil sie ein paar Alb­träume gehabt hatte. Oder wie Petra es sagte – sie machte sich des­we­gen in die Hosen. In eini­gen Tagen war ihr sech­zehn­ter Geburts­tag, ver­dammt!

Sie wischte sich die Trä­nen von den Wan­gen und den Rotz von der Nase und setzte sich auf, um sich gegen den Radi­a­tor zu leh­nen.

»Viel­leicht bleibst du mor­gen bes­ser zu Hause«, schlug ihre Mut­ter vor, doch Chiara schüt­telte sofort den Kopf.

»Nein. Ich werde jetzt schla­fen, und dann bin ich mor­gen erholt für das Klas­sen­la­ger.« Sie sagte es so bestimmt wie mög­lich.

Ihre Mut­ter beugte sich nach vorne und drückte Chia­ras Knie. »Das musst du sel­ber wis­sen. Ich werde dich mor­gen noch­mals fra­gen.«

Chiara konnte tat­säch­lich schla­fen in die­ser Nacht, und als sie ihre Tasche am nächs­ten Mor­gen in die sich auf dem Bahn­steig bereits anstau­ende Som­mer­hitze schleppte, war sie sich sicher, dass sie sich ent­ge­gen dem Rat ihrer Mut­ter rich­tig ent­schie­den hatte. Was immer an die­sem Tag auf sie zukom­men mochte, sie würde es durch­ste­hen.

Lina war außer­ge­wöhn­lich unru­hig, als sie Chiara am Rand der auf­ge­regt schnat­tern­den Schul­klasse begrüßte. Ihre blauen Augen blick­ten sie weit auf­ge­ris­sen an, und Chiara wollte sie gerade fra­gen, ob es ihr nicht gut ging, als Lina sie am Arm packte und von den ande­ren weg­zerrte. Chiara, zu erstaunt über die­ses unge­wöhn­li­che Ver­hal­ten ihrer sanft­mü­ti­gen Freun­din, ließ sich mit­zie­hen.

»Das ist der Wahn­sinn«, hauchte Lina und grub mit fah­ri­gen Fin­gern in ihrer Tasche.

»Was?«

»Das.«

Lina för­derte ein zusam­men­ge­fal­te­tes Papier zutage. Dar­auf hatte sie einen Text aus­ge­druckt und die­sen in allen Far­ben ange­stri­chen, sowie den gan­zen Rand mit Noti­zen, Krei­sen und Pfei­len ver­se­hen.

Als Quelle für den aus­ge­druck­ten Text hatte Lina eine bekannte Tages­zei­tung notiert.

Sen­sa­tion des Jahr­tau­sends oder Mess­feh­ler?

For­scher aus dem Ladis­lav-Cox-Obser­va­to­rium in Groß­bri­tan­nien glau­ben, einen zwei­ten Mond der Erde ent­deckt zu haben.

»Es ist unglaub­lich«, sagte Lina. »Ich habe es heute Mor­gen gese­hen und eine ganz starke Ver­mu­tung, was das bedeu­ten könnte.«

»Lina, ich hab noch nicht fer­tig gele­sen.«

»Oh.«

Die Wis­sen­schaft­ler bestä­ti­gen nun die vie­len Augen­zeu­gen, die vor zwei Wochen von einer leuch­ten­den Wolke am Him­mel berich­tet haben, und erklä­ren, dass es sich dabei um die ver­schwom­me­nen Umrisse eines zwei­ten Erd­tra­ban­ten han­deln könnte. Seit­dem läuft die Erfor­schung des mys­te­ri­ösen Objek­tes auf Hoch­tou­ren. Heute folgte die Ver­öf­fent­li­chung der ers­ten Ergeb­nisse.

»Bis­her haben wir noch keine gesi­cher­ten Erkennt­nisse, ob es sich bei dem Him­mels­kör­per tat­säch­lich um einen Beglei­ter der Erde han­delt«, ließ Oscar Mor­ris, For­scher des Ladis­lav-Cox-Obser­va­to­ri­ums, ver­lau­ten. »Aller­dings deu­tet die Aus­wer­tung der Bil­der dar­auf hin, dass das Objekt von einer Atmo­sphäre umge­ben ist.«

Doch ein Him­mels­kör­per in der Größe unse­res Mon­des so nahe an unse­rer Erde – wie kann das sein? Wir haben nach­ge­fragt bei dem renom­mier­ten Pro­fes­sor der Astro­no­mie Guil­lermo R. Vàs­quez.

Chiara las nicht mehr wei­ter und brauchte auch nicht die vie­len Noti­zen am Rand anzu­se­hen, um zu wis­sen, wor­auf Lina hin­aus­wollte. Sie hatte von einem frem­den Pla­ne­ten geträumt, und die Wis­sen­schaft hatte ihn ent­deckt. Lina hielt ihren schlan­ken Hals, als müsste sie sich davor bewah­ren, Chiara mit einer Flut Wör­ter zu über­spru­deln.

