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Ein untrennbares Band zwischen zwei Welten, ein bröckelnder Frieden und eine Jugendliche, von der alles abhängt.
Die fünfzehnjährige Chiara wünscht sich nichts sehnlicher, als ein ganz normaler Teenager zu sein. Doch seit Wochen wird sie von immer stärker werdenden Albträumen von Naturkatastrophen heimgesucht, die ganze Landstriche verwüsten und unzählige Opfer fordern. Als eine Vision sie auf eine Waldlichtung führt, gerät sie in einen Hinterhalt und wird nach Neira, dem bisher verborgenen Mond der Erde, gebracht. Die beiden Entführer erzählen Chiara, dass sie die Macht habe, einen Krieg zwischen den naturverbundenen Völkern Neiras zu verhindern. Chiara weigert sich zu glauben, dass sie eine Trägerin der Macht ist, und will nur eines: zurück auf die Erde. Ausgerechnet einer ihrer Entführer, der geheimnisvolle Sairo, bietet ihr an, sie zurückzubringen. Erst als der fragile Frieden auf Neira endgültig zu brechen droht und sich eine neue Naturkatastrophe aus ihren Albträumen ankündigt, ahnt Chiara, dass sie mehr mit dieser unbekannten Welt verbindet, als sie bisher gedacht hat …
Eine fesselnde, naturmagische Geschichte für Jugendliche, die gerne in verborgene Welten reisen, um dort Seite an Seite mit ihren Gefährten für Gerechtigkeit zu kämpfen.
Band 1 der Neira-Trilogie.
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1. Auflage 2023Copyright © 2023 Tamara Susan OttigerDachlisserstrasse 8, 8932 Mettmenstetten, Schweizwww.susanottiger.ch
Covergestaltung: Constanze Kramer, coverboutique.de
Bildnachweise: ©Tissen Vadim, ©Sabphoto, ©tomertu, ©schankz – stock.adobe.com; ©pictureguy, ©jag_cz – depositphotos.com; rawpixel.com
Grafikdesign Karte: Cass Merry, cassmerry.com
Lektorat/Korrektorat: Sascha Rimpl, Lektorat TextFlow
E-Book Konvertierung: Constanze Kramer, coverboutique.de
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Für euch vier.
Sairo sah Chiara zum ersten Mal, als sie zwischen den Baumstämmen hindurch auf die Lichtung trat und in seinen und Burlins Hinterhalt lief.
Sie hatte den Kopf in erwartungsvoller Haltung in den Nacken gelegt, und ihre Blicke schweiften über den Nachthimmel auf der Suche nach Neira. Unbewusst hielt Sairo den Atem an, verhielt sich vollkommen ruhig und verschmolz mit der Schwärze seiner Umgebung, als er sich an Chiara heranpirschte. Selbst Burlin, der am gegenüberliegenden Rand der Graslichtung lauerte, schaffte es, keinen Mucks von sich zu geben.
Sairo spürte, dass ihre Vorsicht nicht notwendig war. Chiara war zu fokussiert auf das Firmament, um ihre Beschatter zu bemerken. Doch da war bloß der Mond am Himmel, der sein Licht sanft über ihre Silhouette fallen ließ und ihrem Haar einen matten Schimmer verlieh.
Als Chiara sich um die eigene Achse drehte, stolperte sie über einen Ast, doch selbst das schien sie kaum zu bemerken. Sairo widersetzte sich dem Drang, ebenso den Kopf zu heben. Er wusste, dass von Neira, dem zweiten Mond der Erde, nichts auszumachen war, und er durfte Chiara nicht aus den Augen verlieren. Vermutlich verdutzt darüber, dass sie kein fremdes Objekt am Himmel entdeckt hatte, stemmte sie die Hände in die Seiten. Sairo sah, wie jung sie war. Die Narben an seiner linken Brust schmerzten ausgerechnet jetzt wie ein wieder aufflammendes Feuer. Er holte flach Luft, warf einen Blick über die Lichtung zu Burlin und sah, wie der Forscher nickte.
Die Gassen waren dunkel, nur vereinzelt leuchtete an den Wänden der altertümlichen Häuser ein Stein auf, als Chiara Weber hastig über die groben Bodenplatten lief. Aus der Ferne glaubte sie ein Gluckern und Gurgeln zu hören, wie von Wasser, das um ein Schiff schwappte. Doch nichts an ihrer ruhigen Umgebung konnte Chiaras aufkeimende Furcht mindern. Sie spürte ihren Herzschlag bis in die Kehle und konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, panisch zu rennen.
Als sie zu einer Abzweigung kam, lenkte eine breite Gasse ihren Blick durch die Stadt hoch auf den Hügel mit dem weißen Turm. Wie ein elfenbeinfarbenes Kunstwerk schraubte er sich in die Höhe und schien das Licht der Sterne noch zu verstärken. Für Chiara wirkte er in diesem Moment wie die Erlösung. Als sei der Turm alles, was zählte. Unkontrolliert am Körper zitternd blieb sie stehen, wartete.
Ein plötzlicher Ruck fuhr durch den Boden und riss sie von den Füßen. Die Erde bebte, ließ die Fassaden der Häuser erzittern. Dächer brachen ein, polternd und staubaufwirbelnd stürzten Wände zusammen. Menschen rannten auf die Gasse, und ihre angsterfüllten Schreie wurden von der Gewalt des Erdbebens erstickt. Chiara stemmte sich hoch und blickte zum Turm, fixiert auf die helle Silhouette vor dem Nachthimmel, um die nun riesige Vögel kreisten. Es war, als würde der Turm ihr ein Zeichen senden, er strahlte zu ihr herunter und wollte sie zu sich locken.
Jemand stolperte neben ihr, eine fliehende Frau. Sie schlug sich die Hände blutig, doch bemerkte es anscheinend nicht. Hinter ihr brach das Haus zusammen, das sie gerade verlassen hatte. Dann war das Beben vorbei, die Erde kam zur Ruhe. Einen Moment blickte die Frau neben Chiara mit aufgerissenen Augen auf den Trümmerhaufen hinter ihr. Der Staub der eingestürzten Häuser umhüllte sie wie eine Wolke, und Chiara musste husten. Die Frau begann zu schreien, ein Schrei, der Chiara ins Herz fuhr. Völlig außer sich krallte die Frau ihre Hände in die Haare und riss daran, während sie nach ihrem Mann und ihren Kindern rief, die unter den Trümmern begraben waren. Sie schrie und schrie, und Chiara fühlte sich wie zerbrochen.
»Chiara, Chiara!«
Die Frau streckte ihre Hände nach den Trümmern aus. Ihre Arme, ihr Gesicht, ihre Haare waren staubbedeckt.
»Chiara!«
Ein Gesicht beugte sich über Chiara. Doch sie konnte aufgrund des Staubes nicht erkennen, wer es war.
»Chiara!«
Ihre Mutter. Und daneben ihre Schwester Petra.
Chiara keuchte, ihre Finger schmerzten. Sie bemerkte, dass sie diese mit aller Kraft in die Decke gekrallt hatte. Sie lag auf dem Boden in ihrem Schlafzimmer. Noch nicht völlig losgelöst von den schrecklichen Eindrücken warf sie den Kopf hin und her, doch keine Staubwolke, keine schreiende Frau, keine Trümmer waren zu sehen. Sie war zu Hause. Es war alles nur wieder ein Albtraum gewesen.
»Chiara, verstehst du mich?«, fragte ihre Mutter und musterte sie aus grünbraunen Augen. Gabriele Weber behauptete oft, die vielen feinen Linien in ihrem Gesicht kämen von der Arbeit oder von ihrem entflohenen Ex-Mann, doch ihre unbändigen Frisuren betonten ihre stete Unbekümmertheit. Auch jetzt tanzten wieder gefärbte Strähnen um ihr Gesicht.
Chiara nickte. Adrenalin rauschte durch ihren Körper und ließ ihr Herz rasen. Das klamme Gefühl der Angst hielt sie weiterhin gepackt. Ihre Mutter legte ihr eine kühle Hand auf die Stirn, und sie schloss für einen Moment die Augen. Die vertraute Berührung tat ihr gut.
»Du hattest wieder einen Albtraum.«
»Ich habe es gemerkt«, murmelte Chiara. »Und wieso ist deswegen der ganze Familienrat hier versammelt?« Sie blinzelte zu ihrer älteren Schwester hoch.
Petra setzte sich neben sie auf den Boden. »Weil du die ganze Zeit geschrien hast. Es hat ewig gedauert, bis wir dich wecken konnten. Du hast mit offenen Augen geschrien und durch uns hindurchgestarrt wie ein Zombie. War echt abnormal.«
Chiara warf ihrer Mutter einen Blick zu und las in ihren Augen Bestätigung und Sorge.
»Jetzt lebe ich ja wieder.«
Sie rieb sich über den Kopf, der sich unglaublich schwer und müde anfühlte, nun, da die Angst langsam nachließ. Ihr Mund war trocken und rau, als hätte sie Staub geschluckt. Sie entrollte sich aus ihrer verkrümmten Stellung, stand auf und setzte sich an die Bettkante, während ihre Mutter ihr ein Glas Wasser holte.
Petra sagte nichts. Doch aus ihrem Gesicht sprach Besorgnis, was selten war. Die beiden Schwestern ähnelten sich vom Charakter her kaum, trotzdem wurden sie oft für Zwillinge gehalten. Petra hatte die gleichen dunkelblonden Haare, die im Bereich der Ohren vom Kopf abstanden, ebenso die gesprenkelten braunen Augen und die schlanke Nase.
Chiara ärgerte sich immer, wenn sie mit Petra verwechselt wurde.
