Nest - Roisin O'Donnell - E-Book

Nest E-Book

Roisín O'Donnell

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zugleich stark, rau und zart – eine neue Stimme aus Irland

An einem strahlenden Frühlingstag in Dublin trifft die schwangere Ciara Fay eine Entscheidung. Sie schnappt sich Kleidung von der Wäscheleine, packt ihre zwei kleinen Töchter ins Auto und fährt davon. Schon lange fühlt sich ihr Zuhause nicht sicher an. Doch ohne Job und Einkommen, isoliert von Familie und Freunden, kann sie sich der Kontrolle ihres manipulativen Mannes Ryan kaum entziehen. Immer wieder zweifelt Ciara an ihrer Wahrnehmung der Dinge. Notdürftig findet sie Unterschlupf und sucht verzweifelt nach einem neuen Heim für sich und ihre Kinder. Wird es ihr dieses Mal gelingen auszubrechen? Denn Weggehen ist eine Sache, aber Wegbleiben eine andere.

Ein einziger mutiger Moment kann ein ganzes Leben verändern. Ein mitreißender Roman über eine Mutter, die sich ihr Selbstvertrauen zurückerobert, um für ein besseres Leben zu kämpfen.

»Was für ein außergewöhnliches Debüt! Eine Geschichte über Liebe, Mut und Überleben, die man nicht aus der Hand legen kann.« Mary Beth Keane

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 527

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

An einem strahlenden Frühlingstag in Dublin trifft die schwangere Ciara Fay eine Entscheidung. Sie schnappt sich Kleidung von der Wäscheleine, packt ihre zwei kleinen Töchter ins Auto und fährt davon. Schon lange fühlt sich ihr Zuhause nicht sicher an. Doch ohne Job und Einkommen, isoliert von Familie und Freunden, kann sie sich der Kontrolle ihres manipulativen Mannes Ryan kaum entziehen. Immer wieder zweifelt Ciara an ihrer Wahrnehmung der Dinge. Notdürftig findet sie Unterschlupf und sucht verzweifelt nach einem neuen Heim für sich und ihre Kinder. Wird es ihr dieses Mal gelingen auszubrechen? Denn Weggehen ist eine Sache, aber Wegbleiben eine andere.

Ein einziger mutiger Moment kann ein ganzes Leben verändern. Ein mitreißender Roman über eine Mutter, die sich ihr Selbstvertrauen zurückerobert, um für ein besseres Leben zu kämpfen.

»Was für ein außergewöhnliches Debüt! Eine Geschichte über Liebe, Mut und Überleben, die man nicht aus der Hand legen kann.« Mary Beth Keane

Zur Autorin

Roisín O’Donnells Kurzgeschichten wurden u. a. in The Stinging Fly, The Tangerine und der Irish Times veröffentlicht und für diverse Preise nominiert. Ihre Sammlung »Wild Quiet« wurde von der Irish Times zu den Lieblingsbüchern des Jahres 2016 gezählt. »Nest« ist ihr erster Roman. O’Donnell lebt mit ihren beiden Kindern in der Nähe von Dublin.

Roisín O’Donnell

Nest

Roman

Aus dem irischen Englisch von Melike Karamustafa

BLESSING

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel NESTING bei Scribner UK.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Zitatnachweise:

S. 7: Auszug aus “Mother Ireland” von Eavan Boland, New Collected Poems, Carcanet Press 2005, Manchester.

S. 207: Auszug aus dem Gedicht »You›re« von Sylvia Plath, erschienen im Gedichtband Ariel in der Übersetzung von Alissa Walser, Suhrkamp Verlag 2024, Berlin.

Copyright © 2025 by Roisín O’Donnell

Copyright © 2025 by Karl Blessing Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Angelika Lieke

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

Umschlagabbildung: Anna Artemenko/Stocksy

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31511-5V001

www.blessing-verlag.de

Für Mary und Áine

At first

I was land.

I lay on my back to be fields

and when I turned

on my side

I was a hill

under freezing stars.

I did not see.

I was seen.

Night and day

words fell on me.

Seeds. Raindrops

Chips of frost.

From one of them

I learned my name.

I rose up. I remembered it.

Now I could tell my story.

It was different

from the story told about me.

Eavan Boland, »Mother Ireland«

INHALT

Teil I  Vor dem Sturm

Teil II  Zuflucht

Teil III  Mondschädelig

Teil IV  Als wir Vögel waren

Teil V  Lernen in Blindenschrift

Teil VI  Anseo

Teil I  Vor dem Sturm

Frühling 2018

Kapitel 1

Ciara steigt aus dem Auto. Der kalte Wind, der vom Meer herüberfegt, raubt ihr den Atem und peitscht ihr die Haare ins Gesicht. Nach einigem Manövrieren, bei dem sie die unwirschen Laute vom Beifahrersitz ignoriert hat, schafft sie es, ihren alten silbernen Micra in eine enge Parklücke gegenüber dem Strandzugang von Skerries Beach zu quetschen. Der Aprilhimmel ist hell und klar. Über den Dächern der Restaurantterrassen an der Promenade gleiten Möwen wie von unsichtbaren Drähten gezogen dahin, die gespannten Flügel scheinbar vollkommen bewegungslos.

Die Beifahrertür schlägt zu.

Ryan umrundet den Wagen. Sie hört, wie er den Kofferraum öffnet.

Ciara dreht sich um und streicht sich die Haare aus den Augen. Gegen das Gewicht des Windes gestemmt, reißt sie die Tür zur Rückbank auf, von wo ihr ein Schwall »Ich will selber, ich will selber, ich will selber« entgegenschlägt. Die vierjährige Sophie hat sich abgeschnallt. Sie duckt sich unter dem Arm ihrer Mutter hindurch und springt auf den Bürgersteig, die dunklen Zöpfe fliegen.

»Das Meer! Können wir eine Burg bauen, Daddy?«

Ciara bekommt Ryans Antwort nicht mit. Sie ist zu sehr damit beschäftigt, mit der Gurtschnalle des schmuddeligen roten Kindersitzes der zweijährigen Ella zu kämpfen. Dieses Auto braucht dringend eine Innenreinigung. Eine Grundreinigung. Herrgott noch mal. Deshalb fahren sie immer mit ihrer alten Karre an den Strand und nicht mit Ryans makellosem Jeep. Endlich springt die Schnalle auf. »Voilà! Da haben wir’s, meine Kleine. Endlich frei.«

»Raus, Mammy.« Ella streckt einen ihrer pummeligen Arme nach ihr aus, in denen auf Ellbogenhöhe kleine Grübchen sitzen. Ihr anderer Arm ist wie immer um Hoppy, das blaue Kaninchen mit dem aufgenähten Herzen, geschlungen. Mit den vielen fadenscheinigen Stellen und der klumpig gewordenen Füllung sieht er irgendwie vergrämt und weise zugleich aus.

»Dann komm hoch.« Sie küsst Ella auf die Wange und vergräbt die Nase an ihrem Hals, wo sie den schwachen Geruch nach Banane und Haferbrei einatmet.

Sophie ist mit Ryan in die Dünen vorausgegangen. Die beiden ungleichen Gestalten geben zusammen ein ulkiges Bild ab. Ihre fluoreszierend orangefarbene Radlerhose, das Schmetterlingstop und die glitzernden Haarspangen neben seinem schwarzen T-Shirt, der gebügelten Jeans und den ordentlich gekämmten dunkelgrauen Haaren. Obwohl ihr Vater ihre Hand hält, gelingt es Sophie, neben ihm herzutanzen.

Scharfe blonde Sandschilfstängel kratzen an Ciaras Knöcheln, während sie sich mit Ella auf der Hüfte durch die Dünen schlängelt. »Siehst du das Meer, Ella-Schatz?«

Der Strand windet sich halbmondförmig um die Bucht, durchzogen von Bändern aus zerbrochenen Muscheln, Treibholz und Seetang. Der Wetterbericht hat für heute zwanzig Grad vorhergesagt. Ein Höchstwert für April, der offensichtlich nicht die rauen Böen mit einkalkuliert hat, die von der Irischen See her übers Land fegen. Am Sonntagnachmittag ist der Strand übersät mit Trauben von Menschen, die sich unter Mänteln zusammenkauern oder hinter Strandmuscheln verstecken, wild entschlossen, das Beste aus dem Tag herauszuholen.

Am Ende des hölzernen Bohlenwegs sinken ihre Turnschuhe in den Sand. Als sie Ryan eingeholt hat, setzt sie Ella ab und stellt sich neben ihn, um aufs Meer hinauszuschauen.

»Es ist Flut«, kommentiert sie, nur um etwas zu sagen.

Ryan wendet sich ihr zu. »Ich gehe mit den Mädchen schwimmen.«

Er mustert sie aus grauen Augen, stellt sie auf die Probe. Heute Morgen, als er verkündete, dass sie an den Strand fahren würden, war er noch gut drauf, doch schon jetzt hat sich etwas verändert.

Was hat sie dieses Mal getan? Ihr Herz beginnt zu rasen.

»Schwimmen? Du meinst planschen? Klar, das macht ihnen sicher Spaß.«

»Ich sagte schwimmen. Richtiges Schwimmen. Sie sind groß genug.«

»Aber sie können doch gar nicht schwimmen.« Sie versucht zu lachen. »Es ist kalt, Ryan. Sie werden frieren.«

Er verschränkt die Arme vor der Brust. Seine Lippen sind zu einer dünnen, entschlossenen Linie zusammengepresst. Sie hört ihre Mutter sagen, Überleg dir gut, welche Kämpfe es sich lohnt auszutragen, Liebes.

»Okay. Schwimmen. Warum nicht? Ich ziehe ihnen die Neoprenanzüge an. Mädels! Kommt ihr mal zu mir?«

Die Neoprenanzüge sind vom letzten Sommer. Ellas Anzug ist so eng, dass sie ihre Arme nicht beugen kann. Ryan sieht zu, wie sie Sophies Rückenreißverschluss hochzieht und ihre Tochter hochhebt.

