Neuanfang auf Italienisch - Evelyn Kühne - E-Book

Neuanfang auf Italienisch E-Book

Evelyn Kühne

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Beschreibung

Was tun, wenn der eigene Mann von der Dienstreise nicht nur schmutzige Wäsche, sondern auch seine Geliebte mitbringt? Lene, 45 Jahre und Romantikerin, sieht sich plötzlich dieser Situation gegenüber. Sie entscheidet sich wie die Heldinnen aus ihren Liebesromanen für einen klaren Schlussstrich. Nach gewissen Startproblemen bei ihrem Neuanfang nimmt Lene sich eine Auszeit am malerischen Gardasee. Dort lernt sie nicht nur den charmanten Italiener Stefano kennen, sondern auch den gutmütigen Witwer Bastian. Beide Männer machen ihr Avancen. Und als dann auch noch zwielichtige Gestalten hinter ihr und einem mysteriösen Schmuckstück her sind, hat Lene plötzlich mehr Abwechslung, als ihr lieb ist.  Von Evelyn Kühne sind bei Forever by Ullstein erschienen: Neuanfang auf Italienisch Dünengeflüster - Ein Ostseeroman Dünenzauber - Ein Ostseeroman Dünenrauschen - Ein Ostseeroman Inselküsse - Ein Ostseeroman

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Die AutorinEvelyn Kühne wurde 1970 in Radebeul geboren. Schon immer galt ihre ganze Leidenschaft den Büchern. Beruflich ging sie jedoch erst einmal ganz andere Wege und arbeitete unter anderem als Verkäuferin. Viele Jahre später, nachdem sie eine Krebserkrankung überstanden hatte, traute sie sich erstmals mit ihren eigenen Geschichten an die Öffentlichkeit. Für sie war das Schreiben auch ein Stück Krankheitsbewältigung. Es erschienen mehrere Kurzgeschichten, sowie ihr erster Roman, in dem sie über ihre Krankheit berichtet und anderen Betroffenen Mut macht. Sie lebt heute mit Mann und Tieren in der Nähe von Meißen und schreibt am liebsten Krimis und Liebesromane über starke Frauen.

Das Buch

Was tun, wenn der eigene Mann von der Dienstreise nicht nur schmutzige Wäsche, sondern auch seine Geliebte mitbringt? Lene, 45 Jahre und Romantikerin, sieht sich plötzlich dieser Situation gegenüber. Sie entscheidet sich wie die Heldinnen aus ihren Liebesromanen für einen klaren Schlussstrich. Nach gewissen Startproblemen bei ihrem Neuanfang nimmt Lene sich eine Auszeit am malerischen Gardasee. Dort lernt sie nicht nur den charmanten Italiener Stefano kennen, sondern auch den gutmütigen Witwer Bastian. Beide Männer machen ihr Avancen. Und als dann auch noch zwielichtige Gestalten hinter ihr und einem mysteriösen Schmuckstück her sind, hat Lene plötzlich mehr Abwechslung, als ihr lieb ist. 

Evelyn Kühne

Neuanfang auf Italienisch

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Mai 2017 (1)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95818-186-1  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

1. Kapitel

»Frau Müller bitte!« Blechern ertönte die Stimme durch den Lautsprecher. Es schien, als würde sie von einem anderen Planeten und nicht aus dem Sprechzimmer nebenan kommen. Die aufgeforderte Dame erhob sich und schlich in Zeitlupe zur Tür. Mehrere Augenpaare folgten ihr und es schien, als wollten die Anderen sie mit ihren Blicken zu mehr Eile antreiben.

Lene saß genervt im Wartezimmer ihres Neurologen. Komisch – immer, wenn sie hier war, hatte sie das Gefühl, die Uhr tickte langsamer, die Zeit wollte einfach nicht vergehen. In Gedanken zählte sie die Personen durch, die noch vor ihr drankamen. Da war der dickliche Herr am Fenster, dessen Kopf direkt auf dem Oberkörper saß und der die ganze Zeit deprimiert zu Boden starrte. Seine Tränensäcke waren so riesig, dass sie fast bis auf seine Wangen zu hängen schienen. Dann die beiden Frauen neben der Tür. Eine von ihnen murmelte unablässig irgendwelche unverständlichen Dinge vor sich her, sie trug eine ziemlich seltsame Frisur – als hätte sie in eine Steckdose gegriffen. Alle Haare standen wild vom Kopf ab – wirr und genauso war auch ihr Blick. Die andere Patientin sah eigentlich ebenso normal aus wie Lene selbst. Wobei sie unsicher war, ob sie selbst normal aussah oder die Besuche hier schon auf sie abgefärbt hatten.

Drei Leute waren also noch vor ihr dran, ein Ende absehbar. Sie ließ ihre Blicke schweifen. Das gesamte Wartezimmer trug mit seiner tristen Ausgestaltung nicht im Geringsten dazu bei, dass man sich wohlfühlte. Na ja, vermutlich wollte das eh keiner. Die Wände waren in einem undefinierbaren Farbton gestrichen, der am ehesten in Richtung schlammgrau ging. Überall waren weiße Flecke, an denen die Farbe schon abgeplatzt war. Ihr gegenüber hing die langsam tickende Uhr, mit einer Aufschrift für irgendein Arzneimittel in ihrer Mitte. Die Möbel waren alt, abgenutzt und die Stühle derart unbequem, dass man einfach keine angenehme Sitzhaltung darauf fand. Jede Veränderung der Sitzposition wurde den anderen Wartenden mit einem lauten Knarren mitgeteilt. Der Blick aus dem Fenster ging auf einen Strauch unmittelbar davor. Er wucherte wild vor sich hin. Eigentlich war sie unsicher, ob es überhaupt ein Ziergewächs oder nur irgendwelches Unkraut war, welches sich ungehindert ausbreiten konnte. Draußen hatte es in der Zwischenzeit zu schneien begonnen, Schneeflocken schwebten langsam zu Boden. Eine landete an der Scheibe, rutschte langsam nach unten und wurde dabei immer kleiner. Dieser Tag war düster, dunkel – einfach zum im Bett bleiben.

Der dickliche Herr schlug seine Beine übereinander und das dadurch hervorgerufene Stuhlknarren holte Lene aus ihren Gedanken. Hierher, in diese Praxis, kamen Menschen, die mit sich oder ihrem Umfeld nicht zurechtkamen. Und nun gehörte sie auch zu dieser Gruppe. Wie hasste sie diese Besuche. Wenn ihr früher jemand gesagt hätte, dass sie eines Tages zu einem Nervenarzt gehen würde, so hätte sie denjenigen für verrückt erklärt. Sie – die sich immer alleine aus jedem Schlamassel holte und die Sorgen einfach weglachte.

Doch vor nunmehr zwei Jahren war ihre kleine heile Welt zusammengebrochen. Dieser Zusammenbruch kam ganz plötzlich und hatte sogar einen Namen, er hieß Kanita. Kanita war sozusagen ein Reisemitbringsel ihres Mannes Thomas, aus Thailand. Er war als Mitarbeiter für einen Motorenhersteller tätig und bereiste in seiner Funktion den halben Globus. Man konnte es auch so sagen: Über die Hälfte des Jahres gondelte ihr Mann irgendwo in der Weltgeschichte rum. Thomas war 45, also drei Jahre älter als sie, groß, schlank, mit einem leichten Bauchansatz, die meisten Menschen überragte er. Dennoch war er nichtssagend, das dachte sie immer wieder. Dunkle Haare, kurz geschnitten, wässrige Augen, Gesichtszüge, die sich niemandem einprägten, nur wenige Falten, nicht mal Lachfalten. Für einen Phantombildzeichner war er sicher der absolute Horror, ohne irgendeine Eigenheit an sich. Er war ein äußerst ehrgeiziger Mensch und hielt sich selbst für absolut unersetzbar. Wenn ein neues Projekt anstand, hob er seinen Arm ganz weit nach oben. Früher in der Schule hätten die anderen Mitschüler »Streber« gerufen. Seine Kollegen indes lehnten sich entspannt zurück und blieben zu Hause bei Frau und Kindern. Es war auch nicht so, dass Lene mit dieser Situation todunglücklich war. Im Gegenteil, im Laufe der Jahre hatte sie für sich selbst Strategien gefunden, mit dem Alleinsein umzugehen. Sie arbeitete stundenweise in einem großen Bekleidungsgeschäft und kümmerte sich ansonsten um Haus und Garten. Thomas, ihr Mann, liebte es aufgeräumt und so hielt sie ihren Haushalt penibel ordentlich, so sehr, dass man in allen Räumen am offenen Herzen operieren konnte. Der Garten war immer picobello in Schuss, Unkraut hatte keine Chance und der Rasen hätte jeden Wimbledonspieler neidisch gemacht. Die Rosen blühten, die Büsche waren akkurat geschnitten – ihre kleine heile Welt war perfekt.

