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Ein Bissen Pfannkuchen entfesselt alles: Der 14-jährige Jake entdeckt, dass er mit seinen Gedanken Dinge bewegen kann. In der futuristischen Welt der NeoGen Academy, einer Schule für Kinder mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, findet er Freunde – und ein dunkles Geheimnis. Warum hat er seine Kräfte so spät entdeckt? Die Wahrheit stürzt Jake in ein gefährliches Abenteuer, das seine Identität infrage stellt – bevor eine tödliche Drohung alles in Flammen aufgehen lässt.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Kian Talyn
NEOGEN ACADEMY
Ein dunkles Vermächtnis
Im vierten von insgesamt sieben Siedlungsringen, die kreisförmig um einen großen, weitläufigen Park angelegt sind, lebte ein Junge mit seiner Familie in einem schönen Einfamilienhaus. Im dritten der sechs Ringe gab es nur freistehende Wohnhäuser. Alle waren liebevoll gestaltet, umgeben von einem großen Garten, einer breiten Auffahrt und genügend Platz zum Wohnen für alle, die es vorzogen, in einem Haus zu leben und nicht in einer Wohnung des Wohnkomplexes im zweiten Ring, der direkt an das lebhafte Zentrum angrenzte.
Dieser Junge, der mit seinen 14 Jahren eigentlich schon ein halber Mann war, so fühlte er sich jedenfalls, wusste bereits seit zwei Jahren, dass dies nicht seine richtige Familie war. Aber das machte ihm nichts aus, denn Paula und Frank Edwards waren wirklich gute und sehr liebevolle Eltern. Dann war da noch Annie, seine kleine fünfjährige Schwester. Sie sah so aus, wie man sich eine Annie vorstellt. Sie war der reinste Sonnenschein, hatte hellblonde, leicht gelockte Haare und Augen so blau wie Saphire, so hieß übrigens auch der Siedlungsring, in dem sie wohnten - Sapphire.
In der Küche des Edwards-Hauses trat eine schlanke Frau an ein kühlschrankgroßes Gerät mit einer großen quadratischen Vertiefung darin. Ihr Haar war hellblond, wie das ihrer kleinen Tochter, aber glatt und schulterlang. Ihre Augen hatten das gleiche strahlende Blau und ihr Gesicht eine gesunde rosige Farbe.
Sie tippte auf dem Farbdisplay über der quadratischen Aussparung auf das Wort Frühstück, woraufhin sofort einige Essensvorschläge im Raster erschienen. Die Frau wählte eines davon aus, und das Bild vergrößerte sich auf die volle Größe des Bildschirms. Auf der Abbildung war ein Omelett mit Speck und Schnittlauch appetitlich auf einem Teller angerichtet. Sie kniff erstaunt die Augen zusammen und wischte einige Male nach links. Auf das Speck-Omelette folgten weitere Omelett-Variationen, Rühreier mit Bratwurst, Rühreier mit Waffeln, Rühreier mit Schnittlauch und schließlich Rühreier mit Speckwürfeln.
Mit jeder weiteren Eierspeise schlug das Staunen mehr in Fassungslosigkeit um. Schließlich drehte sie den Kopf, reckte den Hals und rief: »Annie, hast du wieder an dem Replikator herumgespielt?«
Aber sie bekam keine Antwort.
»Annie, Schatz, wo bist du schon wieder?«, versuchte sie es noch einmal, aber wieder kam keine Antwort, was sie nur mit einem verständnislosen Kopfschütteln kommentierte. Dann wandte sie sich wieder dem Display zu und setzte ihre Suche nach dem gewünschten Frühstück fort.
Die kleine Annie hatte ihre Mutter gehört, aber sie wollte unbemerkt bleiben. Leise schlich sie die letzten Stufen in den ersten Stock hinauf, in den schmalen, sandfarbenen Flur mit den gerahmten Familienfotos. Vor einer der weiß lackierten Türen mit der Aufschrift Jacob blieb sie schließlich stehen. Vorsichtig legte sie ihre kleine Hand auf die Klinke und drückte sie lautlos nach unten. Sie strahlte über das ganze Gesicht und ihre Augen funkelten schelmisch bei dem Gedanken, ihrem großen Bruder einen Streich zu spielen. Sie öffnete die Tür und sah einen schlanken Jungen mit dunkelblonden kurzen Haaren, der mit dem Rücken zu ihr im Zimmer stand. Während er sein Schlafshirt auszog, schlich sie sich unbemerkt an ihn heran und schnappte sich die Kleidungsstücke, die auf seinem Stuhl bereit lagen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht wollte sich die kleine Annie gerade mit ihrer Beute aus dem Staub machen, als der Junge begann, sich auch seiner kurzen Schlafhose zu entledigen. Er hatte sie schon bis zur Hälfte über den Hintern gezogen, als ihn ein gellender Schrei zusammenzucken ließ.
Entsetzt zog er seine Hose wieder hoch, drehte sich ruckartig um und erblickte seine kleine Schwester, die mit weit aufgerissenen Augen vor ihm stand. In ihren Armen hielt sie seine Kleidung.
»Annie, was machst du in meinem Zimmer? Und warum hast du schon wieder meine Kleider in deinen diebischen Fängen?«, fauchte er und sah sie mit seinen olivgrünen Augen drohend an.
Wie erstarrt gab sie keinen Laut von sich, doch als er einen Schritt auf sie zu machte, stieß sie erneut einen gellenden Schrei aus, drehte sich blitzschnell um und rannte auf die weit geöffnete Zimmertür zu.
»Mama. Mama«, schrie sie laut. »Ich habe Jakes Popo gesehen. Ich habe Jakes Popo gesehen.«
Mit nach vorn gestreckten Armen versuchte er, sie zu fassen zu bekommen, bevor sie den Flur erreicht hatte. Aber die kleine, diebische Elster war zu schnell für den noch verschlafenen Jungen. Jake jagte ihr hinterher, als er, kaum dass er in den Flur eingebogen war, unerwartet mit jemandem zusammenstieß. Es war, als wäre er gegen einen Felsen gelaufen, der ihn unsanft rücklings auf den Boden krachen ließ.
Benommen wanderte sein Blick langsam nach oben. Das erste, was er sah, waren schwarze Lederschuhe und eine ebenso schwarze Bundfaltenhose. Schließlich erblickte er einen unglaublich durchtrainierten Oberkörper, der in einem hellblauen Hemd steckte und um den Hals eine Krawatte trug.
Seit Monaten hatte Jake heimlich in seinem Zimmer trainiert, um auch nur annähernd einen Körper wie der seines Pflegevaters zu bekommen, doch bisher ohne sichtbaren Erfolg. Seine Arme waren immer noch so dünn wie mit zwölf Jahren und sein schlanker Bauch ließ nicht einmal den Hauch eines Waschbrettbauches erahnen.
Wie angewurzelt blickte der Mann auf Jake herab, in der Hand einen Kamm, mit dem er offenbar gerade sein mittellanges hellblondes Haar wie üblich zu einem Seitenscheitel gekämmt hatte.
»Jacob, was machst du da? Wie oft haben deine Mutter und ich dir schon gesagt, dass du nicht durch den Flur rennen sollst ...«
»Aber ...«, wollte er seinen Vater unterbrechen, doch der sprach unverdrossen weiter und schaute ihn tadelnd an.
»... und habe ich gerade Annie rufen hören, dass sie deinen Hintern gesehen hat? Du solltest wirklich in der Lage sein, deine Zimmertür zu schließen, bevor du dich ausziehst. Also wirklich. Nicht auszudenken, wie verstört sie wäre, wenn sie etwas anderes von dir zu sehen bekäme. Du bist schließlich keine zehn mehr.«
»Aber...«, setzte er noch einmal an, um ihm zu erklären, wie es dazu gekommen war, aber der Blick seines Vaters ließ nur eine Antwort zu.
»Tut mir leid, Sir«, sagte er mit leicht gebleckten Zähnen, woraufhin dieser zufrieden mit dem Kopf nickte und sich von ihm abwandte.
Jake sah seinem Vater nach, der den Flur entlang ging und im Schlafzimmer seiner Eltern verschwand.
Wie gern hätte er ihn angeschrien und sich darüber beschwert, dass seine kleine Schwester ihn immer mehr mit ihren Streichen terrorisierte. Aber was hätte das gebracht? Er würde ihm sowieso nicht glauben, genauso wenig wie seine Mutter. In ihren Augen war sie der kleine Engel, dem sie nicht einmal ansatzweise zutrauten, etwas Böses im Schilde zu führen. Dass Jakes Kleider seit einem halben Jahr immer wieder überall im Haus verstreut waren, wurde einfach auf seine Pubertät geschoben, genauso wie die zerbrochenen Teller, Tassen oder Gläser einer plötzlichen Ungeschicklichkeit. Die Wahrheit wollten sie gar nicht sehen.
