Neu-York - Francis Spufford - E-Book

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Francis Spufford

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Beschreibung

«Wie ein neu entdeckter Roman von Henry Fielding mit Bonusmaterial von Martin Scorsese.» (The Times) 1746 in einer kleinen englischen Kolonialstadt an der Spitze der Insel Manhattan: Neu-York wirkt auch Jahrzehnte nach der Eroberung durch die Briten immer noch recht holländisch; die alteingesessenen Familien reden Englisch mit Akzent, am Hafen weht der Union Jack über schmalen Fachwerkhäusern, am anderen Ende der Stadt ist der Broad Way (vorher Breede Weg) auf Höhe der Wall Street durch ein Tor versperrt. Draußen hängen Skalps: Verbündete Indianerstämme haben sie französischen Soldaten abgenommen. Eines Tages steigt ein Brite namens Smith im Regen von einem aus London kommenden Segler. Der junge Mann scheint über Geld zu verfügen, er trägt den Wechsel einer Londoner Bank mit sich. Schnell findet er Zugang zur Gesellschaft, wird er zu einer Berühmtheit in der Stadt. Leider auch bei den Falschen: Smith wird überfallen und ausgeraubt. Niemand darf von der prekären neuen Lage erfahren, das Schuldgefängnis droht. Und dann kommt Smiths Affäre mit der Frau eines hohen Offiziers ans Licht. Ein Duell ist unumgänglich, und ausgerechnet sein bester Freund fordert ihn, ein exzellenter Fechter. Doch dann nimmt das Schicksal unseres Helden eine weitere überraschende Wendung – es wird nicht die letzte sein in diesem phantastischen, geistreichen, spannenden Wunderwerk von einem Roman.

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Francis Spufford

Neu-York

Roman

Aus dem Englischen von Jan Schönherr

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Wie ein neu entdeckter Roman von Henry Fielding mit Bonusmaterial von Martin Scorsese.» (The Times)

 

1746 in einer kleinen englischen Kolonialstadt an der Spitze der Insel Manhattan: Neu-York wirkt auch Jahrzehnte nach der Eroberung durch die Briten immer noch recht holländisch; die alteingesessenen Familien reden Englisch mit Akzent, am Hafen weht der Union Jack über schmalen Fachwerkhäusern, am anderen Ende der Stadt ist der Broad Way (vorher Breede Weg) auf Höhe der Wall Street durch ein Tor versperrt. Draußen hängen Skalps: Verbündete Indianerstämme haben sie französischen Soldaten abgenommen.

 

Eines Tages steigt ein Brite namens Smith im Regen von einem aus London kommenden Segler. Der junge Mann scheint über Geld zu verfügen, er trägt den Wechsel einer Londoner Bank mit sich. Schnell findet er Zugang zur Gesellschaft, wird er zu einer Berühmtheit in der Stadt. Leider auch bei den Falschen: Smith wird überfallen und ausgeraubt. Niemand darf von der prekären neuen Lage erfahren, das Schuldgefängnis droht. Und dann kommt Smiths Affäre mit der Frau eines hohen Offiziers ans Licht. Ein Duell ist unumgänglich, und ausgerechnet sein bester Freund fordert ihn, ein exzellenter Fechter. Doch dann nimmt das Schicksal unseres Helden eine weitere überraschende Wendung – es wird nicht die letzte sein in diesem phantastischen, geistreichen, spannenden Wunderwerk von einem Roman.

Über Francis Spufford

Francis Spufford, geboren 1964, ist in England seit langem bekannt als Autor erzählender Sachbücher. Er hat mit seinen auch literarisch ambitionierten Werken schon zahlreiche Preise gewonnen, darunter den Somerset Maugham Award, den Sunday Times Young Writer of the Year Prize und den Writers’ Guild Award für das beste Sachbuch des Jahres. Der Autor lebt in der Nähe von Cambridge.

Für Stella

«Zugleich gab er mir den Rat,

die rebellischen Grundsätze abzulegen,

die ich unter den Engländern eingesogen hätte,

die wegen ihres übermütigen Benehmens

gegen ihren König der ganzen Welt

zum Sprichwort geworden wären.»

 

– Tobias Smollett, Die Abenteuer Roderich Randoms (1748)

Erster Teil

Allerheiligen

1. NovemberIm zwanzigsten Jahre der RegentschaftGeorges II.1746

I

Da die Brigg Henrietta, die Sandy Hook kurz vor dem Mittagsmahl erreicht und die Narrows gegen drei passiert hatte, um dann in so unendlich kleinem Zickzack über die graue Hafenbucht Neu-Yorks zu kreuzen, als wollte sie die Infinitesimalrechnung herausfordern, so lange, dass es dem an Deck von einem Bein aufs andere springenden Mr Smith wohl schien, als werde das Hügelchen mit der Stadt auf ewig vor ihm in der novemberlichen Düsternis schweben und zu Zenos Schadenfreude niemals näher kommen – da diese Henrietta also erst als sich der Tag bereits gen Abend neigte, bei Tietjes Slip vor Anker ging, wo immerhin noch hundert Fußbreit Wasser Smith von den wahrhaftigen Giebeln der wahrhaftigen Häuser der Stadt trennten, und da die Dämmerung zudem so klamm und trübe war, wie sie es im November nur sein kann, grade so, als wäre die ganze Welt ein Quart graues Papier, durchnässt vom Nieselregen und in dringender Gefahr, gänzlich in Brei sich aufzulösen – da also all dies sich so verhielt, legte der Kapitän der Brigg Smith dringlich nahe, doch lieber eine letzte Nacht an Bord zu bleiben und seinen Landgeschäften erst am nächsten Morgen nachzugehen. (Ein Angebot, das seine Wertschätzung für Mr Smith ausdrücken sollte, der ihm in den faden Wochen der Überfahrt ein angenehmer Kamerad gewesen war.) Smith aber wollte davon nichts wissen. Er lächelte und verbeugte sich und wünschte nichts, als dass man ihn sogleich zum Hafen rudere. Und wirklich, kaum hatten Smiths Schuhe das Pflaster berührt, da sauste er seinen Seemannsbeinen zum Trotz bereits in solcher Windeseile los, dass er den zum Tragen seiner Truhe abgestellten Matrosen weit zurückließ, schließlich umkehrte und sich kurzerhand die Truhe selbst auf die Schulter hievte und in vollem Galopp seinen Weg fortsetzte, wobei er über Rübenblätter und Katzengedärm und all die Ausflüsse des Hafens rutschte und bald hier, bald dort sich nach dem Weg erkundigte, sodass er wohl einem fröhlichen Wirbelwind glich, als er, kurz bevor diese für die Nacht verriegelt werden sollte, die Tür zum Kontor von Lovell & Company auf der Golden Hill Street, wo die Lehrlinge soeben die Lampen entzündeten und die Wanduhr eine Minute vor fünf anzeigte, aufstieß, seine Last ablegte und in aller Höflichkeit verlangte, augenblicklich Mr Lovell selbst zu sprechen.

«Ich bin Lovell», erwiderte der Händler und erhob sich von seinem Platz am Feuer. In aller Kürze seine Eigenschaften, soweit für einen ersten Eindruck nützlich: fünfzig Jahre; hager von Gestalt, doch mit klumpigem, hängendem Gesicht, als wäre die Natur an diesem Lehm mit Fäusten zu Werke gegangen; kluge, rastlose Augen; braune Kniebundhose; eine Perücke, gelb von Tabakrauch. «Was wünscht der Herr?»

«Guten Tag», sagte Mr Smith, «denn dass heute ein guter Tag ist, da bin ich sicher, trotz allen Winds und Wetters. Und trotz der Finsternis. Sie werden einem Reisenden gewiss seinen Taumel nachsehen. Ich habe die Ehre, Ihnen einen Wechsel vorlegen zu dürfen, der von Ihren Londoner Geschäftsfreunden, den Herren Barnard und Hythe, auf Sie ausgestellt wurde, und bitte gütigst um rasche Annahme desselben.»

«Hätt das nicht bis morgen Zeit gehabt?», fragte Lovell. «Unsre Geschäftszeit ist für heute um. Kommen Sie um neun Uhr wieder und füllen Sie dann Ihren Beutel auf. Wenngleich ich Sie bei jedem Betrag über zehn Pfund Sterling bitten muss, sich eine Woche zu gedulden, da Bargeld hierzulande knapp ist.»

«Oh», machte Mr Smith. «Es geht in der Tat um eine größere Summe. Viel größer. Und zu Ihnen eilte ich auf heißen Sohlen aus der kalten See, das Salz noch auf der Haut und schmutzig wie ein Hund, der eben erst dem Ententeich entstieg, nicht etwa um mich auszahlen zu lassen, sondern um Ihnen den Gefallen früher Anzeige zu tun.»

Mit diesen Worten überreichte er eine Mappe, die ein Kuvert enthielt, das deutlich in schwarzem Wachs mit einem B und einem H versiegelt war. Lovell brach das Siegel, die Braue leicht erhoben. Er las und hob die Braue weiter.