Petra liebte es, in solchen Situationen zu sagen: »Dieses unscheinbare Ding? Nee, nicht mit mir verwandt. Bloß aus Versehen denselben Geburtskanal wie ich erwischt.« Und sie erntete damit Gelächter – wobei ihr ekliger Freund oftmals am lautesten lachte –, während Chiara nichts anderes übrig blieb, als ihrer Schwester mit glühenden Wangen bitterböse Blicke zuzuwerfen. »Seht ihr? Viel zu wenig Humor. Und etwas mehr Sport würde ihr auch guttun, anstatt ständig mit den Losern ihrer Klasse abzuhängen.«
Chiara hätte ihre Schwester manchmal erwürgen können.
Nun saß Petra auf dem flauschigen Teppich in Chiaras Zimmer direkt neben ihrem Schreibtisch und dem mit Kleidern überhäuften Bürostuhl und betrachtete sie, als hätte sie mal wieder etwas nicht auf die Reihe gekriegt. Nur am Rande registrierte Chiara, dass Petras herzförmiges Gesicht genauso erschöpft und angeschlagen aussah, wie sie sich fühlte. Um Petras Blick nicht mehr aushalten zu müssen, schloss Chiara die Augen. Sofort zuckten die Bilder der zerstörten Häuser hinter ihren Lidern vorbei. Chiara hörte etwas blättern.
»›Petra ist eine bescheuerte Küchenschabe.‹ Spinnst du?«
Chiara öffnete die Augen und sah, dass Petra ihr Traumtagebuch, das Chiara von ihrer Psychologin erhalten und auf ihrem Bürostuhl liegen hatte, aufgeschlagen auf den Knien balancierte. Offenbar genau an jener Stelle, an der sich Chiara, anstatt über ihre Albträume zu schreiben, über Petra ausgelassen hatte.
»Weißt du was, Chiara, du bist so erbärmlich. Werd endlich erwachsen und mach dir nicht ständig in die Hosen wegen ein paar Träumen.«
Petra warf das Tagebuch auf Chiaras Pult, wo es das Chaos vergrößerte und einige Abdeckstifte, zerknüllte Taschentücher und ein Bild ihrer verstorbenen Großeltern zu Boden segeln ließ. Eine Hitzewelle stieg aus Chiaras Bauch in ihren Kopf, doch ihre Schwester huschte genau in dem Moment aus dem Zimmer, als Gabriele mit einem Glas Wasser zurückkam.
»War es wieder derselbe Albtraum? Von der Geburt?«, fragte ihre Mutter, als sie Chiara das Glas Wasser reichte.
Chiara schüttelte den Kopf. »Ein neuer Albtraum.«
»Willst du erzählen, worum es ging?«
Chiara antwortete nicht. Sie wollte diese Albträume nicht. Sie wollte nicht abnormal sein, wie es Petra gesagt hatte. Und erst recht nicht wollte sie zu den Losern gehören, während ihre Mitschüler über sie tuschelten, weil sie wieder verpennt und unkonzentriert war.
Ehe die trüben Gedanken überhandnehmen konnten, hob sie das Glas an die Lippen und trank in großen Schlucken. Sie spürte, wie das Wasser den Staub, der nicht da war, aus ihrer Kehle spülte.
»Ich will bloß schlafen.«
Sie legte sich wieder ins Bett, drehte sich zur Wand und zog die Decke bis zum Kinn. Chiara spürte die Anspannung ihrer Mutter und wie sie mit sich rang, sie auf die Ereignisse der letzten Wochen anzusprechen. Wie stark sich die Albträume verschlimmert hatten und Chiaras Tage beeinflussten. Doch stattdessen hörte sie sie sagen: »Gute Nacht.«
»Nacht«, murmelte Chiara in ihr Kissen und lauschte dem Geräusch, als ihre Mutter leise die Tür ins Schloss zog.
Warum konnte sie nicht wieder ein ganz normales fünfzehnjähriges Mädchen sein? Warum konnte die Entscheidung, ob sie nun Make-up tragen sollte oder nicht, nicht die schwierigste ihres Tages sein? Und warum, verdammt, warum konnte ihre Angst vor Pferden nicht die einzige Angst in ihrem Leben sein? Chiara stellte sich diese Fragen am nächsten Tag so intensiv, dass sie kein einziges Wort von dem vernahm, was Herr Bünzli, ihr Klassenlehrer, erzählte.
Aber die Erdanziehungskraft musste hier im Physikzimmer besonders groß sein, denn Chiara war sich sicher, dass ihr Kopf unweigerlich von der Tischplatte angezogen wurde und ihre Stimmung sowieso schon mehrere Stockwerke tiefer gestolpert war. Dass die Luft im Klassenzimmer stickig war und die Hitze von außen gegen die Fensterscheiben, an denen lahme Fliegen krabbelten, drückte, machte es nur schlimmer. Selbst das Gekratze der Stifte, mit denen die Oberstufenschüler ihre Aufgaben lösten, klang unmotiviert.
Chiara warf einen Blick nach links zu Lina, die konzentriert auf ihr Aufgabenblatt starrte und mit einer Hand in ihrer Tasche unter dem Pult wühlte, um ein paar Samen und Knollen hervorzuholen und in ihren Mund zu schieben. Wo auch immer sie diese mit ihrer Klimagruppe gesammelt hatte.
»Sch«, machte Chiara leise.
Lina verschluckte sich beinahe. Sie hustete und strich sich eine lange goldblonde Strähne aus dem Gesicht, um Chiara aus ihren sanftmütigen Augen einen leicht vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. Chiara war froh, dass sie in der letzten Bankreihe saßen.
»Um was geht’s da gerade?«, hauchte Chiara und nickte zu Herrn Bünzli, der mit ausführlichen pantomimischen Bewegungen sein Referat untermalte.
»Über den Absturz eines Meteoriten hier in der Nähe«, antwortete Lina leise, und der Vorwurf schwand sofort aus ihrem Blick und machte Sorge Platz. Chiara wusste genau, was sie dachte: schon wieder total verpeilt. Nun ja, Lina würde niemals verpeilt zu ihr sagen, aber unkonzentriert war auch nicht besser. Chiaras Herz fühlte sich an, als würde jemand einen Stift hineinbohren.
»Über den Absturz eines Meteoriten?«
»Astrophysik halt.«
»Astro…?«, begann Chiara und fragte sich, wie jemand auf die Idee kam, am letzten Freitagnachmittag vor dem Beginn des Schullagers noch Astrophysik zu unterrichten.
»Wenn die Damen endlich ihre Aufgaben fertig lösen würden, könntet ihr noch der Anekdote lauschen, wie der Meteorit zuerst in einem nahe gelegenen Kloster untergebracht wurde, ehe er von dort auf unerklärliche Weise verschwand«, unterbrach Herr Bünzli ihre Unterhaltung.
Lina lief rot an und tippte auffordernd auf Chiaras Aufgabenblatt.
Notiere die nicht selbst leuchtenden Himmelskörper (5), stand da, und Chiara fragte sich, was schlimmer war: die Tatsache, dass sie keine Ahnung hatte, was nicht selbst leuchtende Himmelskörper waren, oder der Fakt, dass sie schon wieder an ihre Albträume dachte. Denn nichts anderes als die Albträume führte dazu, dass sie sich nicht konzentrieren konnte.
Es hatte vor einem halben Jahr angefangen; gelegentlich war sie in nass geschwitztem Bettzeug erwacht, weil die Qualen einer Gebärenden sie in ihren Träumen heimgesucht hatten. Seither riss sie die Panik, die sie beim Anblick der Frau in dem dunklen, rauchigen Zimmer verspürte, immer öfter aus dem Schlaf. Sie kannte das Gesicht der Frau mittlerweile beinahe so gut wie ihr eigenes Spiegelbild. Die weiße, von einem Schweißfilm überzogene Haut, die langen, strähnigen Haare, so schwarz, dass sie jedes Licht schluckten, das von den flackernden Kerzen verbreitet wurde. Die blauen Augen, erst aufgerissen und dann in purer Erschöpfung und Freude verzogen, wenn sie zum ersten Mal ihren Sohn sah.
»Gopf«, murmelte Chiara leise, blinzelte und starrte auf das leere Aufgabenblatt. Sie setzte den Stift an, um irgendeine plausible Antwort auf die erste Frage niederzuschreiben, während sie daran dachte, dass sie wieder einmal nichts hinkriegte. Wenn es schlimm kam, würde Bünzli vor der ganzen Klasse verkünden, dass das Papier für Chiaras Aufgaben reinste Ressourcenverschwendung war, Philipp, der Klassenclown, würde einen behämmerten Spruch loswerden, und alle würden lachen – wie immer.
Sie fröstelte, auch wenn nichts an diesem heißen Wetter zum Frösteln war. Ein Schauer rann über ihre Arme, und sie zog unwillkürlich die Schultern hoch, während sich in ihr alles zu verengen begann. Das Klassenzimmer um sie herum löste sich in Schwärze auf. Es war wie ein Wegdriften. Ihr Herz trommelte in ihrer Brust, und sie klammerte sich an den Tisch. Sie wurde nicht bewusstlos, sie sah einfach nicht mehr ihre wirkliche Umgebung.
Die Dunkelheit formte sich zu Konturen, sie erkannte Bäume, die sanft raschelten. Da war eine Lichtung vor ihr in einem Wald, es war Nacht. Sie streifte zielstrebig durch das Unterholz darauf zu. Dann hatte sie freie Sicht nach oben – und am schwarzen Nachthimmel tauchte klar und deutlich ein Planet auf. Eine graugrüne Kugel, nicht viel größer als der Mond. Faszination durchströmte sie wie ein Vibrieren, und sie wünschte sich unwillkürlich, dieses Bild festhalten zu können.