»Hör auf, Mammy! Du tust mir weh!«

»Wir haben es schon, Mäuschen, perfekt.«

Sophie watschelt davon wie ein schlecht gelaunter Pinguin.

Stell dir vor, Sinéad wäre hier, wie sie sich über den Anblick ihrer Nichten amüsieren würde.

Ryan zieht sein T-Shirt aus und runzelt die Stirn. »Hast du ihnen keine neuen Neoprenanzüge gekauft? Ich dachte, ich hätte dir das Geld dafür gegeben?«

Sie murmelt etwas davon, dass die Anzüge nicht mehr vorrätig seien, und beeilt sich, die Schnürsenkel ihrer Turnschuhe zu lösen und ihre schwarzen Leggings über die Knie zu streifen. Als sie seinen Blick auf sich spürt, bindet sie sich die Haare zurück und schließt den Reißverschluss ihres blassrosa Fleece.

Ella kommt zu ihr gewackelt und nimmt ihre Hand. »Komm, Mammy!«

Sie lassen ihre Strandtaschen und zusammengerollten Handtücher auf dem trockenen Sand oberhalb der ansteigenden Flut zurück, die hungrig herankriecht. Ihre Töchter ziehen sie über den härteren, wellengekräuselten Sand, dorthin, wo sich der Himmel im nassen Strand spiegelt.

Beim ersten Lecken der schäumenden Wellen an ihren Zehen kreischen die Mädchen auf und rennen davon.

Ciara flucht leise vor sich hin. Es ist noch kälter, als sie erwartet hat. Die Wellen klatschen gegen ihre nackten Waden. Der Wind, scharf wie Menthol. Was, wenn es hier Quallen gibt? Scharen Gelber Haarquallen, die in der Bucht von Dublin treiben. Sie stellt sich vor, wie sich die Tentakel im tieferen Wasser unbemerkt um die Körper ihrer Kinder schlingen. Gott bewahre, dass eines von ihnen verletzt wird. Wenn irgendetwas diesen Tag kaputt macht, wird es ihre Schuld sein.

Ryan kommt mit langen Schritten auf sie zu und nimmt Sophies Hand. »Komm, wir gehen tiefer rein. Schwimmen.«

Sophie kreischt jedes Mal, wenn sie von einer Welle getroffen wird. Ella zerrt am Fleece ihrer Mutter, um hochgehoben zu werden. Sie setzt ihre Tochter wieder auf ihre Hüfte. Der Neoprenanzug macht keinen großen Unterschied. Ella klappert mit den Zähnen.

»Kalt, Mammy.«

»Alles gut, mein Schatz. Ist das nicht ein Riesenspaß? Wollen wir versuchen, über die Wellen zu springen?«

Sie sieht zu Ryan. Wie lange müssen sie das noch ertragen?

Bei der Klippe am Martello-Turm bereiten sich die Menschen auf den Sprung vor. Freiwasserschwimmer, die sich an die Felsen lehnen, in Mäntel und Handtücher gehüllt. Wenn einer von ihnen einen Blick in ihre Richtung werfen würde, was würde er sehen? Eine glückliche Familie? Draußen am Horizont erweckt Skerries Island den Anschein eines schlafenden Riesen mit freundlichem Bierbauch, der sich aus dem Wasser wölbt. Sie möchte es Ella zeigen, um gemeinsam mit ihr darüber zu lachen. Aber im Moment gibt es keinen Raum für Geschichten.

»Ich friere! Es ist viel zu kalt!« Sophie kommt zu ihr gerannt und schlingt ihre dünnen Arme um Ciaras Taille. »Können wir jetzt rausgehen, Mammy? Ich will jetzt raus!«

Ryan schöpft Wasser in seine hohlen Hände und kippt es über seine Schultern. Er mustert sie mit verächtlichem Blick. »Sie müssen sich nur daran gewöhnen.«

»Sie sind eiskalt, Ryan.« Ihr flehender Tonfall lässt sie zusammenzucken. »Es ist zu kalt. Ich glaube, ich nehme sie besser mit raus.«

»Okay.«

»Es tut mir leid, aber ich will nicht, dass sie …«

»Ich sagte okay.«

Er dreht ihnen den Rücken zu. Seine muskulösen Arme durchschneiden das Wasser, während er von ihnen wegschwimmt.

Vielleicht peilt er den Horizont an. Vielleicht landet er in Grönland.

Halt! So was darfst du nicht denken. Mein Gott.

Die Mädchen rennen zurück zum trockenen Teil des Strandes, während Ella unablässig »Kalt, kalt, kalt!« schreit.

Sie zieht den beiden die Neoprenanzüge aus und wickelt sie in die Badetücher, die sie heute Morgen in die Strandtasche gepackt hat. Sophie heult, als sie sie trocken rubbelt. Plötzlich ist Ciara selbst wieder vier Jahre alt und sitzt während eines ihrer Sommerurlaube zu Hause in Derry am Strand von Castlerock, wo ihre Mutter mit einem kratzigen Handtuch über ihre von Gänsehaut überzogene sandige Haut reibt.

»Wie wäre es mit was zu essen?« Ryans Stimme lässt sie erschrocken zusammenfahren.

Sie hatte nicht bemerkt, dass er zu ihnen zurückgekehrt ist. Er hatte schon immer die Angewohnheit, sich anzuschleichen. Seine Frage richtet sich an Sophie, die schüchtern den Kopf an der Brust ihrer Mutter vergräbt.

Da ist sie wieder, diese Stimme in ihrem Kopf. Hast du nicht bekommen, was du wolltest? Das, wonach du dich insgeheim gesehnt hast? Ein schönes Haus in Irland. Zwei kleine Mädchen, deren Zöpfe sich in der salzigen Gischt kräuseln, die in Minnie-Mouse-Badeanzügen mit Rüschen am Po am Strand herumtollen. Ryan, ein loyaler, hart arbeitender Ehemann. Der Typ Mann, dem andere Frauen heimliche Blicke zuwerfen, wenn er seine Kinder auf der Schaukel anschubst oder das Mittagessen bestellt oder – wie jetzt gerade – mit nacktem Oberkörper dasteht und sein Haar mit dem Handtuch trocknet. Und doch legt sich an diesem strahlenden Tag mit den kreischenden Möwen ein zunehmendes Gewicht auf ihre Brust, wie vor einem aufziehenden Sturm.

Rutschen, Wippen und von der salzigen Luft verrostete Schaukeln. Der kalte Wind ist abgeflaut und die Spätnachmittagssonne wärmt ein wenig. Im Hafen von Skerries herrscht ausgelassene Stimmung. Paare und Familien spazieren die Strandpromenade entlang. Ein Junge lässt seinen Drachen über dem Jachthafen steigen, und ein Mann filmt mit einer Drohne seine Kinder, die versuchen, den Drachen mit Steinen zu treffen. »Ich habe es euch gesagt«, ruft er. »Ich habe euch ausdrücklich darum gebeten, das nicht zu tun.«

Bei Storm in a Teacup bestellt sie Softeis für die Mädchen und Ryan.

»Du willst nichts?« Er spricht, ohne sie anzuschauen.

»Ich esse bei den beiden mit«, sagt sie. »Hab keinen großen Appetit.«

Bald hat Ella einen triefenden Vanillebart. Himbeersirup rinnt zwischen Sophies Fingern hindurch. Ciara wischt ihnen mit Papierservietten, die sich schnell in eine zerfetzte, glitschige Masse verwandeln, über das Kinn.

»Lass Mammy mal probieren.« Sie leckt an Ellas Eis, damit es aufgegessen wird, bevor es komplett schmilzt. Von der Süße dreht sich ihr der Magen um. Sie spürt, dass Ryan sie genau beobachtet. »O mein Gott, schau dir die beiden an. Eiscreme ist eigentlich nie eine gute Idee, oder?«

Ryan erwidert nichts.

Es ist so weit. Der Beginn einer weiteren Schweigephase.

Sie spürt, dass sie Kopfschmerzen bekommt. Ihr Körper wird von dem unheimlichen Gefühl geflutet, dass sie in einer Falle steckt. Für immer in diesem strahlenden Tag gefangen. Sie ist unsichtbar, bewegt sich unbemerkt durch die Menschenmassen. Andere Frauen hüten fröhlich ihre Kinder, halten ihre Partner an der Hand oder schlendern Seite an Seite mit Freunden und unterhalten sich. Ihre kleine, mäandernde Familie fügt sich perfekt ein. Warum also treiben sie erneut diese dunklen Gedanken um?

Zwei Jahre ist es her, seit sie zu Ryan zurückgekehrt ist. Ein paar Monate, seit sie das Geld für die Neoprenanzüge aus einem blinden Impuls heraus in die Windeltasche gesteckt hat. Sie fühlt sich schuldig, als wäre sie ein Fleck auf dem perfekten Tag, der den Moment besudelt. Sie erinnert sich an das Gemälde aus der Kriegszeit, das sie auf einem Schulausflug nach Liverpool in der Tate gesehen hat. Menschen auf einem Karussell. Aus der Ferne sahen sie glücklich aus. Nur wenn man näher heranging, konnte man erkennen, dass sie schrien.

Die Fahrt zurück nach Glasnevin dauert eine halbe Stunde. Jedes Mal, wenn sie an einer roten Ampel hält, wirft sie einen verstohlenen Blick auf Ryan. Ihr Mann starrt auf sein Handy, scrollt, runzelt die Stirn, behält seine unnahbare Heiligenpose bei. Wie Sankt Petrus, denkt sie, der auf einem Knoten aus Schlangen steht. Bevor sie Ryan kennenlernte, hätte sie das nicht gewusst. Jetzt verfügt sie über ein beeindruckendes Wissen über die Evangelien und das Alte Testament – all die Stellen über die Hölle und die, die sich auf Frauen beziehen, die ihre Ehemänner nicht respektieren.