«Gütiger Gott», sprach er. «Das ist ein Wechsel über tausend Pfund.»

«Ganz recht», sagte Mr Smith. «Eintausend Pfund Sterling; oder, wie das Dokument besagt, eintausendsiebenhundertundachtunddreißig Pfund, fünfzehn Schilling und Fourpence in Neu-Yorker Münze. Darf ich mich setzen?»

Lovell ignorierte ihn. «Jem», murrte er. «Bring mir eine Laterne.»

Der Geselle trug eine der eben entzündeten Kerzen in ihrem Behältnis herbei, und Lovell hielt das Papier dicht an das heiße Glas; so dicht, dass Smith auffuhr, als wolle er es ihm entreißen, was Lovell mit ausgestrecktem Arm zurückwies; jedoch versengte er das Dokument nicht, sondern hielt es nur so gegen die Flamme, dass sich in blassen Linien eine Meerjungfrau als Wasserzeichen zeigte.

«Das Papier is gut», urteilte der Geselle.

«Die Handschrift auch», sagte Lovell. «Benjamin Banyard selbst, möcht ich meinen.»

«Ja», bestätigte Smith, «wenngleich er, als er in seiner Stube in der Mincing Lane den Wechsel ausstellte, noch Barnaby hieß. Aber, aber, meine Herren. Sie werden doch nicht denken, ich hätte den Brief von der Straße aufgelesen?»

Lovell musterte gründlich Gewand und Antlitz, Hände und Worte, soweit Mr Smith welche gemacht hatte, fand aber nichts, was auf diese Frage klare Antwort gab.

«Möglich wär’s», sagte er. «Denn wer Sie sind, weiß ich nicht. Was ist das also für ein Wisch? Und wer sind Sie?»

«Das, wonach es aussieht, und das, wonach ich selbst aussehe. Ein Papier im Wert von tausend Pfund sowie ein Reisender, dem es gehört.»

«Oder ein Papier, um mir den Hintern abzuwischen, und ein verlogener Schuft. Seit zwanzig Jahren mach ich mit Banyards schon Geschäfte, und seit zwanzig Jahren rechnen wir mit Wechseln auf meinen Zuckerhandel ab. Nie so; nie mit Papier, das plötzlich diesseits des Wassers auftaucht und Auszahlung des Gelds fast einer ganzen Saison verlangt, ohne ein Wort der Warnung oder wenigstens ein mit Verlaub. Drum frag ich noch mal: Wer sind Sie? Und was ist Ihr Geschäft?»

«Nun, ganz allgemein gesagt, Kaufen und Verkaufen, Mr Lovell. Auf und ab die Welt bereisen. Vorteile nutzen, für die meine tausend Pfund vonnöten sein könnten. Doch im Besonderen: eine Art Geschäfte, über die ich lieber schweige. Vertrauliche.»

«Unverschämter Lümmel, poussierst hier mit verdrehten Reden! Sprich deutlich, oder dein teures Papier landet im Feuer.»

«Das werden Sie nicht tun», sagte Smith.

«Ach, werd ich nicht? Eben war dir doch schon bange, als ich’s bloß dichter an die Lampe hielt. Sprich, oder es brennt.»

«Und Ihr guter Name mit. Mr Lovell, die Sache liegt schlicht so: An der Londoner Börse fragte ich nach Kaufmännern von gutem Ruf, die mit verlässlichen Geschäftsleuten hier drüben Handel treiben. Ihr Name kam gemeinsam mit dem Banyards auf. Eine ehrenwerte Paarung, hieß es. Banyard stellte mir darauf den Wechsel aus.»

«Das haben die noch nie getan.»

«Und doch taten sie’s jetzt und versicherten zudem, Sie stünden dafür ein. Was mich freute, denn ich zahlte bar.»

«Bar also», wiederholte Lovell ausdruckslos. Dann las er vor: «‹Gegen diesen zweiten an Mr Richard Smith von uns ausgestellten Wechsel ist innert sechzig Tagen der Gegenwert auszuzahlen …› – Und Sie sagen, Sie zahlten in Münzen?»

«So war’s.»

«In Ihren oder denen eines dritten? Auf eigene oder fremde Rechnung? Um eine Schuld auszugleichen oder eine neue aufzunehmen? Um das Geld zu investieren oder um alles für Falbeln und Wämser aus Satin zu verschleudern?»

«Bloß in Münzen, Sir, die für sich sprachen.»

«Da Sie’s zweifellos für unzweckmäßig hielten, eine solch schwere Last an Gold über den Ozean zu schleppen.»

«So war’s.»

«Oder weil Sie hofften, auf der anderen Seite einen Einfaltspinsel vorzufinden, der ohne Umschweife Papier in Gold verwandelt.»

«Kaum glaubhaft, dass man in Neu-York so leicht aufs Kreuz zu legen ist», sagte Mr Smith.

«Ist man auch nicht, Sir», versetzte Lovell, «ist man auch nicht. Besonders nicht, wenn einer nicht auf gradem Wege den Verdacht ausräumt, er wolle uns übertölpeln. Sie werden meine Barschheit verzeihen müssen. Ich sage für gewöhnlich, was ich denke; was ich von Ihnen denken soll, weiß ich aber nicht – auch nicht, wie ich Sie nehmen soll, und Sie sind bestrebt, mich im Unklaren zu lassen, was ich, muss ich sagen, nicht eben freundlich oder auch nur redlich finde, von einem Bürschchen, das ohne jede Sicherheit die Zahlung einer derart unerfreulich großen Summe fordert.»

«Doch wohl mit allen Sicherheiten eines anständigen Wechsels», protestierte Smith.

«Na sehen Sie», erwiderte Lovell. «Schon grinsen Sie wieder. Handel aber ist Vertrauen, Sir. Handel ist mein Nutzen und Ihrer. Handel ist die Hand zur Antwort auf die Hand, die man gereicht bekommt. Nenne ich Sie jedoch einen Schuft, so brausen Sie nicht auf, wie es dem Anwurf von Natur gebührt.»

«Mitnichten», gab Smith fröhlich zurück. «Denn Sie kennen mich nicht, und Misstrauen drängt sich freilich auf, könnt ich doch genauso gut der güldne Sprössling eines edlen Hauses sein wie ’n mieser Gaunerfott, wo mit Blüten um sich schmeißt.»

Lovell blinzelte. Smiths Rede hatte sich plötzlich zu krächzendem Gossenrotwelsch verfinstert, und es war nicht zu sagen, ob er damit eine Maske aufsetzte oder ablegte.

«Es liegt eine reizvolle Kraft darin, der Fremde zu sein», fuhr Smith so heiter und höflich fort wie zuvor. «Hier an Land zu gehen war wie neu geboren werden. Sie haben einen neuen Menschen vor sich, neu gemacht. Hier habe ich weder Geschichte noch Charakter, und was ich bin, das liegt allein in dem, was ich noch werde. Der Wechsel aber, Sir, ist echt. Wie kann ich Sie davon überzeugen?»

«Offenbar haben Sie recht merkwürdige Vorstellungen davon, wie man jemand die Sorgen nimmt», sagte Lovell mit verständnislosem Blick. «Aber Sie könnten mir wohl sagen, wieso ich keinen Brief erhalten habe, der die Überraschung hätte mildern können. Ich hätte doch eine Erklärung erwartet oder sogar eine Warnung.»

«Vielleicht war ich ganz einfach schneller.»

«Vielleicht. Doch brauch ich für ein Urteil mehr als ein Vielleicht.»

«Gewiss», sprach Mr Smith. «Das ist verständlich, wo ich doch ein Halunke sein könnte.»

«Und wieder spielen Sie recht ungeniert mit dieser Möglichkeit», erwiderte Lovell.

«Ich nenn bloß Ihre Schwierigkeit beim Namen. Würden Sie mir mehr vertrauen, wenn wir täten, als gäbe es sie nicht?»

«Schon möglich», sagte Lovell. «Gut möglich wäre das. Ein ehrlicher Mann würde doch wohl danach streben, sich von solchem Makel rein zu halten. Sie scheinen ihn dagegen zu begrüßen, Mr Smith. Ich selber kann mir solchen Leichtmut nicht erlauben. Mein Name ist mein Kapital. Ist Ihnen klar, was mir blüht, wenn ich Ihren Wechsel akzeptiere, für Ihre geheimen, für Ihre schweigsamen, lächelnden, vertraulichen Geschäfte? Und Sie ihn dann bei einem meiner lieben Nachbarn diskontieren, um nur so rasch als möglich an das Geld zu kommen, wie Sie es zweifellos beabsichtigen? Dann geht ein Sechzigtageswechsel mit meinem Namen drauf landauf, landab über die Insel, bringt meinen Kredit just zum Jahreswechsel auf den Hund, und das ohne die geringste Konfidenz. Alle, alle werden wissen, dass ich tausend Pfund schuldig bin, und sich fragen, ob sie mich nicht vorher selbst noch schröpfen sollen.»