Mehrere seiner Reisen führten Thomas nun in letzter Zeit nach Thailand und eines Tages kam er nicht allein zurück. Als Lene von der Arbeit kam, sah sie Thomas‘ Auto in der Einfahrt stehen – schön, dachte sie noch, er ist also schon zurück. Gedanklich ging sie ihren Hausstand durch und überlegte panisch, ob sie heute früh vor der Arbeit auch alles aufgeräumt hatte. Ihr Mann hasste nichts so sehr, als dass irgendwo etwas herumlag. Ewig würde er ihr dann wieder Vorträge halten. Es hätten ja plötzlich und unerwartet Gäste vor der Tür stehen können. Obwohl schon seit längerer Zeit keinerlei Besuch mehr zu ihnen kam. Seine komische Art, immer im Mittelpunkt stehen zu wollen, hatte alle in die Flucht geschlagen. Die Menschen, die sie selbst mochten, trafen sich mit ihr lieber allein auf neutralem Gelände.

Beim Betreten ihres Wohnzimmers fiel ihr Blick zuerst auf eine junge Frau – eine sehr junge Frau, die auf der Couch saß. Sie war etwa Anfang zwanzig, trug ein buntes Kleid und ziemlich hohe Schuhe. Ihre langen Haare waren schwarz und im Nacken zu einem kunstvoll lockeren Knoten aufgesteckt. Ihre mandelförmigen Augen waren noch schwärzer und schielten verstohlen in ihre Richtung. Sie hatte klassische Gesichtszüge mit sorgfältig modellierten Augenbrauen und einem sinnlichen Mund – Kusslippen, die irgendwie ein wenig unecht wirkten. Mit ihrem asiatischen Aussehen wirkte sie auf der hellen Ledercouch irgendwie deplatziert. Man erwartete, dass sie jeden Moment aufspringen und ihnen mit einer devoten Verbeugung Tee in Porzellanschalen servieren würde. Bei ihrem Näherkommen senkte sie sittsam den Blick und fixierte ihre knallrot lackierten Fußnägel.

Lenes zweiter Blick fiel auf ihren Mann, der sichtlich nervös aufsprang und mit ausgebreiteten Armen geradezu euphorisch auf sie zukam. »Lene, na, wie war dein Arbeitstag?«

Diese Frage war ein weiteres Indiz dafür, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Denn im Allgemeinen hatte sich Thomas in all den Jahren noch nie für ihr Berufsleben interessiert. Er hielt es für vollkommen überflüssig, dass sie überhaupt arbeiten ging, immerhin verdiente er ja genug. Jedes Jahr rechnete er ihr aufs Neue vor, dass ihre Tätigkeit ihnen so gar keinen steuerlichen Vorteil brachte. Trotzdem war ihre Arbeit der einzige Punkt, an dem sie nicht nachgegeben hatte. Eisern hielt sie daran fest – egal, was er sagte.

Lene antwortete nicht auf seine Frage, sondern sah nur unsicher an ihm vorbei zu der kleinen Asiatin auf ihrer Couch. Hinter dem Rücken ihres Mannes hob diese ihren Blick vom Boden und schaute ihr unergründlich ins Gesicht. Zunächst konnte Lene den Ausdruck in ihren Augen nicht deuten, dann erkannte sie, dass es Triumph war. Jawohl, dieses kleine Luder sah sie triumphierend an.

Lene schaute ihren Mann entgeistert an und deutete nur stumm mit einem Kopfnicken in die Richtung seiner Begleitung. Thomas, der stets überaus sprachgewandt war, rang sichtlich um Worte und Schweiß trat auf seine Stirn. »Ach so, das meinst du«, sagte er, als ob sie irgendeine Topfpflanze ansah. »Also, das ist Kanita, ich hatte dir, glaube ich, von ihr erzählt.«

Lene nickte, er hatte ihr tatsächlich von Kanita erzählt – er hatte eigentlich nach seiner letzten Reise eine Zeitlang ununterbrochen nur von ihr gesprochen, Kanita hier und Kanita da. Sie arbeitete wohl in dem Hotel, in welchem er abgestiegen war. Auch, dass er mit ihr Essen gegangen war, hatte er berichtet und dass sie sehr gebildet war. Lene wusste, dass solche Einladungen durchaus üblich waren. Jeder Gast erhielt vom Gastgeber sozusagen eine Tischdame für die Zeit seines Aufenthaltes. Was er darüber hinaus mit ihr tat, hatte sie eigentlich nie wissen wollen. Warum auch – er war weit weg und sie hier. Warum sich schlaflose Nächte bereiten? Irgendwann ging das vorüber und er reiste wieder in andere Gegenden.

Thomas lachte nervös. »Ja, lange Rede, kurzer Sinn. Der Familie von Kanita geht es schlecht, sogar sehr schlecht, ihre Mutter ist krank …und ihr Vater auch. Du glaubst ja gar nicht, was eine medizinische Behandlung in Thailand kostet. Und da, wo sie arbeitet, verdient sie ja kaum etwas. Die Tourismusbranche zahlt so wenig …« Kummervoll schaute er sie an.

Lene kannte die Höhe der Behandlungspreise oder Löhne nicht und es war ihr ehrlich gesagt auch völlig schnurz. Bis jetzt erschloss sich ihr noch in keinster Weise, was diese Frau nun eigentlich bei ihnen zu Hause suchte und was Thomas und sie mit deren kranken Eltern zu schaffen hatten.

»Jedenfalls habe ich während der letzten Tage viel mit Kanita über dieses Thema gesprochen und wie es hier bei uns in Deutschland so aussieht. Hier verdient man ja viel mehr und hat als Frau auch ganz andere Chancen. Deswegen habe ich Kanita mitgebracht. Sie könnte doch zum Beispiel hier bei uns arbeiten, dir im Haushalt oder im Garten helfen und auf diese Art ein wenig ihre Familie unterstützen. Wir haben doch das freie Gästezimmer. Nun, das könnten wir beide doch ganz hübsch für sie herrichten, dachte ich.« Etwas atemlos, aber sichtlich erleichtert beendete ihr Mann seine Ausführungen und schaute sie erwartungsvoll an.

Nun musste Lene sich doch setzten. Der freche Blick dieser Frau und der treudoofe Gesichtsausdruck ihres Gatten waren zu viel für sie. Irgendwie begriff sie nicht so ganz, was ihr Mann jetzt von ihr wollte. »Ähm, mir helfen, im Haushalt oder im Garten? Wir haben ein 150-Quadratmeter-Haus und ein Grundstück mit 900 Quadratmetern, keine riesige Villa, wo ich irgendwelche Dienstboten benötige. Ich gehe nur halbtags arbeiten und bewältige meine Aufgaben noch ganz gut allein, oder etwa nicht?«

Ihr Mann rang sichtlich nach Worten, vermutlich hatte er erwartet, dass sie ganz in der Art des naiven Weibchens zu allem Ja und Amen sagen würde, so wie sie es in den ganzen letzten Jahren getan hatte. »Lene, mein Gott, da hast du eben mehr Zeit für dich … oder wir für uns. Stell dir einfach mal vor, Kanita würde sich hier um alles kümmern. Nun, das hätte doch einen Haufen Vorteile für dich …« Nun lag schon eine gewisse Ungeduld in seinen Worten, angesichts der Begriffsstutzigkeit seiner Frau.

Er erläuterte ihr noch mehr Vorzüge, die sich mit dem Einzug der jungen Asiatin für sie ergeben würden, doch Lene hörte schon nicht mehr zu. In ihrem Kopf rasten die Gedanken wie Pingpongbälle hin und her und zwar so schnell, dass sie sie nicht mehr erfassen konnte. Sie schwirrten von oben nach unten und von hinten nach vorn. Doch so langsam dämmerte es ihr. Wenn sie das eben Gesagte richtig verstand, hatte ihr Mann seine Geliebte aus Thailand mitgebracht – denn sie wusste nicht, als was sie die Frau sonst bezeichnen sollte. Nun erwartete er von ihr, dass sie zu dritt glücklich unter diesem Dach leben würden. Und als wäre das nicht schon genug, erwartete er auch noch, dass sie diesem kleinen Luder ein gemütliches Zimmer einrichten würde. Wobei Luder, na ja, diese Frau war ganz sicher nicht dumm, ihr hatte sich eine Gelegenheit in Form ihres eitlen und von sich überzeugten Mannes geboten und sie hatte mit beiden Händen fest zugegriffen. Warum auch nicht, wenn man so eine Chance auf dem Silbertablett serviert bekam.

Plötzlich schien es ihr, als wäre sie mit eiskaltem Wasser übergossen worden, so wie die ganzen Promis in letzter Zeit, bei dieser komischen Challenge. Schlagartig war sie wach und voll da. Lene überlegte fieberhaft, was sie nun tun wollte. Da tauchte der rettende Gedanke plötzlich wie eine Leuchtreklame vor ihr auf: Es ist vorbei, jetzt ist endgültig Schluss. Was habe ich alles mit mir machen lassen, doch nun geht es nicht mehr, ich werde gehen.