»Was tuschelt ihr, Mädels?« Phil­ipp hatte sich unbe­merkt her­an­ge­schli­chen, seine übli­che Cli­que im Schlepp­tau. »Auf Ide­en­su­che, wie ihr Bünz­lis Geni­e­streich von einem Klos­ter­be­such umge­hen könnt? Wobei, Lina und Klos­ter passt ja. Oder bereits am Über­le­gen, mit wem ihr das Zelt heute Abend tei­len wollt?«

Er grinste anzüg­lich, wäh­rend die bei­den Mäd­chen hin­ter ihm kreisch­ten vor Lachen und sein Kum­pel vor sich hin feixte. Lina griff mit blas­sen Wan­gen nach dem Blatt in Chia­ras Hän­den, ohne Phil­ipp oder die ande­ren zu beach­ten, und stopfte es in ihre Tasche. Chiara fühlte sich, als wäre gerade etwas in ihr zer­bro­chen, das nun mes­ser­scharf war. Sie hielt es nicht aus, wenn Lina, die nie auch nur ein Wort gegen jeman­den sagte, ange­grif­fen wurde.

»Du bist so ein Feig­ling!«, fauchte Chiara Phil­ipp an, in dem Moment, als der Zug ein­fuhr, Hek­tik aus­brach und Herr Bünzli seine Schü­ler und ihr Gepäck wie ein Hund seine Herde in den Zug jagte.

Lina zog Chiara mit sich und suchte ein ruhi­ges Abteil. Sie tat so, als wäre nichts gewe­sen, als sie den Zei­tungs­ar­ti­kel wie­der her­vor­kramte, doch Chiara sah ihr an, wie mit­ge­nom­men sie war.

»Lina, Phil­ipp ist ein Idiot mit Vogel­ka­cke im Gesicht.«

»Ist nicht so wich­tig. Ich muss mich kon­zen­trie­ren.« Lina holte ihr Notiz­buch her­vor, blät­terte vor und zurück und machte auf voll­ge­schrie­be­nen Sei­ten Noti­zen, wäh­rend sie immer wie­der den Zei­tungs­ar­ti­kel oder ihr Handy zurate zog. Wenn ihr Stift wäh­rend des Schrei­bens stockte, blickte sie auf und stellte Chiara Fra­gen. »Was hast du noch mal gefühlt, als du den Pla­ne­ten gese­hen hast? Wie sieht das Zim­mer aus, in dem die Frau das Kind zur Welt gebracht hat? Hat der Vater noch etwas ande­res gesagt außer ›Mein Sohn‹, als das Kind da war? Was hast du am Him­mel gese­hen beim Erd­be­ben? Und was war das für ein wei­ßer Turm?«

»Also«, sagte Chiara, »der weiße Turm stand über der Stadt, in der die Erde gebebt hat. Ehr­lich gesagt sah er mehr aus wie ein Kunst­werk. Oder irgend­wie so … elfen­bein­mä­ßig. Als sei er … nun ja, so gewach­sen.«

Die ganze Zug­fahrt über blieb Lina hoch kon­zen­triert, stellte Chiara selbst beim Umstei­gen geflüs­terte Fra­gen, sodass ihre Klas­sen­ka­me­ra­den nicht mit­hö­ren konn­ten. Und als Bünzli ihre Ankunft am Ziel ver­kün­dete, zeich­nete Lina auf einer freien Dop­pel­seite einen gro­ßen Kreis, ehe sie has­tig ihre Sachen packte und Chiara hin­ter­her­has­tete.

Die Hitze schlug ihnen ent­ge­gen in dem klei­nen Dorf im Luzer­ner Hin­ter­land, und Chiara glaubte, bereits ein ver­däch­ti­ges Pri­ckeln in ihrem Nacken unter ihren hoch­ge­steck­ten Haa­ren zu spü­ren. Doch wo hätte sie sich wäh­rend der Zug­fahrt einen Son­nen­brand holen kön­nen? Das Pri­ckeln brei­tete sich aus, wan­derte über ihre Arme bis in die Fin­ger­spit­zen und die Rück­seite ihrer Beine hin­un­ter.

»Chiara«, flüs­terte Lina, wäh­rend sie der Klasse hin­ter­her auf das ehe­ma­lige Klos­ter zugin­gen, des­sen weiße Mau­ern sich hoch in den Him­mel bohr­ten, nur über­ragt von der mäch­ti­gen Klos­ter­kir­che. Eine Gestalt war­tete vor dem höl­zer­nen Tor und schaute ihnen ent­ge­gen, empor­ge­ho­ben, weil der Platz zur Kir­che hin anstieg. »Schau dir das an.« Lina streckte ihr die auf­ge­schla­gene Seite mit dem lee­ren Kreis ent­ge­gen. Chiara starrte dar­auf und hatte keine Ahnung, was Lina ihr zei­gen wollte.