«Ich diskontiere den Wechsel aber nicht.»

«Wie?»

«Ich diskontiere ihn nicht. Ich kann warten, keine Eile. Ich habe keinen dringenden Bedarf. Fällig nach sechzig Tagen heißt es auf der Urkunde, sechzig Tage kann ich mich leicht gedulden. Nehmen Sie den Wechsel; behalten Sie ihn im Auge; bewahren Sie ihn vor Wanderschaft.»

«Falls ich ihn akzeptiere, meinen Sie.»

«Ja. Falls Sie ihn akzeptieren.»

«Und wenn nicht?»

«Nun, lehnen Sie ihn ab, wird dies die kürzeste Landung in den Kolonien, von der man je gehört hat. Dann gehe ich schnurstracks wieder zum Kai, segle, sobald die Henrietta neu beladen ist, zurück nach Hause und fordere Schadenersatz bei Banyards.»

«Ich lehne ihn nicht ab», antwortete Lovell langsam. «Doch akzeptieren werde ich ihn auch nicht gleich. Hier heißt es: ‹zweiter Wechsel›, doch habe ich von einem ersten oder dritten nichts gesehen. Auf welchen Schiffen, sagten Sie, sind diese unterwegs?»

«Auf der Sansom’s Venture und der Antelope», gab Mr Smith zur Auskunft.

«Gut», sagte Lovell, «wir machen’s so: Wir warten ab. Tauchen die andren beiden auf, wird Ihr Wechsel rückwirkend akzeptiert, und Sie bekommen Ihre sechzig Tage und mit etwas Glück bis zum Quartalstag auch Ihr Geld. Im andern Falle sind Sie wohl wahrhaft der Halunke, der zu sein Sie scherzen, und ich bring Sie als Betrüger vor Gericht. Was halten Sie davon?»

«Höchst ungewöhnlich», sagte Mr Smith, «doch für meine Scherze muss ich wohl etwas zugestehen. Also gut: abgemacht.»

«Abgemacht», sagte auch Lovell. «Jem, schreib das Datum auf die Urkunde. Und einen Vermerk über die Abmachung. Notier dir, dass wir selber Banyard noch mal schreiben, mit dem ersten Schiff, und um Erklärung bitten. Dann ab in den Geldschrank mit dem Wechsel, als Beweisstück – davon gehe ich doch aus – für das Gericht. Nun, Sir, darf ich mich wohl zurückz…» Lovell unterbrach sich, denn Smith betastete die Manteltaschen. «Sonst noch was?», fragte er enerviert.

«Ja», sagte Smith und zog einen Beutel heraus. «Man riet mir, meine Guineas in kleinere Münze zu tauschen. Ob Sie mich wohl mit in der Stadt gängigen Geldstücken im Wert von diesen hier versorgen können?»

Lovell betrachtete die vier goldenen Königshäupter, die in Smiths Hand funkelten.

«Is das Messing?», fragte ein Lehrling grinsend.

«Natürlich nicht», blaffte Lovell. «Gebrauch deine Augen, nicht bloß deinen Mund. Aber wie …?», wandte er sich dann an Smith. «Sei’s drum, sei’s drum. Ja, da können wir zu Diensten sein. Jem, hol die Münzgewichte und wieg nach.»

«Volles Gewicht», vermeldete der Geselle kurz darauf.

«Wie ich’s mir dachte», sagte Lovell. «Ich lerne Ihre Launen langsam kennen, Mr Smith. Nun gut, mal sehen. Londoner Gold bekommt man hier nur selten zu Gesicht, zumal der Fluss, wenn Sie so wollen, ganz in die andre Richtung strömt; meistens sind es Moidores oder halbe Dobras, wenn die gelbe Lady sich überhaupt je blicken lässt. Ich könnte Ihnen also wohl einhundertachzig pro centum bieten, in New Yorker Währung, das käme auf …»

«Einhunderteinundfünfzig Schilling, Twopence-Halfpenny.»

«Eine wahre Rechenmaschine, wie? Scharf kalkuliert. Indessen fürchte ich, Sie können nur den kleinsten Teil in Münzen haben, da es, wie bereits gesagt, nur wenig Hartgeld gibt.» Mit einem Schlüssel an seiner Uhrenkette öffnete Lovell eine Schatulle und schaufelte Silber daraus hervor – abgenutztes Silber, angeschlagen und verschrammt im Gemetzel täglichen Verkehrs. Er türmte vor Smith einen kleinen Stapel auf. «Ein Mexica-Dollar, den wir zu Eight-and-Fourpence tauschen. Ein Piece of Four, die Hälfte davon. Ein paar portugiesische Cruzeiros, drei Schilling New York. Ein Viertelgulden. Zwei Lemberger und ein dänischer Kreuzer. Fünf Sous. Und ein Moresco, den wir nicht entziffern können, doch wiegt er vierzehn Pennyweights, Sterling, sodass wir ihn als Two-and-Six New York veranschlagen. Einundzwanzig und Fourpence, alles in allem. Bleiben hundertneunundzwanzig, Tenpence-Halfpenny in Papier aufzutreiben.»

Mit diesen Worten begann Lovell, einen Stapel knittriger, gefalteter Zettel neben das Silbertürmchen abzuzählen, manche schwarz bedruckt, manche rot und manche braun, beinah wie aus einem Gebetbuch ausgerissene Seiten, wären sie nicht an Form und Größe so verschieden gewesen; einige schlaff und eingerissen, andere lederig verfettet, manche nur mit kruden Lettern gemarkt, wieder andere mit Wappen verziert, mit blasenden Walen, Sternschnuppen, Federn, Laub und nackten Wilden. Sie alle legte Lovell flink wie ein Kartengeber aus, wobei er sich die Finger leckte, damit die Scheine leichter von der Hand gingen.

«Moment», entfuhr es Mr Smith. «Was soll das sein?»

«Sie kennen unser Geld nicht, Sir?», fragte der Geselle. «Man sagte Ihnen nicht, dass wir hier hüben Noten haben, weil Silbergeld so rar ist?»

«Nein», antwortete Smith.

Der Stapel wuchs.

«Fourpence Connecticut, Eightpence Rhode Island», murmelte Lovell. «Zwei Schilling Rhode Island, Eighteenpence Jersey, ein Schilling Jersey, Eighteenpence Philadelphia, ein Schilling Maryland …» Er war am Boden der Schatulle angelangt. «Verzeihung, Mr Smith, doch für den Rest müssen wir rauf in mein Bureau. Gewöhnlich verlangt niemand nach so viel. Jem, sperr schon mal zu. Isaiah, nicht gaffen, fegen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Vergessen Sie nur Ihre Beute nicht, Sie wollen doch beim Zählen nicht durcheinanderkommen.»

«Sie zahlen mir wohl meine Scherze heim», sagte Mr Smith, nun im Besitz von zwei Handvoll raschelnden, zweifelhaften Geldes.

«Mit gleicher Münze», sprach Lovell. «Hier entlang.»

Er ging durch eine Tür in der Wandtäfelung voran, und Smith fand sich ganz offenbar im Wohnhaus des Händlers wieder, denn dieser Flur lief gradewegs auf eine andre Tür zur Straße zu, durch welche die fahlen letzten Sonnenstrahlen einfielen. Hatte das Kontor nach Tinte, Kohle, Rauch und Männerschweiß gerochen, lag hier ein gänzlich anderes Aroma in der Luft: gewachstes Holz, Speisen, Rosenwasser und Teeblätter sowie ein Hauch Abort. Am Ende des Flures wand sich eine Treppe steil in die Dunkelheit empor. Mit jeder Drehung passierte sie ein Fensterchen, durch welches jedoch, zumal der Blick gen Osten ging, jeweils nur wenig anderes sichtbar wurde als Dächer und Spieren, die sich schwarz von einem bloß um ein Quäntlein lichteren Himmel abhoben. Hie und da schienen dank der Politur die Treppenpfosten und die Balustrade auf; Bilderrahmen legten verschwommen goldenes Gemunkel mal um schwarze Rechtecke, mal um sonderbares Glitzern, das wirkte, als hätte Lovell ein Stiegenhaus voll ferner Sternenbilder angesammelt und sie in Finsternis ersäuft. Da dies Lovells Heim war, hätte man erwarten können, er werfe die Last der Geschäfte darin ab. Stattdessen hielt der Kaufmann auf der ersten Stufe inne, und Smith sah ihn zusammensinken, als hätte er sich eine Bürde aufgeladen – den Gedanken an die tausend Pfund vielleicht. Der Neuankömmling stellte sich also auf einen schleppenden, womöglich keuchenden Anstieg ein. Stattdessen erklomm Lovell die enge Treppe flink wie ein Affe, der sich ins Geäst eines vertrauten Baumes schwingt, und es war Smith, der bedächtig hinterherstieg. Als Lovell einen Absatz schnell durchmaß, blieb Smith, vom Anblick einer Tür gefangen, stehen.