Doch da war ein Wispern, nein, eine Stimme, sie wurde lauter und klarer in ihrem Kopf. Die Dunkelheit hellte auf, ihre Umgebung veränderte sich und nahm wieder die Formen eines Klassenzimmers an. Die neugierige Aufregung, das Drängen in ihr, löste sich in Verwirrung auf.
»Bitte schließt langsam die Aufgaben ab«, bat Herr Bünzli.
»Chiara, was ist los?«, hauchte Lina sie von der Seite her an, und Chiara schrak vollends aus ihrem Traum. Ihre Hand streifte Linas Etui, und die Stifte klackerten auf den Boden. »Eines Tages geht noch die Welt wegen deiner Tollpatschigkeit unter«, murmelte Lina, aber ihre Stimme war warm dabei.
Philipp, besagter Klassenclown, saß in der Reihe vor ihnen und drehte sich um. »Bist du eingepennt? Brauchst du ein Kopfkissen?« Er grinste, und die Sommersprossen auf seinem Gesicht verschoben sich in Richtung Ohren.
»Solange es nicht deines ist«, antwortete Chiara leise.
»Du willst das Kopfkissen mit mir teilen? Ohoo, Chiara.«
Chiara wusste nicht, ob Wut oder Scham mehr überhandnahm, als einige Mitschüler lachten. Sie ballte die Fäuste. Doch ehe Chiara schreien oder in den Boden versinken konnte, beruhigte Linas sachte Berührung am Arm sie. Bünzli pochte energisch gegen das Whiteboard, um die Aufmerksamkeit seiner Schüler wieder auf sich zu lenken. Der Knoten in Chiaras Bauch löste sich auf, dafür hätte sie jetzt am liebsten losgeheult. Lina sammelte ihre Stifte ein und streckte dann Chiara ihren Beutel mit Samen und Kräutern hin, doch Chiara schüttelte den Kopf. Sie kritzelte unten auf Linas Aufgabenblatt: Ich habe etwas gesehen. Dabei unterstrich sie »gesehen«, worauf Lina ihr einen bedeutungsschwangeren Blick zuwarf.
Es geschah bereits zum zweiten Mal, dass Chiara plötzlich, mitten am helllichten Tag, Dinge sah, die andere nicht sahen. Vor zwei Tagen waren es die Nachwirkungen eines Albtraumes gewesen. Nachts hatte sie von einer Steinlawine geträumt, die einen Hang mit sich riss. Und dann, tagsüber, hatte sie plötzlich das Poltern der Steine vernommen und die Schatten von umknickenden Bäumen gesehen.
Mit ihrer feingliedrigen Hand schrieb Lina eine Antwort.
Heute Abend um 8 Uhr bei mir.
Chiaras Augen brannten, als sie Lina hinterherschaute, die eilig ihre Sachen packte und davondüste. Dann bemerkte sie, dass sie nun ohne Linas Schützenhilfe war. So schnell sie konnte, stopfte sie ihre Schulunterlagen in ihre Tasche, wobei die Hälfte wieder herausfiel. Eine fremde Hand fing ihr iPad auf, das hinterherzurutschen drohte, und Chiara schaute hoch in Philipps rundes Gesicht. Sofort spannte sie sich an und wappnete sich innerlich gegen irgendeinen dämlichen Spruch, als sie ihm das iPad aus der Hand riss.
»Stimmt’s, dass du zu einer Psycho-Tante musst?«
Chiara starrte Philipp an und hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Einfach nicht anfangen zu heulen.
»Alter, was geht ab bei dir, hörst du Stimmen?« Philipp machte einen Schritt zurück, als fürchtete er, von ihr angesteckt zu werden. Kaum zu glauben, dass es noch nicht lange her war, dass sie für diesen Idioten geschwärmt hatte.
»Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß«, brachte Chiara hervor. Sie schmiss die Tasche über ihre Schulter, und kurz darauf hatte sie das Klassenzimmer verlassen und stürmte durch das Schulhaus auf den Hof hinaus.
Etwas drückte Chiara auf den Brustkorb, als sie nach Hause kam. Im Flur des Mehrfamilienhauses überprüfte sie auf dem dunklen Bildschirm ihres Handys ihr Aussehen und verrieb die getrockneten Tränen auf ihren Wangen. Sie sah schrecklich aus, müde und erschöpft und erschlagen.
Eine Bewegung ließ sie zusammenzucken, und erst jetzt erkannte sie Petra, die sich gerade von der Wand im Flur löste. Es sah so aus, als hätte sie dort eine … Pause machen müssen. Aber jetzt stolzierte sie ihr wie ein Pfau entgegen, und die Art, wie sie ihre Lippen kräuselte, ließ Chiara bereits das nächste Unheil erwarten.
»Gott, Chiara, du siehst aus wie eine Leiche vor der Beerdigung.«
Chiaras Ohren rauschten, als sie sich kommentarlos an ihrer Schwester vorbeidrücken wollte. Doch Petra ergriff sie am Arm, und Chiaras Sicht entschwand plötzlich in weite Ferne. Nicht schon wieder, dachte sie panisch, als das bleiche Gesicht ihrer Schwester verblasste.
»Was ist los mit dir, Chiara?«, hörte sie Petra sagen, während sie verzweifelt gegen die Bilder ankämpfte, die vor ihren Augen zu flackern begannen. Die Geburt, der schweißnasse Oberkörper der bleichen Frau, der sich bei jedem gepressten Atemzug hob und senkte, während der Geruch nach Ausdünstungen und Rauch schwer in der Luft lag.
Für einen Moment sah Chiara wieder klarer, und sie fragte Petra: »Hast du Philipp erzählt, dass ich zur Psychologin muss?«
Petras Freund war Philipps älterer Bruder. Petra verdrehte die Augen, doch schon verschwand ihr Gesicht wieder, und Chiara sah die Gebärende schreien. Panik überrollte sie und verstopfte ihre Gedanken. Ein Mann, der Vater des Kindes, hob ein Bündel nahe an sein Gesicht und flüsterte zärtlich: »Mein Sohn.«
»Du sollst etwas entspannter damit umgehen«, drang Petras Stimme durch die Watte in Chiaras Kopf. Mit aller Kraft verdrängte sie die Panik und schob die Bilder dieser Halluzination von sich. »Außerdem bist du nicht die Einzige, die krank ist.« Petra klang, als wolle sie damit einen Preis gewinnen.
»Ich bin nicht krank. Und wenn du’s bist, dann verreck doch daran.«
Sofort wünschte sie sich, die Worte niemals ausgesprochen zu haben, als sie den ungläubigen Ausdruck in Petras Augen sah.
»Wenn das so ist … Aber dir ist schon klar, dass ich dir nur helfen will? Du bist immerhin meine kleine Schwester.« Petra ließ Chiaras Arm los und stolzierte zum Ausgang. Ihr Gang wirkte angeschlagen, und Chiara brachte es nicht fertig, irgendetwas zu sagen.
Chiaras Mutter werkelte auf der kleinen Terrasse, die zu der Mietwohnung gehörte, die sie mit ihren beiden Töchtern teilte.
Chiara stopfte sich eine Banane in den Mund, als sie in den schmalen Schattenstreifen auf der Terrasse trat. Sie musste die Übelkeit loswerden und das Schuldgefühl, das sich wie eine mannshohe Welle vor ihr auftürmte. Wieso waren ihr bloß diese Worte rausgerutscht? Und wieso hatte Petra ein komplett anderes Verständnis von Hilfe als sie?
Ihre Mutter schnipselte etwas, während sie nah an der Abtrennung zur Nachbarterrasse stand, und hatte ihr den Rücken zugekehrt. Ihre Beine steckten in weiten Jeans, und sie hatte die Haare zu einer unordentlichen Frisur hochgesteckt. Ein iPad lag neben ihr auf der Erde, und eine blecherne Stimme erzählte von einer sonderbaren Erkrankung, die seit einigen Tagen für Aufruhr sorgte: »… in den USA wird nach wie vor davon ausgegangen, dass die Erdenkrankheit, wie sie genannt wird, stark mit dem Pestizideinsatz in der Landwirtschaft zusammenhängt. Allerdings breitet sich die Krankheit von Nordamerika ausgehend weltweit aus, auch in Gebieten, die kaum pestizidbelastet sind. Die Zahl der Toten steigt rapide an …«
Chiara beobachtete, wie ihre Mutter immer wieder von ihrer Arbeit aufschaute und verstohlen über die niedrige Holzpalisade in den benachbarten Garten schielte. Neugierig lief Chiara in die brütende Hitze hinaus auf Gabriele zu.
»Was machst du da?«
Ihre Mutter schreckte zusammen und wirbelte herum. »Chiara! Was machst du da?«
»Das habe ich dich gefragt.«
Irgendwie wirkte ihre Mutter wie ein Schulmädchen, das bei etwas erwischt worden war.
»Ich, äh, ich mache Brennnesseldünger.«
»Brennnesseldünger?«
»Genau.« Ihre Mutter wedelte mit einer Pflanze in der Luft herum und deutete auf das iPad, das weiterhin über die Krankheit berichtete.
»Brennnesseldünger herstellen«, las Chiara auf der Seite, die Gabriele geöffnet hatte. »Wofür brauchst du Brennnesseldünger?«
»Na, für meine Pflanzen.«
»Für welche Pflanzen?«
»Chiara, ich habe Pflanzen auf meiner Terrasse. Dieser Dünger soll gewährleisten, dass sie etwas länger überleben. Ich weiß schon, was ich mache.«
Chiara blickte über die welken und traurig dreinblickenden Pflanzen in ihren Töpfen. Ihre Mutter hatte den ungrünsten Daumen, den sie je gesehen hatte.