Wenig später saß Jake an der kleinen Kücheninsel, bekleidet mit Kleidungsstücken, die er wieder einmal aus dem Kleidungsreplikator seines Zimmers hatte holen müssen, und informierte sich auf dem Holopad, einem länglichen, kantigen Metallriegel mit einem transparenten Bildschirm an der Seite, über die neuesten Ergebnisse des Hindernisparcours, der gerade in Ruby, der dritten Ringkolonie des Gemeinschaftsverbandes, stattfand. Er liebte diesen Sport und wünschte sich, athletisch genug zu sein, um eines Tages selbst daran teilnehmen zu können. Dann gäbe es wenigstens eine Sache, in der er gut wäre.
Jeder in der Familie hatte eine besondere Begabung. Sein Vater war ein unglaublich begabter Architekt. Er entwarf das Haus, in dem sie jetzt lebten, wie auch alle anderen Häuser in den sieben Ringkolonien, und wahrscheinlich wurden seine Pläne auch in allen anderen Städten der Welt verwendet. Seine Mutter war überall für ihre Kochkünste bekannt und trat sogar im Fernsehen auf. Sie kochte immer am heimischen Herd, speiste das fertige Gericht in ihren Replikator ein und teilte es dann mit dem Replikatorennetzwerk, auf das jedes Gerät weltweit Zugriff hatte.
Und Annie, ja, Annie war mit ihren fünf Jahren eine außergewöhnlich begabte Künstlerin. Natürlich war sie noch kein Van Gogh, obwohl niemand weiß, wie er mit fünf Jahren gemalt hat. Aber sie war so gut, dass einige ihrer Bilder schon im Holo-Museum ausgestellt wurden, zusammen mit den vielversprechendsten jungen Künstlern. Und wenn Jake die Bilder, die er als Zehnjähriger gemalt hat, mit denen vergleicht, die Annie heute malt, scheint es, als hätte sich ein Schimpanse in einen Malkasten gesetzt. Sein Mangel an Talent war ein weiteres Beispiel dafür, dass Jake nicht der leibliche Sohn von Paula und Frank Edwards war.
»Hier ist dein Orangensaft, mein Schatz. Und diesmal trinkst du ihn aus. Nicht wie letztes Mal«, sagte seine Mutter und stellte das Glas neben den Teller, von dem er sich gerade ein weiteres Stück Pfannkuchen nahm, während er auf das Holopad in seiner anderen Hand starrte.
»Danke«, antwortete er schmatzend, ohne sie anzusehen, woraufhin sie ihm lächelnd einen Kuss auf sein kurz geschnittenes Haar gab und sich wieder der Küchenzeile zuwandte. Sein Vater saß ihm gegenüber, in der einen Hand eine Tasse Kaffee, in der anderen ebenfalls ein Holopad. Er hingegen überprüfte aufmerksam seine heutigen Termine.
Die Einzige, die nicht mit irgendetwas beschäftigt war, war Annie. Sie spähte über die Lehne des Lesesessels ihrer Mutter, der in einer kleinen Ecke mit Regalen voller alter Kochbücher neben der Küche stand, und beobachtete alle aufmerksam. Hätte Jake ihr Gesicht gesehen, hätte er ahnen können, dass sie wieder etwas ausheckte.
Leise rutschte sie vom Sessel und schlich zur Kücheninsel, den Blick auf Jakes Glas gerichtet. Sie griff danach, zog es von ihm weg zum anderen Ende der Insel und kehrte kichernd zum Sessel zurück, kletterte wieder hinauf, spähte wie zuvor über die Rückenlehne und wartete gespannt.
Jake hatte davon nichts mitbekommen. Zu sehr war er in den Bericht vertieft, dessen letzten Absatz er nun erreicht hatte. Dort las er, dass der Außenseiter Gregory Heyes wider Erwarten die nächste Runde der Parcours-Games erreicht hatte. Das hat Jake so sehr erschüttert, denn Gregory war für seine schlechten Leistungen bis zu diesem Zeitpunkt bekannt gewesen, dass er vor Aufregung nach Luft schnappte. Dabei vergaß er, dass er noch ein kleines Stück Pfannkuchen im Mund hatte, das ihm plötzlich in den Hals rutschte. Er rang nach Luft, klopfte sich auf die Brust und versuchte zu husten, aber das Stück war schon zu weit nach unten gerutscht.
Jake hoffte, er könne verhindern, dass es in seine Luftröhre geriet, also griff er blind nach seinem Glas und bemerkte nicht, dass sein Orangensaft nicht mehr da war, wo seine Mutter ihn hingestellt hatte.
Annies Augen wurden immer größer, denn im Gegensatz zu ihren Eltern bekam sie alles mit. Sie wollte gerade den Mund aufmachen, um ihnen zu sagen, dass ihr Bruder zu ersticken drohte, als sie mit weit aufgerissenen Augen sah, wie das Glas, das sie gerade weggestellt hatte, wie von Zauberhand blitzschnell über die Theke in Jakes Hand glitt.
»Mama«, keuchte sie fassungslos und erwachte aus ihrer Schockstarre.
Die Augen immer noch wie gebannt auf ihren Bruder gerichtet, der inzwischen das Glas zur Hälfte geleert hatte. »Mama«, sagte sie noch einmal etwas lauter, woraufhin sich ihre Mutter zu ihr umdrehte. Paula sah, wie ihre Tochter Jake überrascht ansah, woraufhin sie ihren Blick zu ihm wandern ließ.
Jake stellte gerade sein leeres Glas neben seinen Teller und war froh, dass er noch atmete, als seine Mutter ihn freudig von hinten umarmte.
»Du hast deinen Orangensaft tatsächlich ausgetrunken. Ich bin stolz auf dich.«
»Die Alternative wäre der Tod gewesen«, antwortete er mit belegter Stimme, was seinen Vater aufhorchen ließ.
»Na, hör mal. So streng ist deine Mutter auch wieder nicht«, sagte sein Vater mit ernster Miene.
Unverzüglich ließ seine Mutter von ihm ab, und ihr fröhlicher Gesichtsausdruck verwandelte sich augenblicklich in Empörung. Sie klopfte ihm kommentarlos und pro-testierend auf die Schulter.
»Nein. Das habt ihr völlig falsch verstanden. Ich habe mich gerade an einem Stück Pfannkuchen verschluckt und der Orangensaft hat mir das Leben gerettet.«
»Ja, das stimmt. Ich habe alles gesehen«, meinte Annie daraufhin aufgeregt.
»Oh mein Gott«, reagierte Paula nun erschrocken und gleichzeitig schockiert darüber, dass ihr Sohn, ohne dass sie es mitbekommen hatte, hinter ihrem Rücken fast an einem ihrer Pancakes erstickt wäre. Was sie dazu veranlasste, Jake besorgt die Hände auf die Schulter zu legen.
»Geht es dir auch wirklich gut, mein Schatz?«
»Ja, alles ist wieder in Ordnung. Wirklich«, erwiderte er und fühlte sich ein wenig bedrängt.
Mit einem Mal fing Annie an, aufgeregt auf dem Polster des Lesesessels herum zu hüpfen, und lenkte damit die Aufmerksamkeit aller drei Mitglieder der Familie auf sich.
»Mama, Mama. Das Glas war da. Es war da«, sagte sie und zeigte auf die Stelle der Kücheninsel, wo sie es für ihren Streich abgestellt hatte.
»Was?«, krächzte Jake verblüfft und lachte. »Unsinn! Es war genau hier, wo Mama es hingestellt hat, wo es jetzt auch ist. Siehst du?«
Er nahm das leere Glas in die Hand und stellte es wieder ab. »Ich habe doch recht, oder?«
Erwartungsvoll wanderte sein Blick über die Schulter zu seiner Mutter und von ihr zu seinem Vater, der jedoch nicht ihn, sondern seine Frau auf eine Weise ansah, die Jake nicht recht zu deuten wusste.
»Nein, nein, nein«, widersprach Annie und sprang wieder wild auf dem Sessel herum. »Das Glas hat sich bewegt. Das Glas hat sich bewegt«, wiederholte sie, währ-end ihre Locken auf und ab hüpften.
»Ihr glaubt ihr doch nicht etwa? Wie soll sich ein Glas von selbst von hier nach da und wieder zurück bewegen?«, lachte er, um deutlich zu machen, wie absurd Annies Behauptung war.
Aber die Blicke, die seine Eltern austauschten, waren seltsam. Annies Streiche brachten Jake viel zu oft in Situationen, in denen er sich rechtfertigen musste, und wenn er versuchte, es zu erklären, wurde ihm nie geglaubt. Immer hieß es, das sei die rebellische Ader, die die Pubertät mit sich bringe. Aber irgendetwas war anders an den Blicken, die sie sich zuwarfen, und er wusste nicht so recht, was es war.
»Was ist los?«, fragte Jake verwundert.
»Nichts«, antwortete seine Mutter mit einem eigenartig verkrampften Lächeln und nahm ihre Hände von seiner Schulter. »Es ist alles in Ordnung.«
»Ich muss jetzt los. Die im Büro warten schon auf mich«, sagte sein Vater nach einem kurzen Blick auf die Uhr seines Holopads und stand eilig auf.