Der lange Raum, auf den die Türe ging, hatte Fenster Richtung Westen, von denen zwei das letzte Tageslicht einließen: silbrig, doch eher Regen als Metall, und durchzogen von blassem Purpur, welches ahnen ließ, dass es irgendwo noch eine Sonne gab. Und in solcherart geborgtem Glanz erstrahlten für Mr Smith die Gesichter der drei schlicht angetanen Frauen. Eine, blond, stand mit der Hand vorm Mund am Fenster; eine zweite, dunkler, war sitzend in ein Buch vertieft; die dritte, eine Magd aus Afrika mit weißem Kopftuch, hielt ein Stück Anzündwachs an eine neue weiße Kerze. Als sie Smith an der Tür erblickten, wandten alle drei sich zu ihm um. Smith blickte zurück.

Oh, wie anders doch ein Rahmen alles macht! Dem zwischen den Pfosten der bemalten Tür hindurchblickenden Mr Smith schienen diese drei Frauen sich zu einem Tableau der Neuen Welt zu ordnen, dieser Welt, welche er erst siebenundvierzig Minuten kannte und die ihm folglich noch nicht ganz solide schien, noch nicht ganz terra firma, sondern eher wie eine Bühne, vor deren Kulissen man aufs Stichwort treten und seine Rolle spielen musste, ob man bereit war oder nicht und ohne das Gemüt des Publikums zu kennen; ohne auch das Gemüt der anderen Darsteller schon zu kennen, die doch das Drama – Szene für Szene, Replik für Replik, Vers für Vers – in so großem Maß bestimmten. Die Blonde war ausgesprochen hübsch, mit einem großen Mund von freimütigem Rosa. Die Dunkle nicht viel weniger, obgleich sie wohl eben noch ein finsteres Gesicht gezogen hatte, da ihre Brauen dicht beisammen standen. Die Afrikanerin sah ihn aus lakritzeschwarzen Augen ohne den geringsten Ausdruck an. Zudem – und dies war eine solche Rarität, dass die Frauen Smith geeignet schienen, die drei Grazien selber darzustellen: Keine war auch nur im Mindesten gezeichnet von den Pocken. Er sollte noch erfahren, dass dies hier in den Kolonien beinah zu gewöhnlich war, um noch bemerkt zu werden, doch in diesem Augenblick überwältigte es ihn als unerhörte Überraschung. So erging es also Smith auf seiner Seite. Den dreien allerdings, die nach draußen in die Finsternis der Stiege blickten, wo ein Gesicht erblüht war und dazu zwei blasse Hände voll Papier, war Smith im gänzlich ordinären Türstock an einem gänzlich ordinären Tag erschienen. Für sie ging der blaugraue Giebel aus Connecticut-Kiefer auf dieselbe Welt hinaus wie immer, und wie immer befanden sie sich mittendrin in ihren eigenen Geschichten, aus denen Liebe, Sorgen, Groll und Hoffnung drei verwandte Schicksale gestaltet hatten. Er war der Losgelöste, der noch Unbestimmte, der, von dem man Zerstreuung oder Nachrichten erhoffen durfte oder irgendein anderes Tor zu einer neuen Welt, wie Fremde sie zuweilen auftaten. Erhoffen oder gar: begehren. Denn mag einem sein Schicksal nicht recht schmecken, winken Gnade wie Verdammnis im Gedanken an die Wankelmütigkeit Fortunas. Das Renommee der Göttin fußt allein auf ihrer Unbeständigkeit, und Fremde sind seit eh und je ihre angestammten Boten. Das Funkeln neuer Möglichkeiten tragen sie herbei. Als dieser Fremde auf die Schwelle trat, sah man in ihm einen jungen Herrn von vielleicht vierundzwanzig Jahren – in schlichtes Grün gekleidet, das Haar in kurzen, rostig braunen Locken –, welchem von seinem breiten Grinsen die sommersprossige Nase faltig wurde, während er unverfroren gaffte.

«Hallo», sprach er.

Die Dunkle gähnte theatralisch. «Zephyra, schließ die Tür», befahl sie dann.

«Tun Sie das nicht», rief Smith aus.

«Wieso nicht? Dies ist ein Salon, mein Herr, kein Guckkasten. Die Geschäftsräume sind unten. Ein geringer Einblick muss genügen – passend zum Ausmaß Ihrer Manieren.»

«Aber meine Neugier ist viel größer.»

«Das ist bedauerlich. Aber sei’s drum. Zephyra, zähl auf drei und schließe dann die Tür. – Wie? Noch immer nicht genug?»

«Niemals», rief Smith. Die Blonde zeigte ihre Grübchen. Die Afrikanerin wandte sich kopfschüttelnd den Kerzen zu.

«Galanterie», bemerkte die Dunkle, als benenne sie ein gewöhnliches Insekt. «Wie langweilig.»

«Meine Schwester findet alles langweilig», warf die Blonde ein. «Alles, außer einer scharfen Zunge. Wenigstens tut sie so. Doch manche von uns sind nicht derart sauertöpfisch. Manche missverstehen nicht aus voller Absicht Komplimente. Sie sind ein Kunde unseres Vaters, Sir? Treten Sie doch ein!» Ihre Wangen hatten sich bei dieser trotzigen Rede sanft gerötet. Ganz offensichtlich war sie noch sehr jung; vielleicht sechzehn oder siebzehn.

«Zu freundlich», sagte Smith und blieb an seinem Platz. «Doch war es wirklich nicht Galanterie, die mich so sprechen ließ, das schwöre ich, sondern bloß Schwelgerei. Sechs Wochen lang war ich auf See, wo jede Welle aussah wie die vorige, in nassem Einerlei. Inzwischen haben meine ausgehungerten Augen so viele Mägen wie ein Pferd.»

Die dunkle Schwester schnaubte. «Wie ein …? Ein so grotesker Vergleich kam mir noch nie zu Ohren.»

«Und doch hat er seinen Zweck erfüllt.»

«Ich wüsste nicht, welchen.»

«Sie zum Lächeln zu bringen.»

«Aber ich lächle gar nicht.»

«Ich könnte schwören, Sie hätten’s eben getan.»

«Sie irren sich, und Ihre Augenpferdemägen auch. Was diese allerdings kaum hindern wird, weiter Worte auszuspeien.»

«Wer von uns ist jetzt grotesk?»

«Ihre schlechten Gewohnheiten sind ansteckend. Sie haben uns infiziert.»

«Dürfte ich dann eintreten und bequemer damit fortfahren?»

«Wir hören Sie ganz gut, von wo Sie sind.»

«Tabitha!» protestierte die andere, wurde jedoch nicht beachtet.

«Dann würden Sie wohl jedes andre Ding genauso dreist anstieren? Was es auch sei?», fragte Tabitha.

«Verzeihung, doch Galanterie ist langweilig, das weiß ich aus berufenem Munde.»

«Sie kommen aus London, Sir?», versuchte es die Blonde noch einmal.

«Ganz recht», sagte er.

«Dann haben … haben Sie … könnten Sie doch … vielleicht …»

«Was meine Schwester Flora sagen will», sprang die dunkle Tabitha ein und legte dann ein spöttisches Falsett auf, «ist: ‹O bitte, bitte, dürftichwohl, sagenSieschon, habenSienicht vielleicht bei Ihren Sachen ein paar Bücher?› Denn die verschlingt sie wie Laudanum und kennt schon alle, die New York zu bieten hat, sodass sie jeden Reisenden um neue Lektüre anbettelt.»

«Sch!», rief Flora aus, die Wangen wieder rot.

«Ein, zwei hab ich wohl in meiner Truhe», sagte Smith zu Flora, «und suche sie gern für Sie heraus. Sie halten nichts davon?», wandte er sich darauf an Tabitha.

«Ich mache mir nichts aus Romanen.»

«Du machst dir aus gar nichts etwas, außer aus Nörgelei und Spott.»

«Ich glaube nur nicht, dass es dem Vogel bessergeht, wenn an der Wand des Käfigs bunte Bildchen hängen. Guten Abend, Papa.»

Smith erschrak. Auf leisen Sohlen war Lovell zurückgekehrt, eine lackierte Dose in den Händen, und hatte seit wer weiß wann mit grüblerischem Blick im Schatten neben Smith gestanden.

«Wie ich sehe, Sir, kennen Sie bereits meine Töchter. Flora, das ist Mr Smith, ein Geschäftsmann – frag bloß nicht, welcher Art. Herein, herein, versperren Sie die Tür nicht. Und legen Sie, was Sie da in der Hand halten, nur immer auf den Tisch, denn ich alter Narr hab mich vertan.»

«Hast du die Rechnung ohne den Wirt gemacht, Papa?», fragte Tabitha.

Lovell warf ihr einen Blick zu, sagte aber nur: «Ach ja …»

Wieder ging das Kartengeben los, nur dass Lovell diesmal nicht bloß neue Scheine abzählte, sondern bereits ausgegebene entfernte und gegen ähnlich bedruckte Fetzen tauschte, die nicht minder rätselhaft waren. Auch zählte er dieses Mal nicht laut, und jeder mit «Rhode Island» markierte Schein kam wieder in die Schachtel.