Ihre Versuche, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, werden immer verzweifelter. Sie klingt wie eine Radiomoderatorin, der die Ideen ausgegangen sind und die bis in die frühen Morgenstunden plappert, ohne dass ihr jemand zuhört.

Sie schrumpft während dieser Fahrt am späten Nachmittag zurück in die Stadt. Sie verblasst, während sie die Clontarf Road hinunterfährt und den Blick über Dublin schweifen lässt; die Stadt, die sich wie eine Krabbenschere um die Bucht schlingt. Dahinter die Umrisse des Sugarloaf, der an einen krummen Zauberhut erinnert. Das Blinken der bonbonfarbenen Poolbeg-Schornsteine.

»Das war ein toller Tag, nicht wahr?«, versucht sie es erneut.

Ryan schweigt. Er stellt nicht einmal Blickkontakt her, hat, seitdem sie den Strand verlassen haben, kaum mit ihr gesprochen. Es ist, als ob er sie nicht wirklich sehen, nicht lange genug über seine Wut hinwegblicken könnte. Wenn sie doch nur einen Schalter umlegen könnte, damit er wieder wie heute Morgen wäre, als sich seine gute Laune wie wärmende Sonnenstrahlen zwischen ihnen ausgebreitet hat.

Sie parkt in der Einfahrt ihrer Doppelhaushälfte mit Waschbetonfassade in der Botanic Close. Ein kastenförmiger Bau aus den 1970er-Jahren, mit einem langen, schmalen Vorgarten und wuchernden Hecken. Der Vermieter oder ein Vormieter hat Feuerdorn entlang der Mauer gepflanzt, der sich verzweigt und seine hässlichen Dornen in alle Richtungen streckt. Eine verdammte Friedhofspflanze, hat ihre Mutter sie genannt, als sie das letzte Mal zu Besuch hier war. Zurzeit erhellen wenigstens Ciaras Narzissen den Garten, die mit ihren gelben Köpfen in der Brise nicken.

Ryan steigt aus, noch bevor sie den Motor abgestellt hat. Er schnallt die Mädchen ab und bringt sie ins Haus. Sie hört, wie sie im Flur vor Lachen kreischen.

Als sie den Kofferraum öffnet, wird sie von einem Schwindelanfall überrascht. Wieder einmal. Sie wartet, bis er vorbeigeht, dann nimmt sie die Strandtasche heraus, die tropfenden Neoprenanzüge, die schweren, durchnässten Handtücher, die Plastiktüte mit den Eimern und Schaufeln. Mit dem Ellbogen senkt sie die Klappe, bevor sie sie mit dem Po zudrückt. Im düsteren Flur bleibt sie stehen und wirft alles auf einen sandigen Haufen auf den Linoleumboden neben dem Garderobenständer.

Ella schreit: »Noch mal, Daddy!«

Im Wohnzimmer schwingt Ryan die Mädchen an den Knöcheln im Kreis wie Pendel. Die Ein-Mann-Version eines Vergnügungsparks.

Sie streckt den Kopf durch die Tür. »Sieht aus, als würde das Spaß machen.«

Ryan sieht sie an, als wäre sie etwas Unbedeutendes, geradezu Ekelerregendes, dann schwingt er Ella und Sophie erneut im Kreis.

Sie lieben ihn. Er ist ein guter Vater. Nicht wahr?

Sie schließt die Küchentür, um das entzückte Quietschen der Kinder auszusperren, stellt den Wasserkocher an, holt eine Tüte Penne aus dem Schrank, öffnet ein Glas Tomatensoße, füllt alles in Töpfe. Als Nächstes steht sie, ohne bewusst den Entschluss gefasst zu haben, mit Gummihandschuhen, einer Sprühflasche Reinigungsmittel und einer Packung Wischtücher bewaffnet im Bad.

Eine Angewohnheit, die begonnen hat, als sie mit Sophie schwanger war. Damals hat sie es als »Nestbau« bezeichnet. Etwas, das Frauen tun, wenn sie spüren, dass ihr Baby bald kommen wird. Fugen reinigen, staubsaugen, im Eifer einer Schnapsidee die Mauer im Garten azurblau streichen. Nur dass sie gerade keine bevorstehende Ankunft, sondern eine drohende Gefahr witterte. Jeden Zentimeter des Hauses zu putzen, zu streichen, zu renovieren, fühlte sich wie das Einzige an, was irgendwie sicher war.

»Mädels! Das Essen ist fertig!«

Sophie poltert in die Küche und jammert, dass sie Durst hat. Ella will sich nicht in ihren Hochstuhl helfen lassen.

Ryan starrt die Nudeln auf seinem Teller an, schiebt sie mit der Gabel hin und her und steht dann abrupt auf. »Ich gehe aus.«

Sie ist in der Küche und schrubbt Soßenreste von den Peppa-Wutz-Tischsets, als sie die Haustür zufallen hört. Ausgewrungen, so fühlt sie sich. Ausgelaugt. Nach dem Abendessen, dem Schaumbad der Mädchen, dem Zähneputzen und der Gutenachtgeschichte. Nach dem Ausräumen der Strandtasche, dem Ausschütteln der Handtücher, dem Abspülen kleiner Neoprenanzüge im Dunkeln unter dem Wasserhahn im Garten. Das helle Küchenlicht bereitet ihr Kopfschmerzen, deswegen hat sie es ausgeschaltet und stattdessen die kleine Stehlampe angemacht. Ihre Augen brennen, ihr Körper schmerzt. Und jetzt ist der gefürchtete Zeitpunkt am Abend gekommen, wenn die Mädchen schlafen und sie nicht mehr durch ihr Raufen und Singen geschützt ist.

Ryan kommt in die Küche. Er stellt den Wasserkocher an, macht sich einen Kamillentee und setzt sich an den Tisch. Ciara lässt Wasser ins Spülbecken laufen und rückt den schmutzigen Töpfen mit einem Stahlschwamm und einem großzügigen Spritzer Spülmittel zu Leibe.

Als sie die Stille nicht mehr erträgt, zieht sie den Stöpsel, trocknet sich die Hände an ihrem Oberteil ab und wendet sich ihm zu, versucht, gelassen zu klingen. »Und, wo warst du?«

»Aus. Ich brauchte etwas Freiraum.« Er verschränkt seine Finger auf dem Tisch und sieht sie an. »Du hast mich heute bloßgestellt. Ich wollte doch nur mit meinen Kindern schwimmen gehen, wie jeder normale Vater.«

»Aber wir waren doch schwimmen! Ihr wart eine ganze Weile im Wasser.«

»Ich bitte dich«, schnaubt er. »Wir waren vielleicht zwei Minuten drin, bevor du darauf bestanden hast, dass wir wieder rauskommen. Du versuchst ständig, mich zu kontrollieren. Genau wie deine verdammte Mutter, die immer alles orchestrieren muss.«

»Das ist nicht fair, Ryan. Ich möchte nur … Zieh da bitte nicht meine Mum mit rein. Ich weiß, du hasst sie, aber …«

»Was? Willst du mich verarschen? Ich habe nie etwas Schlechtes über deine Mutter gesagt. Aber egal.« Sein Gesichtsausdruck ist finster, misstrauisch geworden. »Wo ist das Geld, das ich dir für die Anzüge gegeben habe? Und das Wechselgeld vom letzten Einkauf?«

Sie scheint nicht die richtigen Worte zu finden.

Erneut befällt sie Schwindel. Dieses Gefühl, von allem losgelöst zu sein. Nach Erinnerungen zu greifen, die sich in Luft auflösen, sobald sie sie zu fassen bekommen hat. Als ihre Mutter das letzte Mal aus Sheffield zu Besuch da war, musste sie in einem Bed and Breakfast übernachten, weil Ryan sie nicht ins Haus gelassen hat. Wenn sie doch nur auf Pause drücken könnte. Wenn sie sich über Dolmetscher mit ruhiger Stimme verständigen könnten, wie bei einer UN-Konferenz. Da das keine Option ist, muss sie das Gespräch beenden, bevor es noch schlimmer wird.

Das Geld für die Neoprenanzüge habe ich versteckt, zusammen mit dem Rest der gestohlenen Scheine. Mein Fluchtgeld.

Ihr Herzschlag beschleunigt sich beim Anblick seines angespannten Kiefers. Ihr bleibt nur noch sehr wenig Zeit, um es abzuwenden.

»Ich habe Kopfschmerzen, Ryan. Und ich muss noch alles sauber machen …«

»Du hast Kopfschmerzen? Ha! Was glaubst du denn, wie es mir geht? Ich habe seit fünf Jahren Kopfschmerzen, weil ich diesen Scheiß mit dir ertragen muss. Du verlogene Schlampe. Ich will das Geld spätestens morgen zurück.«

Bitte, tu das nicht. Bitte!

Nichts, was sie sagt, wird richtig sein. Worte sind nutzlos. Sie muss aus der Sprache heraustreten, weg von ihr, hin zur reinen Handlung. Sie greift nach einem Geschirrtuch.

»Was zum Teufel machst du jetzt?«

»Das Spülbecken putzen.« Ihre Hände zittern. »Hör zu, es tut mir leid, dass ich dich verärgert habe, ich wollte nicht …«

»Du willst mich wohl verarschen. Dir tut überhaupt nichts leid. Was ist bloß los mit dir? Du bist ja vollkommen irre. Kein Wunder, dass du keine Freundinnen hast. Ich bin mit dir fertig.«

»Ryan, können wir bitte einfach …«

»Ich sagte, ich bin verdammt noch mal fertig mit dir!«

Er steht auf, die Stuhlbeine quietschen auf den Fliesen. Er schiebt den Stuhl so heftig zurück, dass er umkippt.

Ihr Herz macht einen Satz.