»Wirklich jetzt schon?«, fragte sie mit zitternder Stimme, was Jake noch skeptischer machte.
Glaubten sie ihr, oder nicht? Sie sagten es nicht, aber Jake hatte den Eindruck, dass sie es taten. Zumindest sagten sie nichts Gegenteiliges. Sie reagierten überhaupt nicht, was Jake noch viel schlimmer fand. Annies Geschichte war mehr als unglaubwürdig. Das galt auch für die Behauptung, sie habe gesehen, wie der Hund des Nachbarn auf das Garagendach geflogen sei. Oder dass die Katze ihrer besten Freundin wie eine Kuh geklungen habe. Dass Gläser sich nicht von allein bewegen, wusste jedes Kind, und doch sagten seine Eltern nichts. Sie schwiegen einfach und verhielten sich nur seltsam.
Wütend schnappte sich Jake seinen Teller, auf dem noch zwei Pfannkuchen lagen, stand auf und ging zu dem mülleimergroßen Recycler mit der Aufschrift ›Utilisator‹. Er öffnete den Deckel, stellte den Teller hinein, schloss ihn wieder und drückte auf den großen Knopf, woraufhin sich der Teller mitsamt der Pancakes im Inneren vollständig auflöste.
In der Zwischenzeit hatte sein Vater das Jackett angezogen, die Aktentasche in die Hand genommen und umarmte seine Mutter zum Abschied ein wenig länger als sonst. Jake hörte ein Flüstern, etwas von einem Anruf, der gemacht werden musste, aber sonst nichts.
»Macht’s gut, Kinder. Wir sehen uns später«, sagte er dann und verschwand eilig.
»Ich gehe dann auch«, sagte Jake.
»Wohin denn?«, fragte seine Mutter nervös, was ihm auch sehr eigenartig vorkam, da sie ihm diese Frage schon sehr lange nicht mehr gestellt hatte.
Ein Grund mehr zu gehen, dachte Jake, in der Hoffnung, dass alles wieder beim Alten sein würde, wenn er zurückkäme.
»Ins Zentrum mit Kevin und den anderen«, antwortete er, und bevor seine Mutter ihn noch mit weiteren seltsamen Fragen löchern konnte, war er schon aus dem Haus.
Kevin lachte, als Jake ihm berichtete, was an diesem Morgen bei den Edwards geschehen war.
»Das ist ja mal was ganz Neues, dass bei euch so was Aufregendes passiert. Nichts für ungut, aber deine Familie war bisher echt langweilig. Ich wollte dir schon raten, dich von meiner Familie adoptieren zu lassen, dann würdest du wenigstens mal was erleben. Aber das ist echt der Hammer! Aber jetzt sag mal, hast du das Glas bewegt oder nicht?«, fragte er und sah ihn erwartungsvoll an, während er sich seinen Lolli wieder in den Mund steckte.
Kevin O’Reilly war sein bester Freund seit dem Kindergarten. Wie der Name O’Reilly vermuten lässt, hatte er feuerrote Haare, so viele Sommersprossen im Gesicht, dass man sie nicht zählen konnte, und rehbraune Augen. Er war auch der einzige seiner Freunde, dem er anvertraut hatte, dass Jake adoptiert worden war.
»Nun sag schon! Hast du oder hast du nicht?«, drängte er ihn mit einem breiten Grinsen.
Doch Jake antwortete nicht, stattdessen starrte er aus dem Fenster und sah die vielen kleinen weißen Einfamilienhäuser mit ihren tiefgrünen Gärten unter den Pfeilern der Magnetschwebebahn vorbeiziehen. Er fand das alles gar nicht lustig, zumal er sich nicht mehr sicher war, was nun wirklich passierte und was nicht. Schließlich war er damit beschäftigt, nicht zu ersticken. Er wusste nur, dass er nach dem Glas greifen wollte, und plötzlich hatte er es in der Hand. Und je länger er darüber nachdachte, desto unsicherer wurde er.
»Kevin an Jake, Kevin an Jake ... Bist du noch auf dem Planeten?«, nervte ihn Kevin und streichelte ihm mit seiner von Lollisaft und Spucke klebrigen Hand über das Gesicht.
»Lass das. Das ist ekelhaft«, fauchte Jake ihn an und wischte sich angewidert mit dem Stoff seines T-Shirt-Ärmels über die Wange. »Wie alt bist du, fünf?«
Er wusste natürlich genau, dass sein bester Freund nur zwei Monate jünger war als er. Auch wenn sein Verhalten oft etwas anderes vermuten ließ.
Der Zug hielt an der Haltestelle des großen Komplexes, der Wohnungen in allen erdenklichen Größen beherbergte. Im Gegensatz zu den anderen Haltestellen fuhr man hier direkt in das Gebäude hinein.
»Wäre schon schräg, wenn du einer von diesen Freaks wärst, die nur mit ihren Gedanken Dinge bewegen können«, sagte Kevin schließlich, fuchtelte mit den Händen vor seinem Gesicht herum und machte »Uaaah«.
»Bin ich nicht und kann ich nicht, okay? Also lass den Scheiß, Mann«, knurrte Jake ihn wütend an, als plötzlich ein Mädchen mit fast genauso vielen Sommersprossen, hellbraunem Strubbelhaar und einer Brille vor ihnen stand. Im Gegensatz zu den meisten Mädchen trug sie fast ausschließlich zerrissene Jeans und T-Shirts, die bis knapp über den Bauch reichten.
»Was wäre schräg?«, fragte sie und setzte sich auf den freien Platz neben Jake.
»Wenn du endlich aufhören würdest, deine Brille zu tragen, denn es gibt keinen Menschen mehr auf der Welt, der so ein Nasenfahrrad noch braucht«, sagte plötzlich ein Junge, der kleiner war als die anderen, eine schief sitzende Baseballmütze über seinen glatten dunklen Haaren trug und viel zu weite Klamotten anhatte.
»Das ist ein Modeaccessoire, du Blödi«, fuhr sie ihn an.
»Modeaccessoire, dass ich nicht lache. Das ist ein richtiges Accessoire«, sagte der Junge und zeigte auf seine dicke Goldkette, die er um den Hals trug und an der ein Anhänger mit dem Schriftzug ›Digger‹ in goldenen Graffiti-Lettern mit Glitzersteinen hing. Und so wollte er von allen genannt werden, denn seinen richtigen Namen Dieter mochte er gar nicht.
»Alles klar, Digger. Wir wissen, dass du der Coolste bist. Viel cooler als Jake, Martha oder ich«, sagte Kevin und schnippte mit der Hand gegen den Schild seiner Mütze, so dass sie im hohen Bogen von seinem Kopf auf den Boden des Mittelgangs flog.
»Danke, du Idiot«, beschwerte sich Digger, strich sich das dünne, zerzauste Haar glatt und warf Kevin einen bösen Blick zu, der nur schelmisch grinste. Dann bückte er sich in den Gang, um seine Mütze aufzuheben, als jemand mit dem Schuh in die Öffnung trat und es ihm unmöglich machte, sie hochzuheben.
»Uh, schau, Fossi. Ich habe eine neue Mütze gefunden. Sie scheint niemandem zu gehören.«
»Doch, mir«, beschwerte sich Digger laut.
»Hast du was gehört, Fossi?«, fragte der gleiche Kerl.
»Nein, ich glaube, das war nur das Piepsen eines kleinen Mäuschens«, antwortete der andere und begann laut grunzend über seinen eigenen Witz zu lachen.
Jake kannte die beiden nur zu gut. Der, den sie Fossi nannten, war noch am harmlosesten. Er war zwar zwei Köpfe größer als alle anderen in seinem Alter, aber dumm wie Bohnenstroh und sein Lachen war mehr als passend. Fossi hatte borstige blonde Haare, war sehr stämmig, hatte Schweinsaugen und eine Schweinenase. Der andere war der wahre Tyrann. Wally, eigentlich Walter, war alles andere als dumm und terrorisierte gerne Kinder, die schwächer waren als er, und das waren die meisten. Wenn man jemanden ohne Schuhe herumlaufen sah, konnte man sicher sein, dass Wally in der Nähe war. Er war der Typ, der einem kleinen Kind den Lutscher aus dem Mund klauen würde. Sein Haar war schwarz und immer mit einer stinkenden Paste zu einem strengen Seitenscheitel gebürstet, und seine Augen waren so dunkel wie vermutlich auch seine Seele.
Wally bückte sich, grinste Digger diabolisch an, schnappte sich die Mütze und setzte sie Fossi auf seinen fetten Schweinskopf.
»Nein, Wally, komm schon. Gib mir meine Mütze wieder zurück. Du kannst dir die gleiche aus dem Replikator holen. Bei den Mützen, Nummer 189. Aber gib mir die bitte wieder zurück, da ist ein Autogramm von Leroy Runner drauf. Sie ist unersetzlich«, bettelte Digger.