Lenes Blicke schweiften durch den Raum. Woran in diesem Haus hing ihr Herz, welche Dinge musste sie gleich einpacken und welche konnten später geholt werden? Denn zusammen mit dem Schock über das eben Gehörte stellte sich sofort ein Gefühl der Erleichterung ein. Eigentlich war der Schock gar nicht so groß, im Gegenteil. Vielleicht war dies die Chance ihres Lebens, noch einmal von vorn anzufangen, wie es einige der Heldinnen in ihren Lieblingsromanen getan hatten. Sagte man nicht, in jedem Ende stecke ein neuer Anfang? Sicher konnte sie ein paar Nächte bei ihrer besten Freundin Moni schlafen, auf jeden Fall würde sie hier keine Minute länger bleiben.

Sie fixierte die großen Terrassentüren, stierte sie geradezu an und ließ Thomas reden und reden. Was er sagte – keine Ahnung, es war ihr egal. Die Möbel – die Ledercouch hatte sie von Anfang an gehasst, im Sommer blieb man mit seinen Beinen kleben und im Winter war es überaus kalt am Hintern. Die weißglänzende Küche – sehr schick, aber schwierig zu transportieren, er wollte sie damals haben und sie putzte sich nach jedem Kochen halb tot. Die Fotos – die konnte er behalten, meist war sowieso nur er drauf, da sie ja immer fotografieren musste. In den Urlaub waren sie dorthin gefahren, wo er hinwollte und hatten das getan, wofür er sich interessierte. Der Schmuck – die wenigen Stücke, die er ihr ganz am Anfang geschenkt hatte, konnte er seiner neuen Hausangestellten um den Hals hängen. Sicher war er auch nichts wert und hatte ihr eigentlich noch nie gefallen. Bis zuletzt hatte er nie verstanden, was ihr eigentlich gefiel. Also blieben nur ihre persönlichen Sachen, wie Kleidung und natürlich ihre Bücher. Die musste irgendjemand anderes holen, denn an ihren Büchern hing ihr ganzes Herz. Wie hatte er sich immer über sie lustig gemacht. »Du mit deiner Leserei, andere Frauen spielen Tennis oder Golf.« Doch wenn sie ein Buch zur Hand nahm, konnte sie in eine andere Welt flüchten, ganz wie es ihr beliebte. In dieser anderen Welt waren die Frauen selbstbewusst und nahmen ihr Leben in die Hand. Genau das würde sie jetzt machen.

Einige Minuten später erhob sie sich mechanisch und ging wortlos an ihm vorbei nach oben. Thomas schaute sie verdutzt an. Vielleicht kannte er sie so nicht, vielleicht dachte er auch sie wäre übergeschnappt und folgte ihr daher misstrauisch auf dem Fuß. Hatte sie doch immer nachgegeben und sich stets nach seinen Wünschen gerichtet. Es war also vorbei, nach zwanzig Jahren war es vorbei, vermutlich hatte sie das Ende schon lange verdrängt, doch nun war es da. Im Ankleidezimmer holte sie Taschen herbei, öffnete ihren Kleiderschrank, räumte ihn wahllos aus und warf die Sachen einfach irgendwie in den Koffer. Die ganze Zeit begleitete sie die Stimme ihres Mannes, er redete unablässig auf sie ein und sprang neben ihr auf und ab.

Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild, sie war 42, wurde aber von den meisten jünger geschätzt. Dunkle Haare umrahmten ein rundliches Gesicht, deswegen trug sie sie etwas länger, konnte man doch damit angeblich runde Wangen kaschieren. Während der Hausarbeit steckte sie die dunklen Strähnen meist mit einer Spange nach oben. Ihre Figur war birnenförmig, schmale Schultern, ein normaler Busen und breite Hüften – fraulich, würde man wohl sagen. Sie war nicht klein und nicht groß – durchschnittlich eben, so wie die meisten. Am besten gefielen ihr ihre schlanken Beine, sie trug gerne knielange Röcke und setzte die schlanken Fesseln in Szene. Und natürlich ihre Augen! Sie strahlten in einem unergründlichen Grünton. Katzenaugen sagte ihre Freundin Moni immer zu ihr. Dann waren da noch die kleinen Grübchen und die zarten Lachfalten, die sich wie ein Spinnennetz neben ihren Augen spannten. Sie lachte gern, dann zeigte sie ihre weißen Zähne mit der kleinen Lücke genau in der Mitte der oberen Zahnreihe. Alles in allem empfand sich Lene als eine äußerst normale Frau. Die interessierten Blicke anderer Männer nahm sie schon lange nicht mehr wahr. Doch heute fühlte sie sich noch älter. Im Spiegel tauchten plötzlich tiefe Falten auf, an Stellen, wo noch nie welche gewesen waren.

Lene schleppte einen Koffer nach dem anderen zu ihrem Auto und stopfte sie so gut es ging hinein. Das war bei ihrem Kleinwagen nicht so einfach und die zuletzt gepackte Reisetasche wollte einfach, so sehr sie auch drückte und schob, nicht mehr hineingehen. Achselzuckend ließ sie sie mitten im Garten fallen. Thomas verfolgte jeden ihrer Schritte misstrauisch, noch immer redete er ununterbrochen auf sie ein. Dann griff sie nach ihrer Jacke und ließ ihren Mann mitten in der Einfahrt einfach stehen. Sie warf noch einen letzten Blick in den Rückspiegel, seinen Gesichtsausdruck würde sie wohl ihren Lebtag nicht mehr vergessen.

An der nächsten Straßenecke begegnete ihr zufällig der Wagen ihrer Schwiegereltern. Verblüfft sahen sie sie an und hoben die Hand zum Gruß, doch Lene fuhr ohne irgendeine Reaktion weiter. Sie hatte ihnen zwanzig Jahre lang nie etwas recht machen können, nun konnten sie sich über eine neue Schwiegertochter freuen. Obwohl, das Gesicht ihrer überpeniblen Schwiegermutter angesichts der Neuigkeiten hätte sie trotzdem gerne gesehen.

Moni, Lenes beste Freundin, ihr Fels in der Brandung, nahm sie mit offenen Armen auf. Beide kannten sich schon seit der gemeinsamen Schulzeit. Moni war seit vielen Jahren überzeugter Single und hatte immer wieder versucht, Lene aus ihrer Ehe herauszuholen.

»Waaas, eine Asiatin, ich fasse es nicht«, erwiderte Moni auf Lenes Schilderung. »Die ist sicher nicht so doof wie du die ganzen Jahre. Die wird ihm schon zeigen, wo der Frosch die Locken hat. Trotzdem bin ich echt stolz auf dich, ich glaube du hast einen guten Abgang hingelegt. Und hey, wie oft hab ich dir gesagt, verlass ihn, da kann nur was Besseres kommen.«

Lene war immer noch zwischen Begeisterung über das eben Geschaffte sowie einem gewissen Angstgefühl vor der Zukunft hin- und hergerissen und schaute äußerst skeptisch drein. Dennoch tat Monis Zuspruch gut. »Ja, ich weiß, du hast es mir immer wieder gesagt, aber glaub mir, so einfach ist das nicht. Vor allem, was mach ich denn jetzt, wo soll ich denn hin? Meine Eltern fallen schon mal raus, denen muss ich das schonend beibringen, die trifft vermutlich der Schlag.«

Doch eine Lösung war erstaunlich schnell gefunden. Moni bot ihr an, so lange bei ihr zu wohnen, bis sie eine eigene Wohnung hatte. Das Zusammenleben gestaltete sich allerdings schwieriger als gedacht. Zu sehr schlug der jahrelang antrainierte Ordnungsfimmel bei Lene durch. Ständig räumte sie hinter Moni her, diese fand nichts mehr und war dementsprechend genervt. Las Lene entspannt ein Buch, warf ihre Freundin irgendeine CD in die Stereoanlage und tanzte bei ohrenbetäubendem Lärm durch die ganze Wohnung. Wenn die beiden sich vornahmen, etwas zusammen zu kochen, glich die Küche hinterher einem Schlachtfeld, da Moni für jeden Arbeitsgang neue Utensilien benutzte.

Ihre Freundschaft wurde in diesen Tagen auf eine harte Probe gestellt. Lene wurde schnell klar, dass dies nur eine Notlösung war, die in ihrer beider Interesse möglichst schnell ein Ende finden musste.

Die Wohnungssuche war gar nicht so einfach, denn kleine und bezahlbare Wohnungen waren knapp. Fast täglich studierte sie die Anzeigen im Internet oder in der Zeitung, doch immer kam sie zu spät oder es waren zu viele Bewerber. Schließlich kam ihr einer dieser berühmten Zufälle zu Hilfe. Morgens beim Bäcker hörte sie ein Gespräch mit an. Eine Frau wollte umziehen und suchte eine Nachmieterin, die auch einige ihrer Möbel mit übernehmen könne. Lene fasste sich ein Herz und sprach die Frau an. Gleich am Abend konnte sie die Wohnung besichtigen, sie war einfach perfekt für sie. Klein, gemütlich und die Möbel entsprachen genau ihrem Stil. Schon zwei Wochen später konnte sie einziehen. Ihre Wohnung richtete sie genauso ein, wie sie es schon immer gewollt hatte. Ihre Bücherregale fanden einen tollen Platz (die gute Moni musste dran glauben und die Bücher in ihrem alten Zuhause einpacken). Sie kaufte sich noch einen gemütlichen Lesesessel und ihre Bibliothek, wie sie scherzhaft sagte, war komplett.

