Neubaugebiet - Christian Koechinger - E-Book

Neubaugebiet E-Book

Christian Koechinger

0,0

Beschreibung

"Es schien einfach keinen Fortschritt zu geben; alles, was es gab, war die Sackgasse." Eric steckt fest im Neubaugebiet: Seine Ehe mit Corinna frustriert ihn, als Vater fühlt er sich überfordert, und gegenüber den meisten Bewohnern hegt er eine tiefe Abneigung. Bringt eine neue Aufgabe den Ausweg?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 284

Veröffentlichungsjahr: 2015

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


CHRISTIAN KOECHINGER, geboren 1971, lebt mit seinem Sohn in Braunschweig. Sein erstmals 2015 erschienener Roman Neubaugebiet wurde im Jahr 2021 vom Autor für eine Neuauflage überarbeitet. Im selben Jahr veröffentlichte Koechinger sein Drama Mephistos Tod.

Für Pascal

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1.

Der Wind strich herbstlich unangenehm über den Spielplatz. Wie nahezu an jedem Wochenende im vergangenen Jahr, verbrachten Eric und sein dreijähriger Sohn Elias auch an diesem Sonntag die Nachmittagszeit hier. Noch waren sie nicht allein. Doch bald schon würde sich das ändern, dachte Eric, bald ist es achtzehn Uhr, bald ist es Winter, und beide Umstände werden kurz- und mittelfristig dazu beitragen, dass sich diese Schönwetterjunkies mit ihrem Nachwuchs wieder in ihre Eigenheime zurückziehen. Doch jetzt traten sie hier noch in Gruppen auf, waren noch im Sommermodus offenbar, vor allem die Frauen, die, trotz Modernität und Bildungsstand ihrer Familien, doch noch immer die deutliche Mehrheit unter den die Kinder betreuenden Erwachsenen stellten. Nur mit leichten Jacken bekleidet, einige auch lediglich in langärmligen Shirts, die, wenn sie sich zu ihren Kindern bückten, sofort den Rücken freiließen, wie Eric beobachtete, standen sie zu dritt, zu viert, zu fünft frierend beisammen, offenbar gut gelaunt, traten von einem Bein auf das andere, zogen die Schultern zusammen, und redeten fortwährend.

„Papa, ich will auf der großen Rutsche rutschen!“

Elias hatte das schon zum zweiten Mal gesagt. Eric wandte nun seinem Sohn die Aufmerksamkeit zu:

„Ja, gut. Jetzt gleich?“

„Ja.“

Überflüssige Frage. Eric half Elias dabei, die Strickleiter hinauf zu klettern. Er blickte auf die Uhr: In zwanzig Minuten konnten sie den Rückweg antreten. Noch ein paar Mal rutschen, danach vielleicht Seilbahn fahren, wenn Elias Lust hatte, anschließend konnten sie sich, ausgehend vom dortigen Hügel, noch ein paarmal gegenseitig über den Spielplatz jagen, und dann hatte er seinem Sohn nach seinem Ermessen ausreichend Abenteuer und Sauerstoff für den heutigen Tag verschafft. Eric vermutete, dass er Elias heute ohne vehementen Widerstand dazu bewegen können würde, nach Hause zu gehen. Dort warteten dann allerdings noch weitere potenzielle Konfliktherde: Reingehen, Ausziehen, Toilette, Hände waschen. Mit Beginn des Abendessens ging die Zuständigkeit für Elias an Corinna über; Eric schaltete dann für gewöhnlich auf Stand-by.

Er hatte vergessen, was es heute geben sollte. Irgendetwas Überbackenes.

Seit einem Jahr wohnten sie jetzt im Neubaugebiet. Er hatte zu Corinna gesagt:

„Lass uns jetzt nicht umziehen. Wenn wir nicht zuerst etwas für uns als Paar tun, können wir beim Einzug sofort wieder kündigen, weil nämlich unsere Ehe dann nach drei Monaten im Arsch sein wird!“

„Wenn du nicht mitziehst, ziehe ich mit Elias alleine um“, war ihre Antwort gewesen.

Dabei hatte er gedacht, und Corinna hatte es auch gedacht, dass sie beide es durchhalten könnten bis zum Ende. Das war nach wenigen Monaten gewesen, als sie sich noch beide in dem wohl lediglich als atypisch, als anormal anzusprechenden Zustand von Verliebtheit und neuem Lebensschwung befunden hatten. Beide hatten sie mehrere mit Ernsthaftigkeit geführte und auf Dauer angelegte Beziehungen hinter sich gehabt, so dass sie glaubten, obwohl oder gerade weil sie schon Erfahrungen mit der Wiederkehr partnerschaftlicher Erosionsprozesse hatten, dieses Mal sei es dann doch möglich, dies sei nun definitiv ein letzter Neubeginn, und als Endpunkt käme allein der Tod in Frage. Und die Gefühle hatten auch dafür gesprochen: Eric hatte bei Corinna erstmals wieder etwas empfinden können, das er annähernd mit dem vergleichen konnte, was Kristin in ihm ausgelöst hatte, als sie beide siebzehn waren. Sicher, sein skrupulöser Charakter (wie es sein Therapeut einmal ausgedrückt hatte) war mit Mitte dreißig wesentlich ausgeprägter, der Zweifel an der Richtigkeit seiner Schritte und Begierden sehr viel lauter gewesen als in den Zeiten jungfräulich-jungmännlicher Schülerliebe.

Er erinnerte sich jetzt, wie er in Gesprächen mit Freunden - und explizit auch während der Termine bei seinem Therapeuten - das eine oder andere Detail, das ihn in Hinsicht auf Corinna kritisch stimmte, quälend analysiert hatte - hinterher durch Zuspruch meistens etwas erleichtert.

