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Nelli ist unglücklich. Immer. Und eines Tages entdeckt sie auch noch, dass sie so ganz anders ist als die anderen Kinder. Und sie fängt an sich zu hassen. Sie beginnt eine lange abenteuerliche Reise zu sich selbst, bis sie schließlich ihre Einzigartigkeit lieben lernt und begreift, was Glück wirklich bedeutet.
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Seitenzahl: 53
Veröffentlichungsjahr: 2020
In einem kleinen Dorf am Rande herrlicher Wälder stand ein altes Haus mit einer mächtigen Eiche auf dem Hof, durch deren Blätter leise der Sommerwind rauschte. Die Sonne ging gerade unter und tauchte alles in ein goldenes Licht. Ihre Strahlen fielen auch durch die von Efeu und Wein umrankten Fenster des Hauses.
Nelli erwachte.
Sie lag in einem kleinen weißen Gitterbettchen mit hohen Stäben, damit sie nicht hinauskonnte. Sie war noch ein Baby und ganz allein.
Wie war sie hierhergekommen?
Das Einzige, woran sie sich erinnerte, war dieser Traum vom Fliegen.
Erst schien alles ganz dunkel und Nebel umgab sie, doch dann funkelte es von Ferne plötzlich grün, golden und rosa, und sie wurde ganz leicht und schwebte durch den Nebel bis hierher auf die Erde.
Sie sah sich um. Ihr Bettchen stand in einem großen kühlen Zimmer. Gegenüber befand sich das Bett ihrer Eltern.
Aber es war niemand da.
Das mit den Stäben war kein Problem. Geschickt drehte sie mit ihren kleinen Händchen daran, und schon fielen sie heraus. Zwei genügten, um sich in die Freiheit zu quetschen. Ein Käfig war nichts für Nelli.
Von Anfang an hatte sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Eine traurige Frau und ein trauriger Mann waren jetzt ihre Eltern, die Nelli nur selten, wie aus einem Traum, wahrnahmen.
Der Vater war fast nie zu Hause, denn er arbeitete in der Fremde. Oft sehnte sie sich nach ihm, doch wenn er dann da war, verbrachte er kaum Zeit mit ihr.
Die Mutter war stets in Gedanken, summte traurige Lieder und starrte in die Luft.
Und Nelli fühlte sich unsicher und allein.
Außer ihr gab es hier im Haus noch ein anderes Kind, einen Jungen. Der war ihr Bruder.
Er war schon viel länger bei den Eltern, aber sie konnten nichts miteinander anfangen. Überhaupt passte es dem Jungen nicht, dass Nelli da war. Er hatte jetzt weniger Platz und bekam weniger Aufmerksamkeit.
Meistens ärgerte er sie, und einmal schnitt er sogar vor ihren Augen einer Spinne die Beine ab und lachte dabei.
Und Nelli weinte.
Als sie älter wurde, entdeckte sie den Wald. Wann immer sie konnte, lief sie dorthin.
Im Sommer war der Sand auf den Waldwegen so weich, dass sie kaum vorwärtskam. Die Luft knisterte vor Hitze, vom Duft der Tannennadeln und vom Harz, und das Atmen wurde ganz schwer. Spechte klopften an die hohen Tannen, manchmal sah sie ein Reh.
»Bist du wieder allein unterwegs?«, rief es dann, denn Nelli verstand die Sprache der Tiere. Auch die der Vögel, die ihr die schönsten Brombeeren weit und breit zeigten. Oder Pilze, die im Schatten der Bäume wuchsen. Nelli liebte Pilze. Am liebsten mochte sie sie gebraten. Die Mutter sagte zwar immer, Nelli würde davon Bauchweh bekommen, aber das stimmte nicht.
Am anderen Ende des Dorfes wohnten auf einem kleinen Bauernhof die alten Tanten. Alles dort war verwittert und schmutzig. Hinter dem Wohnhaus gab es einen großen Hof, auf dem krumm und schief zusammengenagelte Käfige für Kaninchen und Federvieh standen. Aber hinter diesem Hof erstreckte sich ein großer Garten mit allen Früchten und Blumen, die man sich nur vorstellen konnte. Dorthin ging Nelli gern.