«Wie viel Geld Sie doch haben, Mr Pferdemagen», sagte Tabitha.

«Wenn es denn Geld ist», versetzte Smith, «und nicht der Ausschuss irgendeiner Druckerei.»

«Sie gewöhnen sich schon dran. Papa, du solltest ihn zum Essen einladen.»

«Das wollte ich gerade tun, Liebes», sagte Lovell. «Hier haben Sie Ihre Guineas wieder, auf Schilling und Penny. Würde der Herr wohl morgen Abend mit uns speisen?»

«Wünschen Sie das wirklich?»

«Aber, aber», antwortete Lovell mit einem Lächeln, welches aufgrund spärlichen Gebrauchs wohl des Ölkännchens bedurft hätte, damit die rostigen Kiefer wieder geschmeidig würden. «Wir wollen einen holperigen Anfang nicht den Rest verderben lassen. Unsere Übereinkunft gilt, und wenn alles gutgeht – wenn alles kommt, wie Sie versprechen –, nun, dann gibt es zwischen uns auch keinen Zwist. Obendrein sind Sie an fernen Ufern angelandet und werden sich gewiss darüber freuen, etwas anderes als Schiffszwieback zu kriegen.»

Solch unerwartet väterliche Töne nahm man Lovell allerdings kaum ab, denn «unverschämter Lümmel» und «verlogener Schuft» sind nicht gerade wohlmeinende Namen und verschwinden, einmal ausgesprochen, nicht ohne eine Spur von Peinlichkeit aus dem Gespräch. Doch bestand man auf der Einladung, und zwar nach erster Ablehnung nur umso mehr, bis Mr Smith, der im Haus nun doch etwas gefunden hatte, das ihn interessierte, am Ende einverstanden war. Nach getroffener Verabredung verbeugte er sich zum Abschied vor Miss Flora und Miss Tabitha und fand sich zwei Minuten später auf der Straße mit dem Lehrling Isaiah wieder, der ihm zum Tragen seiner Truhe abgestellt worden war.

Der Regen meinte es inzwischen wahrhaft ernst, sodass die Gosse überlief und Kot und Jauche von ganz Neu-York über die Golden Hill Street flossen. Den Hügel rauf, landeinwärts trübte sich das enge Sträßchen zu kühler Finsternis, nur schwach durchbrochen von Laternen. Isaiah fluchte, wollte die Truhe höher auf die Schultern wuchten, damit sie ihm als Holzdach diente, doch ließ die Last ihm nur die Füße tiefer sinken. Verglichen mit den spindeldürren Kaufmannsjungen, die Smith aus London kannte, war Isaiah von nachgerade bulliger Statur, und seine Haut glänzte fast überirdisch rein. Doch schien der Knabe aus Mannahatta mit seinen Londoner Vettern den Geschmack an protziger Montur völlig zu teilen. Sein Mantel war mit goldener Litze reicher besetzt als der manches Admirals, wenngleich die Farbe nur gemalt und nicht metallen war, und seine spitzen Schuhe trugen kunstvolle Doppelschnallen.

«Zur Hölle!», rief er zum wiederholten Male und wand sich unglücklich unter der Truhe. «Wo lang?»

«Sag du’s mir, Keule», gab Smith freundlich zurück. «Wo isses sauber und bequem, wo man auch was zu fressen kriegt und mir nich zu sehr die Börse blutet? – Aber kein Venustempel», fügte er hinzu, als er einen gewissen Funken in Isaiahs Augen blitzen sah. «Nur ’ne Bleibe.»

«Dann Mrs Lee auf’m Broad Way», sagte Isaiah. «Aber deine Keule bin ich nich, egal, was das heißen soll. Dein Geschwätz zieht nich bei mir.»

In verdrießlichem Schweigen führte er Smith über das verschlammte Pflaster. Ein trauriger Umzug, zwischen halb sichtbaren Häuserfronten, manche aus Backstein, andere nur armselig aus Holz gezimmert, und dunklen Brachen, auf denen unsichtbare Tiere klagten. Alles prasselte und spritzte, gurgelte und tropfte, spielte eine ungastliche, wässerige Melodie. Von der Seite schlug der Regen auf die beiden ein, kalt wie die See und beinah so unendlich, durchtränkte Haar und Kragen, füllte die Ohren mit Schlückchen eisiger Flut und ließ die Finger schmerzen. Die wenigen anderen Menschen huschten gebückt vorüber und bargen die Köpfe unter Leinensäcken. Smith konnte nicht mehr sagen, wie oft sie im Labyrinth der Straßen abgebogen waren, ehe sie die Tür erreichten, an die Isaiah nach einer triefenden Viertelstunde klopfte. Dennoch war Smith immer besserer Laune. Begonnene Arbeit ist leichter als bevorstehende; obendrein hatte er Geld in den Taschen, war jung und frisch in einer fremden Stadt auf der anderen Seite des Erdenrunds gelandet, als Neuankömmling – ja, wie er selbst erklärt hatte: als Neugeborener – im sagenhaften Thule. All dies bleibt immer noch erquicklich, wenn das Geld sonderbar und leicht mit Abfall zu verwechseln ist sowie die Stadt im selben Maße dazu angetan, das Herz mit Freude wie mit Angst zu füllen. Denn nur wem die Welt schon zu vertraut geworden ist, der verspürt nicht mehr den schnellen Atem und die steigende Erwartung dort, wo in jeder Gasse noch ein Abenteuer lauern kann und hinter jeder Tür Gefahr, Lust oder Glückseligkeit.

 

Mr Lovell, kaum mehr empfänglich für den Reiz des Neuen und im höchsten Maß verärgert, wenn er sich ihm doch einmal ausgesetzt sah, stand unterdessen zaudernd in seinem Salon. Flora war unten, um von Zephyra das Essen zu verlangen, das auch ohne diesen Befehl gekommen wäre. Nur Tabitha saß schweigend auf dem Sopha, und ihre Hände ruhten auf dem Schoß. Seit Lovells Frau vor drei Jahren verschieden war, hatte er sich angewöhnt, seine Älteste von Zeit zu Zeit um Rat zu bitten wie früher deren Mutter. Nun aber betrafen seine Sorgen diese Tochter selbst auf eine Art, die es nicht ratsam machte, sich an sie zu wenden.

«Warum», hob er an, «glaubst du, gibt ein junger Kerl, der Geld hat, vor, er habe keins – oder hält die Sache immerhin im Vagen?»

«Hat er denn wirklich welches?», fragte Tabitha.

«Ich glaube schon, ja. Ich glaube, alles andere ist nur Palaver, vorsätzliche Täuschung. Sand in unsere Augen. Doch wieso, das weiß ich nicht zu sagen. Was hältst du von ihm?»

Dieselbe Frage stellte Isaiah an diesem Abend vor dem Küchenfeuer Jem und auch der Kapitän der Henrietta seinem Maat, während die Brigg vor Anker auf den schwarzen, vom Regen aufgewühlten Wogen des East River ritt.

Bei Morgengrauen war die Nachricht in der ganzen Stadt herumgegangen: Ein Fremder war gekommen, mit den Taschen voller Geld.

II

Wie eine Mauer Stein für Stein errichtet werden muss, ganz gleich, wie glatt und blank sie schließlich sein wird, so kehrte Stück für Stück auch Mr Smiths Bewusstsein ihm zurück, als er am nächsten Tag im Rollbett in Mrs Lees Giebelzimmer lag und die Welt wieder zusammensetzte.

Erst die weiße Decke über ihm. Dann die Erkenntnis, nach und nach, dass dies nicht das dunkle, feuchte Holz zwei Handbreit über seiner Nase war, unter welchem er sechs lange Wochen auf der Henrietta den Tag begonnen hatte. Dann die Erinnerung an seine Aufgabe; das ganze kunterbunte Mosaik des Vorabends; und brennende Neugier. Durchs Giebelfenster strahlte eine volle Sonne. Im Hemd sprang er aus dem Bett und warf die Läden auf – Dachfirste und Glockentürme grüßten ihn; ein Wirrwarr, nicht besonders hoch, aus stufigem holländischem Gesims und dem gewohnten Backstein Englands, aus welchem mit größerer Eminenz die Türme und Kuppeln der Kirchen ragten und dahinter das sacht schaukelnde Gitterwerk der Masten; der ganze Anblick funkelte im Wasser, das die Wolken der letzten Nacht vergossen hatten, und jene ein, zwei, drei – er zählte sie – sechs Krumen grellen, hoch erhobenen Lichts mussten wohl die Wetterhähne von Neu-York sein, die golden dort am Himmel saßen, wo Blau und Weiß und wieder Blau vorübereilten. Der Broad Way, so zeigte sich, als Smith den Kopf nach unten aus dem Fenster reckte, war gepflastert, nur leidlich breit und zu Mrs Lees Seite begrenzt von kleinen Bäumchen. Kutscher, Höker mit Handkarren und eilige Fußgänger waren in beiden Richtungen darauf unterwegs. Ebenfalls dort unten, doch größtenteils verborgen vom Geäst, fegte jemand das letzte Laub beiseite und sang in einer Zunge Afrikas so schleppend, als klapperten in seinem Beutel die Scherben seines vor langer Zeit gebrochenen Herzens.