Und doch konnte er Corinna im Wesentlichen als seine große Liebe ansehen; ein Begriff, den er, wenngleich er ihm etwas abgenutzt erschien, dennoch als weitestgehend zutreffend empfand. Zu seiner eigenen Überraschung hatte er ihr bereits nach einem halben Jahr einen Heiratsantrag gemacht und hatte diesen anschließend auch nicht mehr zurückgenommen.

Ein Jahr danach war Corinna schwanger.

„Papa, guck mal, da kommt Nelly!“

Elias stand noch immer auf dem Aussichtsturm, von dem aus die große, röhrenförmige Rutsche nach unten führte, und schaute mit leuchtenden Augen lächelnd zur Straße hinüber, von der aus Nelly und ihre Eltern sich ihnen auf dem Weg, der von kleinen Bäumen gesäumt war, näherten.

„Na dann komm´ mal schnell runtergerutscht!“ rief Eric nach oben.

Eric freute sich auch, die drei zu sehen. Elias und er hatten sie kurz nach dem Einzug vor einem Jahr erstmals genau hier an dieser Rutsche getroffen. Cora und Sven waren für Eric eine Art erster Anker gewesen; eine vorsichtig tastende Sympathie zwischen ihnen hatte ihm die Hoffnung erweckt, dass es in der hier ansässigen Bewohnerschicht, die er sehr kritisch beobachtete, möglicherweise, wenn vielleicht auch nicht direkt seinesgleichen, so doch durchaus auch Menschen geben könnte, deren Wellenlänge mit der seinigen zumindest streckenweise kompatibel wäre. Auch Elias und Nelly, die nahezu gleich alt waren, hatten sich von Beginn an gemocht - soweit das bei den damals Zweijährigen überhaupt schon hatte beobachtet werden können. Sie hatten schon einige Male miteinander gespielt, doch jetzt standen die beiden sich, wie Kinder es in Anfangssituationen oft tun, jeweils eng ans Bein eines ihrer Elternteile geschmiegt, wortlos gegenüber und musterten einander interessiert.

„Na, so spät noch hierher?“ fragte Eric die Angekommenen.

„Ja, Nelly wollte unbedingt noch Seilbahn fahren“, erwiderte Cora. „Und ihr?“

„Wir sind schon seit eineinhalb Stunden hier. Gleich geht´s ab nach Hause, Mama hat Essen gekocht.“ Eric streichelte Elias über den Kopf. „Und was habt ihr sonst so gemacht heute?“

„Ach, nichts Besonderes. Eben haben wir uns mal von außen das Haus angeguckt, in das die Kita rein soll. Morgen ist ja dieses Treffen dort. Kommt ihr auch?“ Cora beugte sich zu Nelly hinunter und putzte ihr die Nase.

„Ach, morgen ist das schon? Das ist doch auf diesem Eckgrundstück neben dem Regenrückhaltebecken, oder?“

„Genau. Das Grundstück ist ziemlich groß, bestimmt tausend Quadratmeter“, sagte Sven.

Cora ergänzte: „Es soll der Schwiegermutter von diesem Arzt gehören, der in der Villa am See wohnt. Die haben wohl bei der ganzen Sache die Fäden in der Hand.“ Sie machte eine kurze Pause. „Soweit ich weiß, suchen sie noch Leute für den Vorstand. Hast du nicht Lust?“

Eric hatte plötzlich eine unangenehme Empfindung, versuchte aber trotzdem zu lachen: „Nee, lass mal, das ist nicht mein Ding. Ich kann ja mal Corinna fragen!“

„Mama, ich will Seil---bahn!“ Nelly zog das letzte Wort in die Länge und betonte es vorwurfsvoll-verletzt.

„Gleich, Süße, ja? Ach, Eric, ich glaube es wäre gar nicht so schlecht, wenn da auch ein Mann mitmacht. Es mischen sowieso schon so viele Frauen mit, wie ich gehört habe. Wo bleibt da die Quote?“

„Was ist mit dir, Sven?“ Eric sah ihn freundlich herausfordernd an.

Sven lächelte: „Zu viele Dienstreisen!“

„Außerdem – ich denke, das würde gut zu dir passen, Eric“, setzte Cora nach.

„Mama, Seil---bahn!“

„Ach ich weiß nicht. Wann soll das morgen denn anfangen?“

„Neunzehn Uhr dreißig“, sagte Sven.

„Da beginne ich eigentlich damit, Elias ins Bett zu bringen.“ Eric sah auf die Uhr. „Oh, wir müssen gleich los.“

„Na ja, überleg´ es dir halt“, sagte Cora.

„Ma---ma!“

„Sven, kannst du nicht schon mal mit ihr hingehen?“

„Nein, ich will mit Mama!“ Nelly verzog den Mund.

„Okay, Maus.“

„Wir gehen dann jetzt mal“, sagte Eric. „Komm, Elias, wir müssen nach Hause, es gibt Essen!“

„Nein, ich will nicht.“

„Doch, wir müssen, es ist schon spät.“

„Nein, ich will Seilbahn fahren.“

„Mama hat was Leckeres gekocht…“

„Was denn?“

„Das ist eine Überraschung!“ Eric sah seinen Sohn geheimnisvoll an. „Und, weißt du was? Je schneller wir zu Hause sind, desto eher wissen wir, was es da Super-Leckeres zu essen gibt!“.

„Jaaaaaaaaa…!“ Elias rannte spontan los.

Eric lachte. „Na, dann tschüss, ihr drei!“

„Tschüss!“ antworteten Cora und Sven gleichzeitig.

„Nelly, sagst du auch tschüss?“ forderte Cora sie auf.

Nelly sah die Erwachsenen mit demselben Gesichtsausdruck wie vorher an und schwieg.