Doch sobald die Tanten sie entdeckten, riefen sie: »Wir haben dir verboten, in den Garten zu gehen! Immer lässt du die Pforte offen, und alle Hühner laufen in die schönen Beete und picken unser Gemüse an!«
Aber das war gemein, denn Nelli hatte die Tür noch niemals offen gelassen! Noch nie! Doch niemand hörte ihr zu.
Manchmal schaffte sie es, sich an den Alten im Wohnhaus vorbeizuschleichen. Das war der leichtere Teil, wenn da nicht der Hof gewesen wäre. Denn hier lauerte der Hahn. Ein dreckiger gelber Vogel, der sie mit seinen kleinen stechenden Augen meist schon von Weitem sah.
Dann flog er auf sie zu und schrie: »Ich sag‘s den Tanten! Ich sag´s den Tanteritiii!« und flatterte um ihren Kopf herum und hackte nach ihr.
Nelli hasste und fürchtete den Hahn, aber wenn sie weinte und ins Haus zurücklief, zeterten die Tanten nur und drohten: »Wir werfen dich über den Zaun zum großen schwarzen Hund! Oder in den Kartoffelkeller, da lebt der Bulemann!«
Nelli hatte keine Ahnung, wer der Bulemann eigentlich war und wie er aussah, aber ganz bestimmt war er böse. Vielleicht würde er sie sogar fressen! Es war zum Verzweifeln.
Nirgendwo fühlte Nelli sich wirklich wohl und wusste nicht, wohin sie gehen, mit wem sie reden sollte. Mit den Kindern zu spielen machte ihr keinen Spaß, und die Erwachsenen im Dorf hatten alle viel zu tun und keine Zeit für ein kleines Mädchen. Das Leben auf dem Land war hart und hatte auch die Herzen der Menschen hart gemacht. Jeder war mit sich beschäftigt. Die Eltern, die Tanten, der Gärtner, der Metzger, der Bäcker, der Pfarrer … niemand kümmerte sich um Nelli.
Und vor allem, ihr hörte einfach niemand zu.
Das ist seltsam, dachte Nelli. Mit den Rehen kann ich reden, auch mit den Vögeln, sogar der dreckige Hahn versteht mich, nur die Menschen, die verstehen mich nicht.
Und so wurde Nelli still und war eigentlich immer für sich. Alleine schaukelte sie an der großen Eiche und alleine spielte sie am Bach hinterm Haus. Hier standen riesige Blätter am Ufer. Wenn Nelli sich daruntersetzte und nach oben schaute, sah sie die feinen roten Adern der Blätter gegen das Licht schimmern, und vor sich Schneckenspuren, die in der Sonne glitzerten. Hier war sie vor allen Blicken verborgen und fühlte sich sicher; und es duftete so schön nach Blättern und Erde und Wasser.
Manchmal stellte sie sich vor, sie würde gar kein Menschenmädchen sein, sondern eine Elfe. Eine Wasserelfe vielleicht, oder eine Waldelfe! Ja, das wäre schön. Und es könnte doch schließlich sein! Sie war klein und zart, fast durchsichtig ihre Haut. Ihr Haar war hell und fein, und sie hielt ihre Nase gern in den frischen Flieder. Bei solchen Gedanken spielte sie unter den Blättern und träumte sich fort.
Nelli sah Dinge, die andere nicht wahrnahmen, und verstand, wo andere nur Fragen stellten. Oder eben keine Fragen stellten.
Hinten im letzten Haus am Wald gab es einen Bauern, der Gemüse verkaufte. Im Gesicht hatte er viele Narben, und Nelli fürchtete sich vor ihm. Die Eltern schickten sie immer wieder, um Kohl oder Wurzeln zu holen. Sie wollte nicht dorthin, bettelte, um nicht gehen zu müssen. Aber die Eltern nahmen sie nicht ernst und schickten sie dennoch.