Smith aber nahm sich den Takt von den hastigen Wolken und hurtigen Passanten. Aus dem Kruge spritzte er sich Wasser ins Gesicht, wechselte das Hemd, warf sich in Kniehose und Mantel und setzte die Treppe in so krachenden Sprüngen hinab, dass dies die Witwe Lee erschreckte, die ihren Pensionären unten im Salon soeben Porridge und Nierchen auftischte.

«Nehmen Sie ein Frühstück, Sir?», fragte sie unterwürfiger als sonst gegen ihre Gäste üblich, denn mit dem Milchmann hatte die Nachricht sie erreicht, dass sie, ohne es zu ahnen, einen Nabob beherbergte: einen derart mit Guineas gepolsterten Menschen, dass er sie beim leisesten Stoße auszustreuen versprach.

«Recht vielen Dank, aber nein», sagte Smith, ohne stehen zu bleiben. «Ich finde etwas unterwegs. Guten Tag!» Und schon fiel hinter ihm die Tür mit lautem Schlage zu.

Wer immer da vorhin gesungen hatte, war verschwunden; die Straße stand wieder ganz im Zeichen des Geschäfts. In welche Richtung sollte Smith sich wenden? Zur Linken mündete der Broad Way in eine grüne Allmende, doch zog der Großteil des Verkehrs nach rechts, wo die Häuser immer dichter standen und eindeutig das Herz der Stadt zu finden war; all die Brotkarren und Milchkrüge waren in dieser Richtung unterwegs, und Smith begleitete sie beinah im Hopserlauf. Über den sanften Buckel, den die Insel zwischen den zwei Flüssen machte, zog sich der Broad Way, als wäre er das Rückgrat einer beinah ganz darin eingetauchten Kreatur, deren Wirbel die groben Pflastersteine waren. Zu beiden Seiten fielen Nebenstraßen ab, in die Smith neugierig blickte. Nach Westen, wo auch Mrs Lees Tür lag, stand nur noch eine Reihe Häuser und dahinter ein paar jämmerliche Hütten. Dann ging es hinab zu einem unsicheren Ufer, wo man Ruderboote durch Bündel gelben Grases zog und Watvögel über von den Gezeiten freigelegten Schlick staksten. Der größte Teil der Stadt lag wohl im Osten. Dort offenbarte jede Einmündung eine abfallende Straße, dicht bebaut mit Häusern in der Mode Amsterdams, deren pyramidenhafte Treppchen die Türen halb in der Luft zu tragen schienen. Indes, bei zweitem Hinsehen zeigte die Mode Amsterdams mit der Mode Londons sich vermischt, denn die spindeldürren Stirnseiten der einen Häuser drückten sich gegen der anderen breite Hüften. Aus diesen Straßen war Smith gestern Abend durch den Regen hergekommen, und in diese quollen nun die eiligen Karrenschieber, Krämer, Kaufleute und geschäftigen Lehrlinge stetig fort vom Hauptstrom der Allee.

Smith aber war in Schlenderlaune und folgte weiter dem Broad Way, spazierte vorbei an einer steinernen Kirche mit rechteckigem Turm, die (gleich einem Rosentrieb im feuchten Beutel) aus irgendeinem Städtchen jeder Grafschaft Englands hierher hätte verpflanzt worden sein können, vorbei an einem Bowlingrasen, geformt wie eine Träne und von perfektem Grün, bis die Allee in den Exerzierplatz einer Feste mündete, hinter welcher eine windumwehte Promenade die Hafenbucht begrenzte, wo das Grau von gestern sich in hin und her wogendes Blau verwandelt zeigte, gekrönt von weißen Häubchen. Dies war die Spitze, das Ende, das non plus ultra der Insel, und der stramme Wind erfüllte Smith die Brust mit heiteren Atemzügen. Die seidene Flagge der Union schlug und flatterte auf dem Fahnenmast der Feste, doch diese selbst erwies sich bei genauerem Hinsehen als wenn nicht baufällig, so doch ausgesprochen angesengt, mit geschwärztem Mauerwerk und hier und dort offenen Dächern, in denen sich verkohlte, nackte Sparren zeigten. Die Torwache saß mit gesenktem Kopf in ihrem Häuschen wie ein rotes Häuflein Elend. Allein das hölzerne Ding daneben wirkte unversehrt: ein aus fahlen Balken gefertigtes Gebilde, dessen Zweck Smith allerdings ein Rätsel war. Ein Galgen ohne Stricke? Oder eine übergroße Ausgabe jener Geschmeißbretter, an welche pflichteifrige Wildpfleger die Kadaver der Eulen, Wiesel und sonstigen Halunken schlagen, die ihrer Herren Wild zu reißen wagen? Dunkle Flecken und Wimpel waren auf das Brett gereiht; ein wehendes Sammelsurium, das Smith so lange grübeln ließ, bis er sich dicht genug hinbeugte, um zu erkennen, dass die vom Wind bewegten Fasern Menschenhaare waren, wie eh und je im pergamentenen Gelb der Skalps verwurzelt. Vierzig, fünfzig oder sechzig Stück mussten dort wohl angeschlagen sein, und aus der Nähe stanken sie wie faules Fleisch. Smith wich abrupt zurück.

Zu seiner Linken lockte der schaukelnde Mastenwald jenseits der Häuser, und Smith folgte der Einladung in den Schlund der Stadt. Herrschaftliche Häuser standen hier, mit funkelnden Fenstern und mit Mägden, die Schwellen und Treppchen wischten; auch Kontore gab es, Stände und Läden; buntes Treiben auf den Straßen, denn obgleich die Häuser offenkundig Reichtum beherbergten, wurden sie – im Gegensatz zu ihren Londoner Pendants an den Squares des West End – nicht verschont vom Hafentrubel. Fuhrmänner bewegten Kisten, Kästen, Truhen, Fässer; frischgelandete Einwandererfamilien schleppten ihre ganze Habe und sahen so überwältigt aus wie Smith zweifellos selbst; ein Sklavenzug aus in Eisen liegenden Schwarzen unterlegte die Musik der Straße mit kläglichem Gerassel. In London hätte nie ein Händler seine Äpfel vor der Tür des Bürgermeisters angepriesen, hätte nie ein Goldschmied sein Geschäft neben einem kümmerlichen Laden für Seemannsbedarf eröffnet. Neben solch unerwarteten Präsenzen gab es indes auch allerhand, was fehlte. Aus guter Großstadt-Gewohnheit hatte Smith sein Hirn angewiesen, alle Reizungen der Nase zu missachten, sodass es eine Weile dauerte, bis dieses Hirn bemerkte, dass es kaum etwas zu missachten gab. Die Ausdünstungen der Skalps waren noch das Garstigste am Bouquet Neu-Yorks. Ein wenig Fisch, ein wenig Exkrement; ein paar Eingeweide hier, etwas Kot dort, doch keine tiefe Patina aus Schmutz, kein kloakaler Regenbogen in den Brauntönen der Kanalisation. «Großstadtleben», meldeten Smiths Augen. «Landpartie am Meer», widersprach die Nase. Keine Gerüche und auch keine Bettler, so bemerkte er. Minutenlang streifte er nun bereits durchs dichteste Gedränge, und nicht ein einziger von Geschwüren übersäter Gossenjunge hatte ihn bedrängt, kein zahnloses Weib mit Gin-Fahne hatte ihm am Rockzipfel gehangen, keine Krüppel in zerfetzten Uniformen hatten ihn vom Boden angestöhnt. Frisch und frei bewegte er sich unter Fremden, welche von der Lotterie des Lebens allesamt mit Kraft, Gesundheit und zumindest annehmbarem Äußerem gesegnet worden waren. Von der Größe ganz zu schweigen. Smith war gewohnt, auf der Piazza von Covent Garden gut einen Kopf herauszuragen; hier, zwischen all diesen rege ruckenden Häuptern, war er nicht größer als der Durchschnitt.

Womöglich lag es an dieser Gelassenheit der Straße, dass Smith, ohne sich dessen bewusst zu sein, seinerseits die gewohnte Wachsamkeit des Städters lockerte und, während er beobachtete und abschätzte, nicht bemerkte, dass andere ihn beobachteten und abschätzten. Er hielt inne, um die Schiffe zu bewundern, die in einem Seitenarm des Hafens dicht bei den Häusern ihre Ladung löschten, ging weiter, stieß auf einen engen Platz, wo Druckergesellen mit Bündeln von Papier von Tür zu Tür eilten, und als er auf seine Frage hin erfuhr, dass der Platz Hanover Square hieß, musste er lächeln, da man das Gegenstück in London doch weniger für Tinte kannte als für mit einem halben Tausend Kerzen beleuchtete Ballsäle. Bald entdeckte er ein Kaffeehaus, aus dem der Duft von warmem Brot und frisch gemahlenen Bohnen drang, und tat, als er davor stehen blieb, etwas, das er weder zu Haus noch andernorts jemals getan hätte. Um dem widerspenstigen Ballen aus Mr Lovells Scheinen einen passenden Fetzen zur Bezahlung eines Frühstücks zu entreißen, nahm er mitten auf der Straße die Brieftasche heraus. Blitzschnell setzte ein Verfolger heran, griff sich die Tasche und jagte davon.