„Dann also bis morgen Abend, ich werde dich wählen!“ sagte Cora schließlich. Das war bezeichnend für sie: Immer das Eisen schmieden.

„Hör´ bloß auf!“ wehrte Eric ab.

Dann folgte er Elias, der schon fast an der Straße war, jetzt aber stehen blieb und sich umwandte. Sein Sohn stand da im letzten Sonnenlicht, die Wangen gerötet, über ihm das leuchtende Laub, und erwartungsfroh und freundlich schaute er seinem Vater entgegen. Er sieht so frisch aus, dachte Eric. Als er ihn erreicht hatte, ging er in die Knie und küsste ihn auf den Mund.

Sauerstoff und Bewegung hatten offenbar gewirkt: Elias schlief schnell ein. Eric knipste die mondförmige Lampe über dem Bett seines Sohnes aus und schlich sich dann aus dem Zimmer. Nebenan in seinem eigenen Zimmer öffnete er das Fenster weit. Der Herbstwind hatte sich gelegt. Er nahm die Kleidung, die er am nächsten Tag anziehen wollte, aus dem Schrank, ging dann zur Toilette und anschließend hinunter ins Wohnzimmer, wo Corinna fernsah. Sie lag auf dem Sofa und hatte sich eine Wolldecke bis an den Hals gezogen.

„Es ist so kalt geworden!“ sagte sie.

Er setzte sich neben sie. „Stimmt. Auf dem Spielplatz war es auch ziemlich unangenehm.“

„Habt ihr jemanden getroffen?“

„Cora, Sven und Nelly.“

„Und, wie geht´s ihnen?“

„Weiß nicht. Sie haben sich das Kita-Haus angesehen.“

„Ach echt?“

„Morgen soll die Gründungsversammlung sein, meinte Cora.“

Corinna setzte sich auf. „Morgen schon? Warum wissen wir nichts davon? Wir haben auch ein Kind im Kindergartenalter!“

„Jetzt wissen wir es ja.“

„Darum geht es doch nicht! Ich finde, die hätten alle Eltern, die es betrifft, einladen müssen! Außerdem hätte Cora uns das ruhig mal eher sagen können…“

„Vielleicht haben sie schon genug Leute beisammen für die Gründung? Anmelden können wir Elias sicher auch noch später.“

„Und dann sind alle Plätze weg! Du weißt doch, wie es hier aussieht. Ich finde, wir sollten da morgen hingehen!“

„Und wer passt dann auf Elias auf?“

„Kannst du nicht hingehen, und ich bringe Elias ins Bett?“

„Nee, keine Lust.“

„Danach geht’s nicht!“

„Wieso nicht?“ Eric blickte starr auf den Fernseher. „Warum gehst du nicht hin?“

„Du weißt doch, dass ich morgen bis sechs arbeiten muss! Wie soll ich das noch schaffen? Ich bin sowieso schon total kaputt!“

„Dann gehen wir eben nicht. Ausruhen geht vor!“

Corinna wurde allmählich wütend. „Wie kannst du so ignorant sein!“ sagte sie mit erhobener Stimme.

„Ich höre nur auf mein Inneres“, erwiderte Eric.

„Es geht hier nicht um dein Inneres, es geht um deinen Sohn!“

„Unseren Sohn!“ gab Eric zurück.

„Das ist doch egal. Ich finde, du könntest auch mal was für ihn tun!“

„Mache ich doch permanent.“

„Ach ja?!“

„Ja, heute den ganzen Nachmittag über zum Beispiel…“

„Aber das mit der Kita ist wichtig!“

„Ich gehe jedenfalls nicht. Allein der Gedanke an die ganzen Hackfressen da. Grauenhaft. Auf keinen Fall.“

„Dann geht also mal wieder keiner von uns. Typisch! Wir kriegen ja nie etwas hin!“

„Zeit das zu ändern, oder?“ fragte Eric seine Frau.

Sein Gesichtsausdruck war plötzlich ein vollkommen anderer.

„Wie wäre es, wenn wir jetzt unseren Streit einfach mal ignorieren und stattdessen zusammen hoch gehen?“

Corinna schwieg. Man hätte denken können, sie sei in den Film versunken, der geräuschvoll die ganze Zeit über weiter gelaufen war. Offenbar war er gleich zu Ende: Ein Mann und eine Frau standen auf einem sattgrün bewachsenen Plateau, im Hintergrund sah man das Meer und den Strand. Es war windig. sie umarmten einander, und sie sah zu ihm auf:

„Ich liebe dich“, sagte er zu ihr.

„Und ich liebe dich!“ antwortete sie.

„Ich hatte dich was gefragt…“, erinnerte Eric seine Frau. Er wandte sich ihr mit dem Versuch eines Lächelns zu:

„Gehen wir hoch?“

„Nein.“

Sie nahm die Fernsehzeitung und begann darin zu blättern.

*

Dr. Ludger Sanhoff-Sanders war Orthopäde und Sportpsychologe. Er war zweiundfünfzig Jahre alt, sehr groß und schlank. Sein oval geformter Kopf war im Bereich der Schädeldecke spiegelnd blank, an den Seiten wiesen dunkle Schatten auf nachwachsendes Haar hin. Der kurze Bart, den er über der Oberlippe und am Kinn stehen ließ, war von hauptsächlich rötlicher Farbe, durchsetzt mit etwas Dunkelbraun und ein wenig Grau. Seine Augen, die unter hohen geschwungenen Brauen liegend grundsätzlich von eher freundlichem Ausdruck waren, konnten ebenso, sich ohne Vorankündigung in funkelnde Schlitze verwandelnd, beim Betrachter unvermittelt Unbehagen auslösen. Sein Mund war ausgesprochen schmal und sehr gerade.