Für diese Dummheit, dachte sich Jake, den Tyrannen auf das ›wertvolle‹ Autogramm aufmerksam zu machen, verdiente Digger eigentlich einen Schlag auf den Hinterkopf. Und wie es bei den beiden Freunden, die sich schon seit dem Sandkasten kannten, oft der Fall war, verpasste ihm Kevin, kaum dass Jake diesen Gedanken gehabt hatte, tatsächlich einen Klaps.
»Hey Mann«, wandte er sich jammernd zu ihm um. »Ist es nicht schon schlimm genug, dass mir meine Mütze geklaut wird, musst du mich auch noch schlagen?«
»Vollidiot«, setzte Kevin noch eins hinterher.
»Uh, ein Autogramm von Leroy Runner also«, sagte Wally und betrachtete bewundernd die Mütze, die er Fossi wieder vom Kopf genommen hatte. »Ich habe zwar keine Ahnung, wer dieser Trottel ist. Aber jetzt werde ich sie auf jeden Fall behalten.«
»Das ist der letztjährige Gewinner der Parkcour-Games, du ungebildeter Affe«, zischte Martha, die sich als Einzige erlaubte, so mit ihm zu reden. Wofür es einen Grund gab. Wally sagte immer, er würde nie ein Mädchen schlagen. Aber Jake kannte die Wahrheit. Der Rüpel hatte einfach Angst vor Martha. Denn sie hatte ihm in der ersten Klasse eine blutige Nase verpasst, und dass er einmal von einem Mädchen verprügelt worden war, kratzte wohl immer noch an seinem mächtigen Ego.
»Pass auf, dass ich dir nicht deine Brille von der Nase klaue«, blaffte er zurück.
»Na, dann versuch's doch, wenn du einen gebrochenen Arm haben willst. Oder soll es wieder eine blutige Nase sein?«, antwortete sie mit einem frechen Grinsen.
»Wenn du nicht so hässlich wärst, würde ich das als Anmache auffassen.«
Marthas Lächeln verwandelte sich in einen verletzten Gesichtsausdruck. Das war ihre Achillesferse, denn sie sagte immer von sich, dass sie sich nicht besonders hübsch fand. Entweder hatte Wally das irgendwie mitbekommen, oder es war einfach ein Glückstreffer, denn das Mädchen war bestimmt keine Vogelscheuche. Da der Tyrann bisher immer als Verlierer oder zumindest unentschieden aus den Wortgefechten mit ihr hervorgegangen war, war er nun mehr als glücklich, diesmal einen Triumph über sie errungen zu haben. Und so wandte sich schließlich wieder seinem eigentlichen Opfer zu.
»Jetzt pass mal auf, du Zwerg. Da ich heute gute Laune habe, gebe ich dir noch eine Chance, deine wertvolle Mütze zurückzubekommen. Komm um 15 Uhr an den Basketball-platz und bring deine beiden Freunde mit. Du solltest jemanden für dich spielen lassen, der größer als der Ball ist.«
Laut lachend zogen sie weiter und ließen einen frustrierten Digger zurück, der Kevin und Jake mitleidig ansah.
Martha war schnell wieder die Alte und so hatten alle außer Digger eine Menge Spaß. Sie spielten Billard in der Spielhalle. Vergnügten sich mit ein paar Runden Lasertag und erfüllten, nach Wallys Beleidigung, Marthas Wunsch, in einem der Holoräume als Piraten die sieben Weltmeere unsicher zu machen. Auch wenn Jake und vor allem Kevin diese Idee zunächst sehr kindisch fanden, hatten sie so viel Spaß wie schon lange nicht mehr. Sogar Digger vergaß für einen Moment, auf die Uhr zu schauen. Die Simulation war so realistisch, dass Jake tatsächlich das Salz des Meeres schmecken und das Wasser, das immer wieder gegen den Schiffsrumpf klatschte, als feine Tropfen auf seinem Gesicht spüren konnte. Als Schiffsjunge verkleidet stand er an der Reling, atmete tief durch und blickte hinaus auf das endlos scheinende Meer. Bis Kapitän Martha ihn dabei ertappte, wie er seinen Dienst als Deckschrubber vernachlässigte.
»Du elende Landratte«, knurrte sie ihn durch die Zähne an. »Wenn du nicht sofort weiterarbeitest, binde ich dich an den Mast und du wirst meine Peitsche auf deinem nackten Hintern spüren.«
»Auf meinem nackten Hintern?«, fragte Jake erschrocken. »Was haben denn alle mit meinem Hintern? Und sollte es nicht heißen: ›Dann lasse ich dich über die Planke gehen?‹«
»Arg«, knurrte sie wieder. »Bin ich hier der Kapitän oder du? Wenn ich Hintern auspeitschen will, dann mache ich das auch, verstanden, du Landratte?«
Dann trat sie so dicht an ihn heran, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. »Und um deine Frage zu beantworten: Weil du den Süßesten hast, den ich kenne«, flüsterte sie, lüftete kurz ihre Augenklappe und zwinkerte ihm zu.
»Land in Sicht«, rief Kevin hoch über ihnen vom Ausguck auf der Spitze des Hauptmastes.
»Oh nein, ist es schon wieder vorbei?«, sagte Martha, klopfte mit dem Fuß auf die Planken des Decks und verschränkte schmollend die Arme.
»Nun, ich fand es toll. Das können wir gerne bald wieder machen«, sagte Jake und zauberte Martha damit wieder ein Lächeln auf die Lippen.
»Aber dann ohne mich«, erwiderte Digger mit grünem Gesicht und aufgeblasenen Wangen und lehnte sich sofort wieder über die Reling.
Wie von Geisterhand steuerte das Schiff, obwohl Martha verzweifelt versuchte, das Abenteuer durch wildes Drehen am Steuerrad noch ein wenig in die Länge zu ziehen, auf den kleinen Hafen eines idyllischen Dörfchens auf einer Karibikinsel zu. Jake atmete noch ein paar Mal tief die frische, salzige Seeluft ein, als auch schon die hölzerne Planke auf den marode aussehenden Steg knallte. Sie gingen alle von Bord und steuerten an all den authentisch aussehenden Fischhändlern vorbei auf eine Tür zu, über der ein Schild mit der Aufschrift ›Taverne à la sortie‹ hing. Jake musste schmunzeln, denn es war einfallslos und lustig zugleich - ›die Taverne am Ausgang‹.
Nachdem sich die vier Freunde umgezogen und ihre Piratenkostüme in den bereitstehenden Utilisator geworfen hatten, verließen sie das Holo-Center. Martha kam als Letzte heraus, sie war die Einzige in einem separaten Umkleideraum.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Jake, der alles andere wollte, nur nicht nach Hause, nachdem sich seine Eltern am Morgen so merkwürdig verhalten hatten.
»Wir wollten doch meine Mütze von Wally zurück-holen«, sagte Digger und drückte auf das Armband an seinem Handgelenk, über dem leuchtende Zahlen erschienen. »Es ist jetzt 14:25 Uhr. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch rechtzeitig zum Basketballplatz, wo er und sein Schweinchen immer rumhängen.«
Kevin sah Jake mit hochgezogenen Augenbrauen an, was ihm verriet, dass sein Freund nicht wirklich Lust hatte, jetzt noch Basketball zu spielen. Jake ging es nicht viel anders, denn er war sowieso noch nie die große Sportskanone gewesen und hielt es ohnehin für unwahrscheinlich, dass sie die Mütze in einem Spiel zurückerobern würden.
»Das ist nicht euer Ernst«, sagte Digger, der das Schweigen und die Blicke, die sich seine Freunde zuwarfen, richtig deutete. »Kommt schon, da ist ein Autogramm von Leroy Runner drauf. Wer weiß, wann er das nächste Mal in unsere Gegend kommt. Bitte! Ich würde ja alleine gegen ihn spielen, aber der Typ ist gefühlte drei Meter größer als ich. Gegen ihn und Fossi habt ihr wenigstens eine kleine Chance.«
»Also, ich bin jedenfalls raus. Ich muss meine kleine Schwester von Miss Maisel abholen, bevor meine Mutter nach Hause kommt. Noch einen Strafpunkt kann ich mir nicht leisten«, sagte Martha.
Die drei Jungen verabschiedeten sich von ihr, bevor sie in Richtung des Wohnkomplexes davonlief.
Kevin blickte über den Platz zum Bahnhof der Magnetschwebebahn, die in diesem Moment zu den Sportplätzen abfuhr.
»So ein Mist«, sagte er. »Bis die nächste kommt, schaffen wir es nicht mehr rechtzeitig.«
Obwohl die Zeiten, in denen Digger einmal süß war, längst vorbei waren, schaute er seine Freunde abwechselnd mit großen, flehentlichen Augen an. Für einen Moment glaubte Jake sogar zu sehen, wie sie feucht wurden.