»Und was soll das bringen?«, fragte Chiara und hörte ihrer eigenen Stimme an, wie schlecht gelaunt sie klang.
Ihre Mutter schaute auf, spähte kurz über den Zaun in den Nachbargarten und betrachtete dann ihre Tochter. »Was hast du denn für eine Weltuntergangsstimmung?«
Chiara verzog das Gesicht und wich der behandschuhten Hand ihrer Mutter aus, die wohl ihre Wange hatte tätscheln wollen.
»Zuvor haben sie berichtet, dass eine religiöse Gruppierung behauptet, unsere Erde habe sich gegen uns gewandt und die Welt gehe demnächst unter«, erklärte ihre Mutter und nickte zu dem iPad. »Ich dachte, ich schaue, dass wenigstens noch ein paar Pflänzchen leben, sollte die Menschheit unerwartet ausgerottet werden.« Sie lächelte sanft.
Chiara hob einen Mundwinkel an.
»Gabriele, schau, das will ich dir zeigen.«
Fabius, ihr neuer Nachbar, trat an die Palisade. Die Art, wie ihre Mutter bei seinem Anblick mit ihren erdverkrusteten Handschuhen ihre unordentliche Frisur zu richten versuchte, verriet Chiara, dass sie deswegen ständig so hinübergespäht hatte. Fabius war um die Körpermitte herum deutlich beleibt und hatte kurze Haare, die sich um eine Halbglatze formten wie die verdorrten Blätter um die Blumentöpfe ihrer Mutter. Mit seinen dicken Fingern blätterte er in einem Gartenheftchen.
»Oh, hallo, Chantal, nicht wahr?«
»Chiara. Hallo.«
»Ah, genau. Wusste, etwas mit C. Wie läuft’s in der Schule?«
Die Banane, die Chiara zuvor gegessen hatte, lag plötzlich unangenehm schwer in ihrem Magen, und es musste ihr bestimmt anzusehen sein, wie übelkeiterregend diese Frage für sie war. Aber Fabius lächelte sie bloß freundlich an.
»Ja, alles klar«, murmelte Chiara.
Fabius nickte zufrieden und beugte sich danach über die Holzpalisade, wobei er fast seinen Bauch, der bei der Bewegung unter seinem T-Shirt hervorrutschte, an einem spitzen Pfahl aufspießte.
»Nanu«, sagte er erstaunt, »was machst du denn mit den Taubnesseln, Gabriele? Du hast sie doch hoffentlich nicht mit Brennnesseln verwechselt, um daraus Jauche zu machen?«
Chiara wandte sich ab, um ein Grinsen zu verbergen und die beiden alleine zu lassen. Seit ihr Vater sie vor Jahren wegen einer anderen verlassen hatte, schien es das erste Mal zu sein, dass sich Gabriele für einen anderen Mann interessierte.
»Gehst du noch weg heute Abend?«, rief ihre Mutter ihr nach, als sie bereits halb durch die Terrassentür in die angenehme Kühle der Wohnung getaucht war.
»Ich treffe mich mit Lina.«
»Könntest du dann, ehe du gehst, Petras Wäsche zusammenlegen?«
»Das kann sie selber machen.«
»Sie fühlt sich nicht so gut.«
Chiara lag bereits eine Antwort auf der Zunge, doch sie schluckte sie wütend hinunter. Lina war die Einzige, mit der sie reden konnte.
Linas Zimmer sah aus wie das Büro einer Mordermittlung. Die Wand hinter ihrem Schreibtisch, auf dem ein Film auf dem Laptop lief, war so verhangen und zugeklebt, dass die blassrosa Tapete kaum noch zu erkennen war. Unter großen Titeln, die das Notizen-Wirrwarr in eine gewisse Ordnung brachten, hing womöglich jede einzelne Nachricht, die jemals über die geheimnisvolle Erdenkrankheit gebracht worden war. Seit Chiaras letztem Besuch war der Wandbehang explosionsartig gewachsen.
»Wieso …?«, begann Chiara und starrte die Wand an.
»Weil … das ist … irgendwas«, sagte Lina ausweichend.
»Ach ja?«
Chiara plumpste auf das winzige Sofa, das sich zwischen Schreibtisch und Bett kauerte, und zog die Popcornschüssel auf ihren Schoß, während sie einige Stichwörter überflog, die Lina an die Wand gepinnt hatte: Ursprung? Kein menschlicher Auslöser! Größerer Zusammenhang?So viele Tote? Chiara wusste manchmal nicht so recht, ob sie über Linas Verbissenheit staunen oder sich davor fürchten sollte.
»Ich habe mir auch Gedanken über deine Träume gemacht«, sagte Lina. Das war nichts Neues, doch die Art, wie sie es ausdrückte, ließ Chiara vermuten, dass es irgendwo auch eine Wand gab, die ebenso vollgeschrieben war mit Chiaras Problemen.
»Es wird immer schlimmer«, murmelte Chiara und erzählte dann stockend, was im Unterricht und danach genau passiert war. Lina saß stumm und mit vorgeneigtem Oberkörper neben ihr, während sie jedes Detail von Chiaras Schilderungen in sich aufsog.
»Und du bist sicher, dass du nicht einfach … müde warst und eingeschlafen bist? Oder dich Herrn Bünzlis Erzählungen über den Meteoriten so sehr in den Bann gezogen haben?«
»Ts, das würde vielleicht dir passieren.«
»Na ja …«
Chiara griff in die Schüssel und träufelte ein Popcorn nach dem anderen in ihren Mund.
»E’sch wa’ wie ein D’ängen«, sagte sie mit vollgestopftem Mund, ehe sie schluckte.
»Wie ein Drängen?«
»Die erste … Halluzination. Ich wollte unbedingt diesen Planeten sehen, als wäre es das Einzige, was zählt. Echt wild. Und als ich ihn dann endlich gesehen hatte, vibrierte alles.« Chiara pickte einige besonders dicke Exemplare aus der Popcornschüssel, um Linas Blick nicht zu begegnen. »Und danach war’s nochmals die Geburt, als ich Petra getroffen hab.«
Sie schwiegen. Es raschelte, als Lina sich aus ihrem Säckchen selbstgesammelte Kerne und Kräuter in den Mund schob. Sie kaute so langsam, dass es wirkte, als würde sie alle Energie fürs Denken benötigen.
»Dann sind es jetzt also drei Naturkatastrophen-Träume.« Lina stellte ihre Gesundheitsdinger auf die Seite. »Und wir haben ebenso drei Kategorien.«
»Was für Kategorien?«
Lina stürzte zu ihrem Schreibtisch, fischte ein Notizbuch hervor und blätterte darin herum, bis sie eine leere Seite fand. Dort zeichnete sie drei Kreise. »Die erste Kategorie ist die Geburt. Sie hat eine tiefere Bedeutung. Ist womöglich nur eine Metapher.«
»Eine …? Lina, was ist das für Zeugs, und was macht das mit dir?« Chiara schwenkte Linas Raschelsäckchen hin und her, doch Lina warf ihr bloß einen strengen Blick zu, ehe sie den ersten Kreis mit Geburt ausfüllte.
»Die zweite Kategorie beinhaltet Naturkatastrophen. Bisher hast du von drei Katastrophen geträumt. Zuerst kam der Vulkanausbruch. Du stehst an einem schwarzen Hang, spürst die Hitze, hörst das Grollen des Vulkanes. Dann ist da Lava, die fauchend ausbricht. Wieder hast du diese Panik. Später kamen die Träume der Steinlawine dazu; wieder stehst du an einem Hang, diesmal ist er bewaldet. Du siehst weit ins Land hinaus, über die Wälder bis zu der fernen Bergkette, als die Steinlawine ihren Anfang nimmt. Du schwebst über die Lawine hinweg, siehst Geröll und Schlamm, die Bäume wie Zündhölzer umknicken lassen. Schwärme von Vögeln steigen auf, um sich in Sicherheit zu bringen. Anders als bei der Geburt ist deine Angst hier gerechtfertigt. Denn weiter unten, in der Schneise der Lawine, befinden sich Hütten. Menschen versuchen zu fliehen, doch sie werden begraben unter der tödlichen Gewalt.«
Unwillkürlich spürte Chiara ein Schaudern bei Linas lebhafter Nacherzählung ihrer Albträume.
»Und gestern Nacht dann das Erdbeben. Sind diese Katastrophen tatsächlich passiert? Oder was bedeuten sie?«
Chiara zuckte mit den Schultern. Es war nicht das erste Mal, dass Lina diese Fragen stellte, und Lina hatte tatsächlich schon mehrmals nach Antworten gegoogelt. Aber alle Fotos von Ereignissen, die wirklich geschehen waren, hatte Chiara mit einem Kopfschütteln abgetan.
»Und was ist die dritte Kategorie?«, fragte Chiara, als Lina nicht fortfuhr.
»Die dritte Kategorie ist die Waldlichtung mit dem fremden Planeten. In einem unterscheidet sich dieser Traum deutlich von den anderen«, stellte Lina fest und tauchte ihre Hand in die Popcornschüssel.
»Du meinst, dass ich währenddessen nicht geschlafen habe?«
»Aber nein, das macht wohl keinen Unterschied, ob du schläfst oder nicht. Eine Vision holt dich dann ein, wenn sie kommt, egal welche Tageszeit gerade ist.«
Chiara widersprach Linas Logik nicht, aber sie fragte sich, ob ihre beste Freundin sich vielleicht zu viele fantastische Geschichten reingezogen hatte. Der aufgeregt flackernde Bildschirm von Linas Laptop, auf dem gerade eine Fantasy-Serie lief, zeugte davon.