Jetzt saß Dr. Sanhoff-Sanders in der Mitte einer Tischreihe, die an der Stirnseite des Versammlungsraumes aufgebaut war, ordnete einige Papiere, die vor ihm lagen, und fügte dort kleinere Notizen ein. Seine rote Lesebrille saß dabei auf der Spitze seiner schmalen und langen Nase. Er trug ein schwarzes Hemd mit relativ breitem Kragen, das ohne Krawatte offen stand.

In dritter Ehe war er verheiratet mit der Amerikanerin Jocelyne Sanders, genannt Joy, die ihm die knapp drei Jahre alten Drillinge Jacob, Joseph und Joshua geboren hatte. Gemeinsam lebten sie in einer in römischem Stil erbauten Villa, die sich, gelegen am Rande des Neubaugebietes auf einem gut zweitausend Quadratmeter großen Grundstück mit privatem Seezugang und Pferdeweiden, in jeder Hinsicht auf das deutlichste von den Ein- und Mehrfamilienhäusern ihrer Umgebung abhob. Dem Vernehmen nach hatte der Arzt auch politische Ambitionen.

Jetzt blickte er auf, und indem er dabei zugleich seine Lesebrille abnahm, signalisierte er dem Publikum, das die Stuhlreihen füllte, dass er im Begriff war, die Versammlung zu eröffnen. Links neben ihm saßen seine Frau Joy sowie deren Mutter Meredith Sanders, die ihren Lebensmittelpunkt in Boston hatte, immer wieder aber auch längere Zeitabschnitte in Europa verbrachte. Rechts von Dr. Sanhoff-Sanders hatte eine schätzungsweise vierzig Jahre alte Frau mit braun-rötlich gefärbtem schulterlangen Haar Platz genommen. Sie hatte sehr herbe, dabei aber nicht unansprechende Gesichtszüge, und sie trug einen engen schwarzen Rollkragenpullover, der ihre mittelgroßen Brüste betonte. Soweit Eric wusste, hieß sie Alexa. Sie blickte die Anwesenden direkt und fest aus wasserblauen Augen an. Eric konnte sie gut sehen. Da er erst kurz vor Beginn der Versammlung gekommen war, waren nur noch Plätze in der ersten Reihe frei gewesen. Zum Glück saßen Cora und Sven auch dort. Cora umarmte ihn, nachdem er sich neben ihr niedergelassen hatte. Sven beugte sich vor und lächelte ihn vielsagend an.

Neben der Frau mit den wasserblauen Augen saß, tief über ihre Blätter gebeugt, eine schlanke Mittdreißigerin mit blondem Pferdeschwanz und Hornbrille mit am Tisch. Obwohl die Versammlung noch gar nicht begonnen hatte, arbeitete sie bereits jetzt mit dem Eifer derjenigen Mädchen, die schon in der Schule immer mit ebenmäßig gerundeter Handschrift kritikfrei jede Einzelheit mitgeschrieben hatten, unablässig an ihren Notizen; es war offensichtlich, dass sie die Protokollführerin war.

„Sehr geehrte Damen und Herren“, begann nun Dr. Sanhoff-Sanders, „verehrte Eltern und, wie ich erfreut ergänzen darf, herzlich willkommen auch liebe Großeltern! Geliebte Joy, dear Mom! Ich darf mich denen, die mich nicht kennen, kurz vorstellen: Meine Name ist Sanhoff-Sanders, und ich wohne mit meiner Familie bereits seit einiger Zeit hier im Neubaugebiet. Wir leben sehr gern hier.“

Er hielt inne und musterte von links nach rechts das Publikum.

Dann fuhr er fort:

„Wer nicht handelt, der wird behandelt – so ließe sich wohl eine allgemeine Erfahrung ausdrücken, die wir alle schon gemacht haben. Hier bei uns, in unserer konkreten Lage, ist es auch so: Wenn wir nichts tun, geschieht nichts. Wenn wir die Betreuung, Erziehung und Bildung unserer Kinder nicht selbst organisieren, werden wir uns mit weit entfernten, pädagogisch angestaubten, überfüllten Massenangeboten zufrieden geben müssen, die uns die öffentliche Hand in ihren maroden Zweckbauten meint anbieten zu können. Wollen wir das? Wer von Ihnen will das? Wollen Sie das ihren Kindern zumuten?“

Er machte eine Pause. Seine Augen hatten sich während seiner Rede zu Schlitzen verengt, nahmen aber jetzt einen fast gütigen Ausdruck an. Er fuhr fort:

„Verehrte Gäste, angesichts dieser unbefriedigenden Situation ist es mir eine große Genugtuung, hier und jetzt und mit Ihnen gemeinsam die Gründungsversammlung der Elterninitiative childhood plus! zu eröffnen!“

Beifall.

Mit einem etwas schiefen Lächeln wandte er sich dann seiner Frau und seiner Schwiegermutter auf seiner Rechten zu, bevor er, dieses Lächeln gewissermaßen mitnehmend, wieder direkt das Publikum ansah:

„Glücklicherweise“, sprach er weiter, „stehen uns gewisse Ressourcen, stehen uns Kräfte zur Verfügung, die im Hintergrund tätig sind, und die mit einer – fast möchte ich sagen – Noblesse, die es heute an sich so gar nicht mehr gibt, freigiebig und uneigennützig auf unsere Zukunft einwirken. Was, oder besser gesagt, wen meine ich damit? Nun, einige von Ihnen wissen es vielleicht bereits: Die hier anwesende Mrs. Meredith Sanders, meine liebe Schwiegermutter, ist im Begriff, der Elterninitiative childhood plus! unmittelbar nach deren Gründung dieses großzügige Gebäude, in dem wir alle heute Platz genommen haben, mitsamt des dazugehörigen Grundstücks zu schenken!“