Bünzli begrüßte den Mann, der ihnen mit brei­tem Lächeln und blit­zen­den blauen Augen ent­ge­gen­sah. Auf der Fahrt hatte sich her­aus­ge­stellt, dass ihr stets der Mathe­ma­tik und der Phy­sik zuge­wand­ter Klas­sen­leh­rer des­we­gen so inter­es­siert an einem Klos­ter­be­such war, weil irgend­ein ver­schol­le­ner Mete­o­rit hier auf­be­wahrt wor­den war.

Das Krib­beln in Chiara wuchs an zu einem Vibrie­ren, das sie so noch nie gespürt hatte. Noch viel stär­ker als beim Traum mit dem Pla­ne­ten am Him­mel. Und mit dem Vibrie­ren floss eine Welle der Wach­heit durch Chiara.

Wäh­rend sie wei­ter in Linas Notiz­buch starrte, konnte sie hören, wie der Tou­ren­füh­rer Herrn Bünzli erklärte, dass der Mete­o­rit noch immer im ehe­ma­li­gen Klos­ter ver­steckt sein könnte; konnte sie spü­ren, wie Phil­ipp etwas wei­ter vorne den Fin­ger in die Nase steckte, um ihn danach an der Hose abzu­wi­schen; konnte sie füh­len, wie die Flü­gel einer Fliege in der Luft über ihr klim­per­ten. Sie nahm wahr, wie die Flü­gel einer Fliege klim­per­ten! Hei­lige Makrele, was war los mit ihr? Plötz­lich musste sie lachen und biss sich im nächs­ten Moment auf die Unter­lippe, als sie von Lina und Bünzli gleich­zei­tig einen mah­nen­den Blick zuge­wor­fen bekam. Chiara atmete ein­mal tief durch und spürte, wie die Luft Sau­er­stoff in ihre Lunge wir­belte und die­ser anschlie­ßend wie gela­dene Ener­gie­teil­chen durch ihr Blut gepumpt wurde.

»Das ist ein Kreis, Lina.«

»Was, wenn …?« Lina krallte sich in Chia­ras Arm, und sofort schos­sen Tau­sende Emp­fin­dun­gen von die­ser Berüh­rung über Chia­ras Haut. Sie erwar­tete, dass Lina die Hand zurück­zie­hen würde. Doch ihre beste Freun­din schien gar nichts zu spü­ren. »Was, wenn all diese Visi­o­nen nicht von der Erde gehan­delt haben? Was, wenn sie dort … dort auf die­sem frem­den Pla­ne­ten statt­ge­fun­den haben?«

Obwohl Linas Stimme kaum mehr als ein Hau­chen war, dröhn­ten ihre Worte in Chiara, als hätte Lina sie mit einem Laut­spre­cher über den Platz geschrien.

»Was, aber …«

All die Argu­mente, die Chiara dachte ent­ge­gen­brin­gen zu kön­nen, ver­puff­ten, als sie Linas Aus­sage gänz­lich erfasste. Ihr Blick ver­schwamm, und vor die Sonne scho­ben sich dunkle, wogende Schat­ten, als sie plötz­lich von der Vision der Wald­lich­tung ein­ge­holt wurde. Über ihr am Him­mel hob sich die Sil­hou­ette eines Pla­ne­ten ab, und die­ser Anblick ließ Wel­len der Vibra­tion durch ihren Kör­per strö­men. Sie wollte dort sein. So schnell die Vision gekom­men war, so schnell wurde Chiara wie­der in die Gegen­wart zurück­ge­holt und erwi­derte Linas Blick ungläu­big.

Es war keine Zeit, um dar­über zu spre­chen, denn die Klasse folgte dem Füh­rer, der sich als Erik vor­ge­stellt hatte, durch die geschnitz­ten, gro­ßen Holz­tü­ren hin­ein in das von wei­chem Licht gezeich­nete Kir­chen­schiff. In jedem Raum, durch den sie gin­gen, ver­stärkte sich Chia­ras wal­len­des, ener­gie­vol­les Vibrie­ren, bis sie zum Schluss glaubte, jeden ein­zel­nen Atem­zug ihrer Klas­sen­kol­le­gen zu spü­ren und selbst das Knir­schen die­ses jahr­hun­der­te­al­ten Gebäu­des wahr­zu­neh­men. Ihre Gedan­ken hüpf­ten, als könnte sie damit das ganze Uni­ver­sum ver­mes­sen, wäh­rend sie über Linas Worte nach­dachte.

Immer tie­fer dran­gen sie in das ehe­ma­lige Klos­ter vor, und als ihr Füh­rer eine wei­tere ver­zierte Tür auf­schloss, kamen sie in eine licht­durch­flu­tete Biblio­thek. Alter­tüm­li­che Holz­re­gale ver­sam­mel­ten sich unter der weiß getünch­ten Decke, wäh­rend detail­reich geschnitzte Holz­bal­ken die Gale­rie über den Rega­len stütz­ten. Als sich die Klasse um ein auf­ge­schla­ge­nes altes Buch ver­sam­melte, berührte Chiara unauf­fäl­lig einen der Bal­ken. Ein elek­tri­sches Vibrie­ren schoss ihr von den Fin­ger­kup­pen durch den Arm bis hoch in die Schul­ter. Die Ener­gie drang ihr in jede Pore und schärfte ihre Sinne noch mehr. Atem­los ließ Chiara den Bal­ken los und schob sich nahe an Lina heran, die wie der Rest der Klasse ver­sun­ken den Erzäh­lun­gen ihres Füh­rers lauschte.