»Der wird uns in den nächsten Wochen die Ohren voll heulen, oder?«, fragte Kevin an Jake gewandt, der mit gerunzelter Stirn zustimmend mit dem Kopf nickte.
Dann wandte dieser sich dem Knirps zu und atmete schwer durch.
»Okay, Digger. Aber ich will kein Gejammer hören, denn um es noch pünktlich zu schaffen, musst du jetzt rennen.«
Digger riss begeistert die Augen auf.
»Na klar, und ich schwöre, kein Gejammer von mir.«
Und so rannten die drei los, quer über den Platz, direkt auf den riesigen Wohnkomplex zu. Während Jake rannte, fragte er sich, wer in so einem Ding wohnen wollte. In seinen Augen war es nur ein großer weißer Klotz, dem jeglicher Charme fehlte. Auch die grünen Pflanzeninseln, die das ganze Gebäude etwas freundlicher und nicht ganz so kahl erscheinen ließen, und die Balkone, auf denen die Bewohner ihre eigenen Pflanzen präsentierten, machten den Wohnkomplex für Jake nicht im Geringsten attraktiver. Martha dagegen, so erzählte sie ihm einmal, konnte sich hingegen nicht vorstellen, in einem Häuschen zu wohnen. Sie fand es hier viel aufregender.
Als sie den Wohnkomplex durch den meterhohen Durchgang hinter sich gelassen und die lange Promenade zum dritten Ring erreicht hatten, hielt Kevin, der die ganze Zeit vorausgelaufen war, kurz inne, um zu verschnaufen. Mit brennenden Lungen war Jake der Erste, der ihn erreichte. Atemlos, die Hände auf die Knie gestützt, drehte er sich zu Digger um, der noch ein gutes Stück hinter ihnen lag. Keuchend watschelte er vorwärts und musste seine viel zu weite Hose festhalten, um sie nicht versehentlich zu verlieren. Jake konnte nicht hören, was er sagte, aber er sah, wie sich seine Lippen bewegten. Wahrscheinlich sagte er etwas, um sich anzuspornen. Wäre er nicht selbst völlig außer Atem gewesen, hätte er wahrscheinlich laut gelacht, denn es sah wirklich zum Schießen aus.
Sie haben es tatsächlich geschafft, pünktlich um 15.00 Uhr auf dem Basketballplatz zu sein. Aber Jake war nun so ausgepowert, dass er sich fragte, wie er jetzt noch ein Basketballspiel gewinnen sollte, wo er doch kaum dazu fähig war, ein vernünftiges Spiel zu spielen, selbst wenn er ausgeruht war. Und das auch noch gegen Gegner, die den ganzen Tag nichts anderes taten als Basketball zu spielen.
»Da sind sie ja. Hätte nicht gedacht, dass ihr noch rechtzeitig kommt«, rief Wally aus der Ferne und warf Kevin den Ball zu. »Wer zuerst 10 Punkte hat, nimmt den Preis mit nach Hause«, fügte der Tyrann hinzu.
Jake schaffte es gerade noch, sich auf die kleine Bank am Spielfeldrand zu hieven, während Digger sich schweiß-gebadet, die Haare an Stirn und Nacken klebend, einfach auf den Boden legte und alle viere von sich streckte. Das einzige, was sich an ihm noch bewegte, war sein Bauch, der sich schnell hob und senkte.
»Hey, hey«, rief das Riesenschweinchen Jake zu. »Jetzt machen wir keine Pause. Jetzt wird gespielt. Komm schon!«
Neidisch warf Jake einen Blick auf Digger, bevor er sich wieder auf die brennenden und schmerzenden Beine stellte. Wie gern hätte er jetzt mit ihm getauscht.
Wie zu erwarten war, verlief dieses Spiel mehr als katastrophal. Wally und Fossi führten inzwischen mit 6 Punkten und es sah nicht so aus, als ob Kevin und er jemals in Ballbesitz kommen würden. Sein Freund tat sein Bestes, um wenigstens zu verhindern, dass die beiden Angeber einen Korb nach dem anderen warfen. Noch nie hat er Kevin so gekonnt blocken sehen. Immer wieder brüllt er Jake an, er solle ihnen endlich den Ball abnehmen, aber Jake war mehr damit beschäftigt, sich auf diesen Wackelpuddingen zu halten, die einmal seine Beine waren.
Doch dann, wie genau es passiert ist, wusste Jake nicht, er sah nur, wie Fossi wie ein Baum fiel und plötzlich sah er Kevin mit dem Ball in den Händen.
»Wirf Kevin! Wirf!«, rief Jake laut. Aber statt auf den Korb zu werfen, warf er auf ihn. Wally eilte herbei, wollte den Ball im Flug abfangen und eigentlich wäre es ihm auch gelungen, wenn der Ball nicht plötzlich mitten in der Luft einen gewaltigen Bogen geschlagen hätte. Wally versuchte noch, ihn mit einem Hechtsprung zu erreichen, aber er schaffte es nicht und fiel stattdessen krachend neben Fossi auf den roten Hartgummiplatz.
Als hätte Jake Magnete in den Händen, landete der Ball direkt zwischen seinen Handflächen. Ungläubig starrte er ihn an. Kevin rief aus der Ferne, er solle ihn in den Korb werfen. Doch Jake war im ersten Moment viel zu überrascht. Aus den Augenwinkeln sah er dann, wie Fossi sich langsam wieder aufrichtete und ihn wie ein hungriger Kojote zähnefletschend anblitzte.
»Wirf, wirf!«, rief nun auch Digger, der inzwischen neben einem alten Mann in einem altertümlichen Anzug auf der Bank saß.
Jake warf und es geschah etwas was zuvor noch nie in seinem Leben passierte … er traf tatsächlich den Korb.
Kevin jubelte, als hätten sie die Mütze schon gewonnen, auch Digger grölte, und selbst der alte Mann, den Jake überhaupt nicht kannte, schien sich zu freuen, denn er stampfte mit dem schwarzen Stock, den er in beiden Händen hielt, applaudierend auf den Boden.
Die einzigen, die sich nicht freuten, waren Wally und Fossi. Wild schnaubend standen sie da. Der Tyrann rieb sich seine feuerrote Gesichtshälfte, mit der er auf dem Boden aufgeschlagen sein musste. Jake rechnete damit, dass er auf ihn zustürmen würde, um ihm eine zu verpassen, aber er warf ihm nur hasserfüllte Blicke zu und ging zum Ball.
»Das Spiel ist noch nicht vorbei«, brüllte er und trippelte langsam auf den gegenüberliegenden Korb zu.
Jake dachte, selbst wenn sie das Spiel verlieren würden, denn so viel Glück konnte niemand haben, hätte er dennoch einen Grund, stolz auf sich zu sein. Und irgendwie gab ihm das Kraft. Vielleicht war es das Adrenalin oder etwas anderes, denn Jakes Beine waren wieder voll da.
Er rannte auf Wally zu und hatte ihn noch nicht ganz erreicht, als der Ball plötzlich wieder in Jakes Besitz war. Es ging so schnell, dass er selbst nicht wusste, wie ihm das gelungen war. Doch er wollte gar nicht darüber nach-denken. Jake passte zu Kevin, der inzwischen auf dem Weg zum gegnerischen Korb war ... und wieder ein Punkt für sie.
»2 zu 6, wir scheinen langsam warm zu werden«, rief er und trieb Wally die Röte ins Gesicht. Fossi war auch rot, aber bei ihm sah es eher so aus, als würde er gleich anfangen zu flennen. Es dauerte nicht lange, da waren sie tatsächlich gleichauf, und mit jedem Korb, den sie warfen, freute sich der alte Mann mit ihnen.
Der Tyrann, der inzwischen sein Shirt ausgezogen hatte, saß kopfschüttelnd auf dem Boden und verstand die Welt nicht mehr. Fossi lag neben ihm und jammerte, dass er nicht mehr könne.
»Noch vier Punkte«, rief Kevin siegessicher und lief an Wally vorbei, der beim Versuch, ihm den Ball abzunehmen, wieder einmal gestürzt war. Wild schnaubend sprang der Tyrann auf und schubste ihn.
»Der nächste Punkt gewinnt. Ich habe keine Lust, den Trottel nach Hause zu schleppen«, sagte Wally schließlich und half Fossi, der vor Erschöpfung auf dem Boden lag, wieder auf die Beine. Er flüsterte seinem großen Lakaien etwas zu, der nickte und blitzte Jake mit einem schiefen Lächeln an.
Sofort wurde ihm klar, dass Wally seinen unpigmentierten Gorilla auf ihn angesetzt hatte, was Jake einen riesigen Kloß im Magen verursachte. Er sah zu, wie Kevin, der von all dem nichts wusste, Wally in der Mitte des Spielfeldes gegenüberstand. Für den letzten und entscheidenden Korb musste Digger den Ball so hoch und gerade wie möglich zwischen die beiden werfen.