»Nein, ich meine, dass du keine Angst dabei verspürt hast. In allen anderen Träumen ist immer diese Angst dabei, selbst bei der Geburt, bei der ja beide Eltern glücklich zu sein scheinen und das Kind gesund. Als du in deiner Vision auf die Waldlichtung trittst und den Planeten siehst, bist du so fasziniert davon, dass alles in dir vibriert.« Lina schien es nicht zu kümmern, dass es überhaupt keinen Sinn ergab, am Himmel einen fremden Planeten zu sehen. »Es war also ganz anders als der Traum der Geburt oder der Katastrophen«, fuhr Lina fort. »Du hast dich hingezogen gefühlt. Fast so … fast wie ein Ruf.« Ihre sanften Augen weiteten sich, und sie starrte Chiara mit verschwommenem Blick an.
»Lina!«, sagte Chiara drohend. Wenn das so weiterging, würde jeden Moment Linas Fantasie mit ihr durchgehen. Und Chiara hatte gerade keine Energie mehr dafür, sich durch Linas abgedrehte Theorien von Mord, Totschlag und übersinnlichen Fähigkeiten zu kämpfen. Sie wollte nur, dass die Albträume aufhörten. Plötzlich hatte sie keinen Appetit mehr, und sie stellte die Popcornschüssel zur Seite. Lina blinzelte, und ihr entrückter Blick fokussierte sich wieder.
»Ach, Chiara, tut mir leid. Ich verrenn mich manchmal ein bisschen.«
»Nur wenig.«
Lina schaute schuldig und besorgt zugleich. Chiara streckte ihr die Zunge raus, und Lina deutete dies offensichtlich als Versöhnung, denn sie verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln.
»Ist ja eh klar, dass man im Unterricht träumen muss, bei diesem Lehrer«, sagte Chiara.
»Na ja, also wenn ich im Unterricht träumen würde, dann würde ich mir definitiv einen besseren Traum aussuchen. Zum Beispiel davon, endlich selber vorne zu stehen. Wieso träumst du nicht davon, Lehrerin zu sein?«
»So was kannst ja auch nur du träumen.«
»Na, dann träumst du halt andere, gute Träume. Davon, wie sich all deine Wünsche erfüllen. Oder wie du zu deinem Traumprinzen findest. Ja, das ist es! Dein Traumprinz rettet dich vor all den Katastrophen!«
Chiara lachte prustend auf. »Lina, jetzt hast du sie nicht mehr alle. Du hast zu viele Märchen gelesen.«
Lina lehnte sich lächelnd auf dem Sofa zurück. »Na ja, das mit dem Prinzen ist vielleicht eine doofe Idee. Stell dir vor, der kommt auf einem Pferd angeritten. Du würdest aus Angst vor dem Pferd tot umfallen. Selbst wenn der Prinz viel besser als Philipp aussehen würde …«
Lina schloss die Augen, formte ihre Lippen zu einem Kussmund und verteilte Küsse in die Luft. Chiara schoss ihr grinsend ein Kissen in den Bauch. Und schon waren sie in die wildeste Kissenschlacht verwickelt, die Linas Schlafzimmer je gesehen hatte. Selbst die Popcornschüssel musste dran glauben.
Chiara hatte einmal beobachtet, wie die Katze ihres neuen Nachbarn eine Maus gejagt hatte. Die Maus war den Krallen der Katze entwischt, doch – wusch! – hatte die Katze die Maus wieder gefangen. Sie spielte so lange, bis die Maus aufgab oder zu verletzt war, um nochmals zu fliehen.
Am Sonntagabend lag Chiara im schmalen Badezimmer auf dem Boden, fühlte sich wie besagte Maus und wusste nicht, ob sie die Kraft hatte, eine weitere Nacht durchzustehen. Die Albträume hatten sie gejagt, hatten sich in ihre Seele gebohrt und ihre ständige Hoffnung auf Befreiung zerschlagen. Die Visionen, wie Lina sie nannte, holten sie aus dem Schlaf, zerrissen die Nächte und Tage, als wären sie nicht mehr als ein Stück Seidenpapier. Nichts mehr schien an diesem Wochenende Chiaras Schleier der Panik zu durchdringen, weder Erstaunen bei der überschwänglichen Begeisterung ihrer Mutter, als Fabius ihr zeigte, wie sie Brennnesseljauche machte, noch Schadenfreude oder echte Besorgnis bei der Tatsache, dass Petra so krank war, dass sie den Ausflug mit ihrem Freund absagen musste.
Chiaras Magen rebellierte vor Übelkeit, und sie wand sich auf dem Badezimmerboden, als würden ihr die kalten Fliesen Abhilfe verschaffen. Ihre Mutter kniete sich neben sie und zog Chiaras Kopf auf ihren Schoß, während die Tränen ihrer Tochter auf ihre Pyjamahose tropften.
»Mami, wieso muss mir das passieren? Ich kann nicht mehr.«
»Gib nicht auf, Chiara. Es wird besser werden. Du schaffst das. Ich weiß es. Du schaffst das.«
»Ich … will nur … dass es aufhört!«
»Es wird irgendwann aufhören. Ganz sicher. Ich werde morgen den Hausarzt anrufen.«
»Ich will nicht zum Arzt! Morgen … startet … das Klassenlager …« Chiara versuchte, die Schluchzer, die unkontrolliert aus der Tiefe ihres Körpers hochstiegen, zu unterdrücken. »Lass mich einfach nur ein normales Mädchen sein. Ich möchte nur ein normales Mädchen sein …«
»Aber das bist du doch. Du brauchst nur Hilfe.«
Chiara presste die Augen und den Mund zu. Nein, sie war kein normales Mädchen. Sie lag im Bad auf dem Boden und heulte im Schoß ihrer Mutter, weil sie ein paar Albträume gehabt hatte. Oder wie Petra es sagte – sie machte sich deswegen in die Hosen. In einigen Tagen war ihr sechzehnter Geburtstag, verdammt!
Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und den Rotz von der Nase und setzte sich auf, um sich gegen den Radiator zu lehnen.
»Vielleicht bleibst du morgen besser zu Hause«, schlug ihre Mutter vor, doch Chiara schüttelte sofort den Kopf.
»Nein. Ich werde jetzt schlafen, und dann bin ich morgen erholt für das Klassenlager.« Sie sagte es so bestimmt wie möglich.
Ihre Mutter beugte sich nach vorne und drückte Chiaras Knie. »Das musst du selber wissen. Ich werde dich morgen nochmals fragen.«
Chiara konnte tatsächlich schlafen in dieser Nacht, und als sie ihre Tasche am nächsten Morgen in die sich auf dem Bahnsteig bereits anstauende Sommerhitze schleppte, war sie sich sicher, dass sie sich entgegen dem Rat ihrer Mutter richtig entschieden hatte. Was immer an diesem Tag auf sie zukommen mochte, sie würde es durchstehen.
Lina war außergewöhnlich unruhig, als sie Chiara am Rand der aufgeregt schnatternden Schulklasse begrüßte. Ihre blauen Augen blickten sie weit aufgerissen an, und Chiara wollte sie gerade fragen, ob es ihr nicht gut ging, als Lina sie am Arm packte und von den anderen wegzerrte. Chiara, zu erstaunt über dieses ungewöhnliche Verhalten ihrer sanftmütigen Freundin, ließ sich mitziehen.
»Das ist der Wahnsinn«, hauchte Lina und grub mit fahrigen Fingern in ihrer Tasche.
»Was?«
»Das.«
Lina förderte ein zusammengefaltetes Papier zutage. Darauf hatte sie einen Text ausgedruckt und diesen in allen Farben angestrichen, sowie den ganzen Rand mit Notizen, Kreisen und Pfeilen versehen.
Als Quelle für den ausgedruckten Text hatte Lina eine bekannte Tageszeitung notiert.
Sensation des Jahrtausends oder Messfehler?
Forscher aus dem Ladislav-Cox-Observatorium in Großbritannien glauben, einen zweiten Mond der Erde entdeckt zu haben.
»Es ist unglaublich«, sagte Lina. »Ich habe es heute Morgen gesehen und eine ganz starke Vermutung, was das bedeuten könnte.«
»Lina, ich hab noch nicht fertig gelesen.«
»Oh.«
Die Wissenschaftler bestätigen nun die vielen Augenzeugen, die vor zwei Wochen von einer leuchtenden Wolke am Himmel berichtet haben, und erklären, dass es sich dabei um die verschwommenen Umrisse eines zweiten Erdtrabanten handeln könnte. Seitdem läuft die Erforschung des mysteriösen Objektes auf Hochtouren. Heute folgte die Veröffentlichung der ersten Ergebnisse.
»Bisher haben wir noch keine gesicherten Erkenntnisse, ob es sich bei dem Himmelskörper tatsächlich um einen Begleiter der Erde handelt«, ließ Oscar Morris, Forscher des Ladislav-Cox-Observatoriums, verlauten. »Allerdings deutet die Auswertung der Bilder darauf hin, dass das Objekt von einer Atmosphäre umgeben ist.«
Doch ein Himmelskörper in der Größe unseres Mondes so nahe an unserer Erde – wie kann das sein? Wir haben nachgefragt bei dem renommierten Professor der Astronomie Guillermo R. Vàsquez.
Chiara las nicht mehr weiter und brauchte auch nicht die vielen Notizen am Rand anzusehen, um zu wissen, worauf Lina hinauswollte. Sie hatte von einem fremden Planeten geträumt, und die Wissenschaft hatte ihn entdeckt. Lina hielt ihren schlanken Hals, als müsste sie sich davor bewahren, Chiara mit einer Flut Wörter zu übersprudeln.