»Spürst du das auch?«, fragte Chiara. »Etwas geht hier ab.«

Lina wandte den Kopf halb zu ihr, und Chiara sah die Frage in ihren Augen. Da spürte sie einen ande­ren Blick auf sich. Erik hatte wohl bemerkt, dass sie unauf­merk­sam war.

»Mäd­chen, du siehst so abge­lenkt aus. Aber das hier wird dich inter­es­sie­ren. Komm mal nach vorne.« Der Tou­ren­füh­rer winkte ihr auf­mun­ternd zu.

Sofort dreh­ten sich alle Köpfe zu ihr, und trotz der strot­zen­den Ener­gie in Chiara hätte sie sich in die­sem Moment am liebs­ten hin­ter Lina ver­kro­chen. Einige Mit­schü­ler wis­per­ten.

»Hörst du Stim­men, Chiara?«

»Creepy.«

»Die rafft’s mal wie­der nicht.«

Die Worte hät­ten auch geschrien wer­den kön­nen und fühl­ten sich an wie Peit­schen­hiebe auf dem Weg zur Schlacht­bank, als Chiara zu Erik nach vorne schlich. Die­ses Vibrie­ren in ihr, ver­mischt mit Wut und Scham, nahm ganz neue Aus­maße an. Ihr wurde schlecht, und eine unan­ge­nehme Hitze staute sich in ihr.

»Du heißt Chiara?«

Eriks Stimme dröhnte so laut in ihrem Kopf, dass sie sich am liebs­ten die Ohren zuge­hal­ten hätte. Sie nickte bloß. Er stu­dierte sie für einen Augen­blick, als über­lege er, sie wie­der zurück auf ihren Platz zu schi­cken.

»Also, Chiara. Berühr doch mal für uns das Per­ga­ment die­ses Buches.« Er deu­tete auf das große alte Buch, das auf­ge­schla­gen vor ihr auf einem Stän­der lag. Linien, eckige Punkte und eine dicke schwa­rze Schrift über­zo­gen die ver­gilb­ten Sei­ten. »Du siehst hier die Neu­men, die Musi­kno­ten von frü­her. Die Mön­che benutz­ten das Buch für ihr Chor­ge­bet.« Erik blät­terte auf­mun­ternd selbst in dem Buch, als Chiara sei­ner Auf­for­de­rung nicht nach­kam.

Chia­ras Sicht, zuvor noch so unglaub­lich scharf, ver­engte sich, und die Hitze in ihr hatte unter­des­sen ihren Kopf erreicht, strahlte über ihre Wan­gen, bis diese glü­hen muss­ten. Der Tou­ren­füh­rer, die ganze Klasse – alle war­te­ten dar­auf, dass sie die Hand nach dem Buch ausstreckte. Reiß dich zusam­men, dachte Chiara, ein­fach berüh­ren, lächeln, zurück an den Platz neben Lina.

Doch ihr Brust­korb war vol­ler Glut … Als sie die Hand hob, war es mehr, um sich an dem Buch abzu­stüt­zen. Sie erkannte noch, wie Erik die Stirn run­zelte, als der Stän­der mit dem Buch dar­auf schwankte. Dann begann sich plötz­lich alles zu dre­hen, sie sank auf den Holz­bo­den, und der Raum und die Klasse um sie herum ver­schwan­den.

Sie rannte, sie floh durch den Wald. Vögel waren für einen Moment um sie herum, ehe sie durch die Baum­kro­nen bra­chen und in den Him­mel flo­gen. Hin­ter ihr toste ein gewal­ti­ges Feuer. Hit­ze­wel­len schlu­gen durch die Baum­stämme, das Holz knackte unter der Last der Flam­men.

Chiara kam aus dem Wald hin­aus auf eine Ebene mit hohem Gras, die Panik loderte in ihr wie das zer­stö­re­ri­sche Feuer. Auf der Wiese stan­den zwei mäch­tige alte Bäume, die ihre Äste weit aus­la­dend in die Luft streck­ten. In ihrem Blät­ter­dach zeig­ten sich vio­lette Blü­ten mit gel­ben Staub­fä­den. Chiara drehte sich um. Von der Wiese aus sah man weit hin­aus in ein Tal, doch dunk­ler, sich auf­tür­men­der Rauch ver­schlei­erte die Sicht. Die Flam­men fra­ßen sich durch die Bäume, Fun­ken sto­ben in den Him­mel. Chiara schwebte jetzt über dem Sze­na­rio und ver­folgte, wie die Flam­men in unna­tür­li­cher Geschwin­dig­keit über die kleine Wiese schlu­gen. Einen Moment spä­ter fiel das Feuer explo­si­ons­ar­tig über die präch­ti­gen Bäume mit ihrem vio­let­ten Blü­ten­meer her und ver­schlang sie voll­stän­dig. Die Flam­men stie­gen ein letz­tes Mal empor, ehe sie sich in Rauch­schwärze auf­lös­ten. So plötz­lich, wie das Feuer gekom­men war, war es auch wie­der vor­bei. Es hin­ter­ließ eine schwe­lende Schneise der Zer­stö­rung.