Als Nächstes fragte sie ihren Chef, ob sie Vollzeit arbeiten könne und er stimmte dem sofort zu, einfach weil sie eine sehr gute Verkäuferin war. Dadurch stand sie finanziell auf eigenen Beinen und hatte den ganzen Tag etwas zu tun. Jeden Morgen fuhr sie mit ihrem neugekauften Fahrrad zur Arbeit. Da sie nun viel näher an der Innenstadt wohnte als vorher, brauchte sie das Auto nicht mehr und ihrer Figur schadete es auch nicht. Sie genoss jeden Tag ihre neue Unabhängigkeit und war über sich selbst erstaunt, denn sie kam über die Trennung sehr gut hinweg. Sie fühlte nur noch pure Erleichterung in sich und fragte sich des Öfteren, warum sie diesen Weg nicht eher gegangen war. Anfangs musste sie zwar noch ab und zu an Thomas denken, doch sein Bild verblasste mehr und mehr.

Dann eines Tages trudelte ein dicker Brief bei ihr ein, mit dem Absender eines Anwalts. Thomas wollte die endgültige Trennung und sie hatte kein Problem damit. Auf den Rat ihrer Freundin hin suchte sie sich trotzdem einen Rechtsbeistand. Dieser rechnete ihr erst einmal vor, welche Zahlungen sie pro Monat von ihrem Nochmann erwarten konnte. Die schiere Summe dessen, was ihr zustand, verschlug ihr dann doch die Sprache. Dass ihr Mann so viel verdiente, war ihr nicht bekannt gewesen. Kleinlich und geizig, wie er war, legte er jedoch immer neue Berechnungen und Klagen vor, um die Unterhaltssumme möglichst klein zu halten. Am Ende verzichtete sie auf das meiste, auf die Aktien und auf Gelder, die ihr Mann irgendwo gebunkert hatte. Sie ließ sich nur die Hälfte des Hauswertes von ihm auszahlen. Ihr Anwalt tobte zwar und versuchte sie vom Gegenteil zu überzeugen, doch Lene war fest entschlossen und wollte nur noch einen Schlussstrich unter diesem Kapitel ihres Lebens ziehen.

Der Tag der Scheidung war ein verregneter Freitag. Lene parkte ihr Auto auf dem großen Parkplatz vor dem Gericht und lief zum Gebäude. Sie hatte sich extra für diesen Anlass ein äußerst farbenfrohes Kleid gekauft, es stand ihr unglaublich gut, musste sie selbst zugeben. Dabei kam sie auch an einer schwarzen Limousine vorbei, in der eine Frau saß. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie Kanita, die vor dem Gericht wartete. Gedankenversunken tippte diese auf ihrem Handy herum und nahm die Umgebung gar nicht wahr. Das Auto war neu und diese protzige Karosse passte irgendwie perfekt zu den beiden. Thomas fing Lene im Vorraum ab, schaute sie verblüfft von oben bis unten an und versuchte, ihr irgendwas zu erklären. Sie ließ ihn stehen und ging ihrem Anwalt entgegen. Zu lange hatte sie sich seine Reden angehört. Er trug einen albernen Haarschnitt und Kleidungsstücke, die überhaupt nicht zu ihm passten. Lene musste sich ein Grinsen verkneifen, so sehr versuchte er, auf jugendlich zu machen. Wenn sie ehrlich war, sah er nun noch älter aus als vorher. Der ganze Akt dauerte eine halbe Stunde und dann war sie frei. Der Richter hatte ihr genau die Summe zugesprochen, die sie haben wollte und ihren Exmann mehrfach wegen seines ununterbrochenen Dazwischenredens in die Schranken gewiesen.

Am Abend lud Lene Moni in eine schummrige Bar ein, beide köpften eine Flasche Sekt nach der anderen und ließen es sich so richtig gut gehen. Immer wieder musste Lene Thomas‘ Auftritt vor Gericht schildern.

»Und wie trug er die Haare?«, fragte ihre Freundin noch einmal nach.

Lene konnte vor lauter Lachen kaum noch richtig reden. »Na, irgendwie so nach hinten gegelt, er sah aus wie ein Mitglied einer älteren Boygroup. Und dann hatte er ausgewaschene Flickenjeans an. Kannst du dir das vorstellen? Flickenjeans! Früher ging er mit seinem Anzug sogar zu Gartenpartys.«

»Na ja«, sagte Moni trocken. »Wenn man sich so ‘ne junge Schickse nimmt, kann man ja nicht aussehen wie deren Vater.«

Beide prusteten ihren Sekt fast über den Tisch.

»Nun muss er sicher auch spontan sein, also zumindest ein ganzes Stück spontaner als früher. Hach ja, ich wäre gern mal Mäuschen, besonders wenn Schwiegermutter kommt. Die war ja schon immer für asiatische Küche zu haben.« Beide lachten so schallend, dass die Leute an den anderen Tischen zu ihnen herüberschauten.

Lene hatte einmal zu einem Geburtstag Frühlingsrollen als Vorspeise zubereitet. Ihrer Schwiegermutter war fast die Gabel aus der Hand gefallen, denn sie aß nur das, was sie immer schon gegessen hatte und nichts anderes. Es musste eine Suppe geben – wie bei ihr immer und sie musste auch genau wie bei ihr schmecken, was Lene eh nie gelang. Monatelang machte sie ihr deswegen Vorhaltungen und erzählte allen von ihrer unfähigen Schwiegertochter. Lene lächelte bei dem Gedanken an dieses Erlebnis, dieser Lebensabschnitt lag nun endgültig hinter ihr.

Später am Abend tanzten Moni und Lene zu den Liedern ihrer Jugend. Lange hatte Lene schon nicht mehr so die Sau rausgelassen. Als die Rhythmen in ihrem Bauch wummerten, fühlte sie sich glücklich und befreit. Sie trug ihr neues Kleid, warf die Arme nach oben, ihre dunklen Haare flogen und sie ließ die gesamten angestauten Emotionen der letzten Jahre einfach los. Die äußerst interessierten Blicke der anwesenden Herren schien Lene nicht zu bemerken, aber Moni sah sie sehr wohl und grinste still in sich hinein.

2. Kapitel

Alles lief gut, bis zu dem Tag, an dem sie Kanita durch Zufall im Supermarkt traf. Lene wollte nur noch ein paar Kleinigkeiten für das Wochenende besorgen, ihre Eltern hatten sich zum Essen angekündigt. Immer wieder auf ihren Merkzettel schauend, irrte sie durch die Gänge. Es war ihr ein Rätsel, warum Geschäfte jeglicher Art immer wieder so umräumten, dass niemand mehr das Geringste fand. Da, wo vor kurzem noch der Käse in der Auslage gelegen hatte, präsentierte sich heute ein buntes Potpourri von Dosengerichten. Es war wie bei einer Schnitzeljagd. Eigentlich ging sie sonst woanders einkaufen, hatte sich aber entschieden hierher zu gehen, weil alles, was sie wollte, unter einem Dach zu bekommen war.

Plötzlich sah sie sie – Kanita, rund und hochschwanger watschelte sie schwerfällig mit ihrem dicken Bauch am Kühlregal entlang. Lene versteckte sich hinter einem Stapel Gewürzgurken und beobachtete die kugelrunde Asiatin. Kein Zweifel, sie war es wirklich. Von Zeit zu Zeit fasste die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ans Kreuz, während sie sich nach irgendwelchen Joghurtbechern bückte. Lene konnte es nicht glauben, die ganzen Jahre hatte sie sich ein Kind gewünscht, immer war Thomas dagegen gewesen. »Ich will einfach kein Kind, ich mag keine Kinder, das musst du einfach akzeptieren. Kinder machen Stress und Unordnung – wir beiden allein, das ist doch viel schöner.« Anfangs hatte sie noch versucht ihn umzustimmen, um ihm deutlich zu machen, wie sehr sie sich ein Kind wünschte. Sie brachte alle möglichen Argumente vor, flehte, bettelte, schlug ihm vor, dass er aus der ganzen Arbeit herausgehalten werden würde. Doch er blieb bei seiner Meinung und irgendwann, viele Jahre später, fügte sie sich. Ab einem gewissen Zeitpunkt war man dann einfach zu alt für solche Sachen. Vielleicht hätte es auch gar nicht geklappt, mit solchen Gedanken tröstete sie sich. Und nun bekam die Andere ein Kind, sie bekam das, was sie sich die ganzen Jahre so sehr gewünscht hatte.