Er geht an ihr vorbei, als wäre sie etwas Krankes, Eiterndes, und wirft seine Tasse mit solcher Wucht in die Edelstahlspüle, dass der Henkel abbricht und Porzellansplitter in der Seifenlauge und auf ihren Händen zurückbleiben. Als er die Küche verlässt, schlägt er die Tür mit solcher Wucht hinter sich zu, dass die Beistelllampe vom Tisch fällt. Die Glühbirne zerspringt und taucht den Raum in Dunkelheit.

Mit zitternden Händen umklammert sie das karierte Spültuch. Zitroniges Seifenwasser. Blut rauscht betäubend laut in ihren Ohren. Sie ist das Haus geworden. Der umgestürzte Stuhl. Die zersplitterte Glühbirne. Der kaputte Tassenhenkel. Ihre Knochen und ihr Blut.

Sie wartet und beobachtet und lauscht.

Eins. Zwei. Drei. Vier.

Licht fällt durch den schmalen Spalt unter der Küchentür. Seine schweren Schritte verraten, wie weit entfernt, wie nah er ist.

An Abenden wie diesen weiß sie, dass es real ist, dass sie es sich nicht nur einbildet. Die Angst ist gleißend hell, animalisch, wirklich. Reines Blau im Herzen einer Flamme.

Anschließend ist es immer noch schwieriger. Es wird keine Entschuldigung geben, und sollte sie wagen, das Thema anzusprechen, wird er verächtlich schnauben. Wovon redest du überhaupt? Dann wird sie sich fragen, ob sie sich das alles doch nur eingebildet hat.

Schließlich erklingen seine knarzenden Schritte auf der Treppe. Ihre Schlafzimmertür knallt.

Plötzlich friert sie. Zittert. Sie lässt den fettigen Spüllappen fallen, greift nach dem blauen Kapuzenpulli über der Stuhllehne.

Sie schaltet das Licht über dem Herd an. Die schockierte Küche starrt zurück. Das Glitzern von Glas auf den graubraunen Bodenfliesen. Sie stapelt Teller, stellt den Stuhl auf, fegt die Scherben zusammen. Bewegt sich langsam, vorsichtig, als wäre das Haus aus Eis.

Kapitel 2

Am Montagmorgen schleicht sie barfuß zum Schlafzimmerfenster und schiebt eine Lamelle der Jalousie hoch. Sein Jeep ist weg. Er wird auf dem Weg zur Arbeit sein, in der Nähe des Hotels The Green parken und zu Fuß bis zum Department of Public Expenditure am Merrion Square gehen, wo er bis mindestens halb sechs bleiben wird. Sie wartet auf den kurzen Anflug von Erleichterung, aber er stellt sich nicht ein. Stattdessen kommen Gedanken in Dauerschleife an das, was passiert ist, nachdem sie es endlich ins Bett geschafft hatte.

Es reicht, flüstert eine Stimme in ihrem Kopf. Niemand sollte so leben müssen. Es reicht.

Angetrieben von dieser Erkenntnis, zieht sie ihre Nachttischschublade auf und ertastet die glatten Konturen ihrer Pässe.

»Mammy?« Sophie steht in der Schlafzimmertür, eine Hand in ihrem Einhorn-Pyjama vergraben, um sich am Po zu kratzen. »Was gibt es zum Frühstück?«

Ertappt stopft sie die Pässe in ihre Umhängetasche, die neben dem Bett auf dem Boden liegt, und setzt ein Lächeln auf. »Wie wäre es mit Haferbrei?«

Natürlich kann sie nicht wieder weggehen, auf gar keinen Fall. Sie muss sich beschäftigen, diese verräterischen Gedanken beiseiteschieben. Wäsche waschen, das ist es, was sie tun wird. Sie nimmt den Wäschekorb mit nach unten, trennt die dunklen von den hellen Kleidungsstücken, wählt das Schnellwaschprogramm aus. Ella ist aufgewacht und ruft nach ihr.

Die Mädchen anzuziehen, dauert eine ganze Weile, da Ella auf »selber machen« besteht. Als sie schließlich zusammen ins Erdgeschoss gehen, ist die Wäsche fast fertig. Während die Mädchen ihren Brei essen, holt sie die Kleidung aus der Trommel. Sie selbst bekommt jetzt noch nichts runter. Es liegt nicht daran, dass ihr übel ist, sie verspürt einfach keinen Appetit. Tief in ihrem Inneren kennt sie den Grund dafür. Ihren Nachrichten nach zu urteilen, ist ihre Schwester Sinéad ebenfalls schon darauf gekommen.

Wann weißt du Bescheid? Rufst du mich an? Xox

Ciara schiebt die Terrassentür zum Garten auf und tritt in den hellen Morgen hinaus. Es hat etwas Beruhigendes, Wäsche aufzuhängen. Leggings an beiden Beinen, Kleider am Saum. Der Duft des Weichspülers, die feuchte Wäsche, die schwer in ihren Händen liegt, versetzt sie zurück in die Sommer ihrer Kindheit in Sheffield. Sie erinnert sich, wie sie Sinéad über den kleinen Rasen jagte, unter den wogenden, quadratischen Schatten der frisch gewaschenen Laken hindurch.

Es reicht. Die Worte wispern noch immer in ihrem Kopf, doch inzwischen leiser, kaum hörbar, da der Sog der täglichen Routine langsam die Oberhand gewinnt. Vergiss es. Nur eine dumme Idee.

Nach dem Frühstück bringt sie die Mädchen zum Kindergarten. Auf dem Weg bleiben sie stehen, um die Katze zu begrüßen, die sie Mog getauft haben und die sich zwischen ihren Knöcheln hindurchschlängelt, um anschließend kokett auf eine Mauer zu springen.

Als sie bei Happy Days ankommen, öffnet Mairéad gerade das Tor und wünscht den Kindern, die mit ihren Lunchpaketen hereinstürmen, einen guten Morgen.

In letzter Sekunde zieht Ciara Hoppy unter Ellas Arm hervor. »Du schaffst das, mein Schatz. Denk daran, was Mairéad gesagt hat. Kein Hoppy im Kindergarten. Mammy passt auf ihn auf.«

Ella runzelt die Stirn, aber Sophie zieht sie am Ärmel, und gemeinsam folgen sie den anderen Kindern. Für Ella ist es die zweite Woche. Eigentlich hätte sie erst im September eingewöhnt werden sollen, aber Ella will alles machen, was Sophie macht.

Ciara läuft zurück nach Hause, steigt in den Micra und stopft aus irgendeinem Grund Hoppy in ihre prall gefüllte Umhängetasche auf dem Beifahrersitz. Als ob du mir irgendeine verdammte Hilfe sein könntest.

Sie hätte auch zur Hickey’s Pharmacy vor Ort gehen können, aber Ryan kennt zu viele Leute in Glasnevin. Garantiert würde sie dort einem seiner Kollegen vom Amt, einer Nachbarin oder jemandem aus ihrer Gemeinde über den Weg laufen. Deswegen ist sie zum Blanchardstown Shopping Centre gefahren, hat bei Boots einen Schwangerschaftstest gekauft und sich damit in einer Toilettenkabine eingeschlossen.

Zwei violette Striche.

Auf dem geschlossenen Toilettendeckel sitzend, verschluckt sie sich an einem Laut, der irgendwo zwischen einem Lachen und einem Schluchzen liegt. Sie stützt den Kopf in die Hände, krallt die Finger in ihre Haare und weint. Dann zieht sie ein paar Blätter fadenscheiniges Klopapier aus dem Spender, wischt sich das Gesicht ab, putzt sich die Nase und entsperrt ihr Handy.

Sinéad meldet sich nach dem zweiten Klingeln. »Ist er positiv?«

Ciara schweigt.

»Ich wusste es. Fuck, ich wusste, dass er positiv ist. Ich hab zu Mum gesagt, jede Wette, dass unsere Ciara wieder schwanger ist. Das war mir klar, nachdem du ständig getextet hast, wie geschlaucht du bist und dass du nichts runterbekommst.«

»Moment mal, Sinéad, du hast Mum davon erzählt?«

»Ach, komm schon, Ciara. Sie findet es doch sowieso raus. Die Frau ist eine Hellseherin. Wo bist du gerade?«

»In der dritten Klokabine auf der rechten Seite.«

»Verdammte Scheiße, Ciara.« Ihre Schwester seufzt, und sie kann sich genau vorstellen, wie sie dasteht, die Hände auf Höhe der Hüfte in ihren Krankenhauskittel gestemmt. Keine Mätzchen, als wäre ihre jüngere Schwester eine ihrer Patientinnen auf der Kinderstation. »Okay, hör zu. Alles wird gut. Du hast einen kleinen Schock erlitten, du brauchst Zucker. Besorg dir einen Tee und ein Brötchen und ruf mich dann wieder an.«

Es tut so gut, Anweisungen zu erhalten, vom Druck, Entscheidungen zu treffen, befreit zu sein. Schon etwas ruhiger verlässt sie die Toilette und tritt zurück in das luftige Einkaufszentrum. Hoppy steckt nach wie vor in ihrer Umhängetasche. Sie ertappt sich dabei, wie sie ihn herausnimmt und an ihre Brust drückt.

Auf der Suche nach Ablenkung geht sie zu Easons und sucht ein neues Mr.-Men-Buch für die Mädchen aus. Das Haus von Mr. Topsy-Turvy ist das verrückteste Haus, das du je gesehen hast! Sie schlendert durch eine H&M-Filiale, nimmt ein paar Oberteile in die Hand, runzelt die Stirn und legt sie zurück.

Wem willst du hier etwas vormachen?

Sie kauft sich einen Tee und einen Blaubeer-Muffin.

Ich bin schwanger.

Bestimmt wird es ein Mädchen. Wie es scheint, macht sie immer Mädchen, so wie Sinéad stets sagt: Ich produziere keine Schläfer. Nicht meine Stärke.

Als Sinéad diesmal rangeht, schreit einer von Ciaras Neffen im Hintergrund: »Nein-nein-nein-nein-nein!« Der dreijährige Rory, der vermutlich nach wie vor die Windpocken hat. Joey und Nathan müssten in der Schule sein. Sie stellt sie sich in ihrem Reihenhaus am Hang in Sheffield vor, mit der steilen Treppe, das dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist, so ähnlich ist.