»Was tuschelt ihr, Mädels?« Philipp hatte sich unbemerkt herangeschlichen, seine übliche Clique im Schlepptau. »Auf Ideensuche, wie ihr Bünzlis Geniestreich von einem Klosterbesuch umgehen könnt? Wobei, Lina und Kloster passt ja. Oder bereits am Überlegen, mit wem ihr das Zelt heute Abend teilen wollt?«
Er grinste anzüglich, während die beiden Mädchen hinter ihm kreischten vor Lachen und sein Kumpel vor sich hin feixte. Lina griff mit blassen Wangen nach dem Blatt in Chiaras Händen, ohne Philipp oder die anderen zu beachten, und stopfte es in ihre Tasche. Chiara fühlte sich, als wäre gerade etwas in ihr zerbrochen, das nun messerscharf war. Sie hielt es nicht aus, wenn Lina, die nie auch nur ein Wort gegen jemanden sagte, angegriffen wurde.
»Du bist so ein Feigling!«, fauchte Chiara Philipp an, in dem Moment, als der Zug einfuhr, Hektik ausbrach und Herr Bünzli seine Schüler und ihr Gepäck wie ein Hund seine Herde in den Zug jagte.
Lina zog Chiara mit sich und suchte ein ruhiges Abteil. Sie tat so, als wäre nichts gewesen, als sie den Zeitungsartikel wieder hervorkramte, doch Chiara sah ihr an, wie mitgenommen sie war.
»Lina, Philipp ist ein Idiot mit Vogelkacke im Gesicht.«
»Ist nicht so wichtig. Ich muss mich konzentrieren.« Lina holte ihr Notizbuch hervor, blätterte vor und zurück und machte auf vollgeschriebenen Seiten Notizen, während sie immer wieder den Zeitungsartikel oder ihr Handy zurate zog. Wenn ihr Stift während des Schreibens stockte, blickte sie auf und stellte Chiara Fragen. »Was hast du noch mal gefühlt, als du den Planeten gesehen hast? Wie sieht das Zimmer aus, in dem die Frau das Kind zur Welt gebracht hat? Hat der Vater noch etwas anderes gesagt außer ›Mein Sohn‹, als das Kind da war? Was hast du am Himmel gesehen beim Erdbeben? Und was war das für ein weißer Turm?«
»Also«, sagte Chiara, »der weiße Turm stand über der Stadt, in der die Erde gebebt hat. Ehrlich gesagt sah er mehr aus wie ein Kunstwerk. Oder irgendwie so … elfenbeinmäßig. Als sei er … nun ja, so gewachsen.«
Die ganze Zugfahrt über blieb Lina hoch konzentriert, stellte Chiara selbst beim Umsteigen geflüsterte Fragen, sodass ihre Klassenkameraden nicht mithören konnten. Und als Bünzli ihre Ankunft am Ziel verkündete, zeichnete Lina auf einer freien Doppelseite einen großen Kreis, ehe sie hastig ihre Sachen packte und Chiara hinterherhastete.
Die Hitze schlug ihnen entgegen in dem kleinen Dorf im Luzerner Hinterland, und Chiara glaubte, bereits ein verdächtiges Prickeln in ihrem Nacken unter ihren hochgesteckten Haaren zu spüren. Doch wo hätte sie sich während der Zugfahrt einen Sonnenbrand holen können? Das Prickeln breitete sich aus, wanderte über ihre Arme bis in die Fingerspitzen und die Rückseite ihrer Beine hinunter.
»Chiara«, flüsterte Lina, während sie der Klasse hinterher auf das ehemalige Kloster zugingen, dessen weiße Mauern sich hoch in den Himmel bohrten, nur überragt von der mächtigen Klosterkirche. Eine Gestalt wartete vor dem hölzernen Tor und schaute ihnen entgegen, emporgehoben, weil der Platz zur Kirche hin anstieg. »Schau dir das an.« Lina streckte ihr die aufgeschlagene Seite mit dem leeren Kreis entgegen. Chiara starrte darauf und hatte keine Ahnung, was Lina ihr zeigen wollte.
Bünzli begrüßte den Mann, der ihnen mit breitem Lächeln und blitzenden blauen Augen entgegensah. Auf der Fahrt hatte sich herausgestellt, dass ihr stets der Mathematik und der Physik zugewandter Klassenlehrer deswegen so interessiert an einem Klosterbesuch war, weil irgendein verschollener Meteorit hier aufbewahrt worden war.
Das Kribbeln in Chiara wuchs an zu einem Vibrieren, das sie so noch nie gespürt hatte. Noch viel stärker als beim Traum mit dem Planeten am Himmel. Und mit dem Vibrieren floss eine Welle der Wachheit durch Chiara.
Während sie weiter in Linas Notizbuch starrte, konnte sie hören, wie der Tourenführer Herrn Bünzli erklärte, dass der Meteorit noch immer im ehemaligen Kloster versteckt sein könnte; konnte sie spüren, wie Philipp etwas weiter vorne den Finger in die Nase steckte, um ihn danach an der Hose abzuwischen; konnte sie fühlen, wie die Flügel einer Fliege in der Luft über ihr klimperten. Sie nahm wahr, wie die Flügel einer Fliege klimperten! Heilige Makrele, was war los mit ihr? Plötzlich musste sie lachen und biss sich im nächsten Moment auf die Unterlippe, als sie von Lina und Bünzli gleichzeitig einen mahnenden Blick zugeworfen bekam. Chiara atmete einmal tief durch und spürte, wie die Luft Sauerstoff in ihre Lunge wirbelte und dieser anschließend wie geladene Energieteilchen durch ihr Blut gepumpt wurde.
»Das ist ein Kreis, Lina.«
»Was, wenn …?« Lina krallte sich in Chiaras Arm, und sofort schossen Tausende Empfindungen von dieser Berührung über Chiaras Haut. Sie erwartete, dass Lina die Hand zurückziehen würde. Doch ihre beste Freundin schien gar nichts zu spüren. »Was, wenn all diese Visionen nicht von der Erde gehandelt haben? Was, wenn sie dort … dort auf diesem fremden Planeten stattgefunden haben?«
Obwohl Linas Stimme kaum mehr als ein Hauchen war, dröhnten ihre Worte in Chiara, als hätte Lina sie mit einem Lautsprecher über den Platz geschrien.
»Was, aber …«
All die Argumente, die Chiara dachte entgegenbringen zu können, verpufften, als sie Linas Aussage gänzlich erfasste. Ihr Blick verschwamm, und vor die Sonne schoben sich dunkle, wogende Schatten, als sie plötzlich von der Vision der Waldlichtung eingeholt wurde. Über ihr am Himmel hob sich die Silhouette eines Planeten ab, und dieser Anblick ließ Wellen der Vibration durch ihren Körper strömen. Sie wollte dort sein. So schnell die Vision gekommen war, so schnell wurde Chiara wieder in die Gegenwart zurückgeholt und erwiderte Linas Blick ungläubig.
Es war keine Zeit, um darüber zu sprechen, denn die Klasse folgte dem Führer, der sich als Erik vorgestellt hatte, durch die geschnitzten, großen Holztüren hinein in das von weichem Licht gezeichnete Kirchenschiff. In jedem Raum, durch den sie gingen, verstärkte sich Chiaras wallendes, energievolles Vibrieren, bis sie zum Schluss glaubte, jeden einzelnen Atemzug ihrer Klassenkollegen zu spüren und selbst das Knirschen dieses jahrhundertealten Gebäudes wahrzunehmen. Ihre Gedanken hüpften, als könnte sie damit das ganze Universum vermessen, während sie über Linas Worte nachdachte.
Immer tiefer drangen sie in das ehemalige Kloster vor, und als ihr Führer eine weitere verzierte Tür aufschloss, kamen sie in eine lichtdurchflutete Bibliothek. Altertümliche Holzregale versammelten sich unter der weiß getünchten Decke, während detailreich geschnitzte Holzbalken die Galerie über den Regalen stützten. Als sich die Klasse um ein aufgeschlagenes altes Buch versammelte, berührte Chiara unauffällig einen der Balken. Ein elektrisches Vibrieren schoss ihr von den Fingerkuppen durch den Arm bis hoch in die Schulter. Die Energie drang ihr in jede Pore und schärfte ihre Sinne noch mehr. Atemlos ließ Chiara den Balken los und schob sich nahe an Lina heran, die wie der Rest der Klasse versunken den Erzählungen ihres Führers lauschte.
»Spürst du das auch?«, fragte Chiara. »Etwas geht hier ab.«
Lina wandte den Kopf halb zu ihr, und Chiara sah die Frage in ihren Augen. Da spürte sie einen anderen Blick auf sich. Erik hatte wohl bemerkt, dass sie unaufmerksam war.
»Mädchen, du siehst so abgelenkt aus. Aber das hier wird dich interessieren. Komm mal nach vorne.« Der Tourenführer winkte ihr aufmunternd zu.
Sofort drehten sich alle Köpfe zu ihr, und trotz der strotzenden Energie in Chiara hätte sie sich in diesem Moment am liebsten hinter Lina verkrochen. Einige Mitschüler wisperten.
»Hörst du Stimmen, Chiara?«
»Creepy.«
»Die rafft’s mal wieder nicht.«
Die Worte hätten auch geschrien werden können und fühlten sich an wie Peitschenhiebe auf dem Weg zur Schlachtbank, als Chiara zu Erik nach vorne schlich. Dieses Vibrieren in ihr, vermischt mit Wut und Scham, nahm ganz neue Ausmaße an. Ihr wurde schlecht, und eine unangenehme Hitze staute sich in ihr.