Ein Raunen ging durch den Saal. Cora sah Eric mit weit geöffneten Augen an. Eric blickte um sich: Fast alle Anwesenden tauschten sich mit ihren Sitznachbarn in erstauntem, aber verhaltenen Tonfall aus; teilweise wandten sie sich nach hinten um, um weitere Bekannte einzubeziehen. Meredith Sanders lächelte warmherzig ins Publikum. Dennoch ließen ihre äußerliche Erscheinung, ihre distinguierte Körperhaltung und ihre fast schon royalen sparsam-präzisen Gesten insgesamt eher auf eine innere Distanz schließen. Ihre Tochter blickte mit neutral wirkender Miene geradeaus, während die ungeschminkten Lippen der Frau im schwarzen Rollkragenpullover von einem offensichtlich kaum kontrollierbaren Zucken umspielt wurden, das zwischen freudiger Aufregung und dem Triumph bevorzugten Eingeweihtseins zu oszillieren schien. Das Protokollmädchen schrieb.

„Ich sehe, unser Plan findet einen gewissen Anklang. Das freut mich“, fuhr Dr. Sanhoff-Sanders mit seinem schiefen Lächeln fort. „Kommen wir nun zur heutigen Tagesordnung. Erstens: Gründungsbeschluss. Zweitens: Satzungsbeschluss. Drittens: Wahlen, und zwar Vorstand, Kassenwart und Kassenprüfer. Viertens: Organisationsfragen. Fünftens: Verschiedenes. Gibt es Änderungs- oder Ergänzungswünsche zur Tagesordnung? Nein? So kommen wir zu Tagesordnungspunkt eins…“

Eric war verstört. Er wusste nicht, was er von diesem S.S.-Arzt halten sollte (nur während dieser ersten Begegnung nannte er ihn innerlich so, wie er sich später erinnerte). Während er sich noch bemühte, dieses Gefühl genauer zu fassen, glitt sein Blick zunächst hinüber zu der kleinen Protokollantin, blieb schließlich aber an ihrer älteren Sitznachbarin hängen: Sie hatte wirklich ein ausgesprochen herbes Gesicht. Tiefe Furchen liefen von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln, die Gesichtshaut war spröde und gänzlich ungeschminkt, die Lippen schmal, farblos und trocken. Die Augen dagegen schwammen wässerig, unterhalb von ihnen standen deutliche Schatten. Fast könnte man sie für eine Alkoholikerin halten, dachte Eric, aber das wäre zu vorschnell geurteilt. Irgendetwas anderes hatte dieses Gesicht geprägt. Trotz allem wirkte sie anziehend auf ihn, und er versuchte zu ergründen, warum.

Alle im Raum hoben die Hand, auch Eric, und er hatte gerade eben rechtzeitig noch mitbekommen, dass sie über die Gründung abstimmten. Anschließend wurden Entwürfe der Satzung verteilt, insbesondere für diejenigen, die sie nicht bereits vor der Versammlung erhalten hatten. Eric sah kurz auf das Titelblatt, das farbig gestaltet war und im Stil einer Strichmännchen-Zeichnung ein Haus mit ein paar lachenden Figuren davor zeigte, sowie im Hintergrund buschig-grün vereinfachte Bäume. Er blätterte den Text kurz durch und las stichprobenartig darin:

„Präambel… Vereinszweck… unmittelbar steuerbegünstigte Zwecke… bedarf eines Antrages an den Vorstand… spätestens bis zum dreißigsten April eines jeden Jahres… der Vorstand besteht aus drei Mitgliedern.“

Er sah auf. Nahezu alle Anwesenden beschäftigten sich noch mit dem Text. Dr. Sanhoff-Sanders tippte unterdessen auf der Tastatur seines Telefons. Einzig die Protokollführerin sah sich ebenfalls im Raum um; erstmals, seit Eric hier war, schaute sie nicht zu ihren Unterlagen hinab. Sie trank aus einer blauen Plastikflasche Mineralwasser, rückte das Haarband, das ihren Pferdeschwanz zusammenhielt, zurecht, schaute dann eine Weile aus dem Fenster und kratzte sich gedankenverloren an der Schulter. Sie war hübsch, durchaus. Die Haut milchig und offenbar weich. Die schwarze Hornbrille passte gut zu ihrem blonden Haar. Aber keine zum Heiraten, vielleicht nicht mal zum Ficken, dachte Eric. Sie war der Typ sportliches Naivchen. Wenn sie hinterher zusammen im Bett lagen, würde das äußerst beklemmend sein. Ob sie wohl Tennis spielte?

Oder eher etwas Ungewöhnlicheres - vielleicht Hockey, überlegte Eric, zumindest als Schülerin hatte sie auf jeden Fall Hockey gespielt! Er sah sie vor sich, wie sie nach sieben Stunden Dauermitschrift an einem als besser geltenden Gymnasium direkt mit dem Fahrrad zum Training fuhr, aus ihrem weißen benetton-Rucksack ragte das Ende eines Hockeyschlägers. Dreißig Minuten später dann in gut sitzendem Trikot auf dem Platz, darunter ein kurzes Röckchen; der Trainer zeigte ihr eingehend die perfekte Schlägerführung. Kurzzeitig dann auch mal U18-Nationalmannschaft.

Jetzt kam die Satzung zur Abstimmung: Ja, klar war er dafür. Anschließend mussten alle auf der letzten Seite unterschreiben.

„Ich stelle fest, dass die Elterninitiative childhood plus! hiermit gegründet ist. Herzlichen Dank!“ Dr. Sanhoff-Sanders klopfte wie die meisten anderen Beifall spendend auf den Tisch, einige Frauen klatschten auch.