Und dann sah sie eine ein­zelne Gestalt, die durch den Qualm wankte. Sie erkannte undeut­lich einen Mann, und das tiefe Ent­set­zen in sei­ner Stimme schlug in ein irres Lachen um, als er sagte: »Nein. Nein, das kann nicht sein. Nein. Haha. Haha­haha. Haha­ha­ha­ha­haha. Rha­lor.«

Das Lachen dröhnte in ihrem Kopf. Die Bil­der der ver­kohl­ten Bäume rück­ten in die Ferne, ver­wir­bel­ten mit dem Rauch und ver­schwan­den. Jemand schrie und hörte nicht mehr auf zu schreien. Es musste Chiara selbst sein, die schrie.

Chiara kam wie­der zu sich, als Was­ser über ihr Gesicht lief. Sie öff­nete die Augen und sah ver­schwom­mene Köpfe über sich. Hände berühr­ten ihre Arme, und dort, wo die fremde Haut auf ihre traf, spürte sie ein merk­wür­di­ges Bren­nen. In ihrem Magen staute sich etwas. Benom­men rich­tete sie sich auf, drehte sich auf die Seite und übergab sich.

Der Ruf

Das Zelt­dach über Chiara flat­terte leicht im Wind und erzeugte ein beru­hi­gen­des Geräusch. Sie war so erschöpft, dass sich das Geräusch in ihrem Däm­mer­zu­stand mit der Erin­ne­rung ver­mischte, wie Bünzli ihr die Wange tät­schelte, wäh­rend Lina ihr den Arm um die Schul­tern gelegt hatte. Mit all ihrer Über­zeu­gungs­kraft hatte sie Bünzli und Lina davon abhal­ten kön­nen, sie zu einem Arzt zu fah­ren.

Chiara drehte sich auf die Seite und spürte einen spit­zen Stein, der durch die Schlaf­matte in ihre Schul­ter pikste. Der Rausch­zu­stand mit der außer­or­dent­li­chen Reiz­wahr­neh­mung und dem elek­tri­schen Vibrie­ren war weg und hatte eine tiefe Leere hin­ter­las­sen. Oder viel­leicht war es auch die Scham, die sich wie ein unend­li­ches schwa­r­zes Loch in ihr aus­brei­tete. Sie wünschte sich, irgendwo weit weg zu sein. In ihrem Zustand hatte sie nicht viel mit­ge­kriegt, aber sie konnte sich aus­ma­len, was ihre Klas­sen­kol­le­gen über sie gespro­chen hat­ten, nach­dem sie schrei­end zusam­men­ge­bro­chen war und Bünzli vor die Füße gekotzt hatte.

Nun lag sie alleine im Zelt, wäh­rend die Hitze des Tages der Kühle der Nacht wich und die ande­ren auf dem Lager­platz dar­auf war­te­ten, dass Bünzli end­lich schla­fen ging. Chiara hörte die auf­ge­kratz­ten Stim­men.

Als Stun­den spä­ter Lina und zwei andere Mäd­chen, mit denen sie das Zelt teil­ten, durch den Ein­gang gekro­chen kamen, presste Chiara die Lider auf­ein­an­der. Kurz dar­auf hörte sie die tie­fen Atem­züge der ande­ren.

»Die Erden­krank­heit.«

Das waren die Worte gewe­sen, die ein Mäd­chen gega­ckert hatte, wäh­rend Lina Chiara beim Ver­las­sen des Klos­ters gestützt hatte. Bünzli hatte die Unsi­cher­heit sei­ner Schü­ler beschwich­tigt, und Chiara hatte sich an Linas Pinn­wand erin­nert, als sie auf dem Zelt­platz ange­kom­men waren.

»Sie kön­nen nicht genau sagen, was die Erden­krank­heit ist. Es ist weder ein Virus noch ein Bak­te­rium. Es scheint, als würde die Krank­heit aus der Erde sel­ber aus­bre­chen«, hatte Lina als Ant­wort auf Chia­ras Fra­gen geflüs­tert, wäh­rend sie Chia­ras Gepäck ins Zelt gelegt und ihre Matte und ihren Schlaf­sack aus­ge­packt hatte.