»Geht es dir jetzt besser, Ciara?«, erhebt sich Sinéads Stimme über den Lärm hinweg.

»Ja, alles okay. Es war nur ein kleiner Schock.«

»Das ist es immer, Süße. Wann sagst du es dem Arschloch, mit dem du zusammenlebst … Rory! Würdest du bitte damit aufhören? Hör verdammt noch mal … Eine Sekunde, Ciara.«

Sie spürt, wie sie sich unter der Bemerkung ihrer Schwester windet. Den Reflex, Ryan zu verteidigen. Die Dinge zurückzunehmen, die sie Sinéad geschrieben hat, als sie letzte Nacht im Zimmer der Mädchen an die Tür gelehnt auf dem Boden kauerte. Ihre Haut kribbelt vor Scham. Er ist ihr Ehemann, immer noch. Liebe: hartnäckig wie eine Klette.

»Entschuldige.« Sinéad ist wieder am Telefon. »Rory kapiert es einfach nicht. Wie oft ich ihm schon gesagt habe, dass er die scheiß Knete nicht in den Mund nehmen soll … Mein Gott!« Sie seufzt. »Also, wann erzählst du ihm von dem Baby?«

Seine versteinerte Miene. Es ist nicht so, dass er negativ auf ihre vorherigen Schwangerschaften reagiert hat. Es war eher das Ausbleiben einer Reaktion, was sie verletzt hat. Was sie dazu brachte, ihn zu umarmen in dem Versuch, ihm einen Kuss auf die abgewandte Wange zu geben. Freust du dich denn gar nicht?

So eine Schwangerschaft will sie nicht noch einmal durchmachen. In ihrem Kopf hat sich eine Tür geschlossen. Eine Grenze, in Stein gemeißelt. Die Erinnerung an jene Monate, in denen ihr das Austragen jedes Kindes so heikel, so gefährdet schien, hat sich in ihre Knochen, in ihre Muskeln eingeschrieben. Sie in Sicherheit bringen, danach hat es sich angefühlt. Die Erinnerung daran, wie sie ihren Bauch abgeschirmt hat. Bettelte. Das einzige Mal, dass sie ihn unumwunden angefleht hat, sie in Ruhe zu lassen, war während der Schwangerschaft. Die Erinnerung an die Heimfahrt vom Krankenhaus mit Ella, als sie an einer roten Ampel hielten – sie sieht sie noch immer genau vor sich, die Kreuzung auf der North Circular Road –, als sie überlegte, aus dem Auto zu springen, um ihm zu entkommen.

Vorerst weicht sie Sinéads Frage aus und lenkt das Thema wieder auf Knete und deren Essbarkeit.

»Klar, sieht ja auch wirklich aus wie Essen«, sagt Sinéad. »Furchtbar verlockend. Knet-Pizza. Knet-Brötchen. Welcher Trottel denkt sich bitte so was aus?«

Der Akzent ihrer Schwester ist eine Mischung aus Sheffield und Derry, genau wie ihr eigener. Weiche Yorkshire-Vokale, gewürzt mit einer Prise irischer Ausdrücke ihrer Mutter.

Kurz darauf sind sie bei Lego-Kleinteilen, die leicht zu verschlucken sind, bei Duplo-Steinen, über die man ständig stolpert, Dancing with the Stars, Kalorien und Toilettentraining angekommen. Aber Sinéad ist wie ihre Mutter. Ihr entgeht nichts. Ciaras Ausweichmanöver kann sie nicht täuschen, aber ihre Schwester kennt sie gut genug, um sie nicht zu bedrängen. Ciara möchte daran glauben, dass ihre Schwester vielleicht spürt, dass sie langsam zu einer Entscheidung kommt. Dass sich das Sediment absetzt, verfestigt.

Auf der Fahrt zu Happy Days war sie sich sicher, dass sie die Mädchen abholen, zurück zum Haus fahren, ihre Sachen packen und fortgehen würde. Aber kaum sind sie zu Hause angekommen, wollen Ella und Sophie auf der Rutsche im Garten spielen. Hilflos folgt sie ihnen, sammelt die im Flur zurückgelassenen Lunchboxen ein und entsorgt die Reste der Sandwiches in der Komposttonne. Wieder einmal wird sie vom Rhythmus des Alltags mitgerissen.

Draußen brummen die Rasenmäher. Die Kinder von nebenan hüpfen auf ihrem Trampolin und pusten Seifenblasen in die Luft. Sophie hat ihren Schuhkarton voller Dinosaurier herausgekramt und lässt sie die kurze Plastikrutsche hinunterschlittern. Ciara breitet die Picknickdecke ihrer Mutter auf dem Rasen für Ella aus, die auf den weichen grünen Schottenstoff plumpst, sich zusammenrollt und mit Hoppy unterhält. Momente wie dieser fühlen sich wie ein Geschenk an.

Siehst du, denkt sie, es gibt gar keinen Grund zu gehen. Du übertreibst mal wieder, genau wie Ryan sagt. Ihr müsst nicht weggehen. Du musst das den Mädchen nicht antun. Es ist alles in Ordnung.

Von einem plötzlichen Energieschub angetrieben, schnappt sich Ciara die Blumenkelle, die sie in der vergangenen Woche auf dem Küchenfensterbrett liegen gelassen hat. Es ist an der Zeit, den Disteln auf dem Rasen den Kampf zu erklären. Sie hat Ryan gebeten, sie auszugraben, worauf er meinte, sie behandele ihn wie eine Hilfskraft, um danach tagelang nicht mit ihr zu sprechen. Ein befriedigendes Knirschen der Wurzeln, als sie in die Erde sticht.

Kurz nach vier Uhr wird die Terrassentür aufgerissen. Während sie auf der Decke gesessen und Ella etwas vorgesungen hat, hat sie die Zeit vergessen.

Ryan kommt mit großen Schritten in den Garten und der Tag verwandelt sich in etwas vollkommen anderes. Wie elektrisiert springt sie auf. »Du bist aber früh zu Hause.«

Er geht auf sie zu, stellt sich hinter sie, sein Atem in ihrem Ohr, seine Hände wandern über ihren Körper. »Letzte Nacht war unglaublich.«

Irgendwann in den frühen Morgenstunden, ihr Verstand verschwommen, das Zimmer stockdunkel, war sie von seinen Händen, seinem Gewicht auf ihr geweckt worden.

Ihre Wangen glühen vor Scham, ihre Stimme stockt. »Ryan, die Kinder.«

»Was? Sie schauen nicht mal her.«

Die Mädchen sind verstummt.

Sie versucht, sich aus seinem Griff zu befreien, ohne eine Szene zu machen. Ich kann mich selbst nicht denken hören. Ihr eigener innerer Monolog, ausgelöscht. Ersetzt durch seine Stimme. Seine Worte in ihrem Kopf. Faul, egoistisch, grausam, herzlos.

Er dreht sie zu sich, um sie mit diesem spöttischen Blick zu mustern. »Was ist eigentlich mit dir los? Mein Gott, mach dich mal locker.« Er lässt ihre Arme los. »Ich gehe duschen. Machst du Abendessen?«

Erst als die Terrassentür hinter ihm zugleitet, merkt sie, dass sie zittert.

Da ist es, tief in ihrer Brust. Lauter als zuvor: Es reicht. Sie hätte heute Vormittag verschwinden sollen, als er bei der Arbeit war. Warum konnte sie nicht auf ihre Intuition hören? Sie sollte bis morgen warten, aber jetzt ist etwas gerissen, zerbrochen. Eine weitere Nacht hält sie nicht aus, sie muss diesen Moment der Klarheit nutzen, bevor sich erneut Nebel darüber senkt. Bevor er wieder lächelnd aus dem Haus kommt und sie sich ein weiteres Mal einredet, dass sie sich das alles nur einbildet.

Die Wäsche flattert auf der Leine. Jede Menge T-Shirts, Leggings, Hosen und Socken, die für ein paar Tage reichen. Wie lange wird Ryan im Bad bleiben? Zehn Minuten? Fünfzehn? Autoschlüssel und Portemonnaie stecken in ihrer Umhängetasche, die auf dem Küchentisch liegt. Darin befinden sich ihre Pässe, zusammen mit dem Geld für die Neoprenanzüge und einer kleinen Rolle gestohlener Zehner und Zwanziger, die sie in eine Windel der Größe 5 gesteckt hat, wo er niemals danach suchen würde.

Kleidung, Pässe, Geld. Ich schaffe das.

Bei dem Gedanken daran dreht es sich in ihrem Kopf so schnell, dass sie sich an der Wand abstützen muss, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Die Härchen auf ihren Armen stellen sich auf. Von nebenan schweben wie in Zeitlupe Seifenblasen herüber. Die Stimmen ihrer Töchter erreichen sie jetzt. Sophie pustet Löwenzahnsamen in den goldenen Schimmer der späten Nachmittagssonne und zählt: »Eins … zwei … siebzehn …« Ella rollt sich auf den Bauch und grapscht nach den herabsegelnden Samen. Es ist fast Abendbrotzeit. In den kalten indigoblauen Schatten entlang der Gartenmauer pressen die Gänseblümchen ihre rosa Lippen für die Nacht zusammen.

Vorsichtig öffnet Ciara die Terrassentür und lauscht. Sobald sie das Rauschen der Dusche von oben hört, eilt sie in die Küche und schnappt sich ihre Tasche vom Tisch.

Draußen beginnt sie, Kleidungsstücke von der Leine zu reißen. Ihre Pyjamahose. Das weiße Spitzentop, das sie an jenem Nachmittag in Galway getragen hat. In ihren Flitterwochen. Eine scharfe, süße Erinnerung. Fast ausreichend, um sie zum Aufhören zu bewegen.