Jakes Herz klopfte wie verrückt, als er wie in Zeitlupe sah, wie Kevin und Wally nach oben sprangen, dem Ball entgegen. Der Tyrann war größer als sein Freund und daher viel näher am Ball als Kevin. Jake wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass Kevin noch ein bisschen höher käme, und plötzlich, als hätte ihm der Wind von unten noch ein bisschen mehr Auftrieb gegeben, erreichte er ihn vor Wally und schlug ihn nach hinten zu Jake. Er fing ihn auf und trippelte auf den gegnerischen Korb zu, als auch schon Fossi schnaubend wie eine Dampflok auf ihn zugerast kam. Kevin rief: »Hier!« und Jake spielte ihm den Ball zu. Doch Fossi ließ ihn von nun an nicht mehr aus den Augen. Wie ein beweglicher Berg blockierte er ihn, so dass er Kevin nicht einmal mehr sehen konnte.
Er musste Fossi austricksen. Also tat Jake so, als wolle er rechts an ihm vorbei, und als Fossi ihm den Weg abschneiden wollte, zog er schnell links an ihm vorüber. Der bewegliche Berg geriet ins Trudeln und stürzte mit einem schmerzerfüllten Schrei auf die Knie.
»Steh auf, du Trottel«, schrie Wally, der nun im Ballbesitz war. Er rannte direkt auf Jake zu, wollte an ihm vorbeistürmen, aber aus irgendeinem Grund wollte der Ball nicht mit ihm gehen. Jake schnappte sich den herrenlosen Ball und rannte zum Korb, Wally stürmte wutentbrannt hinter ihm her. Wenn Jake sein Gesicht gesehen hätte, hätte er gewusst, dass ihm nun alles vollkommen gleichgültig war. Für Wally gab es nur noch ein Ziel: den Feind auszuschalten.
Jake wollte auf Nummer sichergehen und weit genug an den Korb herankommen, was Wally die Gelegenheit gab, Tempo aufzunehmen. Um ihm möglichst viel Schaden zuzufügen, lief er einen Bogen, um ihm einen footballtypischen Spear in die seitlichen Rippen zu verpassen. Niemand, aber auch wirklich niemand, sollte es je wieder wagen, ihn so zum Narren zu halten. Gerade als Wally auf ihn zusprang und mit seiner Schulter auf Jakes Rippen zielte, sprang Jake hoch, um dem Ball mehr Schwung zu geben. Dabei drehte sich Jake leicht zur Seite und riss, für den Tyrannen völlig unerwartet, sein rechtes Knie hoch, gegen das Wally mit einem lauten Knacken hart aufprallte.
In der Zwischenzeit flog der Ball durch die Luft, um dann sicher im Korb zu landen.
Jake und Kevin brüllten vor Freude, und Digger jubelte aus der Ferne. Wally lag auf dem Boden und hielt sich mit beiden Händen die Nase, während ihm das Blut durch die Finger rann.
»Du hast mir die Nase gebrochen«, sagte er unter Tränen des Schmerzes. Fossi eilte herbei und half seinem Freund auf.
»Hier habt ihr eure blöde Mütze«, sagte er, stützte Walli mit einem Arm und warf mit der anderen Hand die Mütze vor Jakes Füße auf den Boden.
»Ich habe meine Mütze wieder«, sagte Digger, der zu ihnen gelaufen kam und diese freudestrahlend aufhob. »Ihr seid wirklich die besten Freunde, die man haben kann. Und das Spiel war echt der Wahnsinn.«
»Ja, das war es. Wenn ich vorher gewusst hätte, wie gut du spielst, hätten wir das schon früher gemacht.«, sagte Kevin und klopfte ihm grinsend auf die Schulter.
Jake ignorierte das und blickte stattdessen zu der Bank, auf der der alte Mann die ganze Zeit gesessen hatte und nun spurlos verschwunden war.
Die Nacht war inzwischen hereingebrochen, als Jake endlich in die Straße der riesigen Siedlung einbog, in der er wohnte. Die Straßenlaternen erhellten sanft seinen Weg. In den Häusern brannte noch Licht, aber hier draußen war er ganz allein.
Im Siegestaumel hatte er sich von seinen Freunden verabschiedet und war leichtsinnigerweise nicht zum nächsten Bahnhof gegangen, sondern den ganzen Weg nach Hause gelaufen. Eine Entscheidung, die er nun bitter be-reute, denn seine Beine schmerzten wie nie zuvor.
Schleppend erreichte er die Haustür, drückte den Daumen auf den Scanner, woraufhin ihn eine freundliche Computerstimme begrüßte: »Willkommen zu Hause, Jacob Edwards«, und dann, begleitet von einem leisen Summen, öffnete sich die Tür.
»Ich bin zu...«, sagte er, verstummte dann aber abrupt, als ihm bewusst wurde, dass seine kleine Schwester wahrscheinlich schon längst im Bett lag.
Er lauschte angespannt, denn normalerweise kamen sofort seine Mutter oder sein Vater herbeigestürmt, um sich zu beschweren, dass er so spät erst nach Hause gekommen war. Aber es passierte nichts. Leise zog er seine Schuhe aus und blickte erstaunt in das offene, hell erleuchtete Wohnzimmer. Aber auch da war niemand. Einen Moment lang überlegte er, ob er gleich in sein Zimmer gehen und sich die Standpauke für morgen früh aufheben sollte, oder ob er sich gleich in die Höhle des Löwen wagen sollte.
Angesichts seiner Müdigkeit dachte er, dass es das Beste wäre, sofort ins Bett zu gehen. Aber er war völlig verschwitzt und hatte einen unbändigen Durst.
Angetrieben von der Tatsache, dass er das letzte Mal am Morgen dieses Glas Orangensaft getrunken hatte, machte er sich auf den Weg in die Küche.
Er ging geradeaus den Flur entlang und blieb vor der Tür zur Küche stehen, wo er die Stimme seiner Mutter hörte. Es klang, als würde sie weinen. Dann vernahm Jake eine andere Stimme, die tröstend zu ihr sprach. Aber das war nicht sein Vater, da war sich Jake sicher. Der Mann klang viel älter, fast ein wenig heiser.
Was war passiert? War seinem Vater etwas zugestoßen, während er weg war? Jake würde es sich nie verzeihen, seine Mutter mit diesem Schmerz allein gelassen zu haben. Mit klopfendem Herzen öffnete er die Schwingtür und bereitete sich innerlich darauf vor, seine Mutter tröstend in die Arme zu schließen.
Doch als ihn plötzlich drei Augenpaare fast erschrocken ansahen, wusste er, dass das nicht der Grund für die Trauer seiner Mutter war. Neben ihr standen sein Vater und zu seiner Überraschung der alte Mann, der fast das ganze Spiel auf der Bank am Basketballplatz gesessen hatte.
Jake war geschockt.
»Was ... was ist hier los? Was hat das zu bedeuten?«, fragte er verwirrt.
Seine Mutter zog bei seinem Anblick die Mundwinkel nach unten, presste sich ein zerknülltes Taschentuch unter die Nase und schmiegte sich weinend an die Brust seines Vaters, der Jake nur mitleidige Blicke zuwarf.
Doch der alte Mann, der auf einem der Hocker an der Kücheninsel saß, lächelte ihn freundlich an.
»Guten Abend, Jacob. Ich heiße Julius Albin, Professor Julius Albin.«
»Hallo«, erwiderte er zögernd.
Für einen winzigen Moment dachte Jake, dass, wenn mit seinem Vater alles in Ordnung war, seiner kleinen Schwester etwas zugestoßen sein musste. Doch als sich der alte Mann als Professor vorstellte, wusste er, dass er seinetwegen gekommen war. In diesem Moment hatte Jake das Gefühl, als würde ihm jemand das Herz aus dem Leib reißen. Sein hilfesuchender Blick wanderte abwechselnd von seinem Vater zu seiner Mutter, die ihn nicht ansehen konnten, während ihm immer mehr Tränen in die Augen stiegen. Er wünschte, er hätte einen Ton herausgebracht. Eine Frage, die seine schlimmsten Befürchtungen zerstreut hätte, aber stattdessen herrschte eisiges Schweigen, was die Situation für ihn ins Unermessliche steigerte.
»Nun«, durchbrach der Professor endlich die Stille. »Du fragst dich sicher, was dieser alte Mann zu dieser späten Stunde in deiner Küche zu suchen hat, und wenn deine Eltern nichts dagegen haben, möchte ich dir diese ungewöhnliche Situation gerne erklären.«
Der Fremde warf seinem Vater einen kurzen Blick zu, der ihm reserviert zunickte, dann erhob er sich unsicher vom Hocker, ging auf Jake zu und klopfte ihm schwach auf die Schulter.
»Aber ich glaube, es wäre für alle Beteiligten besser, wenn wir beide das unter vier Augen in der Stube besprechen. Zumal meine Knochen eher für weichere Sitzgelegenheiten gemacht sind«, sagte er, gluckste leise und nahm die Tür rechts von Jake, die ins Esszimmer und das angrenzende Wohnzimmer führte.