Smith hatte sein Vermögen in der Hand gehalten. Auf einmal war es fort. Smith gaffte. Smith bestaunte blöde die leere Hand, in der sich eben noch das Geld befunden hatte. Obendrein ein Dokument, welches … Doch dafür war jetzt keine Zeit. Smith zögerte … wollte rufen: «Haltet den Dieb!» … bedachte die wahrscheinlichen Folgen … schüttelte den Kopf wie von Fliegen geplagt … und machte sich stumm selbst an die Verfolgung. Das kurze Zaudern hatte dem Räuber bereits einen Vorsprung von gut zwanzig Schritt verschafft, und wie Smiths Beine sich auch strecken mochten und sein grüner Rockschoß auch hinter ihm flatterte, schlüpfte das Ziel seiner Jagd doch flink zwischen Rücken hindurch, um Ecken herum und Gassen hinauf. Nun zogen die Straßen Neu-Yorks nicht mehr in gemächlichem Tempo vorbei, sondern in vollem Lauf; dieselben Szenen, dieselbe Mischung aus bekannt und unbekannt, dicht beieinander wie die schwarzen und weißen Felder des Schachbretts, doch beschleunigt und verschwommen; ja, in der Tat, zu Teilen ganz genau dieselbe Strecke, die er gestern Abend schon entlanggetrottet war, nun aber in der Eile nicht erkannte, so keuchte er und pochte ihm das Herz und hing ihm die Schwächung durch die wochenlange Seefahrt in den Gliedern, während die Gestalt voraus sich duckend und windend, schlängelnd und springend nicht etwa näherte, sondern sogar entfernte. Dünn war der Dieb, mit langem, glattem, schwarzem Haar, offenbar nimmermüden Beinen in grauer Kniebundhose und nackten, schmutzigen Füßen. Mehr konnte Smith nicht sehen, und der Abstand zwischen ihnen wuchs.

Inzwischen rannten sie bergan. Smith, der das Gras einer freien Fläche vor sich sah und schloss, dass alle Straßen parallel hinauf zu dieser führen mussten, griff nach dem letzten Strohhalm und bog an der nächsten Kreuzung schnell nach rechts und wieder links an der darauf, hoffend, dem Flüchtenden den Weg ganz oben abzuschneiden. Die Straße war hier drüben sehr viel freier, und Smith rang sich die letzten Kräfte ab, indem er, wie er hoffte, parallel zu seiner Börse aufwärtssauste. Querstraßen gab es keine mehr: keine Gelegenheit also, sich vom Erfolg seiner Kriegslist zu überzeugen. Kahle Mauern, elende Türen, Brachen. Ein hämmerndes Herz, eine brennende Lunge. Das Ende der Straße knapp voraus. Noch einmal warf Smith keuchend sich nach links, kehrte oben angelangt zurück zur ersten Straße, darauf rechnend, augenblicklich den Gejagten wieder zu entdecken. Er erreichte die Ecke.

Nichts. Kein Mensch war hier zu sehen. Die Strömungen und Wirbel städtischen Verkehrs flossen allesamt in andere Richtungen und ließen diese Ecke als versiegten Nebenarm zurück. Nichts als Hunderte verschlossener Türen im Morgenlicht, und hinter jeder konnte, so begriff Smith, dem nun dämmerte, welch großen Fehler er begangen hatte, der Dieb verschwunden sein. Unmöglich konnte er an alle klopfen. Er machte auf dem Absatz kehrt. Das Grün war ein wildes Stück Allmende. Eine Kuh blickte ihn an und wiederkäute selig teilnahmslos. Jeder der Büsche konnte einen Dieb verbergen.

Mr Smith stützte die Hände auf die Knie und schnaufte; mühte sich, seine Affekte zu zügeln und den empörten Mund im Zaum zu halten, der Worte sagen, schreien wollte, die Smith ihm nicht erlaubte. Sobald die Brust ihm leichter wurde, lächelte er der Kuh zur Probe zu, und wiewohl die Miene eher einer schmerzlichen Grimasse glich, ja dem Zähneblecken eines Leichnams, dem das Fleisch im Tode sich zusammenzieht, so war sie doch trotz allem willentlich, und allein das war es, was Smith im Augenblick verlangte. Der Kuh war’s einerlei.

Mr Smith ging vorbei an einem Cricketfeld, braun ausgetreten um die Wickets, vorbei an einem Brennofen, einem Köhlerfeuer und einer Herde Schafe, bis er ein Plätzchen unter Bäumen fand, an dem er sich geschützt vor neugierigen Blicken fühlte. Dort, in der Sicherheit, auf die zu achten er zuvor versäumt hatte, drehte er die Manteltasche um und machte Inventur. Wie erhofft, waren ein paar Scheine der Brieftasche entkommen, sodass er sie nun lose vorfand. Viele waren es nicht. Einen nach dem andern strich er glatt und zählte nach. Fünf, sechs – sechs Schilling und Six- … und Eightpence – ach, und dieser schmutzige Fetzen nochmals Sixpence – und ein weiterer Schilling. Acht Schilling und Eightpence, in der Währung von – er kniff die Augen zusammen – Neu-York und New Jersey. Das windige Papier war nun schon deutlich weniger zum Lachen. Zu seiner Erleichterung fiel ihm da das kleine Häufchen harter Münzen wieder ein, das er bei seinem Bett zurückgelassen hatte. Vielleicht neunundzwanzig Schilling, wo er auf das Sechsfache gebaut hatte. Er rechnete nach. Konnte er noch leben wie geplant? Nein. Er würde leben müssen, wie es ging.

Als er sich mit neuerlich glaubwürdigem Lächeln aus seinem Versteck erhob, mutete die Straße auf der anderen Seite der Allmende ihn merkwürdig vertraut an, was ein kurzer Marsch in diese Richtung auch bestätigte. Es war der Broad Way, in der anderen Richtung als der, die er ursprünglich eingeschlagen hatte. Um die gesamte Stadt war er herumgegangen; das war Neu-York, mehr gab es nicht. Am Ende der Allmende erhob sich eine Palisade, die der Broad Way bloß noch als Wagenspur passierte. Auf gut Glück fragte Smith am Wachhäuschen den Posten, der damit beschäftigt war, den Boden rings um sich mit Spucke zu verzieren, ob er jemanden gesehen hatte, jemanden, der gerannt war.

«Schon möglich», sagte der.

Smith sah dem Mann in die erwartungsvollen Augen und bedachte den Zustand seiner Taschen.

«Haben Sie aber nicht, oder?», versetzte er.

«Nein», bestätigte freundlich der Soldat und steckte sich die Tonpfeife wieder zwischen die Zähne.

III

Mit um wie viel traurigeren, langsameren Schritten Smith seinen Rückweg antrat, kann der Leser sich wohl denken; wie die Gesichter der Passanten, die zuvor noch heitere Beschäftigung mit eigenen Belangen ausdrückten, ihm nun verschlossen schienen, lauter Manifeste von Heimlichtuerei und Arglist; wie die Stadt selbst, die noch vor wenigen Minuten so bemerkenswert und neu war, ihm nun klein und provinziell vorkam, derb und verachtenswert, absurd, verglichen mit jeder Metropole Europas und bloß vom Morgenlicht in trügerischen Glanz gehüllt. Selbst der Duft des frischen Brotes erregte, als er sich erneut vor dem Kaffeehaus wiederfand, seinen Appetit nicht mehr so reizvoll wie zuvor. Auf der Schwelle blieb er zögernd stehen. Zum Zeitpunkt des Raubes war er durchs Fenster nicht zu sehen gewesen. Doch war er hinterher vorbeigerannt, wobei man ihn vielleicht bemerkt hatte. Ein Gast könnte im entscheidenden Moment hinaus- oder hineingegangen sein. Womöglich hatte man sein Unglück schon erraten. Nun gut, so blieb ihm wohl nichts übrig, als das Rad zu drehen und auf sein Glück zu hoffen.

«Bedienung!», rief er, als er in den niedrigen, von Rauch und etwas Dampf verhangenen Raum trat, in dem Männer (keine Frauen) sich in schroffem Murmeln unterhielten, das auf und nieder wogte wie ein Meer aus Bart und Moschus. Schwungvoll setzte er sich an einen freien Tisch, spreizte selbstbewusst die Beine und strahlte freundlich in die Runde.

«Bedienung!»