Kinder-T-Shirts. Bagger. Traktor. Einhorn. Für den Wäscheklammerbeutel bleibt keine Zeit. Die Klammern fallen zu Boden, wo sie eine rosa-violette Spur zeichnen, eine leuchtende, unregelmäßige Naht auf dem ungemähten Rasen.

Die Arme voller Kleider, hält sie inne. Sicherlich wird sie diese von der Sonne gestärkten T-Shirts zu einem Stapel falten und ins Haus tragen? Sicherlich wird sie in die Küche gehen und mit der üblichen Routine beginnen, den Tisch decken, den Herd einschalten und sich einreden, dass alles in Ordnung ist?

Ciara holt das letzte Stück von der Wäscheleine. Einen lila Kapuzenpulli, Größe 3 – 4 Jahre. Das Sonnenlicht zieht sich aus dem Garten zurück, lange Schatten strecken ihre Arme aus.

»Kommt zu Mammy, meine Mäuschen, wir müssen los.«

Ella stemmt sich hoch, den Hintern in die Luft gestreckt. Die Ellbogen wie Pistolenkolben angewinkelt, Hoppy an einem Ohr hinter sich herziehend, kommt sie zu ihr gerannt. Sophie hüpft mit ihrem Pterodaktylus in der Hand hinterher. »Wohin gehen wir, Mammy?«

»Auf ein geheimes Abenteuer«, flüstert Ciara und zwingt sich zu einem Lächeln. Sie hebt die Picknickdecke an und wickelt das Bündel trockener Kleidung darin ein.

Das Handy-Ladegerät. Nein, warte, im Auto liegt ein Ersatzkabel. Ihre Lunchboxen. Nein, wir haben keine Zeit.

Sie scheucht die Mädchen vor sich her. »Beeilt euch, beeilt euch, pssst, leise.« Seitlich am Haus vorbei, aus der Einfahrt raus, über die Straße, wo ihr Wagen neben dem krummen Weißdorn geparkt ist. Nicht mehr lang und die rosafarbenen Knospen in den knorrigen Ästen werden aufblühen. »Auf eure Plätze, Mädels. Schnell.«

Ihre Hände zittern, als sie erst Sophie und dann Ella anschnallt. Während sie am Dreipunktgurt von Ellas Sitz herumfummelt, behält sie das Haus im Blick, als ob sie darauf warten würde, dass es jeden Moment explodiert.

Kapitel 3

Auf der Suche nach einem sicheren, vertrauten Ort fährt sie zum Phoenix Park. Um sie herum breitet sich meilenweit die Ruhe der Anlage aus, eine große grüne Oase im Herzen der Stadt. Der Ahorn beginnt gerade zu blühen, ein frischer, lindgrüner Dunst. Unter den Bäumen grasen Damhirsche mit großen Augen und bewachen ihre Jungen. In der Ferne sind die kreideblauen Berge im frühen Abendlicht mit ockerfarbenen Flecken gesprenkelt. Entlang der Wanderwege Jogger in Sportkleidung, Leute, die ihre Hunde ausführen und Kinderwägen schieben. Wenn sie sich auf eine der alten Holzbänke setzen und einem dieser Menschen ihre Geschichte erzählen würde, dann würde die Person ihr mit Sicherheit sagen, dass sie genau das Richtige tut. Dass sie nicht den Verstand verliert.

»Mammy! Hunger!«

»Mammy, ich muss so doll! Ich mache mir gleich in die Hose!«

»Eine Sekunde, Sophie.« Sie biegt links ab, die Allee hinunter, Richtung Spielplatz. Sie parkt, lässt die Kinder aus dem Auto und führt sie einen gewundenen Pfad hinunter, zu dessen Seiten hüfthohe Gräser wachsen. »So, Sophie, hier kannst du Pipi machen.«

»Nein, ich will nicht.«

»Ich dachte, du machst dir gleich in die Hose?«

»Ich will nicht.«

»Herrgott noch mal. Okay, hör mir zu. Wenn du Pipi machst, darfst du eine Schachtel Rosinen haben.«

Endlich lässt Sophie zu, dass ihre Mutter sie hochhebt und ihren nackten Hintern über das wild wuchernde Gras hält. Ihre Tochter ist schwer. Sie versucht, sie in die richtige Position zu bringen, damit sie keine Spritzer abbekommt. Ciara schreit: »Mach jetzt endlich Pipi! Los! Sofort!«

Beim Anblick des dünnen gelben Strahls kichert Sophie. Ella schließt sich an und schreit: »Mach Pipi! Sofort!«

Anschließend nimmt Ciara Ella gegen ihren Widerstand hoch und legt sie auf den Beifahrersitz, um ihr die Windel zu wechseln. Dann überqueren sie den Parkplatz, um zu den Klettergerüsten und Rutschen in leuchtenden Primärfarben zu gelangen.

Es ist nicht viel los, die meisten Leute sind zu Hause, Zeit fürs Abendessen. Drei Teenager fahren mit Skateboards eine Rampe hinauf, und eine Frau im violetten Mantel versucht, ihr Kleinkind aus dem Spielhaus zu locken (»Nein! Will nicht!«).

Sinéad geht nicht ans Telefon. Ihre Mum kann Ciara nicht anrufen. Es würde ihr nicht gelingen, die Angst in ihrer Stimme zu verbergen, und sie darf nicht zulassen, dass ihre Mutter ihretwegen in Panik gerät.

Stattdessen schreibt sie Sinéad eine Nachricht. Ich bin raus.

Wo raus? Melde mich gleich, bin im Tescos.

Es folgt ein GIF mit Baby in gelber Latzhose, das einen beladenen Einkaufswagen durch einen Supermarktgang schiebt.

Keine Eile, wir hören uns später.

Sie hievt Ella in eine Babyschaukel. Sophie schwingt sich auf eine der großen Schaukeln und fängt sofort an zu jammern: »Anschubsen, Mammy, ich kann das nicht allein.«

Ella fragt: »Wann ist Weihnachten, Mammy?«

Das ist es, was Kinder tun. Sie verdrängen jeden Gedanken aus deinem Kopf. Sie erschaffen ihr eigenes Universum.

Wenn sie nur eine Bleibe für heute Nacht finden, mit Mum und Sinéad reden und herausfinden würde, was sie als Nächstes tun soll. Alles, was sie weiß, ist, dass sie nicht in das Haus in Glasnevin zurückkehren kann. Sie hat 70 Euro Bargeld in der Windeltasche, 150 Euro auf ihrem Girokonto. Das ist alles, was von ihrem letzten Job übrig ist, den sie hatte, bevor sie Ryan begegnete.

Während sie mit einer Hand abwechselnd die beiden Schaukeln anschubst, tippt sie mit der anderen B&Bs in meiner Nähe in die Google-Suchzeile.

Ihr Kopf schmerzt. Sie schwitzt so stark, dass sie sich immer wieder mit dem Ärmel ihres Pullovers über die Oberlippe wischen muss.

O Gott, tust du das wirklich? Ogottogottogott.

»Höher, Mammy, höher!«

Sophies Rattenschwänze, die unter ihrer paillettenbesetzten Baseballkappe hervorlugen, schwingen hin und her. Ihr kleiner Körper ist vor Konzentration angespannt. Ihre braunen Augen. Die Art, auf die sie vor Intelligenz und Schalk funkeln. Ryan behauptet, Sophie sehe aus wie er. Aber wenn überhaupt, dann ähnelt sie ihrer Grandma, Rhona Devine. In einem völlig unkoordinierten Versuch, an Schwung zu gewinnen, strampelt sie mit den dünnen Beinen in der Luft.

»Schneller, Mammy! Höher, höher, höher!«

Die günstigste Pension, die sie findet, kostet 97 Euro pro Nacht.

Sie füllt die Suchfilter auf booking.com aus. Urlaub in Dublin. Drei Sterne? Vier Sterne? Anzahl der Gäste? Alter der Kinder bei Ankunft?

Eine WhatsApp von Ryan: Wo seid ihr hingefahren? Er hat ein Emoji mit einem verwirrten Gesicht hinzugefügt. Einen Kuss und drei rote Herzen.

Wolken ziehen auf. Ein kühler Wind kräuselt die Blätter in den Wipfeln der Bäume.

»Hunger!«

»Wann gibt es Abendessen, Mammy?«

Bed & Breakfast Iona – Ihr Auszeit-Zuhause. Ein Zimmer verfügbar.

JETZTBUCHEN.

Das Iona liegt zwischen weiteren georgianischen Reihenhäusern in einer ruhigen Seitenstraße von Phibsborough. Eine schief gewachsene Palme lehnt im Vorgarten und wirft stachelige Schatten. Die Buntglasscheiben in der Eingangstür leuchten pastellfarben in der Dämmerung. In andere Häuser entlang der Straße kehren die Leute von der Arbeit zurück, öffnen ihre Türen und treten in warm beleuchtete Flure.

Himmel. Was hast du gerade getan?

In der staubigen Rezeption stehen Vasen mit Plastikdahlien, gerade checken die Teilnehmer eines deutschen Junggesellenabschieds ein. Ciara wartet, Ella schwer auf dem Arm, während Sophie ihren Flugsaurier um die Beine ihrer Mutter fliegen lässt und sich die Männer nach dem Weg zum Gravediggers Pub und zum Book of Kells erkundigen. Die Dame hinter dem Empfangstresen, eine Frau mit langem kastanienbraunem Haar und Brille, dreht den Stadtplan auf den Kopf, um es ihnen zu erklären, und zieht dabei rote Kugelschreiberkreise. Ein Mann in den Fünfzigern liegt schlafend in einem der Sessel mit hoher Lehne, als ob ihm bereits die Anreise zu viel gewesen wäre.

Sophie zupft an ihrem Ärmel. »Mammy, mein Flugsaurier vermisst seine anderen Dino-Freunde.«

Ihre Dinosaurierkiste, im Garten zurückgelassen.