Jake warf einen kurzen Blick auf seine Eltern, die sich tröstend in den Armen lagen, dann folgte er dem alten Mann.
Er trat durch die Schwingtür in das dunkle Esszimmer und sah, wie der Professor sich langsam und unsicher auf das große L-förmige Sofa setzte und sich dabei mit beiden Händen auf seinen Stock stützte.
Und wie er den alten Mann so erwartungsvoll auf dem Sofa sitzen sah, auf dem Jake unzählige Filmabende mit seiner Familie verbracht hatte. Auf dem er von seiner Mutter und auch von seinem Vater gekitzelt wurde und auf dem er nicht nur einmal verbotenerweise herumgehüpft war. Und nicht zuletzt hatte er dort vor gar nicht allzu langer Zeit die ersten Schritte seiner kleinen Schwester miterlebt. All diese schönen Erinnerungen ließen in ihm die Frage aufkommen, ob es nicht bald nur noch Erinnerungen sein würden, die nach und nach verblassten, weil er sein Zuhause nie wiedersehen würde. Warum sonst sollte dieser Mann hier sein, wenn er nicht ein Professor aus dem Waisenhaus war? Sicher, Jake hatte sich schon oft nicht an die Regeln seiner Eltern gehalten. Aber war das wirklich Grund genug, ihn gleich in ein Heim zu stecken? Jake war hin und her gerissen zwischen Wut, Verzweiflung und Trauer.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich dem alten Mann schräg gegenüber auf das Sofa setzte. Er merkte, dass er zitterte, also verschränkte er die Arme und steckte die Hände unter die Achseln, in der Hoffnung, so seine Angst verbergen zu können.
Der Professor musterte ihn schweigend mit seinen gütigen grauen Augen. Das Licht ließ Strähnen seines nackenlangen, straff nach hinten gekämmten weißen Haares silbern schimmern. Mit beiden Händen auf den goldenen Griff seines schwarzen Spazierstocks gestützt, der, wie Jake vermutete, einen Vogelkopf darstellte, glaubte er darauf zu warten, dass er etwas sagte.
»Sie waren auf dem Basketballplatz«, krächzte er schließlich mit einem Kloß im Hals.
»Das ist zutreffend. Ich war da und habe dein Spiel gesehen. Wirklich bemerkenswert«, antwortete er und verstummte wieder.
»Warum waren Sie dort?«, fragte Jake dann mit etwas festerer Stimme. Dann fiel ihm ein, dass sein Vater am Morgen etwas von einem dringenden Anruf gesagt hatte. »Hat ... hat meine Mutter sie angerufen?«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
»So ist es«, erwiderte der Professor mit heiserer Stimme lächelnd. »Nur zu. Frag weiter!«
»Hat das vielleicht etwas mit dem zu tun, was heute morgen mit dem Glas passiert ist?«
»Was ist denn heute morgen mit dem Glas passiert?«, fragte der alte Mann interessiert, als ob er keine Ahnung hätte.
Jake spürte, wie seine Nervosität stieg. Es hatte also nichts mit seinem ewigen Zuspätkommen und dem Ungehorsam gegenüber seinen Eltern zu tun, dachte er. Aber sollte es wirklich etwas mit dem Vorfall am Morgen zu tun haben? Und was hatte es dann mit seiner Anwesenheit auf dem Basketballplatz auf sich? Mit einem Mal spürte er diesen dumpfen Druck in der Magengegend, als würde jemand an seinen Eingeweiden ziehen. Es war die Erkenntnis, dass es nicht mehr nur um das Glas ging. Er hatte es gesehen, er wusste, was Jake mit dem Basketball gemacht hatte, lange bevor er selbst es wusste. Man konnte nicht von einem Tag auf den anderen vom unsportlichen Loser zum Profispieler werden. Das war völlig unmöglich.
»Wie kommt es, dass ich plötzlich so etwas kann?«, fragte er, ohne um den heißen Brei herumzureden.
Professor Albin schmunzelte.
»Nun, in der Regel brechen solche Begabungen zwischen dem achten und zehnten Lebensjahr durch. Es gab bisher nur wenige Fälle, wo es früher war«, erklärte er mit sanfter Stimme.
»Aber ich bin vierzehn«, erwiderte Jake fast beleidigt. »Wie viele Fälle gibt es, wo das, was Sie Begabung nennen, erst in diesem Alter ausbricht?«
»Keine«, antwortete er prompt. »Aber du gehörst nicht zu diesen Fällen. Du, Mr. Edwards, hast schon als Säugling Dinge zum Schweben gebracht. Du verstehst sicher, dass das sehr gefährlich ist. Man muss erst das Bewusstsein entwickeln können, richtig von falsch unterscheiden zu können, bevor man überhaupt in der Lage ist, die Kraft, die einem innewohnt, zu verstehen oder gar zu beherrschen.«
Mit dieser Antwort hatte Jake nicht gerechnet. Sein Kopf war von einem Moment auf den anderen völlig leer. Er wusste nicht, was er denken, geschweige denn, wie er sagen sollte.
»Als du mir vor etwas mehr als vierzehn Jahren vorgestellt wurdest, war ich verblüfft. Bis zu deiner Geburt gab es keinen Menschen, der mit einer voll entwickelten psychokinetischen Fähigkeit geboren wurde. Ich konsultierte alle Gelehrten und Professoren anderer Akademien, aber niemand wusste Rat. So blieb uns keine andere Wahl. Wir mussten ein Dämpfungsfeld in deinem Kopf errichten, um deine Fähigkeiten einzuschließen. Einen Damm, wenn du so willst. Niemand wusste, wie lange er halten würde, denn es gab noch keinen Fall, der es nötig gemacht hätte. Es war möglich, dass er in kürzester Zeit brechen würde, aber auch, dass er ein Leben lang halten könnte. Wir wussten es nicht, ich wusste es nicht. Aber heute Morgen, als du beinahe an einem Stück eines verirrten Pfannkuchens erstickt wärst, hat dein Verstand, um dich zu retten, ein Loch in diesen Damm geschlagen«.
»Wussten meine Eltern davon?«, fragte Jake leise.
Professor Albin nickte.
»Selbstverständlich. Sie wurden über alles informiert und hatten die Aufgabe, mich jederzeit über dich auf dem Laufenden zu halten.«
Jake blickte durch das im Dunkeln liegende Esszimmer in Richtung Küche. Jetzt glaubte er zu wissen, was er in den Augen seiner Mutter gesehen hatte. Es war Angst. Nicht die Angst, ihn zu verlieren, jedenfalls nicht nur. Sie hatte Angst vor ihm. Angst davor, was er mit seiner Fähigkeit seiner Schwester antun könnte.
»Ich kann hier nicht bleiben, oder?«, fragte er mit zitternder Stimme, wieder dem Professor zugewandt. Obwohl er die Antwort schon zu kennen glaubte.
»Kann man den Damm nicht einfach reparieren? Damit alles wieder so wird wie früher? Ich möchte meine Familie nicht verlassen. Ich werde alles tun, aber bitte, nehmen Sie mir nicht meine Familie«, flehte er den alten Mann mit Tränen in den Augen an.
Sofort stürmte seine Mutter, die das Gespräch wohl von der Küche aus belauscht hatte, herein, setzte sich neben ihren Sohn und drückte ihn ebenfalls weinend an sich.
»Das kann ich leider nicht«, sagte Professor Albin heiser, was Jake nicht hören wollte, aber schon befürchtet hatte.
Als Jake am nächsten Morgen aufwachte, schien bereits die Sonne durch sein Fenster. Es musste Mittag sein, dachte er verschlafen.
In der Hoffnung, dass alles, was am vorherigen Tag geschehen war, nur ein Traum gewesen war, blickte er zu seinem Stuhl hinüber, über dem eine dunkelblaue Hose, ein weißes Hemd und eine ebenfalls dunkelblaue Jacke hingen, auf deren Brusttasche ein Symbol aufgenäht war. Ein Siebeneck, ein sogenanntes Heptagon, in dem drei Buchstaben in leuchtendem Rot standen - NGA, die Initialen der NeoGen Academy.
Schweren Herzens stand er auf und sah sich in seinem Zimmer um. Es war unwirklich, dass er dieses Zimmer heute vielleicht zum letzten Mal sehen würde. Wehmütig betrachtete er seinen Schreibtisch, auf dem nur sein kurzer silberner Stab lag, der, wenn er aktiviert wurde, einen holographischen Bildschirm und eine Tastatur erzeugte. Dann betrachtete er die Wände um sich herum und all die Holoposter seiner Lieblingsathleten der vergangenen Parcours-Games-Staffeln. Ein paar zeigten sogar Leroy Runner. Was ihn wiederum an seine Freunde erinnerte, vor allem an Kevin. An ihn hatte er bisher überhaupt nicht gedacht. Ihn, Martha und auch Digger würde er nie wiedersehen, dachte er. Da er heute Nachmittag abgeholt werden würde, würde er nicht einmal Zeit haben, sich von ihnen zu verabschieden. Und selbst wenn, wie sollte er ihnen sagen, wohin er ging? Die Wahrheit? Dass er ein schlafendes Monster war? Nein, vielleicht war es besser so. Wer wusste schon, wie sie auf diese Nachricht reagieren würden, dass er ein verdammter Freak war. Er hasste es. Er hasste es, diese Fähigkeit zu haben, er wollte wieder ganz normal sein, so wie er es all die Jahre zuvor gewesen war.