»Du heißt Chiara?«
Eriks Stimme dröhnte so laut in ihrem Kopf, dass sie sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Sie nickte bloß. Er studierte sie für einen Augenblick, als überlege er, sie wieder zurück auf ihren Platz zu schicken.
»Also, Chiara. Berühr doch mal für uns das Pergament dieses Buches.« Er deutete auf das große alte Buch, das aufgeschlagen vor ihr auf einem Ständer lag. Linien, eckige Punkte und eine dicke schwarze Schrift überzogen die vergilbten Seiten. »Du siehst hier die Neumen, die Musiknoten von früher. Die Mönche benutzten das Buch für ihr Chorgebet.« Erik blätterte aufmunternd selbst in dem Buch, als Chiara seiner Aufforderung nicht nachkam.
Chiaras Sicht, zuvor noch so unglaublich scharf, verengte sich, und die Hitze in ihr hatte unterdessen ihren Kopf erreicht, strahlte über ihre Wangen, bis diese glühen mussten. Der Tourenführer, die ganze Klasse – alle warteten darauf, dass sie die Hand nach dem Buch ausstreckte. Reiß dich zusammen, dachte Chiara, einfach berühren, lächeln, zurück an den Platz neben Lina.
Doch ihr Brustkorb war voller Glut … Als sie die Hand hob, war es mehr, um sich an dem Buch abzustützen. Sie erkannte noch, wie Erik die Stirn runzelte, als der Ständer mit dem Buch darauf schwankte. Dann begann sich plötzlich alles zu drehen, sie sank auf den Holzboden, und der Raum und die Klasse um sie herum verschwanden.
Sie rannte, sie floh durch den Wald. Vögel waren für einen Moment um sie herum, ehe sie durch die Baumkronen brachen und in den Himmel flogen. Hinter ihr toste ein gewaltiges Feuer. Hitzewellen schlugen durch die Baumstämme, das Holz knackte unter der Last der Flammen.
Chiara kam aus dem Wald hinaus auf eine Ebene mit hohem Gras, die Panik loderte in ihr wie das zerstörerische Feuer. Auf der Wiese standen zwei mächtige alte Bäume, die ihre Äste weit ausladend in die Luft streckten. In ihrem Blätterdach zeigten sich violette Blüten mit gelben Staubfäden. Chiara drehte sich um. Von der Wiese aus sah man weit hinaus in ein Tal, doch dunkler, sich auftürmender Rauch verschleierte die Sicht. Die Flammen fraßen sich durch die Bäume, Funken stoben in den Himmel. Chiara schwebte jetzt über dem Szenario und verfolgte, wie die Flammen in unnatürlicher Geschwindigkeit über die kleine Wiese schlugen. Einen Moment später fiel das Feuer explosionsartig über die prächtigen Bäume mit ihrem violetten Blütenmeer her und verschlang sie vollständig. Die Flammen stiegen ein letztes Mal empor, ehe sie sich in Rauchschwärze auflösten. So plötzlich, wie das Feuer gekommen war, war es auch wieder vorbei. Es hinterließ eine schwelende Schneise der Zerstörung.
Und dann sah sie eine einzelne Gestalt, die durch den Qualm wankte. Sie erkannte undeutlich einen Mann, und das tiefe Entsetzen in seiner Stimme schlug in ein irres Lachen um, als er sagte: »Nein. Nein, das kann nicht sein. Nein. Haha. Hahahaha. Hahahahahahaha. Rhalor.«
Das Lachen dröhnte in ihrem Kopf. Die Bilder der verkohlten Bäume rückten in die Ferne, verwirbelten mit dem Rauch und verschwanden. Jemand schrie und hörte nicht mehr auf zu schreien. Es musste Chiara selbst sein, die schrie.
Chiara kam wieder zu sich, als Wasser über ihr Gesicht lief. Sie öffnete die Augen und sah verschwommene Köpfe über sich. Hände berührten ihre Arme, und dort, wo die fremde Haut auf ihre traf, spürte sie ein merkwürdiges Brennen. In ihrem Magen staute sich etwas. Benommen richtete sie sich auf, drehte sich auf die Seite und übergab sich.
Das Zeltdach über Chiara flatterte leicht im Wind und erzeugte ein beruhigendes Geräusch. Sie war so erschöpft, dass sich das Geräusch in ihrem Dämmerzustand mit der Erinnerung vermischte, wie Bünzli ihr die Wange tätschelte, während Lina ihr den Arm um die Schultern gelegt hatte. Mit all ihrer Überzeugungskraft hatte sie Bünzli und Lina davon abhalten können, sie zu einem Arzt zu fahren.
Chiara drehte sich auf die Seite und spürte einen spitzen Stein, der durch die Schlafmatte in ihre Schulter pikste. Der Rauschzustand mit der außerordentlichen Reizwahrnehmung und dem elektrischen Vibrieren war weg und hatte eine tiefe Leere hinterlassen. Oder vielleicht war es auch die Scham, die sich wie ein unendliches schwarzes Loch in ihr ausbreitete. Sie wünschte sich, irgendwo weit weg zu sein. In ihrem Zustand hatte sie nicht viel mitgekriegt, aber sie konnte sich ausmalen, was ihre Klassenkollegen über sie gesprochen hatten, nachdem sie schreiend zusammengebrochen war und Bünzli vor die Füße gekotzt hatte.
Nun lag sie alleine im Zelt, während die Hitze des Tages der Kühle der Nacht wich und die anderen auf dem Lagerplatz darauf warteten, dass Bünzli endlich schlafen ging. Chiara hörte die aufgekratzten Stimmen.
Als Stunden später Lina und zwei andere Mädchen, mit denen sie das Zelt teilten, durch den Eingang gekrochen kamen, presste Chiara die Lider aufeinander. Kurz darauf hörte sie die tiefen Atemzüge der anderen.
»Die Erdenkrankheit.«
Das waren die Worte gewesen, die ein Mädchen gegackert hatte, während Lina Chiara beim Verlassen des Klosters gestützt hatte. Bünzli hatte die Unsicherheit seiner Schüler beschwichtigt, und Chiara hatte sich an Linas Pinnwand erinnert, als sie auf dem Zeltplatz angekommen waren.
»Sie können nicht genau sagen, was die Erdenkrankheit ist. Es ist weder ein Virus noch ein Bakterium. Es scheint, als würde die Krankheit aus der Erde selber ausbrechen«, hatte Lina als Antwort auf Chiaras Fragen geflüstert, während sie Chiaras Gepäck ins Zelt gelegt und ihre Matte und ihren Schlafsack ausgepackt hatte.
»Sie bricht aus der Erde aus?«
»Ja. Gezüchtetes Gemüse, angepflanztes Getreide und Obst, alles, was der Mensch in die Erde zwingt. Das bringt die Krankheit zu denen, die davon essen. Deswegen das Selbstgesammelte …« Lina hatte ihr Säckchen mit den Gesundheitsdingern geschwenkt. »Und die Krankheit breitet sich rasend schnell aus. Heute habe ich gelesen, dass einige Länder in Mittelamerika Ausgangssperren verhängt haben, und in den USA sind die Spitäler voll. Sehr viele Menschen sterben.«
»Habe ich diese Erdenkrankheit?«
»Du hast Visionen, Chiara, keine Krankheit.«
Chiara wälzte sich im Zelt auf die andere Seite und lauschte den Geräuschen der Nacht. Was, wenn sie doch diese Erdenkrankheit hatte? Vielleicht verursachte das diese Halluzinationen? Und was war mit diesem fremden Planeten? Und dieser Name in ihrer letzten Vision? Rhalor war es gewesen? Sie musste Lina am nächsten Tag danach fragen.
Der erlösende Schlaf wollte nicht kommen, und irgendwann setzte sie sich auf und rieb sich über das Gesicht, um wacher zu werden. In diesem Moment driftete sie ohne Vorwarnung in eine Vision ab. Doch es war kein Albtraum und sie war hier, in diesem Zelt. Es fühlte sich an, als ob ihr Körper mit ihr weggehen würde, ohne dass sie tatsächlich das Zelt verließ.
Sie sah, wie sie durch ein Loch in einer Hecke den Campingplatz verließ und einem schmalen Pfad über eine Wiese folgte, bis sie zum Waldrand kam. Es war Nacht, doch etwas in ihr wusste genau, wohin sie gehen musste. Sie drang, jetzt in schnellem Tempo, in den Wald ein, weit weg von jedem Weg. Sie schwebte, rannte über den Waldboden, bis sie auf eine Lichtung kam – die dunkle Waldlichtung, die sie bereits mehrmals gesehen hatte. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Der Mond spendete etwas Licht, mit dessen Hilfe sie sich orientieren konnte. Doch sie brauchte nicht zu wissen, wo sie war, denn es gab nur eine einzige Sache, die sie interessierte.
Sie legte den Kopf in den Nacken und sah dort oben am Himmel ganz deutlich den Planeten, von dem sie geträumt hatte. Klar und leuchtend hob er sich ab von der Dunkelheit des Weltalls. Chiara sah die feine, kaum erkennbare Silhouette, die Atmosphäre, die den Planeten umgab. Ein Vibrieren strömte durch ihren Körper und löste ein mächtiges, berauschendes Gefühl aus und den unwiderstehlichen Drang, dort zu sein.