Ciara versucht, ruhig zu klingen, während sie ihrer Tochter über den Kopf streichelt. »Sag dem Pterodaktylus, dass wir die anderen Dinosaurier bald wiedersehen. Die Heizung in unserem Haus ist kaputt, deshalb übernachten wir heute hier, in diesem schönen Hotel.«

Sophie runzelt die Stirn, dann versteckt sie sich hinter Ciara und schmiegt ihren Kopf in die Kuhle im unteren Rücken ihrer Mutter.

Auf dem hohen runden Holztisch liegen Prospekte mit Überschriften wie Entdecke Dublin. Sie hört das Lachen von Menschen, die hier ihren Urlaub verbringen. Das Iona biete das beste irische Frühstück in Dublin, heißt es in dem Flyer, den Ciara so oft gefaltet hat, dass die Kulisse der grünen Berge auf ihre verschwitzten Handflächen abfärbt.

Ryan (5 verpasste Anrufe)

Im Ernst, wo seid ihr hin? Ist alles in Ordnung? Ich fange langsam an, mir Sorgen zu machen. Ruf mich an.

Ein schuldbewusster Stich. Hastig tippt sie eine Antwort.

Alles in Ordnung. Den Mädchen geht es gut. Ich melde mich später.

Ella drückt Hoppy an sich, reibt sich die Augen und legt ihren Kopf auf Ciaras Schulter. Es ist fast sieben. Nachmittagsschläfchen, die Milch, ihr Abendritual – Abendessen um fünf, das Bad um sechs – sind ausgefallen.

»Nur für eine Nacht?«, fragt die Frau hinter der Rezeption. »Das Frühstück ist inbegriffen. Bar oder mit Karte?«

Ciara schiebt ihre Karte in das Lesegerät. Gott sei Dank funktioniert sie noch.

Die Empfangsdame überreicht ihr einen Schlüssel an einem dicken Lederanhänger. Sie haben das Familienzimmer im ausgebauten Dachgeschoss.

Sophie zerrt wieder an ihr: »Wann gibt es Abendessen?«

Die kalte Abendluft fühlt sich rau auf ihrer Haut an.

»Wow, Mammy, ist das dunkel. Wie im Weltall«, sagt Sophie.

Ein Riss in der Routine. So spätabends ist sie sonst nie draußen. Befremdlich die Erkenntnis, dass es Leute gibt, die joggen, in die Kneipe oder einkaufen gehen, während sie normalerweise bis zum Morgen im Haus eingesperrt ist.

Dennoch, es ist verdammt kalt. Warum hat sie keine Jacken für die Kinder eingepackt? Was ist sie nur für eine Mutter? Sie schnallt Ella in ihrem Buggy an und schließt den Reißverschluss des Sitzsacks. Dann zieht sie ihr Fleece aus und Sophie an, krempelt die Ärmel hoch.

Während sie die Hauptstraße entlanggehen, donnert ein Doppeldeckerbus vorbei. Sophie winkt. Die Arme der Fleecejacke baumeln lose herab wie bei einer Vogelscheuche. Ein paar Fahrgäste winken zurück.

In einem Imbiss kauft Ciara eine große Tüte Pommes, mit der sie sich an einen kleinen weißen Tisch neben der geöffneten Tür setzen. Im Radio dudelt Musik, dann eine Werbepause, gefolgt von einer Reihe Hits aus den Neunzigern. Sie benutzt eine Serviette als Teller, bricht die Pommes in der Mitte durch, pustet darauf und reicht sie abwechselnd Ella und Sophie. Ihr Magen knurrt. Gott, was die Kinder für einen Hunger haben müssen.

»Was ist ein Traumbad?«, fragt Sophie. »Der Mann hat gerade gesagt: Denken Sieüber Ihr Traumbad nach?«

»Das ist nur Radiowerbung, mein Schatz.«

»Aber was ist ein Traumbad?«

»Du weißt schon. Schöne Fliesen. Eine tolle große Wanne.«

Ein Netz mit Badespielzeug, Enten und Booten und Meerjungfrauen, so sehr geliebt, dass ihre Augen mit der Zeit blind geworden sind. Abgenutzt wie das Badezimmer, das sie zurückgelassen haben.

Auf dem Rückweg zum Iona kauft Ciara im SPAR einen Erdbeerjoghurt und eine kleine Packung Milch für Ellas Flasche. Sie steigen die drei Stockwerke zum Dachboden hinauf, einem gemütlichen Raum mit gebeizten Kiefernbalken unter der schrägen Decke. Weiches Licht aus weißen Lampen. Ein Korbsessel neben dem Bett. Sie kann hören, wie sich andere Gäste auf den Etagen unter ihnen bewegen, wie Türen geöffnet und wieder geschlossen werden. Die Geräusche haben etwas Beruhigendes, eine Erinnerung daran, dass sie nicht allein sind.

Zu dritt setzen sie sich auf das Doppelbett, teilen sich mit dem Teelöffel, der neben dem Mini-Wasserkocher lag, den Joghurt. Mit gestilltem Hunger sieht die Welt gleich schon ein wenig besser aus. Sie spürt, wie sie diese ganz spezielle dumpfe Müdigkeit der ersten Schwangerschaftsmonate überkommt.

»Ist das nicht schön, ihr zwei?«, sagt sie. »Wie ein kleiner Urlaub.«

»Wie früher, als wir mit Granny zur Kirmes in Portrush gefahren sind und Ella schlecht geworden ist und wir zu klein für die Karussells waren und alle geweint haben?«, fragt Sophie.

»Ja. Na ja. So ähnlich.«

Ohne die üblichen Trotz- und Wutanfälle wirken die Kinder seltsam ruhig. Sophies Miene ist erwartungsvoll, als ob sie vor dem Fernseher sitzen und gebannt darauf warten würde, welche Zeichentrickserie sie sich angucken darf. Ein Zustand, der natürlich nicht von Dauer sein wird, aber für den Moment beobachten ihre Töchter jede ihrer Bewegungen und sind gespannt, was sie als Nächstes tun wird.

»Dürfen wir Tolle Tierwelten auf dem Tablet angucken, Mammy?«

»Haben wir das Tablet denn dabei?«

»In der Windeltasche. Ella hat es reingeschoben.«

»Ja! Tolle Tierwelt!«

Sie scrollt, findet eine Folge, die sie noch nicht gesehen haben, und lehnt das Tablet an ein Kissen.

Wusstet ihr, dass manche Weißen Haie so groß werden wie ein halber Bus? Sie können sich mit einer Geschwindigkeit von bis zu sechzig Kilometern pro Stunde fortbewegen! Weiße Haie greifen jedes Jahr fünf bis zehn Menschen an. Aber Wissenschaftler glauben nicht, dass sie die Menschen fressen wollen – sie nehmen nur einen Probebiss. Igittigitt!

Jetzt, da sie sich ein wenig stärker fühlt, tritt sie auf den Flur hinaus, wobei sie die Tür mit dem Fuß aufhält. Bei dem Gedanken an den Anruf, den sie machen muss, beschleunigt sich ihr Herzschlag. Sie kann die Mädchen nicht außer Landes zu ihrer Mutter bringen, ohne es Ryan zu sagen. Das geht nicht.

Unnötig, ihm jedes Detail zu erzählen, aber er muss wissen, wo wir hinfahren. Er ist ihr Dad.

Als Ryan sich meldet, klingt er vollkommen ruhig.

»Wir übernachten in einer Pension«, erklärt sie. »Ich halte das alles nicht mehr aus. Es tut mir leid, dass ich einfach so gegangen bin. Wirklich, es tut mir leid. Aber ich konnte einfach nicht mehr.«

»Ich weiß. Die letzten Monate waren für mich auch unglaublich hart.«

Seine Antwort bringt sie aus dem Konzept.

»Ich möchte mit den Mädchen für ein paar Tage zu meiner Mutter fahren, Ryan. Eine Verschnaufpause einlegen. Um den Kopf freizubekommen.«

Ich kann mich selbst nicht denken hören.

Eine Pause.

Sophie brüllt: »Die Haie sind zu Ende!«

Ciara beißt sich auf die Lippe, kämpft gegen den Drang an, Ryan alles zu erzählen. Wo genau sie übernachten. Was sie zu Abend gegessen haben. Es ist schwer, ihr Bedürfnis zu rechtfertigen, ihn über jeden ihrer Schritte zu informieren. Sich selbst unter Beobachtung zu halten. Informationen preiszugeben, noch bevor er überhaupt danach gefragt hat: vom Einkaufen zurückkehren, ihre Taschen leeren, um ihm die Leggings für die Kinder, Zahnpasta, Kosmetiktücher zu zeigen. Um nicht beschuldigt werden zu können, sein Geld zu stehlen, zu lügen. Das Gefühl der Erleichterung, wenn sie über die Maßen ehrlich zu ihm war und sich damit von jedem Vorwurf reingewaschen hatte. Und jetzt?

Es fühlt sich ein bisschen an wie ein verdammter Aufbruch.

»Ist das okay? Kann ich die Flüge buchen?«

Ryans Tonfall ist nach wie vor ruhig, gemessen. »Ich verstehe. Besuch für ein paar Tage deine Mutter. Du hast recht, wir müssen uns überlegen, wie wir die Dinge in Zukunft anders angehen. Wir haben beide gelitten.«

»Mammy!«

»Okay, dann rufe ich dich morgen an, sobald wir in Sheffield sind.«

»Gut. In Ordnung. Ich liebe dich.«

Er legt auf. Sie löst ihren Pferdeschwanz. Reibt sich mit den Händen über das Gesicht. Spürt ein schreckliches, Übelkeit erregendes Gefühl in ihrem Magen aufsteigen.

Du hättest es ihm nicht sagen sollen. Aber du musstest es ihm sagen. Du musstest.

Ihr Handy piept.

Sinéad.

Was hast du vorhin geschrieben? Wo bist du raus?