Man wandte sich zwar nach ihm um, doch langsam und verhalten, nicht – so urteilte er – mit jener Hast, die von der Neugier auf ein Drama zeugt, das an seinem Höhepunkte wiederaufgenommen wird. Nicht so, als fiebere man dem zweiten Akt von Der bestohlene Reisende entgegen, in welchem Simon Simpel, ein ingénu vom Lande, all seine Habe an einen Spitzbuben verliert und nun auf Gedeih und Verderb der Gnade Sir Bartholomew Quorums, des Anwalts, und Mrs Spurts, der Bordellwirtin, ausgeliefert ist. Nein, es war wohl nur die träge Unruhe, mit der die Stammgäste eines jeden Kaffeehauses die Ankunft eines Unbekannten registrieren, dem bevorsteht, in jenen großen, vielstimmigen Organismus rekrutiert zu werden, der hier und da ein Element verliert oder gewinnt, wenn Gäste kommen oder gehen, doch immer redet und weiterredet.

«Ja, Sir?» Ein Junge in weißer Schürze war herbeigeeilt. «Tee, Kaffee oder Schokolade, Sir?»

«Eine Kanne schwarzen Türkentrank, ohne Kuhsaft.»

«Gern, Sir. Und zu essen?»

«Einen Korb Brötchen.»

«Gut, Sir. Zeitung, Sir?»

«Was habt Ihr anzubieten?»

«Post-Boy, Intelligencer und Monitor, Sir.»

«Dann alle drei.»

«Ja, Sir. Sofort, Sir. Post-Boy könnte dauern, Sir. Nur eine Ausgabe heute, und die haben die Gentlemen dort drüben.» – Zwei junge Herren, einer bärtig, der andere mit horngerahmter Brille, saßen lachend beim Fenster.

«Dann bloß die anderen», sagte Smith. «Wir wollen die beiden nicht stören.»

Die Brötchen dufteten noch frisch, und der Kaffee kam in einem Zinnkrug, der in London für seit zehn Jahren aus der Mode gegolten hätte, so gerade waren die Seiten und so frei von schmückendem Firlefanz der Griff. Der Junge wirbelte mit dem Frühstück auf einem Tablett herbei und balancierte noch zwei weitere auf dem Arm; er breitete die Zeitungen, die er gefaltet zwischen Kinn und Schulter transportiert hatte, vor Smith aus und drehte sich fort in die nächste Figur seines Kaffeehaus-Tanzes. Smiths Appetit kehrte zurück. Er sog die aus Korb und Krug aufsteigenden Düfte ein, als ob sie Freunde wären, um deren Schultern er die Arme schlingen konnte, und stürzte sich auf sein Mahl. Er schmatzte und butterte, leckte sich Krümel von den Fingern, lehnte die Zeitungen an den Krug, und das Geklapper der Teller und das Schwatzen und Schlürfen ringsumher spielten als Continuo ihre vertraute Melodie.

Als er sich satt gegessen hatte und von der dringlichen ersten über die notwendige zweite zur freiwilligen dritten Tasse Kaffee überging, für die er sich nach Lust und Laune Zeit nehmen konnte, und immer noch nichts darauf hinwies, dass er sich hätte sorgen müssen, lehnte er sich zurück, breitete vor sich die Nachrichten der Stadt aus und besah sich abwechselnd die Artikel und den Schankraum. Sitzung des Stadtrates. Essige, Biere und Spirituosen zu besten Preisen. Hätte Smith in vertrauter Umgebung sich befunden, nach einem einzigen Blick hätte er zu sagen vermocht, welchem besonderen Schlag von Bürgern aus dem Weltreich des Kaffees dieses Haus zu dienen hoffte: ob es ein Ort für Poesie oder für Völlerei war, für Philosophie oder Schiffsassekuranzen, den Westindienhandel oder den Verein der Fleischhauer. Ankommende Schiffe. Abfahrende Schiffe. Anwesen des Mr De Kyper auf Long Island mitsamt Forst zur Versteigerung ausgeschrieben. Die Drucke an den vergilbten Wänden gaben indes eine bunte Mischung ab. Karten, Satiren, Balladen und Unzüchtiges, daneben das unvermeidliche Porträt des Königs: So herrschte der glotzäugige George über lauwarme, gedruckte Grütze, nicht Fisch, nicht Fleisch noch sonst etwas. Albany-Schreiben, bezüglich des Verhaltens der Mohikaner. Predigt anlässlich der Einweihung des Denkmals zu Ehren des seligen Hochwürdigen Herrn Vesey. Land zu verpachten: Bouwerij, Out Ward, Umgebung von Rutgers Farm. Und die Company? Flussfracht angekommen. Negermagd entlaufen: Belohnung. Das Einzige, was Smith all dem entnehmen konnte, war ein allgemeiner Eindruck von Geschäftigkeit, höchstens noch von Juristerei durchsetzt. Dramatische Darbietung der Klassiker, zur Aufführung gebracht von der vielgerühmten Mrs Tomlinson. Gedicht Heil Dir Freiheit, süßer Beistand an der Briten Brust vorgelegt von Urbanus anlässlich des Geburtstages Seiner Majestät. Dort drüben lagen Karten auf dem Tisch, daneben ein zu unterzeichnender Kontrakt; eine Schar in braungelb-grauer Kaufmannskluft löcherte einen Herrn im schwarzen Advokaten-Talar. Doch manche Gäste hatten auch das wetterderbe Äußere von Seeleuten, andere waren nur scherzende Knaben. Verhandlungen am Gerichtshof der Provinz Neu-York. Mangelhafte Rechtsauslegung. Kutschentarife. Haupthandelsgüter, aktuelle Preise. Neben diese letzte Meldung hielt Smith ein Dokument aus seiner Tasche und verglich einige Zahlen, indem er die Zeigefinger über die jeweiligen Spalten wandern ließ. Teleskope und Ferngläser auf Bestellung. Regimentsbefehle. Dinner des Clubs der Ungarn. Womöglich gab es in dieser Stadt schlichtweg nicht genügend Kaffeetempel, um sich wie gewohnt zu spezialisieren.

Noch immer lachend, kamen die beiden Herren vom Fenster zu ihm herüber. Der mit der Brille trug den fehlenden Post-Boy mit sich. Sein Antlitz war bemerkenswert glatt, oval und weiß, sodass die dunklen Kreise des Horngestells sich darauf reichlich komisch ausnahmen. Auf dem Kopf hatte er die kurzen Stoppeln eines Mannes, der sonst Perücke trägt, nun aber außer Dienst ist.

«Bitte schön», sagte der Fremde und blickte Smith neugierig mit schiefgelegtem Haupte an. «Keine Sorge, wir sind damit fertig. Alles, was das Blatt an spärlichem Vergnügen bieten mag, sei Ihnen herzlich gegönnt.» Er klang ein wenig abgehoben und belustigt. «Darf ich fragen – hörte ich Sie eben sagen ‹ohne Kuhsaft›?»

«Ach, das war nur ein Versuch», erklärte Smith. «Ich bin neu hier, und gestern Nacht griff ich ins Leere mit einem Wort aus Europa. Also probierte ich es heute mit ein wenig Wirtswelsch, um zu sehen …»

«Ha, da gerieten Sie bei unsrem Quentin aber an den Richtigen, denn der spricht fließend jedes Englisch, in dem sich ein Tässchen bestellen lässt, ganz zu schweigen von Holländisch und den meisten anderen Zungen, die ein Seemann durch diese Tür tragen könnte. Französisch, Spanisch, Dänisch, Portugiesisch. Latein, wenn alle Stricke reißen. Nonne, Quentinianus?», fragte er, als der Junge mit Tabletts beladen vorüberging.

«Sic, magister», erwiderte Quentin und entschwebte.

«Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?», bot Smith an.

«Sofern wir ganz bestimmt nicht stören?» Doch sie zogen bereits Stühle an den Tisch und winkten nach Quentin.

«Septimus Oakeshott», stellte sich der Glatte, Blasse vor.

«Hendrick Van Loon», sagte der andere mit so viel holländischem Kehllaut, dass Smith ein Weilchen suchen musste, um den Nachnamen darin zu finden.

«Richard …», hob er schließlich selber an.

«Oh, das wissen wir», unterbrach Septimus Oakeshott. «Ich fürchte, das weiß jeder, Mr Smith. Sie sind berühmt, noch ehe sie den Mund aufmachen. Sie sind der unermesslich reiche Knabe, der vom Antworten nichts hält.»

«Also …»

«Oder», warf Van Loon ein, «geben Sie doch hin und wieder welche?»

«Hendrick fragt aus beruflichem Interesse», sagte Septimus und hob die drolligen Augenbrauen weit in die Eierstirn hinauf. «Er schreibt nämlich für den Post-Boy.»

«Nicht nur aus beruflichem», widersprach Van Loon. «Meine Familie hat geschäftlich mit Gregory Lovell zu tun, weshalb wir … fasziniert … von Ihrer Ankunft sind. Eine Neuigkeit sind Sie indessen wirklich. Und, falls Sie sich gefragt haben, auch unser lieber Septimus geht seiner Arbeit