Lene wusste später nicht mehr, wie sie vom Supermarkt nach Hause gekommen war. Sie wusste nur, dass ihr Einkaufskorb leer war und sie sagte ihren Eltern ab. Mit dieser Begegnung geriet ihr neues Leben aus den Fugen, ihre Gedanken kreisten nur noch um ein Thema. Überall, wo sie ging und stand, gab es Schwangere oder Mütter mit Kinderwagen. Wo waren die vorher gewesen oder waren sie ihr nur nicht aufgefallen? Nachts konnte sie nicht mehr schlafen, die Gedanken fuhren Karussell und sie fand einfach keine Ruhe. Morgens war sie todmüde und kam kaum aus dem Bett. Sie stand stundenlang unter der kalten Dusche und wurde trotzdem nicht munterer. Bei den kleinsten Problemen brach sie in Tränen aus. Ihr Chef getraute sich kaum noch, etwas zu sagen und ihre Kollegen behandelten sie wie ein rohes Ei oder gingen ihr lieber gleich aus dem Weg. Dann kamen wie aus dem Nichts Gedanken an den Tod, alle Sorgen wären mit einmal vorbei. Jetzt einfach gegen einen Pfeiler fahren und schwupps, wären keine Schwangeren mehr auf ihrem Bildschirm. Sich von diesem Hochhaus fallen lassen. Wenn sie unten aufschlug, würde sie sicher schon nichts mehr spüren. An diesem Punkt schrillten ihre Alarmglocken und zwar so laut, dass sie nicht mehr zu überhören waren. Lene zog selbst an der Reißleine und ging zum Arzt.

Ihre größte Angst war, langsam aber sicher überzuschnappen. Der Arzt führte ein langes, ausführliches Gespräch mit ihr und ließ sich alle Symptome gefühlt zwanzig Mal schildern. Dann nickte er voller Verständnis und zückte seinen Rezeptblock. Ihr schien es so, als würde er für alles Verständnis aufbringen. Selbst wenn ein mehrfacher Massenmörder vor ihm saß, würde er sicher noch voller Zustimmung nicken. Er verschrieb ihr blaue Pillen, damit sie besser schlafen konnte, und rote, um den Tag kraftvoll und ausgeruht in Angriff nehmen zu können. Es war ein komisches Gefühl, sie lebte in ihrer kleinen Welt und fühlte sich ein bisschen, als würde sie auf Wolken oder in einem permanenten Nebel leben. Sie ging ihrer Arbeit nach und Schwangere sowie Frauen mit Kinderwagen waren auf einmal ganz weit weg.

Leider hatten diese Tabletten eine äußerst unangenehme Nebenwirkung. Gut, Lene war noch nie in ihrem Leben rank und schlank gewesen. Thomas hatte diese Rundungen auch immer an ihr gemocht, zumindest anfangs. Dann später, legte er ihr irgendwelche Broschüren von Fitnessclubs oder zwielichtigen Abnahmemitteln auf den Frühstückstisch. Manches probierte sie auch aus, nahm eine Weile ab und nach einer Weile wieder zu. Er meinte immer, dass nur ihr schwacher Wille an allem schuld sei und seufzte sehnsuchtsvoll angesichts dürrer Frauen, die im Fernsehen zu sehen waren.

Aber nun zeigte die Waage mehr und mehr an. Sie reduzierte ihr Essen, versuchte verzweifelt nach Feierabend Sport zu treiben, fuhr auf dem Nachhauseweg riesige Umwege. Doch es half alles nichts, der Zeiger der Waage ging unaufhörlich nach oben. Irgendwann kapitulierte Lene. Das Thema Männer war eh abgehakt, also was sollte es. Sie war eben, wie sie war und das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Sie aß so wie früher, gönnte sich ihre geliebte Schokolade und auch mal ein Stück Kuchen. Komischerweise stagnierten ihre Kilos genau an diesem Punkt. Sie nahm zwar nichts ab, zum Glück aber auch nichts mehr zu. Als hätte ihr Körper ihr Einsehen gebraucht und nun sollte es gut sein. Ihre Garderobe stellte sie um, auf eher sackartig fallende, voluminöse Oberteile und bequeme Hosen mit Gummibund. Alles in dezenten Naturtönen, dass man nicht mehr so auffiel. Da konnte man zur Not auch mal ein Stück Kuchen mehr essen. Die wenigen körperbetonten, bunten Kleidungsstücke, die sie noch besaß, verbannte sie zusammen mit den hochhackigen Schuhen ganz an das Ende ihres Kleiderschrankes, zusammen mit ihren Träumen und Wünschen.

Nach einem halben Jahr schickte ihr Neurologe sie noch zusätzlich zum Psychologen. Er meinte, ausführliche Gespräche über ihre Situation würden ihr sicher guttun und sie ein ganzes Stück voranbringen. Das größte Problem war es aber, überhaupt einen Psychologen zu finden. Alle Praxen wiesen sie ab mit der Begründung, vollkommen überfüllt zu sein. Seltsam, nie hatte sie gedacht, dass so viele Menschen zu einem Seelenklempner rannten.

Nach langer Suche fand sie dann doch einen und ging ohne jegliche Erwartungen zu ihrem ersten Termin. Dass bei ihm relativ schnell Termine zu bekommen waren, hätte ihr allerdings zu denken geben müssen. Der Psychologe hieß Stefan Sack und leider war nicht nur sein Name zum Lachen. Stefan Sack betrieb seine Praxis in einem etwas heruntergekommenen Haus. Alles wirkte leicht eigenartig und auch die Menschen, denen sie im Treppenhaus begegnete, trugen nicht dazu bei, sich wohler zu fühlen. Herr Sack war einer der seltsamsten Menschen, die sie jemals kennengelernt hatte. Er hatte schütteres Haar, was er in langen Strähnen mit reichlich Haarspray von einer Seite seines Kopfes bis auf die andere legte und dann fixierte. Vermutlich wollte er damit den Eindruck vollen Haares vermitteln, es sah aber eher aus, als ob er einen Helm auf dem Kopf trug. Sein Alter war einfach undefinierbar, er konnte vierzig, aber auch schon sechzig sein. Sollte man ihn mit einem Wort beschreiben, wäre der Begriff schwammig sicher am besten gewählt gewesen. Sein Körper wirkte aufgedunsen und jede Bewegung animierte ihn zu einem mühevollen Stöhnen. Er benutzte stets ein äußerst aufdringliches Parfüm. An manchen Tagen atmete Lene während der gesamten Sitzung ausschließlich durch den Mund. Irgendwie erinnerte er sie immer an Obelix, allerdings in einer ziemlich unangenehmen Variante. Er trug stets dunkle Anzüge mit farbenfrohen, kitschigen Krawatten und lebte allein, wie er ihr schon nach kürzester Zeit erzählte.

Als er ihr zum ersten Mal die Hand zur Begrüßung gab, zuckte sie vor seinen schweißnassen Händen zurück. Von da an vermied sie es irgendwie, ihn per Handschlag zu begrüßen. Am schlimmsten aber war, dass es eigentlich die ganze Zeit mehr um ihn als um sie ging. Egal, was sie ansprach, Sack konnte aus seinem eigenen Leben dazu etwas beitragen. Wenn man es genau nahm, hätte vermutlich eher er auf irgendeine Couch gehört und sie ihm Geld für Therapiestunden berechnen können. Am Anfang sprachen sie in Einzelsitzungen miteinander. Er hörte sich anfangs ihre Probleme verständnisvoll nickend an, kam dann aber lieber wieder auf seine eigene Person zu sprechen. Nach kurzer Zeit schlug er ihr eine seiner zweimal monatlich stattfindenden Gesprächsrunden vor. Lene und drei wildfremde Menschen sollten sich gegenseitig Mut zusprechen und über ihre Erfahrungen berichten.

Sie saßen in einem kleinen muffigen Zimmer im Kreis und jeder war einmal an der Reihe, über sich zu reden. Lene war froh, dass zwei der Teilnehmer ein unglaubliches Mitteilungsbedürfnis hatten, so brauchte sie selbst über sich kaum etwas erzählen. Die dritte Frau im Bunde war ähnlich schweigsam wie sie und sie verstanden sich sofort auch ohne Worte. Manchmal gingen sie nach den Treffen noch einen Kaffee trinken und im Laufe der Zeit wurde sie zu einer guten Freundin, mit der sie über alles reden konnte. Sie hatte eine ähnliche Geschichte wie Lene hinter sich, allerdings mit dem gravierenden Unterschied, dass sie schon 65 Jahre alt war, als ihr Mann sich wegen einer Jüngeren von ihr trennte.

Im Endeffekt brachten ihr diese Sitzungen rein gar nichts, denn sie konnte sich in die Gedankenwelt der anderen nicht hineinversetzen und sie wohl auch nicht in ihre. Trotzdem ging sie brav zweimal im Monat hin, warum wusste sie eigentlich selbst nicht. Vielleicht war es Gewohnheit, vielleicht machte sie es auch, um festzustellen, dass auch andere ihre kleinen Sorgen hatten.