Sie hat die Hilfe ihrer Schwester nicht verdient. Wie kann sie ihre Familie noch einmal so etwas durchmachen lassen? Ryan wird ärgerlich, wenn er sie auch nur am Telefon mit ihnen reden hört. Es ist alles ihre Schuld. Wenn sie nur besser mit ihm umgegangen wäre. Wenn sie ihn nicht so sehr genervt hätte.

Tippen und löschen. Sie tilgt all die Worte wieder, die sie formuliert hat. Ausbuchstabiert klingt alles, was sie sagen will, so albern.

Nachdem sie mehrere Nachrichten geschrieben und wieder gelöscht hat, schickt Sinéad das GIF einer fetten Katze, die platt mit dem Gesicht auf dem Sofa liegt. So müde. Sechs Emojis mit schlafendem Gesicht.

Erleichtert, weiteren Erklärungen aus dem Weg gegangen zu sein, antwortet Ciara mit einem lachenden Smiley. Wir hören uns morgen. Bin auch müde.

Strömender Regen trifft auf das Dachfenster wie eine Handvoll Kies, die mit Wucht gegen das Glas geschleudert wird. Ein scharfes, brutales Geräusch, als würde etwas mit großer Bosheit geworfen. Die zerbrechliche Ruhe des Abends hat sich aufgelöst und wird durch das Gefühl ersetzt, sich urplötzlich in freiem Fall zu befinden. Als ob sich der Boden unter ihren Füßen aufgetan hätte.

Was tust du hier bloß, was tust du hier bloß, was tust du hier bloß?

In der Dunkelheit setzt sie sich auf und schaut auf ihr Handy. 3:14 Uhr.

Ella liegt diagonal auf dem Doppelbett ausgestreckt, die Füße zwischen den Beinen ihrer Mutter, und umarmt Hoppy. Nachdem sie etwa sechzig Blitzfragen von »Warum sind wir hier?« bis »Haben Haie ein Kinn?« gestellt hat, ist Sophie auf dem Klappbett neben dem Kleiderschrank eingeschlafen. Sobald die Atemzüge ihrer Töchter tief geworden waren, hat Ciara die Flüge gebucht. Wenn sie richtig nachgerechnet hat, dürften auf ihrer Karte nicht mehr als 20 Euro übrig sein.

8:25. Dublin – Manchester.

Von dort eine kurze Zugfahrt bis nach Sheffield.

Sie hat bereits eingecheckt. In ein paar Stunden wird sie zu Hause sein und mit ihrer Mutter und Sinéad sprechen können. Aber warum scheint auf einmal alles so unklar, verwackelt, wenn sie an die Gründe für ihre Abreise denkt? Selbst der vergangene Abend fühlt sich irgendwie verschwommen an. Sobald sie versucht, die Erinnerung daran in ihrem Kopf abzurufen, knistert und flackert sie wie ein beschädigter Filmstreifen. Sie spürt Übelkeit in sich aufsteigen wie eine beginnende Seekrankheit. Hat sie soeben ganz ohne Grund ihre Ehe aufgegeben? Was für ein Mensch tut so etwas?

Sie schließt die Augen, atmet langsam aus, bemüht sich, sich zu erinnern. Hände, die sie zwingen. Ein leerer, steinerner Blick. Tiefschwarze Dunkelheit. Dieser brennende Schmerz.

Stopp. Sie öffnet die Augen, streift mit einem Schaudern die öligen Schlieren des Augenblicks von ihrer Haut. Schnell steht sie vom Bett auf, geht zum Dachfenster und öffnet es einen Spalt, um den Geruch des Regens hereinzulassen.

Sie muss sich selbst an den Punkt bringen, ab dem sie nicht mehr einknicken wird. Sie muss sich durchbeißen, um zu erreichen, was immer auf der anderen Seite auf sie wartet.

Als sie wieder im Bett liegt, kuschelt sie sich an Ella. Ihr schlafendes Kind murmelt etwas und legt einen Arm über das Gesicht seiner Mutter. Sie sind blinde Passagiere in diesem Schlafzimmer auf dem Dachboden, die auf das Tageslicht warten, um die Trümmer zu begutachten.

Kapitel 4

Ciara schiebt die Jalousien an den Dachfenstern hoch. Rechteckige Sonnenlichtstreifen fallen auf ihre zerknitterten Laken.

Sie sucht für Sophie und Ella saubere Oberteile und Leggings heraus. Sophie schafft es nicht, ihre Schuhe alleine anzuziehen, weigert sich jedoch, sich von Ciara helfen zu lassen. »Das geht nur nicht, weil wir nicht zu Hause sind!«, mault sie.

Die meisten Kleidungsstücke, die Ciara von der Wäscheleine geklaubt hat, gehören den Mädchen. Ciaras schwarze Leggings von gestern hatten Joghurtflecken. Sie hat sie mit dem winzigen Stück Lavendelseife vom Waschbecken im Bad gereinigt, aber sie ist über Nacht nicht getrocknet. Sie zieht ihr weißes Spitzenoberteil und eine Pyjamahose mit Leopardenmuster an. Hoffentlich sieht sie aus wie die Hosen mit Animal-Print, die die anderen Mütter im Kindergarten tragen.

Ihre Jeansjacke lag im Auto. Sie streift sie über, entwirrt ihr Haar mit den Fingern und benutzt ein Feuchttuch, um die körnigen Überbleibsel von Wimperntusche unter ihren Augen zu entfernen. Den Rest der Kleidung faltet sie in zwei rote Einkaufstüten aus dem Handschuhfach.

Gerade als sie das Dachzimmer verlassen wollen, meldet der Signalton ihres Handys den Eingang einer neuen Nachricht. Ryan. Sie liest, während sie Ella die Treppe hinunterhilft und die Mädchen in den Frühstücksraum führt.

Ich weiß, was los ist. Du kommst nicht zurück. Letzte Nacht lag ich im Zimmer meiner Kinder und habe geweint.

Sophie und Ella wollen das Frühstück nicht essen.

»Zu Hause haben wir andere Cornflakes, Mammy«, erklärt Sophie.

Ella wirft ihren Löffel auf den Boden und schreit: »Will Porridge!«

Sie holt beiden eine Banane vom Buffet. Kleine Becher mit Milch. Toast-Dreiecke. Mini-Töpfchen mit Himbeermarmelade. Klebrige Hände, die sich an ihrem Oberteil abwischen wollen. Sie nippt an einer Tasse schwachen Tees. Bei dem Geruch von Spiegeleiern und Speck dreht sich ihr der Magen um.

Ich liebe dich so sehr. Ich verstehe nicht, warum du das tust.

Ihr Kopf schmerzt.

Nach dem Frühstück scheucht sie die Mädchen aus dem Iona, in eine andere Seitenstraße, um zu überprüfen, ob der Micra auch wirklich abgeschlossen ist, und dann um die Ecke zur Hauptstraße. Die Linie 16 wird sie zum Flughafen bringen.

»Wow, Mammy, guck mal!« Ein Flugzeug von Aer Lingus gleitet über ihre Köpfe hinweg.

Als Ciara durch die doppelten Automatiktüren in den Abflugbereich tritt, wird sie von einer Geräuschkulisse empfangen, die sie beinahe erschlägt. So viele Menschen. Alle scheinen genau zu wissen, wo sie hinmüssen, während sie mit ihren Koffern auf Rädern in Richtung Abfertigungsbereich und Gates vorbeigleiten. Sie bleibt stehen und bildet dadurch ein Hindernis. Hält ihre beiden Mädchen fest, die roten Plastiktüten mit Wäsche. Die Leute strömen zu beiden Seiten an ihnen vorbei, schauen auf ihre Handys oder recken das Kinn, um die Angaben auf der Abflugtafel zu lesen.

Früher hat sie Flughäfen geliebt. All diese Fremden. Das Gefühl der Hoffnung, der Aufregung. Jene Herbste, in denen sie in ein neues Land aufbrach, zu einem neuen Job als Englischlehrerin. Als Kind hat sie nie Urlaub im Ausland gemacht, abgesehen von den Fährfahrten nach Irland jeden Sommer, wenn ihre Mutter es sich leisten konnte. Sie war dreiundzwanzig, als sie zum ersten Mal in ein Flugzeug stieg.

»Mammy, hoch!«

Sie nimmt Ella auf den Arm und geht in Richtung Gates, weicht dabei einem sich küssenden Paar aus. Die Frau steht auf den Zehenspitzen, die Arme um den Hals ihres Freundes geschlungen.

Sie reihen sich in die Schlange vor der Sicherheitskontrolle ein und ziehen ihre Turnschuhe aus. Verlegen platziert sie ihre Plastiktüten in zwei Kunststoffbehältern auf dem Förderband. An Leggings und Rocksäumen hängen noch drei oder vier Wäscheklammern, deren aufgerollte Metallfedern den Scanner auslösen. Der Mann und die Frau hinter dem Schalter lachen, bleiben jedoch freundlich.

»Familiärer Notfall«, murmelt sie errötend.

»Alles bestens. Machen Sie sich keine Gedanken, Liebes.«

Du bist so schön, ich habe noch nie jemanden wie dich kennengelernt.

»Mit dem großen Flugzeug! Ich fliege zu meiner Omi!«

Ich liebe dich, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Ich werde dich mein ganzes Leben lang lieben. Bitte gib uns noch eine Chance.

»Flug FR548 nach Manchester ist zum Einsteigen bereit.«

»Bitte entschuldigen Sie, wenn Sie kurz hier warten würden?«

Ihr Gesicht fühlt sich heiß an. Der Flugbegleiter hat ihre Pässe an sich genommen und geht ein paar Schritte zu einem Kollegen hinüber, wo er sie gemeinsam mit ihm studiert. Dann kommt er zurück, reibt sich mit einer Hand über das Gesicht. Schwarzes Haar, von grauen Strähnen durchzogen. Freundliche braune Augen. Ein Northside-Dialekt. »Haben Sie die schriftliche Einverständniserklärung des anderen Elternteils der Kinder dabei?«

»Wie bitte?«