»Sie bricht aus der Erde aus?«

»Ja. Gezüch­te­tes Gemüse, ange­pflanz­tes Getreide und Obst, alles, was der Mensch in die Erde zwingt. Das bringt die Krank­heit zu denen, die davon essen. Des­we­gen das Selbst­ge­sam­melte …« Lina hatte ihr Säck­chen mit den Gesund­heits­din­gern geschwenkt. »Und die Krank­heit brei­tet sich rasend schnell aus. Heute habe ich gele­sen, dass einige Län­der in Mit­tel­ame­rika Aus­gangs­sper­ren ver­hängt haben, und in den USA sind die Spi­tä­ler voll. Sehr viele Men­schen ster­ben.«

»Habe ich diese Erden­krank­heit?«

»Du hast Visi­o­nen, Chiara, keine Krank­heit.«

Chiara wälzte sich im Zelt auf die andere Seite und lauschte den Geräu­schen der Nacht. Was, wenn sie doch diese Erden­krank­heit hatte? Viel­leicht ver­ur­sachte das diese Hal­lu­zi­na­ti­o­nen? Und was war mit die­sem frem­den Pla­ne­ten? Und die­ser Name in ihrer letz­ten Vision? Rha­lor war es gewe­sen? Sie musste Lina am nächs­ten Tag danach fra­gen.

Der erlö­sende Schlaf wollte nicht kom­men, und irgend­wann setzte sie sich auf und rieb sich über das Gesicht, um wacher zu wer­den. In die­sem Moment drif­tete sie ohne Vor­war­nung in eine Vision ab. Doch es war kein Alb­traum und sie war hier, in die­sem Zelt. Es fühlte sich an, als ob ihr Kör­per mit ihr weg­ge­hen würde, ohne dass sie tat­säch­lich das Zelt ver­ließ.

Sie sah, wie sie durch ein Loch in einer Hecke den Cam­ping­platz ver­ließ und einem schma­len Pfad über eine Wiese folgte, bis sie zum Wald­rand kam. Es war Nacht, doch etwas in ihr wusste genau, wohin sie gehen musste. Sie drang, jetzt in schnel­lem Tempo, in den Wald ein, weit weg von jedem Weg. Sie schwebte, rannte über den Wald­bo­den, bis sie auf eine Lich­tung kam – die dunkle Wald­lich­tung, die sie bereits mehr­mals gese­hen hatte. Ihr Herz häm­merte gegen ihre Rip­pen. Der Mond spen­dete etwas Licht, mit des­sen Hilfe sie sich ori­en­tie­ren konnte. Doch sie brauchte nicht zu wis­sen, wo sie war, denn es gab nur eine ein­zige Sache, die sie inter­es­sierte.

Sie legte den Kopf in den Nacken und sah dort oben am Him­mel ganz deut­lich den Pla­ne­ten, von dem sie geträumt hatte. Klar und leuch­tend hob er sich ab von der Dun­kel­heit des Welt­alls. Chiara sah die feine, kaum erkenn­bare Sil­hou­ette, die Atmo­sphäre, die den Pla­ne­ten umgab. Ein Vibrie­ren strömte durch ihren Kör­per und löste ein mäch­ti­ges, berau­schen­des Gefühl aus und den unwi­der­steh­li­chen Drang, dort zu sein.

Chiara kam wie­der zu sich, der Anblick des Pla­ne­ten ver­schwand. Die Dun­kel­heit des Zel­tes umschloss sie, Geräu­sche und Gerü­che der Umge­bung kehr­ten zurück. Das berau­schende Gefühl jedoch blieb, und sie spürte ein star­kes Drän­gen, sofort nach dem frem­den Pla­ne­ten am Him­mel zu suchen. Gleich­zei­tig trug sie in sich die untrüg­li­che Gewiss­heit, dass dies nur jetzt mög­lich war. All die Fra­gen, die immer drän­gen­der gewor­den waren, trie­ben sie an, keine Zeit zu ver­lie­ren.

Ohne zu über­le­gen, schlüpfte sie aus dem Schlaf­sack und zog sich einen Pull­over über. Ihre Fin­ger zit­ter­ten, als sie den Reiß­ver­schluss des Zelt­ein­gangs öff­nete. Dann schnürte sie ihre Schuhe, warf einen letz­ten Blick auf die ande­ren Mäd­chen. Einen Moment zögerte sie. Sollte sie Lina wecken? Sie würde lie­bend gern mit­ge­hen. Doch dann wür­den die ande­ren bestimmt auch auf­wa­chen, und das wollte sie nicht. Sie wollte keine Sekunde län­ger war­ten und ließ den Ein­gang des Zel­tes hin­ter sich offen.

Es war ange­nehm kühl, als sie zwi­schen den ande­ren Zel­ten hin­durch­huschte. Ihre Schritte führ­ten sie über den Platz bis zu einer Lücke in der Hecke. Ihr Herz hüpfte, als sie gleich dahin­ter den schma­len Pfad ent­deckte, von dem sie eben geträumt hatte. Eilig folgte sie ihm, der fahle Schein ihres Smart­pho­nes leuch­tete ihr den Weg.