Und nun saß sie wieder in der Praxis ihres Neurologen und wollte sich ihr vierteljährliches Pillen-Rezept abholen. Eine furchtbar dürre Dame, Typ Barbie, in einem hellen Etuikleid betrat soeben nervös das Wartezimmer und setzte sich auf den freien Platz neben Lene. Sie trug hellblonde auftoupierte Haare und war dick geschminkt. Ihr Parfümgeruch war so stark, dass sie vermutlich eine ganze Flasche über sich verteilt hatte. Um ihren Hals waren mehrere Goldketten geschlungen. In einem Schwimmbad wäre sie ganz sicher unter Wasser gezogen worden. Sie sah aus wie eine amerikanische First Lady, es fehlte nur noch ein diskret an der Tür wartender Bodyguard. Nach wenigen Sekunden zuckte die Frau zusammen, durchwühlte hektisch ihre riesige Tasche und zog erleichtert ihren Schlüssel hervor. Zwei Minuten später begann das gleiche Spiel von vorn, nur schien sie diesmal ihre Geldbörse zu suchen.

Lene wusste kaum noch, wo sie hinblicken sollte und wurde von dem ständigen Gewühle selbst schon ganz nervös. So widmete sie ihre Aufmerksamkeit lieber den diversen Broschüren mit guten Tipps oder Therapiemöglichkeiten, die auf einem kleinen Tischchen in der Raummitte lagen. Wahllos griff sie sich eines der Heftchen und durchblätterte es oberflächlich. Das Bild einer Frau, etwa in ihrem Alter, sprang ihr schließlich ins Gesicht. Sie stand auf einer Terrasse und im Hintergrund sah man einen azurblauen See, der von hohen Bergen umgeben war. Das strahlende Lächeln der Frau faszinierte sie und die Bildunterschrift verriet ihr, dass es am Gardasee aufgenommen war. Die Überschrift des Artikels lautete: Es ist nie zu spät für einen Neustart. Interessiert begann Lene den Artikel zu lesen. Demnach litt die Frau auf dem Bild früher unter schweren Depressionen. Dann war sie nach Italien ausgewandert und erfüllte sich einen Lebenstraum. Sie eröffnete am Gardasee eine kleine Frühstückspension. Dieser Bruch mit ihrem alten Leben und der rigorose Neuanfang hatten die Depressionen vertrieben. Einfach noch einmal neu durchstarten, etwas Neues anfangen. Das klang toll und Lene fragte sich, ob sie dies wohl auch könnte. Gedankenverloren ließ sie die Broschüre sinken und starrte auf die gegenüberliegende Wand. Neu durchstarten, alles hinter sich lassen …

Die energische Stimme des Doktors und die irritierten Blicke der anderen mitwartenden Patienten rissen sie aus ihren Grübeleien. Mechanisch steckte sie das Heft in ihre Tasche und ging ins Sprechzimmer.

»Na meine Liebe, wir sind wohl heute nicht so recht bei der Sache, ich habe sie bestimmt schon dreimal aufgerufen.«

Erstaunt schaute Lene ihren Arzt an. Sie hatte ihren Namen gar nicht gehört, so war sie in diesen Artikel vertieft gewesen.

Gleich, als sie wieder zu Hause war, setzte sie sich an ihren Laptop und gab die in dem Artikel angegebene Adresse der Frühstückspension am Gardasee ein. Auf der Homepage der Pension Olivenhain sah man Aufnahmen vom Haus und der traumhaften Umgebung sowie eine kleine Vorstellung der Gastgeberin Ines Gerber. Irgendetwas faszinierte sie an dieser Frau und ihrer Geschichte. Ohne groß zu überlegen, klickte Lene auf das Feld der freien Unterkünfte. Sie sah, dass es insgesamt nur vier Zimmer gab und dass drei davon frei waren.

Nachdenklich klappte sie ihren Laptop zu und ließ sich ein Bad ein. Der Gedanke war einfach verlockend. Wann war sie das letzte Mal im Urlaub gewesen? Es war zu der Zeit, als sie noch mit Thomas zusammen gewesen war. Immer waren sie nur dorthin gereist, wohin er wollte. Er liebte es, den ganzen Tag an irgendeinem karibischen Strand in der Sonne zu liegen. Sie hasste diese Badeurlaube, da sie meist schon nach kurzer Zeit einen fürchterlichen Sonnenbrand hatte. Abends konnte sie sich dann kaum noch rühren und lag mit einem kühlenden Spray auf dem ganzen Körper abwechselnd frierend und schwitzend auf ihrem Bett, während ihr Mann die Nacht zum Tag machte. Thomas hatte für ihre Probleme keinerlei Verständnis und ihr Wunsch, man könnte sich doch auch einmal etwas von der Umgebung anschauen, wurde mit einem milden Lächeln abgetan. Aus seiner Sicht wollte jede Frau in die Karibik reisen, andere Orte dieser Welt, hatte er gar nicht auf seinem Schirm.

Seit der Trennung hatte sie ihre Urlaubstage mehr oder weniger abgebummelt, ohne sich groß Gedanken über irgendwelche Reiseziele zu machen. Sie hatte sich gar nicht vorstellen können, allein irgendwohin zu fahren, das hatte sie noch nie gemacht.

Italien – noch nie war sie dort gewesen. Freunde hatten ihr schöne Dinge berichtet, über Rom, Venedig oder Neapel. Lene nahm noch einmal die Broschüre zur Hand, die Bilder sahen einfach wunderschön aus. Warum sollte sie nicht einfach mal etwas Spontanes machen, etwas das sie noch nie getan hatte. Als sie endlich im schaumigen Badewasser lag, stand ihr Entschluss felsenfest. Gleich morgen früh würde sie mit ihrem Chef sprechen. Sie hatte fast noch den gesamten Urlaub vom letzten Jahr, zusammen mit dem für das jetzige kam eine ganz schöne Anzahl an Tagen heraus, Wenn sie wollte, könnte sie fast sieben Wochen Urlaub machen. Sicher kostete das eine ganze Stange Geld, doch da war immer noch der Betrag vom Hausverkauf. Bis jetzt hatte sie diesen einfach auf ihrem Konto liegen lassen und nicht angerührt. Lene schloss ihre Augen, sie konnte es sich schon so richtig vorstellen. Sie würde einfach das tun, was sie wollte. Sie könnte den ganzen Tag irgendwo sitzen und lesen, in irgendwelchen alten Burgen rumkrauchen, sich die Landschaft ansehen, durch alte verwinkelte Städtchen bummeln, ganz egal. Und sie würde sich das italienische Essen schmecken lassen.

Ihr Chef war am nächsten Morgen im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos oder sollte man eher fassungslos sagen? Er sah sie mit einem milden Lächeln an und dachte vermutlich, jetzt wäre sie total übergeschnappt. »Wieso das denn, vor allem jetzt? Könnten Sie nicht noch ein wenig warten?«

Doch diesmal blieb Lene hart, immer hatte sie sich beschwatzen lassen und war zurückgetreten. »Ich möchte meinen Urlaub nehmen und zwar komplett. Ich habe voriges Jahr auf fast alle Tage verzichtet. Jetzt bin ich mal dran, außerdem ist Anfang April, da ist hier eh nichts los.«

Das war ein Argument, was auf jeden Fall zu ziehen schien. Dennoch blätterte ihr Chef sorgenvoll in seinem Terminkalender und stöhnte leicht dabei. »Na ja gut, einverstanden. Es wäre zwar trotzdem schöner gewesen, wenn es nicht so plötzlich gekommen wäre, aber ich will mal nicht so sein. Und wann wollen Sie ihren Urlaub antreten?«

Lene holte tief Luft und sagte einfach nur: »Jetzt, jetzt sofort, ich würde am liebsten gleich nach Hause gehen, damit ich morgen fahren kann.«

Diese Mitteilung rief bei ihrem Boss eine Schnappatmung hervor und seine ansonsten blasse Gesichtsfarbe wechselte zu einem noch dunkleren Rot. Schließlich begann er aber anscheinend einzusehen, dass sie diesmal unter keinen Umständen nachgeben würde. Hektisch begann er, im Dienstplan zu blättern, nickte gnädig und sie schien aus dem Gespräch entlassen zu sein.

Lene lief beschwingt zu ihrem Spind und holte ihre Tasche heraus. Die hochhackigen Schuhe, die sie auf Arbeit immer tragen musste, flogen im hohen Bogen in den Schrank und sie holte ihre flachen Treter hervor. Ihre Freundin Moni kam in die Garderobe und war begeistert, als Lene ihr von ihrem Vorhaben berichtete.»Super, das Gesicht von dem Alten hätte ich ja mal sehen wollen. Aber du machst es ganz richtig. Wird Zeit, dass du mal rauskommst. Ich bin nur erstaunt, wie spontan du auf einmal bist.«

»Findest du mich zu spontan? Ich hab einen Artikel gelesen und binnen weniger Stunden den Entschluss gefasst.« Da waren sie wieder, die Ängste und Zweifel hockten wie dicke Vögel auf ihren Schultern.