„Dann ist jetzt also die Wahl des Vorstandes an der Reihe“, fuhr der Versammlungsleiter fort. „Ich bitte um Wahlvorschläge für das Amt der oder des ersten Vorsitzenden!“

Aus dem Publikum meldete sich eine Frau, die Eric nicht kannte.

„Liebe Mrs. Sanders“, sagte sie, „ich finde das so großartig, was Sie hier tun – ich finde, Sie sollten die erste Vorsitzende werden!“.

Meredith Sanders lehnte dankend lächelnd ab.

Ihr Schwiegersohn ergänzte: “Nun, es handelt sich ja um eine Elterninitiative. Man sieht es ihr zwar noch nicht an, aber sie ist die Großmutter…“

Heiterkeit.

„Dann eben ihre Tochter!“

Joy Sanders sprach leise und schnell, aber dennoch klar: Das ginge nicht. Die Doppelbelastung von Beruf und Erziehung. Drillinge. Man möge sich vorstellen, wie das sei. Also erste Vorsitzende auf keinen Fall. Allenfalls den Posten der Vertreterin könne sie wahrnehmen, aber auch nur, wenn sonst niemand wolle.

Zustimmendes Nicken im Saal.

„Aber“, sagte Joy Sanders, „die hier mit am Tisch sitzende Alexa Heersfeld ist eine gute Freundin unserer Familie. Sie ist Erzieherin und damit bestens qualifiziert für eine Vorstandstätigkeit, denn sie weiß aus ihrer langjährigen Berufserfahrung, worauf es ankommt. Ich schlage sie für das Amt der ersten Vorsitzenden vor.“

Die wasserblauen Augen schimmerten.

„Gut“, sagte Dr. Sanhoff-Sanders, „gibt es weitere Vorschläge für die Ämter der oder des ersten und zweiten Vorsitzenden?“

Allgemeines Schweigen. Deutlich hörbare Schreibgeräusche der Hockeyspielerin.

„Das ist offenbar nicht der Fall“, stellte Dr. S.-S. fest. „Dann bräuchten wir jetzt noch Vorschläge für das dritte Vorstandsmitglied. Natürlich sind auch hier beide Geschlechter möglich, aber ich denke, es wäre begrüßenswert, auch eine männliche Sichtweise in den Vorstand zu bringen.“

„Wie wäre es mit Ihnen, Herr Doktor?“ kam ein Zuruf aus den hinteren Reihen.

„Nein, nein, keinesfalls ist das möglich!“ antwortete dieser sofort.

Cora und Eric sahen sich an. Cora machte eine Bewegung, die Na los! bedeuten mochte; zugleich meinte Eric aber auch eine ihm bisher nicht bekannte Skepsis in ihren Augen zu erkennen. Er schüttelte heftig den Kopf. Im Saal war es ruhig. Als er wieder nach vorn schaute, sah ihm Alexa Heersfeld, selbst soeben zur Kandidatin ausgerufen, direkt in die Augen:

„Und Sie? Sie haben doch Lust! Wir können in der Tat einen Mann gut gebrauchen!“

Eric spürte, dass er errötete.

Alle Blicke auf ihm.

Schweigen.

Selbst die Hockeyspielerin sah auf.

Er versuchte die Hitze in seinem Gesicht zu unterdrücken. „Na ja, also, wie kommen Sie darauf, also eigentlich – ich habe viel zu tun…“, stammelte er.

„Bedenken Sie die Möglichkeiten!“ sagte Alexa, ihr Mund zuckte.

„Also dritter Vorsitzender, ja? Ich weiß nicht. Will denn kein anderer?“

Stille.

„Und was wären meine Aufgaben?“

„Die Hauptarbeit kommt selbstverständlich den beiden Damen zu. Sie als dritter Vorsitzender wirken eher – lassen sie mich sagen - ergänzend. Sie haben keinen festen Aufgabenbereich. Sehen Sie, gelegentlich könnte einmal ein Mehrheitsbeschluss erforderlich sein, schließlich leben wir doch in einer Demokratie! Vielleicht hätten Sie noch eine hübsche Sonderaufgabe, etwas, das Ihnen persönlich liegt, aber das können Sie drei ja dann im Team festlegen.“ Für den S.S.-Typen schien die Sache klar zu sein.

„Keine Angst, ich sehe nicht, warum wir Sie beißen sollten!“ ergänzte der zuckende Mund und lächelte, die Augen wie Seen.

„Okay, meinetwegen…“

Eric lauschte von sich selbst überrascht auf den Ausklang seiner Worte, der mit dem aufkommenden Applaus verschmolz. Vorstandsarbeit. Scheiße. Und was war das überhaupt für ein hirnrissiger Name: childhood plus!

Es war noch so viel Adrenalin in ihm, und er hatte eine so stark kraterartige Empfindung, dass er die anschließenden Wahlen nur wie durch Watte mitbekam. Vorstand: Alexa, Joy Sanders und er. Kassenwart: Herr …? Kassenprüfer: Ein Mann und eine Frau…? Danach wurde noch eine Weile debattiert, und Eric verlor den Anschluss vollends.

Er war froh, als die Sitzung schließlich zu Ende war. Am Schluss wurde noch der Termin für ein erstes Vorstandstreffen abgesprochen; es sollte in zwei Wochen stattfinden. Hastig diktierte Eric danach der Protokollführerin seine E-Mail-Adresse und seine Telefonnummer, verabschiedete sich flüchtig von Cora und Sven und ging dann schnell hinaus.

Die Herbstluft erzeugte ein angenehmes Gefühl auf seinen Wangen.