Chiara kam wieder zu sich, der Anblick des Planeten verschwand. Die Dunkelheit des Zeltes umschloss sie, Geräusche und Gerüche der Umgebung kehrten zurück. Das berauschende Gefühl jedoch blieb, und sie spürte ein starkes Drängen, sofort nach dem fremden Planeten am Himmel zu suchen. Gleichzeitig trug sie in sich die untrügliche Gewissheit, dass dies nur jetzt möglich war. All die Fragen, die immer drängender geworden waren, trieben sie an, keine Zeit zu verlieren.
Ohne zu überlegen, schlüpfte sie aus dem Schlafsack und zog sich einen Pullover über. Ihre Finger zitterten, als sie den Reißverschluss des Zelteingangs öffnete. Dann schnürte sie ihre Schuhe, warf einen letzten Blick auf die anderen Mädchen. Einen Moment zögerte sie. Sollte sie Lina wecken? Sie würde liebend gern mitgehen. Doch dann würden die anderen bestimmt auch aufwachen, und das wollte sie nicht. Sie wollte keine Sekunde länger warten und ließ den Eingang des Zeltes hinter sich offen.
Es war angenehm kühl, als sie zwischen den anderen Zelten hindurchhuschte. Ihre Schritte führten sie über den Platz bis zu einer Lücke in der Hecke. Ihr Herz hüpfte, als sie gleich dahinter den schmalen Pfad entdeckte, von dem sie eben geträumt hatte. Eilig folgte sie ihm, der fahle Schein ihres Smartphones leuchtete ihr den Weg.
Bald schon hatte sie den Waldrand erreicht. Es war abgelegen hier, nur die Lichter des Zeltplatzes waren ein Stück entfernt zu sehen.
Die Wipfel der Bäume wiegten sich leicht im Wind, als sie den Weg am Waldrand entlangging. Einen Moment fragte sie sich, was sie hier eigentlich tat. Aber das, was heute, was die letzten Tage geschehen war, hatte sie hierhergeführt. Ein ungeheurer Drang hielt sie gepackt: Sie musste diesen Planeten sehen, und er musste da sein, sie war sich ganz sicher. Sie sog die Luft tief in ihre Lungen und lenkte ihre Schritte in den Wald hinein.
Ihre Beine bahnten sich automatisch einen Weg durch das Unterholz, und es kümmerte sie nicht, dass Dornen in ihre Waden stachen. Sie steuerte direkt auf die Lichtung zu. Es war die Lichtung aus ihrer Vision. Die Sträucher am Rand flüsterten, die Schatten waren undurchdringlich, nur das Gras vor ihr wurde in feines Mondlicht getaucht. Chiara schluckte hart und versuchte, ihren Atem und ihre Gedanken zu beruhigen. Gleich würde sie Gewissheit haben und dem Rätsel um ihre Träume einen Schritt näher kommen.
Zaghaft trat sie auf die Lichtung, den Blick nach oben gerichtet. Einige Schleierwolken zogen über den dunklen Himmel, und da war … da war … nichts! Abgesehen vom hellen Mond konnte sie nichts Außergewöhnliches entdecken. Sie ließ den Blick hin und her schweifen, von den Baumwipfeln auf der einen bis zur anderen Seite, doch da war nichts.
Das kann nicht sein, dachte Chiara und unterdrückte ihre Enttäuschung. Sie hatte es klar und deutlich gesehen, sie hatte es gespürt. Die Augen in die Sterne gerichtet, drehte sie sich einmal um die eigene Achse und stolperte dabei über einen Ast. Der Moment holte sie in die Gegenwart zurück und brachte Zweifel hervor. Die Vision war so stark gewesen, dass sie tatsächlich geglaubt hatte, diesen fremden Mond am Himmel zu entdecken. Aber war das nicht verrückt? Nun stand sie da in ihrem Pyjama und dem Pullover, mitten im Wald, mitten auf einer Lichtung, und spürte, wie die Kälte der Nacht auf sie zukroch. Und noch etwas anderes.
Einen winzigen Moment überlegte sie, was sie registriert hatte, als sich ein großer Schatten zu ihrer Rechten bewegte. Chiara hatte nicht einmal Zeit zum Schreien, der Schatten schoss auf sie zu, und aus der Dunkelheit formte sich ein Gesicht, dessen starrer Blick sie fixierte.
Chiara stürzte sich auf die Seite, schaffte es, zwei Schritte zu machen – und prallte gegen eine zweite Person, die sich vollkommen lautlos angeschlichen hatte. Sie schlug um sich, traf etwas und spürte im nächsten Augenblick selbst einen explodierenden Schmerz an ihrem Kiefer. Hände griffen nach ihr, doch sie riss sich los und rannte davon.
Die Männer, es waren zwei Männer, riefen sich in einer fremden Sprache etwas zu, während sie sie jagten. Blindlings raste Chiara weg von der Lichtung und realisierte zu spät, dass ihr die Schwärze des Waldes die Sicht zu sehr erschwerte. Vor ihr tauchte aus dem Nichts der Stamm eines Baumes auf, sie riss die Arme hoch, doch das half nicht. Ungebremst prallte sie auf das Holz. Ihr Körper drehte eine Pirouette, während ihr Kopf im Schmerz versank, und als sie auf dem Waldboden aufschlug, verlor sie das Bewusstsein.
Chiaras gesamter Körper brummte. Das Vibrieren schien sich bis in ihre Umgebung zu ziehen. Ein kalter, unangenehmer Druck presste auf ihren Kopf und ihren Rumpf. Sie befand sich in einer halb liegenden Position auf dem Rücken. Benommen regte sie sich, ihre Augenlider fühlten sich an, als ob sie sich nie mehr öffnen wollten, und das Pochen in ihrem Kopf war übelkeiterregend. Wie eine Sturzflut kamen die Erinnerungen. Der Wald in der Nacht, plötzlich die Männer. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, um zu Sinnen zu kommen.
Mühsam öffnete sie die Augen, starkes Licht reizte den Schmerz in ihrem Kopf noch mehr; und dann erkannte sie einen Mann direkt neben ihr. Sofort presste sie ihre Augenlider wieder zusammen. Ihr Herz schlug so laut, dass sie sicher war, dass es dem Mann auffallen musste. Doch nichts geschah.
Wo auch immer Chiara war, es war nicht der Waldboden. Sie konnte nicht mehr richtig denken. War sie auf dem Weg in ein Spital? War das Brummen, das nicht von ihr kam, sondern von der Umgebung, der Motor eines Autos? Die Männer hatten sie verfolgt … hatten sie gejagt … Mit jedem flachen Atemzug, den sie nahm, breitete sich die Angst in ihrem Körper aus wie ein Gift, das sie betäubte. Konzentrieren – sie musste sich konzentrieren. Aber ihr wollte kein vernünftiger Gedanke kommen.
Da wurde das monotone Brummen von einem Quietschen unterbrochen. Chiara blieb regungslos liegen. Zwei tiefe Stimmen unterhielten sich, die eine nahe neben ihr. Es war eine seltsam klingende Sprache. Einen winzigen Spalt öffnete Chiara ihre Augen. Sie erkannte verschwommen zwei Männer in einem hellen Raum, ehe sie die Augen wieder schloss. Die Männer redeten weiter, doch auf einmal schienen sie die Sprache zu wechseln. Denn nach und nach verstand Chiara, worüber sie diskutierten. Es ging um die Dauer einer Wirkung, die sie nicht abschätzen konnten. Dann war sie Thema.
»Falls sie bis zum nächsten Naun nicht zu sich kommt, müssen wir sie aufwecken«, sagte derjenige, der weiter weg von ihr stand.
Die zweite, jüngere Stimme antwortete: »Sollten wir ihr nicht noch mehr Erholung geben?«
»Hm. Sie braucht auch Zeit, um alles verstehen zu können.«
»Wird sie danach ja noch genug haben.«
»Nicht alles ist so einfach. Ich gehe wieder nach oben.«
Der Jüngere stieß ein Brummen aus, während nochmals das Quietschen ertönte.
Der Schmerz in Chiaras Kopf nahm ab, weil plötzlich so viel Adrenalin durch ihren Körper schoss. Unwillkürlich schlug sie die Augen auf und blinzelte gegen das Licht, bis sie ihre Umgebung besser wahrnahm. Sie waren in einem engen, kapselförmigen Raum, an dessen Wänden sich metallene Einbauschränke in die Höhe zogen. Allerlei Drähte, Kabel und futuristisch anmutende Gerätschaften, deren Zweck sich Chiara nicht erschloss, wirkten wie furchteinflößende, kleine Monster. Chiara selbst befand sich in der Mitte auf einem klapprigen Liegestuhl, von beiden Schultern liefen Gurte zu ihrem Bauch, die sie in ihrer Position hielten.
Der eine Mann hatte den Raum verlassen, der zweite Mann saß direkt neben ihr auf einem weiteren Liegestuhl. Sein Blick aus zu Schlitzen zusammengezogenen Augen fixierte sie.
»Du bist wach.«
Der Mann war jung, höchstens ein paar Jahre älter als sie. Die ungezähmten schwarzen Haare rahmten sein dunkelhäutiges Gesicht ein.
»Wo bin ich?«, fragte Chiara. »Wo bringt ihr mich hin?«
»Beruhige dich, es passiert dir nichts«, knurrte der Mann und ließ sie nicht aus den Augen.
»Ach ja? Habt ihr mich entführt? Wohin gehen wir?«
Ihr Herz schlug noch schneller. Sie stemmte sich mit dem Oberkörper gegen die Gurte, riss daran und versuchte herauszuschlüpfen, doch die Bänder saßen zu fest.
»Lasst mich hier raus!«
»Ich lasse dich aufstehen, wenn du dich beruhigst.«
Chiara ließ sich zurückfallen und atmete schwer.
»Wir wollen dir nichts antun. Es wird dir nichts passieren.«