Moni verdrehte ihre Augen. »So ein Quatsch, du fährst und basta. Bestimmt wird es ein toller Urlaub, ich hab da so ein Gefühl.«

»Nun musst du sicher einige Überstunden schieben. Das tut mir leid für dich!«

»Ach, nun mach dir darüber mal keinen Kopf, da sind auch noch andere da. Und wenn du in Italien einen Mann nach dem anderen aufreißt, denk auch mal an deine arme arbeitende Freundin hier in Deutschland. Vielleicht fällt für mich auch einer ab«, grinste Moni sie an.

Lene verdrehte ihre Augen, »Glaub mir, wenn ich eines ganz sicher nicht mache, dann ist das einen Mann suchen. Das ist vorbei – mein Bedarf ist bis ans Ende meiner Tage gedeckt.«

Auf dem Nachhauseweg radelte Lene noch zu einer Buchhandlung und kaufte sich zwei dicke Reiseführer über ihr Urlaubsziel. Außerdem fuhr sie in einen Elektronikmarkt und wollte ein Navigationsgerät kaufen. Anders traute sie sich den weiten Weg bis nach Italien nicht so recht zu. Bis jetzt hatte sie so etwas nie besessen, wofür auch. Die kurzen Strecken, die sie fuhr, waren ihr bekannt, da brauchte sie nicht einmal eine Karte. Hilflos irrte sie durch die Gänge des Elektonikmarktes. Ein junger Verkäufer rettete sie schließlich, legte sich gleich mächtig ins Zeug und bot ihr aufwendige Geräte an, bei denen sie kaum begriff, wie sie sie einschalten sollte. Etwas hilflos schaute sie auf die immer größer werdende Auswahl an Vorschlägen. Da nahte Rettung in Person eines etwas älteren Verkäufers, der schnell erkannt hatte, dass sie etwas Idiotensicheres brauchte, mit dem man einfach nichts falsch machen konnte. Er griff in das Regal hinter sich und holte ein schlichtes Gerät hervor, das nur einen Bruchteil der anderen kostete. Mit knappen Worten erklärte er die Bedienung, Lene war so erleichtert, dass sie ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre. Auf dem Weg zur Kasse fragte er: »Und, wo soll`s denn hingehen?«

Lene lachte ihm zu. »An den Gardasee, zum ersten Mal. Ich war noch nie dort, deswegen das Teil da. Eigentlich war ich noch nie mit meinem Auto im Ausland.«

»Oh, das wird ihnen bestimmt gefallen, schöne Gegend und gute Küche. Und der Weg ist wirklich nicht schwer, machen Sie sich keine Gedanken. Die Italiener sind sehr nett und gastfreundlich.«

Derart gewappnet machte sich Lene auf den Heimweg. Neugierig blätterte sie zu Hause die Reiseführer durch und ihre Aufregung wuchs noch mehr.

Gegen Abend wählte sie aufgeregt die Nummer der kleinen Pension in Malcesine. Nach längerem Klingeln meldete sich eine Frau: »Gerber, Pension Olivenhain.«

»Hallo Frau Gerber, mein Name ist Helene Stoll. Ich bin in einer Zeitschrift auf Ihre Pension gestoßen und wollte fragen, ob Sie ein Zimmer für mich frei hätten?«

»Oh, das freut mich. Das kommt als Erstes darauf an, wann Sie kommen und wie lange Sie bleiben wollen«, antwortete die Frau am anderen Ende.

»Am liebsten«, Lene holte tief Luft, »am allerliebsten morgen, wenn das geht. Und bleiben, ich weiß noch nicht so recht …«, stotterte sie und hielt auf eine Antwort wartend den Atem an.

»Und mit wievielen Personen kommen Sie?«, hakte Ines Gerber nach.

»Na ja, ich komme allein, also nur ich.«

Die Pensionswirtin lachte: »Ach na dann, für eine Person habe ich auf jeden Fall noch etwas frei. Und wie lange Sie bleiben, das entscheiden wir ganz einfach vor Ort.«

Lene fiel ein Stein vom Herzen, denn sie hätte nirgendwo anders hinfahren wollen. »Super, ich fahre morgen ganz zeitig los und denke, ich bin dann so gegen Abend bei Ihnen, wenn das okay ist?«

Ines Gerber lachte erneut. »Machen Sie sich bloß keinen Stress! Wann immer Sie kommen, ich bin da. Und Frau Stoll, ich freue mich auf Sie und gute Fahrt!«

Am liebsten hätte Lene einen Luftsprung gemacht. Sie fühlte plötzlich einen unglaublichen Elan in sich und begann sofort mit dem Kofferpacken. Was nahm man eigentlich mit? Sorgenvoll schaute sie in ihren Kleiderschrank. Hm, Italien, war es dort nun immer warm? Keine Ahnung. Ein Blick in den Reiseführer sorgte für Klarheit und so packte sie von jedem was ein und meinte so hoffentlich für alle Wetterverhältnisse gewappnet zu sein. Ganz hinten in ihrem Schrank stieß sie nach den sackartigen Gebilden auf ihre figurbetonte farbenfrohere Garderobe. Kurz entschlossen suchte sie auch ein paar dieser Teile heraus. Im Bad hielt sie die Tasche mit ihren Schminksachen in der Hand und wollte sie schon wieder in den Schrank stellen, dann besann sie sich und packte sie mit ein. Man wusste ja nie, was einen so erwartete. Ganz zum Schluss legte sie noch ihren knallroten Badeanzug obenauf. Diesen hatte sie sich kurz nach der Trennung von Thomas geleistet und noch nie getragen. Wenn nicht in Italien, dann würde sie ihn vermutlich nie anziehen.

Nachdem ihr Reisegepäck fertig war, führte sie ein Telefonat mit ihren Eltern und erläuterte ihre Pläne für die nächsten Wochen. Ihre Mutter machte sich wie immer riesige Sorgen. »Ach Mädchen, musst du denn ausgerechnet nach Italien? Was man da immer so hört! Fahr doch an die Ostsee, Vati und ich sind immer an die Ostsee gefahren. Und dir hat`s dort immer gut gefallen.«

Im Stillen verdrehte Lene die Augen. »Ich weiß Mutti, ich war meine ganze Kindheit mit euch dort. Nun möchte ich mal was ganz anderes machen, einfach etwas so tun, wie ich es will.«

»Aber warum denn, was willst du denn dort? Und so allein …«

Am anderen Ende knisterte es. Anscheinend nahm ihr Vater den Hörer an sich. Er hatte ihre Worte über den Lautsprecher mitgehört. »Gute Reise, meine Kleine, melde dich mal, wenn du da bist und hab ganz viel Spaß. Ich bin sicher, du weißt was du tust.« Und schwupps, legte er auf. Vater hatte sie einfach schon immer besser verstanden und seine Worte machten Mut. Ihre Mutter war dagegen immer sehr ängstlich und vorsichtig. Trotzdem war sie ihren Eltern unglaublich dankbar, soviel hatten sie ihr in letzter Zeit geholfen. Die Trennung von Thomas war auch für sie ein großer Schock gewesen, denn sie hatten von irgendwelchen Eheproblemen nie etwas mitbekommen. Sie glaubten ihre Tochter in gesicherten Verhältnissen und mussten sich an die neue Situation erst einmal gewöhnen.

Später lag Lene in ihrem Bett und konnte nicht schlafen. Ihr abendliches Schlafmittel hatte sie heute lieber weggelassen, damit sie morgen früh richtig fit war. Immer wieder ging sie den Inhalt ihres Gepäcks durch, ob sie auch ja alles Wichtige eingepackt hatte. Und wenn schon, beruhigte sie sich selbst, sie fuhr ja nicht nach Timbuktu. Wenn etwas fehlte, wurde es eben gekauft. Doch die Gedanken kreisten nun einmal und langsam stiegen Zweifel in ihr auf. War es wirklich richtig, einfach so diese Reise zu unternehmen? Was erwartete sie sich davon, was sollte es ihr bringen? Sie wusste es einfach nicht. Ein Neuanfang in Italien. Wie sollte das denn gehen? Und schließlich konnte nicht jeder dort unten sein Glück finden. Und überhaupt, eigentlich ging es ihr doch hier nicht schlecht. Sie hatte ein Zuhause, eine Arbeit, ihre bunten Pillen und …

Doch da war eine Sehnsucht, sie war 45 Jahre alt. Sollte sie wirklich bis ans Ende ihrer Tage alleine bleiben? Sie sagte zwar immer, sie wollte keinen Mann und kam gut allein zurecht. Aber in Wirklichkeit sehnte sie sich nach jemandem und sie sehnte sich nach Sex, ja, jetzt war es raus. Sie wollte einfach mal wieder richtig guten Sex haben, so wie die Heldinnen in ihren Romanen. Ob sie dafür nun unbedingt bis Italien musste, war unklar, aber sie würde fahren und gut.

Gegen diese Probleme hätten ihre Schlafpillen vermutlich auch nicht geholfen. Gefühlt alle zehn Minuten starrte sie auf ihren Wecker, doch Schlaf war einfach nicht in Sicht.