Als er nach Hause kam, war Corinna schon in ihrem Zimmer, vermutlich schlief sie bereits. Er hatte ihr alles gleich berichten wollen. Einige Momente stand er in der dunklen Küche, in die nur das Flurlicht hineinfiel, angelehnt an die Arbeitsplatte. Dann holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank, zog seine Jacke wieder an und ging hinaus auf die Terrasse.

Die Luft war klar, die Sterne über ihm. Wäre es heller gewesen, hätte er womöglich seinen Atem sehen können. Das Bier entspannte ihn. Nullfünf.

Eine Weile beobachte er die Silhouette, die sich hinter der Badezimmerjalousie einer gegenüberliegenden Wohnung bewegte. Er versuchte zu erkennen, ob sie oder er es war. Schließlich wurde dort das Licht gelöscht.

Er trank den letzten Schluck.

Er fror.

Im Bett malte er sich eine Szene mit der Hockeyspielerin aus: Sie saß nach Versammlungsschluss noch immer an ihrem Platz und schrieb; sonst war der Saal leer. Er selbst stand seitlich halb hinter einem Vorhang und beobachtete sie. Er erhärtete mit langsamen, gleichmäßigen Handbewegungen seinen Penis. Einige Minuten lang stand er so hinter dem Vorhang. Schließlich ging er, seinen Penis in der Hand, auf sie zu. Sie war so vertieft in ihre Schreibarbeit, dass sie ihn erst bemerkte, als er direkt neben ihr stand. Sie drehte ihm das Gesicht zu und sah ihn mit gleichmütigem Ausdruck an. Kaum merklich senkte sie ihren Kopf ein wenig. Kurz bevor er kam, trat er sehr nahe an sie heran, und dann verteilte er sein Sperma auf ihren Brillengläsern. Alles geschah vollkommen geräuschlos. Ihm war, als werde er von der Fensterseite her, von außerhalb des Gebäudes, bei all seinem Tun aus wasserblauen Augen beobachtet.

2.

Der Sommer zuvor war lang, heiß und trocken. Es war der erste, den sie nach ihrem Einzug in die gerade fertiggestellte Doppelhaushälfte gemeinsam erlebten. Eric saß in dieser Zeit, so oft es ging, auf der Terrasse, nur mit einer kurzen Hose bekleidet und beschattet von einem Sonnensegel, das unter der lastenden Hitze zu ächzen schien. Über Wochen, so schien es, war es absolut windstill, und Elias tat ihm ein wenig leid, der zur Abwehr der Sonneneinstrahlung eine Art Baseballmütze mit Nackenschutz tragen musste, die ein wenig an Feuerwehrbekleidung erinnerte. Eric bewegte sich so wenig wie möglich, und er interagierte mit seinem Sohn nur dann, wenn dieser es einforderte – was er grundsätzlich allerdings sehr oft tat. Es gab aber auch Phasen wie jetzt, in denen er für eine längere Zeit ganz in sich versunken in der überdachten Sandkiste spielte. Wie bei den meisten Kindern in seinem Alter war sein Spieltrieb weitestgehend unbeeinflusst von der Witterung. Eric dagegen saß reglos in seinem Stuhl und trank kontinuierlich Leitungswasser. Corinna war im Haus mit Erledigungen beschäftigt. Die gesamte Situation, der heiße Schatten unter dem Segel, der Schweiß auf der Haut, der Geruch von Sonnenmilch, das Sirren vorbeifliegender Insekten, das Flimmern über den Dächern, die siestaeske Ruhe – das alles zusammen genommen erweckte in Eric den Eindruck von Urlaub; und zugleich auch die Sehnsucht danach, einmal wieder wirklichen Urlaub zu haben. Er freute sich darauf, am späten Abend nach draußen zurückzukehren und ein, zwei oder auch drei Hefe-Weizen zu trinken. Vielleicht hätte Corinna dann noch Lust… Doch diesen Gedanken versuchte er sofort wieder zu verwerfen, da er sich den Augenblick nicht verderben wollte. Trotzdem konnte er nicht verstehen, wie die Hitze sie nicht scharf machen konnte. Sicher, es wäre anstrengend, wenn bei dreißig Grad zwei Körper aneinander klebten, aber es wäre doch auch sehr erregend…

Es würde nicht passieren.

Corinna und er hatten am zweiten Januar des Vorjahres (von vierzehn Uhr fünfundvierzig bis fünfzehn Uhr, wie er sich erinnerte) zum letzten Mal miteinander geschlafen. Das war mehr als eineinhalb Jahre her. Er hatte die Szene noch genau vor Augen: Sie war zu ihm gekommen, als Elias´ Mittagsschlaf fast vorüber gewesen war und hatte ihn, wie meistens bei solcher Gelegenheit, direkt gefragt:

„Wie wäre es mit einer Runde Sex?“

Er hatte wie immer ja gesagt. Wie hätte er auch ablehnen sollen? Das letzte Mal hatte bereits über fünf Monate zurückgelegen. Während Corinna schwanger war, hatten sie die gesamte Zeit über keinen Sex gehabt, und nach Elias´ Geburt dauerte es dann nochmal fast ein ganzes Jahr, bis es schließlich für eine kurze Zeit wieder möglich wurde. Eric hatte sich inzwischen angewöhnt, die sexlosen Zeiten zu addieren und ihren Anteil an der Gesamtzeit der Partnerschaft zu berechnen: Er lag aktuell bei über fünfzig Prozent…

Eric ging ins Haus, weil er pinkeln musste. Die Schwangerschaft war für Corinna (und für ihn auch!) sehr anstrengend gewesen: In den ersten vier Monaten konnte Corinna praktisch nichts anderes tun, als die Wellenbewegungen ihrer Übelkeit zu ertragen. Sie hatte keinen Appetit, musste aber ständig etwas essen, damit es nicht noch schlimmer wurde. Sie saß wochenlang im verdunkelten Wohnzimmer auf dem Sofa und litt. Täglich rief er sie an, wenn er nach der Arbeit im Supermarkt stand, fragte, was er für sie zu essen kaufen solle. Sie wisse es nicht. Für irgendetwas entschied sie sich schließlich, aber wenn er es später zu Hause für sie zubereitete, konnte sie den Geruch nicht ertragen. Erstaunlicherweise musste sie sich kaum übergeben. Stattdessen litt sie unter Verstopfung.