Bald schon hatte sie den Wald­rand erreicht. Es war abge­le­gen hier, nur die Lich­ter des Zelt­plat­zes waren ein Stück ent­fernt zu sehen.

Die Wip­fel der Bäume wieg­ten sich leicht im Wind, als sie den Weg am Wald­rand ent­lang­ging. Einen Moment fragte sie sich, was sie hier eigent­lich tat. Aber das, was heute, was die letz­ten Tage gesche­hen war, hatte sie hier­her­ge­führt. Ein unge­heu­rer Drang hielt sie gepackt: Sie musste die­sen Pla­ne­ten sehen, und er musste da sein, sie war sich ganz sicher. Sie sog die Luft tief in ihre Lun­gen und lenkte ihre Schritte in den Wald hin­ein.

Ihre Beine bahn­ten sich auto­ma­tisch einen Weg durch das Unter­holz, und es küm­merte sie nicht, dass Dor­nen in ihre Waden sta­chen. Sie steu­erte direkt auf die Lich­tung zu. Es war die Lich­tung aus ihrer Vision. Die Sträu­cher am Rand flüs­ter­ten, die Schat­ten waren undurch­dring­lich, nur das Gras vor ihr wurde in fei­nes Mond­licht getaucht. Chiara schluckte hart und ver­suchte, ihren Atem und ihre Gedan­ken zu beru­hi­gen. Gleich würde sie Gewiss­heit haben und dem Rät­sel um ihre Träume einen Schritt näher kom­men.

Zag­haft trat sie auf die Lich­tung, den Blick nach oben gerich­tet. Einige Schlei­er­wol­ken zogen über den dunk­len Him­mel, und da war … da war … nichts! Abge­se­hen vom hel­len Mond konnte sie nichts Außer­ge­wöhn­li­ches ent­de­cken. Sie ließ den Blick hin und her schwei­fen, von den Baum­wip­feln auf der einen bis zur ande­ren Seite, doch da war nichts.

Das kann nicht sein, dachte Chiara und unter­drückte ihre Ent­täu­schung. Sie hatte es klar und deut­lich gese­hen, sie hatte es gespürt. Die Augen in die Sterne gerich­tet, drehte sie sich ein­mal um die eigene Achse und stol­perte dabei über einen Ast. Der Moment holte sie in die Gegen­wart zurück und brachte Zwei­fel her­vor. Die Vision war so stark gewe­sen, dass sie tat­säch­lich geglaubt hatte, die­sen frem­den Mond am Him­mel zu ent­de­cken. Aber war das nicht ver­rückt? Nun stand sie da in ihrem Pyjama und dem Pull­over, mit­ten im Wald, mit­ten auf einer Lich­tung, und spürte, wie die Kälte der Nacht auf sie zukroch. Und noch etwas ande­res.

Einen win­zi­gen Moment über­legte sie, was sie regis­triert hatte, als sich ein gro­ßer Schat­ten zu ihrer Rech­ten bewegte. Chiara hatte nicht ein­mal Zeit zum Schreien, der Schat­ten schoss auf sie zu, und aus der Dun­kel­heit formte sich ein Gesicht, des­sen star­rer Blick sie fixierte.

Chiara stürzte sich auf die Seite, schaffte es, zwei Schritte zu machen – und prallte gegen eine zweite Per­son, die sich voll­kom­men laut­los ange­schli­chen hatte. Sie schlug um sich, traf etwas und spürte im nächs­ten Augen­blick selbst einen explo­die­ren­den Schmerz an ihrem Kie­fer. Hände grif­fen nach ihr, doch sie riss sich los und rannte davon.

Die Män­ner, es waren zwei Män­ner, rie­fen sich in einer frem­den Spra­che etwas zu, wäh­rend sie sie jag­ten. Blind­lings raste Chiara weg von der Lich­tung und rea­li­sierte zu spät, dass ihr die Schwärze des Wal­des die Sicht zu sehr erschwerte. Vor ihr tauchte aus dem Nichts der Stamm eines Bau­mes auf, sie riss die Arme hoch, doch das half nicht. Unge­bremst prallte sie auf das Holz. Ihr Kör­per drehte eine Pirou­ette, wäh­rend ihr Kopf im Schmerz ver­sank, und als sie auf dem Wald­bo­den auf­schlug, ver­lor sie das Bewusst­sein.

Ent­führt

Chia­ras gesam­ter Kör­per brummte. Das Vibrie­ren schien sich bis in ihre Umge­bung zu zie­hen. Ein kal­ter, unan­ge­neh­mer Druck presste auf ihren Kopf und ihren Rumpf. Sie befand sich in einer halb lie­gen­den Posi­tion auf dem Rücken. Benom­men regte sie sich, ihre Augen­li­der fühl­ten sich an, als ob sie sich nie mehr öff­nen woll­ten, und das Pochen in ihrem Kopf war übel­kei­ter­re­gend. Wie eine Sturz­flut kamen die Erin­ne­run­gen. Der Wald in der Nacht, plötz­lich die Män­ner. Sie ver­suchte, sich zu kon­zen­trie­ren, um zu Sin­nen zu kom­men.