Gegen zwölf Uhr stand sie schließlich auf, zog sich an und beendete die Quälerei. Warum sollte sie nicht schon jetzt losfahren. Was hatte Ines Gerber gesagt? Sie konnte kommen, wann sie wollte. Sie warf noch einen Rundblick in ihre Wohnung. Den Inhalt des Kühlschrankes wollte Moni morgen holen und sich in der Zwischenzeit auch um ihre Blumen kümmern. Lene schloss die Tür ab und stieg in ihr Auto. Das Gepäck lag schon sicher verstaut im Kofferraum.

3. Kapitel

Lene griff in den Pappkarton neben sich und schaltete das Navi ein. Was hatte der Verkäufer gesagt? Die Bedienung ist ganz einfach, nur nicht verrückt machen lassen. Wenn etwas nicht geht, einfach noch einmal von vorn beginnen. Zu ihrem Erstaunen klappte es gleich beim ersten Mal, anscheinend war sie technisch doch nicht vollkommen unbegabt. Sie gab die Adresse ein und die Fahrt konnte beginnen.

Um diese Zeit waren die Straßen der Stadt menschenleer. Kein Wunder! Wer fuhr auch um ein Uhr nachts draußen herum? Nur ein einsames Taxi zog seine Runden und war vermutlich auf der Suche nach irgendwelchen Nachtschwärmern. Lene war keine sichere Autofahrerin, oder sollte man eher sagen, sie war keine sichere Fahrerin mehr. Denn früher hatte sie einen äußerst schnittigen, rasanten Fahrstil draufgehabt. Ihr Exmann hatte ihr nach einiger Zeit unablässig dazwischen gequatscht. Sie führe zu schnell, zu dicht auf, ließ zu große Lücken, wäre dann wieder zu langsam. Irgendwann reichte es ihr, sie ließ nur noch ihn fahren und hatte ihre Ruhe. Ab da tuckerte sie mit ihrem kleinen Auto zur Arbeit und zum Einkaufen – allein und eher überschaubare Strecken.

In absoluter Rekordzeit erreichte sie die Autobahn und wählte die Auffahrt Richtung Süden. Der erste Teil der Strecke bis nach München war ihr nicht unbekannt. Ihr Exmann hatte sie anfangs ein paar Mal zu Geschäftsterminen mitgenommen. Später fuhr er lieber allein ohne ihre Begleitung oder nahm eine attraktive Kollegin mit. Nach der bayrischen Hauptstadt begann für sie unbekanntes Gelände. Doch noch immer war die Autobahn relativ leer. Links und rechts standen die Rastplätze voller Lkws, deren Fahrer hier ihre Nachtruhe abhielten.

So langsam machte sich die Müdigkeit auch bei Lene bemerkbar – am Anfang drehte sie ihr Radio noch ein wenig lauter und sang aus voller Kehle bei irgendeinem Schlagerkanal mit. Dann öffnete sie zusätzlich ihr Fenster und ließ sich die kühle Nachtluft um die Nase wehen. Da befürchtete sie aber bereits nach kurzer Zeit einen steifen Hals zu bekommen, also wieder zu mit dem Fenster. Bei einem Blick auf die Uhr beschloss sie, an der nächsten Raststätte abzufahren. Schon nach kurzer Zeit tauchte ein Hinweisschild auf und Lene wollte sich einen Parkplatz in der Nähe der Tankstelle suchen. Bei einer Tankstelle waren Leute und da war man sicher, so lautete ihre Theorie. Bis auf ihr Auto sah sie allerdings kaum einen anderen Pkw, dafür Lkws, die alles zugestellt hatten. Mühevoll quetschte sie sich hinter einen der riesigen Laster. Der Tankstellenshop war wie ausgestorben, nur ein jüngeres Pärchen saß in der Ecke, knutschte heftig und ein Truckerfahrer fütterte einen Spielautomaten mit Geldstücken. Das nervtötende Gebimmel erfüllte den ganzen Raum. Lene bestellte sich bei einer sichtlich gelangweilten Angestellten einen extra großen Kaffee zum Mitnehmen und ging wieder nach draußen. Mit dem Becher in der Hand stellte sie sich vor den Eingang, ließ ihre Blicke schweifen und wollte gerade tief Luft holen.

Da sah sie wie zufällig zu ihrem Auto und bemerkte eine dunkle Gestalt, die sich anscheinend an der Fahrertür zu schaffen machte. Im hohen Bogen warf sie ihren Kaffeebecher fort, war schlagartig hellwach und sprintete los. Dabei schrie sie laut, »Heh« und »Hilfe, mir will jemand mein Auto klauen.«

Doch wer sollte das hier schon hören? Die Trucker würden in ihren Kabinen liegen, schlafen und waren sicher ganz andere Sachen gewöhnt und die Leute in der Tankstelle hatten sie vermutlich gar nicht gehört. Der vermeintliche Einbrecher immerhin vernahm es, drehte sich um, lief zu einem wartenden Motorrad und schwang sich hinten drauf. Mit einem lauten Aufheulen des Motors raste die Maschine davon.

Schwer atmend gelangte Lene zu ihrem Auto und wollte sich gerade ihr Türschloss besehen.

»Alles in Ordnung?«, fragte eine ruhige Stimme hinter ihr. Heftig zuckte sie zusammen, drehte sich um und schaute auf einen älteren grauhaarigen Mann. Irgendwie erinnerte er sie spontan an den Inhaber des kleinen italienischen Restaurants, in dem sie anfangs mit Thomas immer gewesen war, Don Pedro oder so ähnlich, nannten ihn immer alle.

Besorgt sah er sie an. »Ist alles okay bei Ihnen? Ich habe Sie dort drüben von meinem Auto aus losrennen sehen und dachte, ich kann vielleicht helfen.« Er deutete irgendwohin in die Dunkelheit.

Lene holte tief Luft. »Ich glaube, der wollte mein Auto klauen, der da mit dem Motorrad.«

Der Mann nickte und lächelte leicht. »Das glaube ich eher nicht, wissen Sie, Ihr Modell ist nicht so gefragt«, meinte er mit einem Seitenblick auf ihren roten Kleinwagen. »Aber ich denke, er wollte das da haben.« Sein Blick fiel auf ihr Navigationsgerät. »Ist zwar ein einfaches Modell, scheint aber noch ziemlich neu zu sein, das kann man für ein paar Euro immer gut verkaufen. Das dürfen Sie auf keinen Fall im Auto lassen, immer mitnehmen oder zumindest im Handschuhfach verstauen.«

»Oje!« Lene musste lachen. »Ich habe dieses Teil da gestern erst gekauft und bin froh, dass ich es überhaupt anbekommen habe. Und nun wieder abbauen und von vorne starten, puuh.«

Bei ihren Worten musste der Mann grinsen. »Wissen Sie was? Nach dem Schreck lade ich Sie auf einen Kaffee ein. Wie ich gesehen habe, haben Sie ihren ja gerade im vollen Lauf verloren. Und dann erzähle ich Ihnen was über dieses Gerät und Sie werden sehen, schon morgen bedienen Sie es im Schlaf. Na, nun kommen Sie schon, wir setzen uns auch so, dass Sie Ihr Auto gut im Blick haben, also?« Fragend schaute er sie an.

Lene rang kurz mit sich und dachte: Was wenn der Typ auch so ein, na ja, was weiß ich – Verbrecher ist? Aber eigentlich sieht er ja ganz nett aus. Warum nicht?! Bevor Lene mit ihrer neuen Bekanntschaft losging, schloss sie ihr Auto auf und entfernte die Ursache des Übels von der Windschutzscheibe.

Die Tankstellenangestellte schaute verblüfft zwischen ihr und dem Mann hin und her, sagte aber nichts. Vermutlich fragte sie sich, warum Lene sich innerhalb von fünf Minuten schon den zweiten Kaffee holte, und diesmal vor allem auch noch in Begleitung eines Mannes. Mittlerweile herrschte Stille, der Spielautomat lag ruhig und verwaist in der Ecke.

Beide setzten sich an einen der Fenstertische. Er streckte ihr seine Hand entgegen und sagte: »Ich bin übrigens Gustafo.«

»Lene«, sagte sie lächelnd, schielte aber aus dem Augenwinkel immer wieder zu ihrem Auto. Langsam wurde sie schon wie ihre Mutter und witterte überall Gefahr.

»Und Lene, sind Sie auf dem Weg in den Urlaub, wenn ich fragen darf?«, plauderte er leicht drauflos.

Komisch, da saß sie hier mitten in der Nacht mit einem stockfremden Mann zusammen und sollte ihm ihre Pläne erläutern. Wiederrum, warum sollte sie dies nicht tun? Nach diesem Treffen hier, würden sie sich vermutlich nie wiedersehen.

»Ja, ich fahre in den Urlaub, ich nehme mir eine längere Auszeit und möchte einige Zeit am Gardasee verbringen.«

»Oh.« Er verdrehte genießerisch seine Augen. »Der Lago di Garda, waren Sie schon einmal dort?«

Lene schüttelte den Kopf, »Ich war noch nie in Italien.«