Es war Eric klar, dass in dieser Zeit nichts laufen konnte. Als es Corinna dann in der zweiten Schwangerschaftshälfte wieder gut ging, schöpfte er Hoffnung, dass sie die verbleibende Zeit bis zur Geburt noch als Paar genießen könnten. Aber es kam nicht dazu. Jetzt hatte Corinna, glücklich darüber, dass die Vorsorgeuntersuchungen keine negativen Ergebnisse gebracht hatten, Angst davor, dass der Schwangerschaftsverlauf gefährdet werden könnte. Sollte sein Penis etwa das Kind aus ihrem Körper drängen, oder was stellte sie sich vor? Als er sie in dieser Zeit einmal fragte, ob sie ihn nicht wenigstens gelegentlich mit der Hand befriedigen könne, antwortete sie: „Warum sollst du Spaß haben, wenn ich keinen haben kann?!“

Dann kam Elias´ Geburt, und von da an wurde alles noch viel radikaler, als Eric es sich trotz all seiner wohlweislich vorher entwickelten Negativprognosen überhaupt jemals hätte vorstellen können: Wollt ihr die totale Überforderung?!

Eric war inzwischen zurück auf der Terrasse. Elias kam sofort auf ihn zugelaufen und streckte ihm ein Sandförmchen hin:

„Guck mal, Papa, ich habe Eis gemacht!“

„Mmmmh, lecker!“ antwortete Eric, indem er vortäuschte, an dem Sand-Eis zu lecken, und streichelte über Elias´ Sonnenhut. Er liebte seinen Sohn, und Elias war ohne Zweifel ein extrem geiler Typ. Wenn es Eric gelang, seine Gedanken zu stoppen und sich ausschließlich auf das zu konzentrieren, was sein Sohn sagte und tat, war er immer fasziniert von seiner Intelligenz, seiner Kreativität und von seinem Humor. Alles was sein Sohn machte, war toll. Aber die Situation war zugleich extrem belastend. Wie sollte man sich entspannen, wenn man nahezu in der gesamten Zeit, die man wach war, arbeitete? Zuerst die Arbeit im Büro, und wenn er zu Hause angekommen war, folgte Kindesbetreuungsarbeit bis um ungefähr einundzwanzig Uhr dreißig, da Elias, der noch einen Mittagsschlaf brauchte, für gewöhnlich erst dann eingeschlafen war. Danach hätte der Feierabend beginnen sollen, doch was sollte da noch passieren? Gegen zweiundzwanzig Uhr ging Corinna ins Bett, und Eric oft auch. Leben zu zweit: Fehlanzeige. Sie hatten schon seit Monaten getrennte Zimmer. Die guten Nächte waren die, in denen Elias nicht wach wurde.

„Papa, kannst du mir Wasser geben?“ Elias lehnte sich auf Erics Bein, der Sand aus seiner Eisform rieselte Eric in den Schoß.

„Wozu brauchst du Wasser?“

Es war klar, dass Elias es nicht zum Trinken haben wollte.

„Ich – ich, ich will, ääähm, ich brauche es für, äääh - um Eiswürfel zu machen!“

Er sah seinen Vater triumphierend an.

Eric stöhnte, weil das Ende des Gartenschlauchs zwanzig Meter entfernt in der Sonne lag.

„Okay, dann muss ich mich wohl mal der Sonne stellen!“ sagte er schließlich.

„Warum musst du dich in die Sonne stellen?“ fragte sein Sohn.

An vielen Tagen in diesem ersten Sommer, auch an sehr heißen, regte das Neubaugebiet ihn allerdings nicht wie heute zu Urlaubsfantasien an. Allenfalls zu solchen, die mit Regressforderungen an den Reiseveranstalter hätten enden müssen - denn es war laut. Dass von irgendwo her immer ein Rasenmäher zu hören sein würde, dass spielende Kinder aus Vergnügen oder Schmerz oft herumschreien würden, dass auf der verkehrsberuhigten Straße trotzdem mit viel Anliegerverkehr zu rechnen sein würde, all das war Eric vor dem Einzug bewusst gewesen, und daran hatte er sich auch – im Unterschied zu Corinna übrigens – einigermaßen gewöhnen können. Doch was seine Toleranz nicht auch noch abzufedern vermochte, waren die permanenten Geräusche von Handkreissägen, Trennschleifern, Winkelschleifern, oder wie auch immer die richtigen Gattungsbezeichnungen für diese Geräte nun lauten mochten. Ihr Lärm zerstörte seine ohnehin nur noch fragmentarisch vorhandene innere Ruhe endgültig. Ständig war einer der anderen Männer, wenn nicht mehrere gleichzeitig, mit Bautätigkeiten befasst, und das traf Eric im Innersten. Gelegentlich hatte er Amok-Fantasien.

Es war nicht nur der Lärmpegel, der von dieser baugebietstypischen Geräuschkategorie ausging, sondern es spielte auch eine andere Komponente hinein:

Eric hasste handwerklich tätige Männer. Und ebenso hasste er Workaholics. Die Typen in der Nachbarschaft hatten mit Sicherheit stressige Jobs. Fast alle waren sie tätig als Ingenieure in dem in der Nähe ansässigen Weltkonzern