Wütend machte Jake eine Handbewegung in Richtung des Stuhls, an dem seine neue Schuluniform hing, der daraufhin mit einem lauten Knall gegen die Wand flog und die Kleidung auf dem Boden verstreute. Erschrocken über sich selbst setzte er sich wieder auf sein Bett und fing an zu weinen.
»Was ist passiert?«, fragte seine Mutter, die plötzlich im Zimmer stand. Zuerst schaute sie auf den zerbrochenen Stuhl und die umherliegenden Kleidungsstücke, dann sah sie ihren Sohn an, der sie mit tränenüberströmtem Gesicht und in tiefer Trauer anblickte.
»Es tut mir leid, Mama. Ich wollte den Stuhl nicht kaputt machen«, wimmerte er, worauf sie sich neben ihn setzte und ihm über den Rücken strich.
»Ich weiß, ist schon gut Jacob. Es ist nur ein Stuhl.«
»Ich habe auch in den Sachen von gestern geschlafen«, sagte er und sah sie schuldbewusst an.
»Schon gut«, sagte sie etwas verkrampft.
Daraufhin fing er noch mehr an zu weinen.
»Hey, ich weiß, dass das alles nicht leicht für dich ist.«
»Es ist nicht nur das. Ich mache einen Stuhl kaputt und es ist okay. Ich schlafe in meinen Straßenklamotten und es ist auch okay. Bitte sag etwas. Sag irgendwas, damit es sich normal anfühlt«, flehte er.
»Wirklich?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen, worauf er nickte.
Sie rümpfte die Nase, zog ihm das Shirt, das wie eine zweite Haut an ihm klebte, ein Stück vom Rücken und sagte schließlich: »Du musst das Zeug dringend ausziehen, wenn das noch möglich ist und man es dir nicht vom Leib schneiden muss. Und dann solltest du schleunigst in die Reinigungskapsel gehen, denn du stinkst wie ein verwesendes Tier in der Wüste«.
Noch nie hatte ihn das Nörgeln seiner Mutter so glücklich gemacht wie in diesem Moment, was sie ein wenig überraschte, aber auch zum Schmunzeln brachte.
Jake wollte sie umarmen, doch sie schob ihn von sich und stand auf.
»Nein, jetzt mal ehrlich. Du riechst wie eine ganze Herde toter Kamele. Und wenn du nicht sofort diese schmutz- und schweißgetränkten Kleider ausziehst und in die Reinigungskapsel steigst, zerre ich dich in den Garten und spritze dich mit dem Gartenschlauch ab, wie es deine Urgroßeltern noch gemacht hätten.«
Jake wusste nicht, ob das alles nur leere Worte seiner Mutter waren, aber er wollte es auch ganz bestimmt nicht herausfinden.
Nach einer Weile kam Jake in seiner neuen Schuluniform, die ihm, wie er fand, sehr gut stand, in die Küche. Sein Vater, der zu seiner Überraschung nicht bei der Arbeit war, lehnte mit einer Tasse Kaffee in der Hand an der Kücheninsel und betrachtete ihn mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
»Wow, da sieht ja jemand richtig erwachsen aus«, sagte er und erregte damit die Aufmerksamkeit seiner Frau, die gerade mit dem Gemüseschneiden beschäftigt war. Sie drehte sich um und schaute ihren Sohn halb wehmütig, halb bewundernd an.
»Setz dich«, sagte sein Vater, worauf Jake an die Kücheninsel trat und sich auf seinen gewohnten Platz setzte.
Der Vater stellte seine Kaffeetasse ab und setzte sich zu ihm.
»Wir haben gestern, nachdem du in deinem Zimmer verschwunden warst, noch ein wenig mit Professor Albin gesprochen. Du wirst jetzt auf diese Schule gehen und dort wohnen, aber du bist immer noch unser Sohn und wir lieben dich.«
Seine Mutter nickte bestätigend mit feuchten Augen.
»Und dort wirst du auch die nächsten drei Monate bleiben, bis ...«, sagte er lächelnd und wurde dann von seiner Frau unterbrochen. »...bis zu den nächsten Ferien, die du dann bei uns verbringen wirst.«
Jakes Blick wanderte zwischen seinen Eltern hin und her, um sicherzugehen, dass sie ihm die Wahrheit sagten.
»Stimmt das?«, fragte er, und seine Mutter nickte lächelnd.
Jake sprang auf und wollte seiner Mutter um den Hals fallen, doch sie hinderte ihn daran, indem sie ihm die Hand auf die Brust drückte.
»Warst du auch in der Reinigungskapsel?«, fragte sie mit aufgesetzter Ernsthaftigkeit.
»Ja!«, rief er laut und grinsend, worauf sie ihre Arme um ihn schlang und ihn mehrmals auf die Stirn küsste. Dann schloss sich auch sein Vater der Umarmung an und küsste seinen Sohn ebenfalls auf den Kopf.
»Du schaffst das, wir glauben an dich«, hauchte sie Jake ins Ohr, was ihm unglaublich viel Kraft gab.
Am Nachmittag saß Jake in einem eiförmigen, nicht sehr geräumigen Gefährt, das ihn von zu Hause abgeholt hatte. Er staunte immer noch, denn so etwas hatte er noch nie bewusst wahrgenommen. Nur gut, dass er kein Gepäck dabei hatte, denn dafür wäre überhaupt kein Platz gewesen.
Obwohl er wusste, dass er seine Eltern und seine kleine Schwester drei Monate lang nicht sehen würde, war er mit einer gewissen Leichtigkeit an Bord gegangen, denn am Abend zuvor war er noch mit dem Gedanken eingeschlafen, seine Familie für immer verloren zu haben. Aber es waren ja nur drei Monate.
Das fahrende Ei brachte ihn an den äußersten Rand der Wohnsiedlungen, vorbei an den Hydrophon-Türmen, in denen frisches Obst und Gemüse angebaut wurde, bis zum letzten Ring von Sapphire, den er schon oft auf Karten gesehen hatte, aber noch nie mit eigenen Augen. Er wusste, dass es auch hier noch Häuser gab, aber sie sahen anders aus. So wie sich die Wohnungen in den Wohnkomplexen von den kleinen Einfamilienhäusern unterschieden, bemerkte er auch hier sehr schnell einen deutlichen Unter-schied zu seinem Elternhaus.
Jake sah große moderne Bauernhöfe, Ställe und viele verschiedene Tiere. Pferde, Esel, Ziegen, Schafe und auch Kühe auf großen Wiesen, die durch Seen voneinander getrennt waren. Es war so friedlich und unglaublich idyllisch, dass er am liebsten ausgestiegen und geblieben wäre.
Als er schließlich den Rand dieses letzten Rings erreichte, endete die befestigte Straße. Vor ihm ragten riesige Bäume so hoch in den Himmel, dass ihm die Bäume, die er bisher nur aus Sapphire oder einer der anderen Ringkolonien kannte, wie Büsche auf einem Zahnstocher vorkamen. Jake fühlte sich wie in einer anderen Welt.
Die Tatsache, dass das Ei stehen blieb und kein offen-sichtlicher Weg zu erkennen war, verunsicherte Jake. Gerade als er überlegte, ob er aussteigen sollte, ging ein Ruck durch das seltsame Gefährt und er hatte das Gefühl, es würde sich plötzlich in die Luft erheben. Es folgte ein leises Surren, dann ein Klacken und mit einem Mal öffnete sich das Dach. Staunend beobachtete Jake, wie das, was eben noch oben war, sich an beiden Seiten nach unten senkte, so dass aus dem Ei eine Schale wurde. Über ihm der strahlend blaue Himmel und die gleißend weiße Sonne, die ihre wärmenden Strahlen auf ihn herab schickte.
Mit einem sanften Wummern setzte sich die Schale in Bewegung, geradewegs auf den Wald zu. Neugierig beugte sich Jake leicht über den Rand, um seine Vermutung zu bestätigen, dass die Schüssel schwebte, als sie durch die plötzliche Gewichtsverlagerung ins Trudeln geriet.
»Bitte lehnen Sie sich während der Fahrt nicht aus dem Transportpod«, ertönt eine mahnende weibliche Stimme aus der Armatur vor ihm.
»Entschuldigung«, sagte Jake und richtete sich wieder auf.
»Schon gut. Aber bitte machen Sie das nicht noch einmal. Ich werde jetzt das Tempo erhöhen«, sagte die Stimme und Jake wurde sofort in den Sitz gedrückt.