Müh­sam öff­nete sie die Augen, star­kes Licht reizte den Schmerz in ihrem Kopf noch mehr; und dann erkannte sie einen Mann direkt neben ihr. Sofort presste sie ihre Augen­li­der wie­der zusam­men. Ihr Herz schlug so laut, dass sie sicher war, dass es dem Mann auf­fal­len musste. Doch nichts geschah.

Wo auch immer Chiara war, es war nicht der Wald­bo­den. Sie konnte nicht mehr rich­tig den­ken. War sie auf dem Weg in ein Spi­tal? War das Brum­men, das nicht von ihr kam, son­dern von der Umge­bung, der Motor eines Autos? Die Män­ner hat­ten sie ver­folgt … hat­ten sie gejagt … Mit jedem fla­chen Atem­zug, den sie nahm, brei­tete sich die Angst in ihrem Kör­per aus wie ein Gift, das sie betäubte. Kon­zen­trie­ren – sie musste sich kon­zen­trie­ren. Aber ihr wollte kein ver­nünf­ti­ger Gedanke kom­men.

Da wurde das mono­tone Brum­men von einem Quiet­schen unter­bro­chen. Chiara blieb regungs­los lie­gen. Zwei tiefe Stim­men unter­hiel­ten sich, die eine nahe neben ihr. Es war eine selt­sam klin­gende Spra­che. Einen win­zi­gen Spalt öff­nete Chiara ihre Augen. Sie erkannte ver­schwom­men zwei Män­ner in einem hel­len Raum, ehe sie die Augen wie­der schloss. Die Män­ner rede­ten wei­ter, doch auf ein­mal schie­nen sie die Spra­che zu wech­seln. Denn nach und nach ver­stand Chiara, wor­über sie dis­ku­tier­ten. Es ging um die Dauer einer Wir­kung, die sie nicht abschät­zen konn­ten. Dann war sie Thema.

»Falls sie bis zum nächs­ten Naun nicht zu sich kommt, müs­sen wir sie auf­we­cken«, sagte der­je­nige, der wei­ter weg von ihr stand.

Die zweite, jün­gere Stimme ant­wor­tete: »Soll­ten wir ihr nicht noch mehr Erho­lung geben?«

»Hm. Sie braucht auch Zeit, um alles ver­ste­hen zu kön­nen.«

»Wird sie danach ja noch genug haben.«

»Nicht alles ist so ein­fach. Ich gehe wie­der nach oben.«

Der Jün­gere stieß ein Brum­men aus, wäh­rend noch­mals das Quiet­schen ertönte.

Der Schmerz in Chia­ras Kopf nahm ab, weil plötz­lich so viel Adre­na­lin durch ihren Kör­per schoss. Unwill­kür­lich schlug sie die Augen auf und blin­zelte gegen das Licht, bis sie ihre Umge­bung bes­ser wahr­nahm. Sie waren in einem engen, kap­sel­för­mi­gen Raum, an des­sen Wän­den sich metal­lene Ein­bau­schränke in die Höhe zogen. Aller­lei Drähte, Kabel und futu­ris­tisch anmu­tende Gerät­schaf­ten, deren Zweck sich Chiara nicht erschloss, wirk­ten wie furcht­ein­flö­ßende, kleine Mons­ter. Chiara selbst befand sich in der Mitte auf einem klapp­ri­gen Lie­ge­stuhl, von bei­den Schul­tern lie­fen Gurte zu ihrem Bauch, die sie in ihrer Posi­tion hiel­ten.

Der eine Mann hatte den Raum ver­las­sen, der zweite Mann saß direkt neben ihr auf einem wei­te­ren Lie­ge­stuhl. Sein Blick aus zu Schlit­zen zusam­men­ge­zo­ge­nen Augen fixierte sie.

»Du bist wach.«

Der Mann war jung, höchs­tens ein paar Jahre älter als sie. Die unge­zähm­ten schwa­r­zen Haare rahm­ten sein dun­kel­häu­ti­ges Gesicht ein.

»Wo bin ich?«, fragte Chiara. »Wo bringt ihr mich hin?«

»Beru­hige dich, es pas­siert dir nichts«, knurrte der Mann und ließ sie nicht aus den Augen.

»Ach ja? Habt ihr mich ent­führt? Wohin gehen wir?«

Ihr Herz schlug noch schnel­ler. Sie stemmte sich mit dem Ober­kör­per gegen die Gurte, riss daran und ver­suchte her­aus­zu­sch­lüp­fen, doch die Bän­der saßen zu fest.

»Lasst mich hier raus!«

»Ich lasse dich auf­ste­hen, wenn du dich beru­higst.«

Chiara ließ sich zurück­fal­len und atmete schwer.

»Wir wol­len dir nichts antun. Es wird dir nichts pas­sie­ren.«